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Bulimia nervosa ist eine schwer zu behandelnde Erkrankung, insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Der vorliegende Band stellt ein manualisiertes psychodynamisches Vorgehen zur Behandlung dieses Störungsbildes bei dieser Patientengruppe vor. Einleitend werden das Krankheitsbild der Bulimia nervosa, Epidemiologie, Komorbidität, körperliche Folgen sowie Persönlichkeits- und Entstehungsfaktoren dargestellt. Nach einem Überblick über gängige psychotherapeutische Entstehungsmodelle der Bulimie wird das diesem Manual zugrunde liegende psychodynamische Krankheitsverständnis ausführlich vorgestellt. Die detaillierte Darstellung der einzelnen Behandlungsschritte veranschaulicht das konkrete störungsorientierte Vorgehen auf der Struktur-, Konflikt- und Beziehungsebene. Dabei wird die Bearbeitung der jeweiligen Schwerpunkte anhand von Praxisbeispielen illustriert und Interventionsmöglichkeiten werden aufgezeigt. Eine ausführliche Falldarstellung skizziert einen exemplarischen Behandlungsverlauf. Das beschriebene Vorgehen ist für eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie mit ca. 60 Stunden ausgelegt, kann aber auch in kürzeren oder längeren Therapien angewendet werden. Die Wirksamkeit wurde in einer randomisiert-kontrollierten Vergleichsstudie empirisch belegt. Hilfreiche Arbeitsmaterialien ergänzen den Band und können nach erfolgter Registrierung von der Hogrefe Website heruntergeladen werden.
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Günter Reich
Klaus-Thomas Kronmüller
Bulimia nervosa
Psychodynamische Therapie
unter Mitarbeit von Anette Stefini, Hildegard Horn†, Insa Aden-Preiss und Klaus Winkelmann
Praxis der psychodynamischen Psychotherapie – analytische und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie
Band 15
Bulimia nervosa
Prof. Dr. Günter Reich, Prof. Dr. Klaus-Thomas Kronmüller
Die Reihe wird herausgegeben von:
Prof. Dr. Manfred E. Beutel, Prof. Dr. Stephan Doering, Prof. Dr. Falk Leichsenring, Prof. Dr. Günter Reich, Prof. Dr. Simone Salzer
Die Reihe wurde begründet von:
Prof. Dr. Manfred E. Beutel, Prof. Dr. Stephan Doering, Prof. Dr. Falk Leichsenring, Prof. Dr. Günter Reich
Prof. Dr. Günter Reich, Diplompsychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker, Paar- und Familientherapeut, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Seit 2006 Professor für Psychotherapie in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsmedizin Göttingen. 1998–2017 Leiter der Ambulanz für Familientherapie und für Essstörungen in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsmedizin Göttingen. Seit 2017 in privater Praxis und weiterhin in Forschung, Lehre und Weiterbildung tätig. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Essstörungen, psychodynamische Psychotherapie, Familien- und Paartherapie.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Klaus-Thomas Kronmüller, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychologischer Psychotherapeut, Supervisor. Seit 2010 Ärztlicher Direktor des LWL-Klinikums Gütersloh. Lehrtätigkeit an verschiedenen Ausbildungsinstituten für Psychotherapie und am Recovery College Gütersloh. Seit 2011 Apl.-Professur an der Universität Heidelberg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Essstörungen, Depression, Psychotherapieforschung, Familienmedizin.
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Satz: Sabine Rosenfeldt, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen
Format: EPUB
1. Auflage 2024
© 2024 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen
(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2615-0; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2615-1)
ISBN 978-3-8017-2615-7
https://doi.org/10.1026/02615-000
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Dieser Band ist unserer verstorbenen Kollegin Hildegard Horn gewidmet.
Vorwort
1 Beschreibung der Störung
1.1 Bezeichnung
1.2 Definition
1.3 Epidemiologische Daten
1.4 Verlauf und Prognose
1.5 Differenzialdiagnose
1.6 Komorbidität
1.6.1 Psychische Komorbidität
1.6.2 Körperliche Symptome
1.7 Zentrale Merkmale der Bulimia nervosa
1.7.1 Störungen des Körperbildes
1.7.2 Schamaffekte
1.7.3 Bindung
1.7.4 Persönlichkeitsfaktoren
1.7.5 Interpersonelle Probleme
1.8 Einflüsse auf die Entstehung der Bulimia nervosa
1.8.1 Genetische Einflüsse
1.8.2 Peergroup und Medien
1.8.3 Konformitätsdruck
1.8.4 Traumatisierungen
1.8.5 Familiäre Einflüsse
2 Verschiedene psychotherapeutische Modelle der Bulimie-Entstehung und -Behandlung
2.1 Das kognitiv-behaviorale Modell
2.2 Interpersonelle Therapie
2.3 Familientherapie
2.4 Ergebnisse bisheriger Psychotherapieforschung
3 Psychodynamische Ansätze zum Verständnis der Bulimia nervosa
3.1 Bisherige Ansätze
3.2 Das psychodynamische Konzept unseres Manuals
3.3 Zur Genese des Identitätskonfliktes
3.3.1 Störungen des affektiven Dialogs und der Bindung zu den primären Beziehungspersonen
3.3.2 Konflikte um interpersonelle Grenzen und Intimschranken
3.3.3 Persistierende ödipale Konflikte
3.3.4 Traumatisierungen und Überstimulierungen
3.3.5 Widersprüchliche Über-Ich-Forderungen
3.3.6 Die Abwehrstruktur
3.3.7 Die Fantasie des Defekts
3.3.8 Schamkonflikte
3.3.9 Die Verschiebung auf den Körper
3.3.10 Auslösende Situationen
4 Die psychodynamische Behandlung
4.1 Prinzipien der manualgeleiteten Therapie
4.2 Hinführung zur psychodynamischen Psychotherapie
4.3 Übersicht über die Behandlungsphasen
4.4 Die Einleitung der Behandlung
4.5 Einsatz von Fragebögen und Protokollen
4.6 Das innere Drama konkret kennenlernen
4.7 Definition und Bedeutung des Begriffs „Fokus“
4.8 Beispiele für Foki auf der Beziehungs-, Konflikt- und Strukturebene
4.8.1 Beziehungsebene
4.8.2 Konfliktebene
4.8.3 Strukturebene
4.9 Weitere zentrale Aspekte der Diagnostik
4.10 Die Behandlungsphase
4.10.1 Allgemeine Aspekte und Vorgehensweisen
4.10.2 Psychoedukative Elemente
4.10.3 Allgemeine technische Hinweise
4.10.3.1 Orientierung am aktuellen Strukturniveau: Stärkung des beobachtenden und erlebenden Ich
4.10.3.2 Kontextfindung
4.10.3.3 Klarifikation (Klarifizieren, Klären)
4.10.3.4 Neue Bewältigungsformen anstelle des dysfunktionalen bulimischen Verhaltens entwickeln
4.10.3.5 Durcharbeiten
4.10.3.6 Orientierung der Therapie am aktuellen Strukturniveau
4.10.4 Beziehung
4.10.5 Struktur
4.10.5.1 Differenzierung der Affektwahrnehmung und des Affekterlebens
4.10.5.2 Regulierung von Spannungszuständen
4.10.5.3 Impulskontrolle
4.10.5.4 Selbst- und Objektwahrnehmung
4.10.5.5 Realitätsprüfung
4.10.5.6 Abwehr
4.10.5.7 Unsicherheit bezüglich der Grenzen
4.10.5.8 Über-Ich und Ich-Ideal
4.10.5.9 Störung von Körperbezug und Körperwahrnehmung
4.10.5.10 Gegengewichte schaffen: Die Bedeutung anderer Lebensbereiche
4.10.6 Konflikt
4.10.6.1 Herausarbeiten der zentralen Angst
4.10.6.2 Bearbeitung der Angst vor dem inneren Erleben
4.10.6.3 Erleben der als defizitär empfundenen Selbstanteile und deren allmähliche Integration
4.11 Schlussphase
4.12 Einbeziehung von Angehörigen
4.12.1 Klärung der Behandlungsvoraussetzungen und des Therapierahmens
4.12.2 Verschiedene Funktionen der Elternarbeit
5 Ausführliches Fallbeispiel: Miriam
5.1 Kontaktaufnahme und Erstgespräch
5.2 Einzelgespräch mit Miriam: „So viel brauch ich garantiert nicht …“
5.3 Behandlungsphase
5.3.1 Die Entwicklung der Bulimie: „Ich weiß auch nicht …“
5.3.2 Grenzen als Thema im Elterngespräch
5.3.3 Kontextfindung, Klarifizierung, Verbesserung der strukturellen Funktionen und Durcharbeiten
5.3.4 Umgang mit Konflikten
5.3.5 Umgang mit der Scham
5.3.6 Weitere Verbesserung der strukturellen Funktionen
5.4 Beendigungsphase
6 Skizzierung der Studie
6.1 Studiendesign, Ein- und Ausschlusskriterien, Zielkriterium, Messinstrumente
6.2 Behandlungen
6.3 Charakteristika der Patientinnen
6.4 Ergebnisse
6.4.1 Primäres Behandlungsergebnis
6.4.2 Sekundäre Behandlungsergebnisse
6.4.3 Katamnese
6.4.4 Die „Completer“-Stichprobe
6.4.5 Begrenzungen der Studie
7 Resümee und Ausblick
Literatur
Anhang
Essprotokoll
Erweitertes Essprotokoll
Bausteinplan für 2000 Kalorien pro Tag
Checkliste für Interventionen
Hinweise zu den Online-Materialien
Das vorliegende Manual wurde als Therapieleitfaden einer 60-stündigen wissenschaftlich begleiteten psychodynamischen Therapie weiblicher Jugendlicher und junger Erwachsener mit einer Bulimia nervosa bzw. atypischen Bulimia nervosa verwendet (Reich et al., 2014). In dieser randomisiert-kontrollierten Studie wurde erstmals und bisher einmalig weltweit eine störungsorientierte psychodynamische Psychotherapie mit einer kognitiv-behavioralen Therapie, dem derzeitigen „Goldstandard“ der ambulanten Bulimie-Behandlung, verglichen. Beide Behandlungen zeigten bezogen auf das Therapieergebnis keine signifikanten Unterschiede (Stefini et al., 2017). Die Studie ist zudem eine der wenigen überhaupt zur Behandlung von adoleszenter Bulimia nervosa (Gorell & Le Grange, 2019). Sie führte als einzige vorliegende psychodynamische Studie dazu, dass die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie in der AWMF-Leitlinie Diagnostik und Behandlung der Essstörungen (Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie [DGPM] et al., 2020), für die Behandlung der Bulimia nervosa wenigstens mit dem Evidenzgrad 2b aufgenommen wurde.
Durch die aus dem Forschungsdesign resultierenden Eingrenzungen auf eine ca. einjährige 60-stündige störungsorientierte Behandlung hatte die analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin1 über ihr Selbstverständnis therapeutischen Handelns hinaus einige Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Neben einer Prozessorientierung bestand eine Phasenorientierung (Eröffnungsphase, Behandlungsphase, Beendigungsphase). Die Behandlung war direkt auf die Störung bezogen als konkrete Veränderung des Essverhaltens und des Körperbezugs, dies in ständiger und mit der Entwicklung der Therapie zunehmend intensiverer Bearbeitung der das Bulimie-Syndrom unterhaltenden psychodynamisch relevanten Konflikte, defizitären Ich-Funktionen und Beziehungskonflikte. Strukturelle Defizite, auch mit dem gestörten Essverhalten entgleiste Ich-Fähigkeiten (z. B. Im|2|pulssteuerung, Affektwahrnehmung, kommunikative Fähigkeiten usw.) wurden zum Gegenstand therapeutischer Interventionen mit dem Ziel von Verbesserungen in den jeweils relevanten Bereichen. Der strukturelle Blick auf die Störung der Patientin machte es notwendig, den Transfer der Therapieerfahrung in die Alltagsrealität hinein zu beachten, zu fördern und zu begleiten. Die zeitliche Begrenzung und die Störungsorientierung erforderten eine Fokussierung.
Das vorliegende Manual ist auch für Kurzzeittherapien und längere Behandlungen sowie für die Therapie von Erwachsenen gut modifizierbar. Wir geben im Folgenden zunächst einen Überblick über das Krankheitsbild der Bulimia nervosa (Epidemiologie, Verläufe, Komorbidität, Persönlichkeit, interpersonelle Probleme, Einflussfaktoren) und stellen dann kurz das verhaltenstherapeutische Modell, die interpersonelle Therapie, die Familientherapie und bisherige Ergebnisse der Psychotherapieforschung vor. Im Anschluss beschreiben wir ausführlich unser psychodynamisches Verständnis des Krankheitsbildes, aus dem dann die Schritte des Manuals folgen, das wir im Zuge der Supervisionen im Rahmen der Studie entsprechend den aufgetretenen Problemen und Lösungen ergänzt haben.
Dieses Manual ist unser verstorbenen Kollegin Hildegard Horn gewidmet. Im Leitungsgremium unserer Studie und als Supervisorin hat sie wesentlich zu deren Erfolg beigetragen.
Göttingen und Gütersloh, im Juli 2023
Günter Reich und
Klaus-Thomas Kronmüller
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird überwiegend die weibliche Form benutzt, zumal auch die Mehrzahl der von Bulimia nervosa Betroffenen weiblich ist. Es sind jedoch immer alle Geschlechter mitgemeint.
Bulimia nervosa (BN)2 wurde erst 1980 als eigenständige psychische Störung durch Aufnahme in das DSM-III (American Psychiatric Association [APA], 1980, 1987) verbindlich definiert, nachdem Russel (1979) dieses Krankheitsbild als „bedrohliche Variante“ („ominous variant“) der Anorexia nervosa (AN) beschrieben hatte. Vorher wurde über dieses Syndrom bzw. eher über einzelne dazugehörige Symptome berichtet, ohne dass diese als gesonderte Krankheitseinheit verstanden wurden (Habermas, 1990; Stein & Laakso, 1988; Ziolko, 1985). Dabei beschrieben die Bezeichnung Bulimie – zusammengesetzt aus „limos“ (Hunger) und „bous“ (Stier, Ochse), also „Stierhunger“ – sowie andere Begriffe (z. B. die in der Antike verwendeten Begriffe Kynorexie oder fames canina: „Hundshunger“) wiederkehrende Heißhungerzustände, z. T. gefolgt von anschließendem Erbrechen. Laut Habermas (1990) gab es die „erste, halbwegs eindeutige Falldarstellung des Bulimie-Syndroms“ (S. 79), die mit heutigen Kriterien weitgehend vereinbar ist, im Jahre 1932. BN als nosologische Kategorie ging „aus der Unterscheidung Magersüchtiger in nur fastende und solche, die auch unter Heißhungeranfällen litten und intentional erbrachen, hervor“ (Habermas, 1990, S. 82). Neu ist dabei, „dass das Symptom bulimischer Attacken heute in aller Regel mit der Sorge um ein dem gängigen Körperideal entsprechendes Körpergewicht und darauf gerichteten Maßnahmen, insbesondere dem selbst herbeigeführten Erbrechen, einhergehen [sic]“ (Essen & Habermas, 1994, S. 164).
An BN Erkrankte sind immer wieder, in schweren Fällen über Stunden, mit Nahrungsaufnahme, -beschaffung und -zubereitung beschäftigt. Es kommt zu Essanfällen mit dem Gefühl des Kontrollverlustes: Die Betroffenen nehmen in kurzer Zeit große Nahrungsmengen zu sich, ohne aufhören zu können. Oft ist ihnen im Verlauf der Erkrankung das Gefühl für Hunger und Sättigung verloren gegangen. Während eines solchen Essanfalls können erhebliche Mengen verschlungen werden. Gleichzeitig besteht eine überzogene Furcht vor Gewichtszunahme. Um diese zu vermeiden, verwenden die Betroffenen u. a. selbst induziertes Erbrechen, Fasten, Abführmittel, Diuretika, Appetitzügler, Schilddrüsenpräparate oder sie treiben exzessiv Sport. Die Diagnose einer BN ist nicht zwangsläufig an das Erbrechen gebunden. Von daher ist der Begriff „Ess-Brech-Sucht“ irreführend. Insbesondere bei Jugendlichen scheint das Erbrechen gegenüber anderen Maßnahmen (exzessiver Sport, Fasten) eine geringere Rolle zu spielen (ca. 60 zu 40 %, Hail & Le Grange, 2018). Ein Krankheitsgefühl ist vorhanden. Bulimie wird häufig nach wie vor heimlich praktiziert. Die körperlichen Folgen (z. B. Zahnschäden, kardiologische Erkrankungen; Tith et al., 2020) werden oft erst spät sichtbar.
Das Krankheitsbild der BN wird bzw. wurde in der ICD-10 (World Health Organization/Dilling et al., 2015), ICD-11 (WHO, 2019), dem DSM-IV (APA, 1994) bzw. DSM-IV-TR (APA, 2000) und dem DSM-5 (APA, 2013) unterschiedlich akzentuiert definiert (vgl. Tab. 1). Das in diesem Band dargestellte Manual wurde an Patientinnen geprüft, die nach dem DSM-IV diagnostiziert wurden. Deshalb werden dessen Kriterien hier ebenfalls dargestellt (vgl. Tab. 1, S. 5).
Tabelle 1: Diagnostische Kriterien der Bulimia nervosa nach ICD-10 (klinisch-diagnostische Leitlinien; WHO/Dilling et al., 2015), DSM-IV/DSM-IV-TR (APA, 1994/APA, 2000; Saß et al., 2003) DSM-5 (APA, 2013, 2018) und ICD-11 (WHO, 2019)
|5|ICD-10 (F50.2)1
DSM-IV/DSM-IV-TR2
DSM-53
ICD-11 (6B82)4
Eine andauernde Beschäftigung mit Essen, eine unwiderstehliche Gier nach Nahrungsmitteln; der Patient erliegt Essattacken (Esstaumel), bei denen große Mengen Nahrung in sehr kurzer Zeit konsumiert werden.
|6|Der Patient versucht, dem dickmachenden Effekt der Nahrung durch verschiedene Verhaltensweisen entgegenzusteuern: selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, zeitweilige Hungerperioden, Gebrauch von Appetitzüglern, Schilddrüsenpräparaten oder Diuretika. Wenn die Bulimie bei Diabetikern auftritt, kann es zu einer Vernachlässigung der Insulinbehandlung kommen.
Wiederholte Episoden von „Fressattacken“. Eine „Fressattacken“-Episode ist gekennzeichnet durch beide der folgenden Merkmale:
Verzehr einer Nahrungsmenge in einem bestimmten Zeitraum (z. B. innerhalb eines Zeitraums von 2 Stunden), wobei diese Nahrungsmenge erheblich größer ist als die Menge, die die meisten Menschen in einem vergleichbaren Zeitraum unter vergleichbaren Bedingungen essen würden.
Das Gefühl, während der Episode die Kontrolle über das Essverhalten zu verlieren (z. B. das Gefühl, weder mit dem Essen aufhören zu können noch Kontrolle über Art und Menge der Nahrung zu haben).
Wiederholte Anwendung von unangemessenen, einer Gewichtszunahme gegensteuernden Maßnahmen, wie z. B. selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Laxanzien, Diuretika, Klistieren oder anderen Arzneimitteln, Fasten oder übermäßige körperliche Betätigung.
Wiederholte Episoden von Essanfällen. Ein Essanfall ist durch die folgenden beiden Merkmale gekennzeichnet:
Verzehr einer Nahrungsmenge in einem bestimmten Zeitraum (z. B. innerhalb eines Zeitraums von 2 Stunden), wobei diese Nahrungsmenge erheblich größer ist als die Menge, die die meisten Menschen in einem vergleichbaren Zeitraum unter vergleichbaren Bedingungen essen würden.
Das Gefühl, während der Episode die Kontrolle über das Essverhalten zu verlieren (z. B. das Gefühl, nicht mit dem Essen aufhören zu können oder keine Kontrolle über Art und Menge der Nahrung zu haben).
Wiederholte Anwendung von unangemessenen kompensatorischen Maßnahmen, um einer Gewichtszunahme entgegenzusteuern, wie z. B. selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Laxanzien, Diuretika oder anderen Medikamenten, Fasten oder übermäßige körperliche Bewegung.
Häufige, wiederkehrende Essanfälle (z. B. einmal pro Woche oder häufiger über einen Zeitraum von mindestens einem Monat). Auch subjektiv empfundene Essanfälle mit Kontrollverlust und Verzehr größerer Mengen als gewöhnlich werden einbezogen.
Wie ICD-10. Sport als Gegensteuerungsmaßnahme wird explizit genannt.
3.|7|Eine der wesentlichen psychopathologischen Auffälligkeiten besteht in der krankhaften Furcht davor, dick zu werden; der Patient setzt sich eine scharf definierte Gewichtsgrenze, deutlich unter dem prämorbiden, vom Arzt als optimal oder „gesund“ betrachteten Gewicht.
C.Die „Fressattacken“ und das unangemessene Kompensationsverhalten kommen drei Monate lang im Durchschnitt mindestens zweimal pro Woche vor.
D.Figur und Körpergewicht haben einen übermäßigen Einfluss auf die Selbstbewertung.
C.Die Essanfälle und die unangemessenen kompensatorischen Maßnahmen treten im Durchschnitt mindestens einmal pro Woche über einen Zeitraum von 3 Monaten auf.
D.Figur und Körpergewicht haben einen übermäßigen Einfluss auf die Selbstbewertung.
Starke Beschäftigung mit Figur und Gewicht, die die Selbstbewertung stark beeinflussen.
Starkes Leiden wegen der Essanfälle und der kompensatorischen Maßnahmen. Signifikante Beeinträchtigung der persönlichen, familiären, sozialen, Ausbildungs-, Berufs- oder anderer wichtiger Lebensbereiche.
3.|8|(Forts.) Häufig lässt sich in der Vorgeschichte mit einem Intervall von einigen Monaten bis zu mehreren Jahren eine Episode einer Anorexia nervosa nachweisen. Diese frühere Episode kann voll ausgeprägt gewesen sein oder war eine verdeckte Form mit mäßigem Gewichtsverlust oder einer vorübergehenden Amenorrhoe.
E.Die Störung tritt nicht ausschließlich im Verlauf von Episoden einer Anorexia Nervosa auf.
E.Die Störung tritt nicht ausschließlich im Verlauf von Episoden einer Anorexia Nervosa auf.
Anorexia nervosa (Gewichtskriterium) und Binge Eating Störung (keine kompensatorischen Maßnahmen) sind auszuschließen.
1 Abdruck erfolgt aus WHO/Dilling et al. (2015).
2 Abdruck erfolgt aus Saß et al. (2003).
3 Abdruck erfolgt mit Genehmigung aus der deutschen Ausgabe des Diagnostic und Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition © 2013, Dt. Ausgabe, 2. Aufl.: © 2018, American Psychiatric Association. Alle Rechte vorbehalten.
4 Nach WHO (2019). Übersetzung und Zusammenfassung durch die Autoren.
In der ICD-10 fehlt leider die exzessive Bewegung als ein kompensatorischer Mechanismus. Hier wird zudem eine atypische Bulimie (F 50.3) definiert. Diese beschreibt Patientinnen, die nicht alle Hauptkriterien einer Bulimie erfüllen. In der ICD-11 ist im Vergleich zur ICD-10 ebenfalls das Häufigkeitskriterium reduziert (ICD-10: mindestens zweimal pro Woche in einem Zeitraum von drei Monaten).
Das DSM-IV unterschied außerdem einen „Purging“-Typus von einem „Nicht-Purging“-Typus. Mit letzterem waren Betroffene gemeint, die nicht erbrechen, sondern im Wechsel Essanfälle hatten und Laxanzienabusus betrieben, intermittierend fasteten oder Diäten machten.
Im DSM-5 ist das Häufigkeitskriterium reduziert (mindestens einmal wöchentlich anstatt mindestens zweimal pro Woche). Die Unterscheidung in „Purging“- und „Nicht-Purging“-Typus entfällt. Darüber hinaus werden vier Schweregrade unterschieden:
|9|Leicht: Durchschnittlich 1 bis 3 Episoden unangemessener kompensatorischer Maßnahmen pro Woche.
Mittel: Durchschnittlich 4 bis 7 Episoden unangemessener kompensatorischer Maßnahmen pro Woche.
Schwer: Durchschnittlich 8 bis 13 Episoden unangemessener kompensatorischer Maßnahmen pro Woche.
Extrem: Durchschnittlich 14 oder mehr Episoden unangemessener kompensatorischer Maßnahmen pro Woche.
Sind alle Kriterien einer BN außer dem der Häufigkeit (wenigstens einmal pro Woche) erfüllt, fällt dies im DSM-5 unter „Bulimia nervosa von begrenzter Häufigkeit und/oder begrenzter Dauer“ in die Oberkategorie „Andere näher bezeichnete Fütter- oder Essstörung“.
In der ICD-11 werden die Häufigkeitskriterien nochmals modifiziert (Auftreten 1 × wöchentlich über einen Monat, vgl. Tab. 1). Die ICD-10-Diagnosen „Atypische Bulimie“ (F50.3), „Essattacken bei anderen psychischen Störungen“ (F50.4) und „Erbrechen bei anderen psychischen Störungen“ (F50.5) entfallen.3 „Subjektive Essanfälle“ können ebenfalls als BN diagnostiziert werden.
Essstörungen sind im klinischen Alltag insgesamt unterdiagnostiziert (Reich & Cierpka, 2010; Wood et al., 2019). Dies gilt auch für Kinder und Jugendliche (Campbell & Peebles, 2014). Nur ca. die Hälfte aller von BN Betroffenen sucht irgendeine Art von Hilfe für die Erkrankung (Reich & Cierpka, 2010). Dies hat sich allerdings in den letzten Jahren offensichtlich etwas verbessert (Coffino et al., 2019).
Die Angaben zur Prävalenz der Bulimie unterscheiden sich gemäß der Repräsentativität der untersuchten Gruppe und der Methodik (Fragebogen, Interview). Man muss davon ausgehen, dass auch die realen Prävalenzen bei Bulimie (wie bei Anorexie und anderen Essstörungen) unterschätzt werden (Keski-Rahkonen et al., 2007). Mit der Einführung der DSM-5-Kriterien haben sich die Raten erwartungsgemäß in einer Reihe von Studien erhöht |10|(van Eeden et al., 2021). Galmiche et al. (2019; Review 2000 bis 2018) kommen zu einer Lebenszeitprävalenz von 1.9 % bei Frauen, einer 12-Monats-Prävalenz von 0.9 % und einer Punktprävalenz von 1.5 %. Van Eeden et al. (2021) berichten eine Lebenszeitprävalenz bei Frauen bis zu 3 % und bei Männern bis zu 1 %. Fichter (2015) gibt die Punktprävalenz der BN im Risikoalter von 15 bis 35 Jahren mit ca. 1 % an (Lebenszeitprävalenz ca. 1.5 %). Entsprechend den etwas veränderten Kriterien des DSM-5 fanden Silén et al. (2020) eine Lebenszeitprävalenz von jugendlichen und jungen erwachsenen Zwillingen (12 bis 22 Jahre) von 2.4 %, Glazer et al. (2019) bei Mädchen und weiblichen Jugendlichen (9 bis 15 Jahre) von 2.1 %. Für Erwachsene werden auch deutlich niedrigere Zahlen berichtet (Udo & Grilo, 2019: 0.28 % Lebenszeitprävalenz). Insgesamt scheinen die Prävalenzraten für BN in der Adoleszenz doppelt so hoch zu sein wie für AN (Gorell & Le Grange, 2019).
Die angegebenen Inzidenzraten für die BN schwanken ebenfalls erheblich. Der starke Anstieg der Erkrankung in den 1980er Jahren ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Einführung der Diagnose zurückzuführen (Habermas, 1994). Einige Untersuchungen zeigen eine Abnahme der Inzidenz in den letzten Jahrzehnten (z. B. Wood et al., 2019: von 1.3 im Jahr 2004 auf 0.4 im Jahr 2014, Kinder und Jugendliche in England), andere eine gleichbleibende Entwicklung (Steinhausen & Jensen, 2015: 6.3 im Jahr 1995 auf 7.2 im Jahr 2010). BN betrifft zu über 95 % weibliche Personen. Sie beginnt häufig in der Adoleszenz, wobei Ersterkrankungsspitzen um das 13. und um das 19. Lebensjahr herum (Silén et al., 2020), zwischen 16 und 20 Jahren (Wood et al., 2019) bzw. um das 17. Lebensjahr (Campbell & Peebles, 2014; Steinhausen & Weber, 2009) angegeben werden.
Der Verlauf der BN ist unstet. Kurzfristige hohe Remissionsraten (bis zu 83 %) werden durch hohe Rückfallraten (bis 47 %) abgelöst (Grilo et al., 2007). Bei Untersuchungen zwischen zwei und fünf Jahren schwanken die Remissionsraten zwischen 13 und 74 % (Fichter & Quadflieg, 2004; Quadflieg & Fichter, 2015). Im Langzeitverlauf zeigen sich zwischen vier und zehn Jahren nach Erkrankungsbeginn z. T. hohe Heilungsraten (ca. 67 %), die im Weiteren deutlich absinken (44 %; Steinhausen & Weber, 2009). Anhaltende Besserungen sind in der Regel nur mit intensiver Therapie zu erreichen. Hier können nach stationärer und folgender ambulanter Therapie Heilungsraten der Kernsymptomatik von ca. 40 % erreicht werden (nach 11 bzw. 21 Jahren; Quadflieg & Fichter, 2019). Übergänge zu nicht näher bezeichneten Essstörungen sind häufig (Steinhausen & Weber, 2009: 17 %), zur AN eher selten (Steinhausen & Weber, 2009: 6 %).
|11|Die Mortalitätsraten im Langzeitverlauf sind gegenüber der Normalbevölkerung erhöht (standardisierte Mortalitätsrate SMR: 2.5; vgl. van Eeden et al., 2021), allerdings niedriger als bei AN (Quadflieg & Fichter, 2015: nicht standardisierte Mortalitätsraten bei 2.3 bis 0.6 %; Steinhausen & Weber, 2009: Mortalitätstrate bei 0.3 %). Allerdings weist eine neuere Studie auf eine 5-fach erhöhte Sterberate aufgrund kardiovaskulärer Erkrankungen gegenüber nicht bulimischen Frauen hin (Tith et al., 2020, vgl. auch Abschnitt 1.6.2).
Bei einer großen Gruppe von Patientinnen bleiben Einschränkungen bezüglich der sozialen Integration, Freizeitaktivitäten und Freundschaften, Partnerschaften und Sexualität bestehen. Psychische Komorbidität, z. B. das Vorhandensein einer Borderline- oder Cluster-B-Persönlichkeitsstörung, geringes Selbstwertgefühl, ausgeprägter Perfektionismus sowie Impulsivität verschlechtern die Prognose. Zu weiteren prognostischen Faktoren liegen entweder negative oder keine ausreichend replizierten Befunde vor.