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Psychodynamische Paar- und Familientherapie sind Anwendungsbereiche der psychoanalytischen Verfahren, ergänzt durch Erkenntnisse aus der strukturellen wie systemischen Therapie. Der Band bietet einen Überblick über Grundbegriffe und -konzepte sowie Diagnostik und Therapie, illustriert mit Fallbeispielen aus langjähriger Praxis. Die Bedeutung der Familie für die Entwicklung und Behandlung schwerer psychischer Störungen wird herausgearbeitet, dabei macht das Buch Mut für die Einbeziehung von Angehörigen in therapeutische Prozesse.
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Seitenzahl: 200
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Autor und Autorin
Prof. Dr. phil. Günter Reich, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker, Paar- und Familientherapeut, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Lehranalytiker und Supervisor, ehemaliger langjähriger Leiter der Ambulanzen für Familientherapie und für Essstörungen, für Studierende sowie für Mitarbeiter der Universität in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsmedizin Göttingen. Darüber hinaus ist er in privater Praxis sowie in Forschung, Lehre, Aus-, Weiter- und Fortbildung tätig. Er veröffentlichte zahlreiche Publikationen zur Psychodynamischen Psychotherapie.
Dipl.-Psych. Antje von Boetticher, Psychologische Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin (DPG, DGPT), Psychoanalytische Paar- und Familientherapeutin (BVPPF), in eigener Praxis tätig. Sie ist Dozentin u. a. an der Universität Göttingen, am Lou Andreas-Salomé-Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie sowie am Institut für Psychoanalytische Paar- und Familientherapie Göttingen-Heidelberg-Mannheim. Darüber hinaus ist sie Supervisorin für Familientherapie und -beratung. Sie publizierte bereits in den Bereichen Paar- u. Familientherapie, Essstörungen sowie Digitalität und Psychoanalyse.
Autor und Autorin arbeiten seit zehn Jahren eng in Therapie, Lehre und Forschung zusammen.
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1. Auflage 2020
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-032305-6
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-032306-3
epub: ISBN 978-3-17-032307-0
mobi: ISBN 978-3-17-032308-7
Die Psychotherapie hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt: In den anerkannten Psychotherapieverfahren wurde das Spektrum an Behandlungsansätzen und -methoden extrem erweitert. Diese Methoden sind weitgehend auch empirisch abgesichert und evidenzbasiert. Dazu gibt es erkennbare Tendenzen der Integration von psychotherapeutischen Ansätzen, die sich manchmal ohnehin nicht immer eindeutig einem spezifischen Verfahren zuordnen lassen.
Konsequenz dieser Veränderungen ist, dass es kaum noch möglich ist, die Theorie eines psychotherapeutischen Verfahrens und deren Umsetzung in einem exklusiven Lehrbuch darzustellen. Vielmehr wird es auch den Bedürfnissen von Praktikern und Personen in Aus- und Weiterbildung entsprechen, sich spezifisch und komprimiert Informationen über bestimmte Ansätze und Fragestellungen in der Psychotherapie zu beschaffen. Diesen Bedürfnissen soll die Buchreihe »Psychotherapie kompakt« entgegenkommen.
Die von uns herausgegebene neue Buchreihe verfolgt den Anspruch, einen systematisch angelegten und gleichermaßen klinisch wie empirisch ausgerichteten Überblick über die manchmal kaum noch überschaubare Vielzahl aktueller psychotherapeutischer Techniken und Methoden zu geben. Die Reihe orientiert sich an den wissenschaftlich fundierten Verfahren, also der Psychodynamischen Psychotherapie, der Verhaltenstherapie, der Humanistischen und der Systemischen Therapie, wobei auch Methoden dargestellt werden, die weniger durch ihre empirische, sondern durch ihre klinische Evidenz Verbreitung gefunden haben. Die einzelnen Bände werden, soweit möglich, einer vorgegeben inneren Struktur folgen, die als zentrale Merkmale die Geschichte und Entwicklung des Ansatzes, die Verbindung zu anderen Methoden, die empirische und klinische Evidenz, die Kernelemente von Diagnostik und Therapie sowie Fallbeispiele umfasst. Darüber hinaus möchten wir uns mit verfahrensübergreifenden Querschnittsthemen befassen, die u. a. Fragestellungen der Diagnostik, der verschiedenen Rahmenbedingungen, Settings, der Psychotherapieforschung und der Supervision enthalten.
Nina Heinrichs (Bremen)
Rita Rosner (Eichstätt-Ingolstadt)
Günter H. Seidler (Dossenheim/Heidelberg)
Carsten Spitzer (Rostock)
Rolf-Dieter Stieglitz (Basel)
Bernhard Strauß (Jena)
Die Reihe wurde von Harald J. Freyberger, Rita Rosner, Ulrich Schweiger, Günter H. Seidler, Rolf-Dieter Stieglitz und Bernhard Strauß begründet.
Der vorliegende Band beschreibt zwei psychodynamische Therapieansätze, die Paar- und die Familientherapie. Beide haben eine ähnliche Entwicklung genommen, dabei eigene Konzepte entwickelt, die allerdings eng miteinander verwoben sind. Dementsprechend werden im dem umfangreichen Kapitel »Kernelemente der Diagnostik« die jeweils besonderen Konzepte weitgehend getrennt, allerdings bezüglich der Themen therapeutische Beziehung, Übertragung und Gegenübertragung sowie der Abwehrmuster gemeinsam dargestellt. Bezüglich der »Kernelemente der Therapie«, der Ziele und des Rahmens, der Indikation und der Schritte des Erstgesprächs erfolgt wegen der vielen Überschneidungen ebenso eine gemeinsame Darstellung wie bei der Anwendung in besonderen Konstellationen, der Hauptanwendungsgebiete, der klinischen und wissenschaftlichen Evidenz sowie der Abrechnungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Die beiden ausführlichen Fallbeispiele zeigen darüber hinaus die Unterschiede wie die Gemeinsamkeiten, z. B. in der Mehrgenerationenperspektive, die inzwischen auch in andere Therapieformen, etwa die psychodynamische Einzeltherapie oder die systemische Therapie, Einzug gehalten hat.
Unser Band bemüht sich um eine knappe und verständliche Darstellung des aktuellen Entwicklungs- und Diskussionsstands. Neben langjährigen Praxiserfahrungen in einer Spezialambulanz für Familien- und Paartherapie und zahlreichen Diskussionen im Rahmen von Tagungen, Vorträgen und Seminaren, die zur konzeptuellen Präzisierung beitrugen, baut dieses Buch auf drei wesentlichen Publikationen auf: »Die Mehrgenerationen-Familientherapie« (Massing et al. 2006), »Praxis der psychoanalytischen Familien- und Paartherapie« (Reich et al. 2007) sowie dem von Manfred Cierpka herausgegebenen »Handbuch der Familiendiagnostik« (2008). Wer zu einzelnen Abschnitten dieses Buchs vertiefende Ausführungen sowie weitere ausführliche Fallbeispiele sucht, sei auf die beiden erstgenannten Publikationen verwiesen.
Zudem wäre dieses Buch nicht denkbar ohne die Vorarbeiten von Almuth Massing und Eckhard Sperling in Göttingen, den engen fachlichen Austausch mit Ivan Boszormenyi-Nagy, der Arbeitsgruppe um Horst-Eberhard Richter in Gießen und Thea Bauriedl in München, den Begegnungen mit den Begründern der systemischen Therapie um Helm Stierlin in Heidelberg und Mara Selvini Palazzoli in Mailand sowie den weiteren Diskussionen im Bundesverband Psychoanalytische Paar- und Familientherapie (BVPPF), insbesondere in den von Michael Stasch ins Leben gerufenen Arbeitsgruppen »State of the Art«. Vor allem aber möchten wir dem Ende 2017 verstorbenen Manfred Cierpka danken, der die psychodynamische Familien- und Paartherapie durch sein bundesweites und internationales Wirken zunächst aus Göttingen, dann aus Heidelberg gefördert und diesem Ansatz Zugang zu weiteren Bereichen, z. B. den »Frühen Hilfen« und der Säuglings-Kleinkind-Eltern-Therapie erschlossen hat. Darüber hinaus hat er Diskussionen mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung sowie dem Gemeinsamen Bundesausschuss Möglichkeiten zur Abrechnung des paar- und familientherapeutischen Setting im Rahmen der psychodynamischen Psychotherapie erreicht (siehe auch Reich 2018).
Überdies möchten wir unseren Patientinnen und Patienten danken, von denen wir viel lernen konnten, sowie unseren eigenen Familien, ohne deren Rückhalt unsere Arbeit nicht möglich wäre.
Göttingen, im Februar 2020
Günter Reich und Antje von Boetticher
Geleitwort zur Reihe
Vorwort
1 Herkunft, Ursprung und Entwicklung des Verfahrens
2 Verwandtschaft und Abgrenzung zu anderen Verfahren
3 Wissenschaftliche Grundlagen des Verfahrens
4 Kernelemente der Diagnostik
4.1 Psychodynamische Paartherapie
4.1.1 Die initiale Paarszene, Übertragung, Gegenübertragung, Arbeitsbündnis und Widerstand
4.1.2 Partnerwahl und Kennenlernszene
4.1.3 Der objektbeziehungstheoretische Ansatz
4.1.4 Kollusionskonzepte
4.1.5 Mentalisierung bei Paaren
4.1.6 Und was ist mit der Liebe?
4.1.7 Das sexuelle Paar
4.1.8 Indikationsfragen, Rahmen und Zielsetzungen
4.2 Psychodynamische Familientherapie
4.2.1 Die Initialszene, erste Übertragungen und Widerstände
4.2.2 Bezogene Individuation
4.2.3 Die Aufträge der Familie: Rollen, Delegationen, Parentifizierung
4.2.4 Die Dynamik von Geben und Nehmen, Loyalität, Verdienst und Vermächtnis
4.2.5 Interpersonale Gerechtigkeit und epistemisches Vertrauen
4.2.6 »Loyalitätstransfer«: Von der Ursprungsfamilie zur Paarbeziehung und der »neuen Kernfamilie«
4.2.7 Verlusterfahrungen und abgewehrte Trauer
4.2.8 Familiennarrative und Familienmythen
4.2.9 Familiengeheimnisse
4.2.10 Die Mehrgenerationenperspektive
4.2.11 Familienselbstbilder und Familiengefühl
4.2.12 Geschwister – Die horizontale Beziehungsebene
4.3 Übertragung und Gegenübertragung: Die therapeutische Beziehung
4.4 Abwehrmuster in Paar- und Familienbeziehungen
5 Kernelemente der Therapie
5.1 Einstellungen, Haltungen und Techniken
5.1.1 Das »Aktivitätsniveau«
5.1.2 Vielgerichtete Parteilichkeit
5.1.3 Die »Ressourcen« beachten
5.1.4 Das Loyalitätssystem beachten
5.1.5 Die Wirkung von Interventionen »im System« beachten
5.1.6 Techniken
5.2 Ziele und Rahmen psychodynamischer Paar- und Familientherapie
5.3 Indikationen zur psychodynamischen Paar- und Familientherapie
5.4 Das Erstgespräch mit Paaren und Familien und die folgenden Sitzungen
5.4.1 Die Motivation »des Paares« bzw. »der Familie«
5.4.2 Die Schritte im Erstgespräch
5.4.3 Das Erstgespräch nicht überfordern!
5.4.4 Die »mittlere Phase«
5.4.5 Beendigungen von Paar- und Familientherapien
5.5 Psychodynamische Paar- und Familientherapie in besonderen Konstellationen
5.5.1 Familientherapie mit Säuglingen, Kleinkindern und Eltern
5.5.2 Familien und Paare vor, während oder nach Trennungen und Scheidungen
5.5.3 Fortsetzungsfamilien, Patchworkfamilien
5.5.4 Einelternfamilien, Alleinerziehende
5.5.5 Homosexuelle Paare
5.5.6 »Regenbogenfamilien«
5.5.7 Trans- und Intersexualität
5.5.8 Ältere Paare
5.5.9 Alternde Eltern
5.5.10 Paare und Familien mit besonderen psychosozialen Herausforderungen
5.5.11 Familientherapie und »Frühe Hilfen«
5.5.12 Interkulturelle Paare und Familien
6 Ausführliches Fallbeispiel Paartherapie: »Das perfekte Paar«
7 Ausführliches Fallbeispiel Familientherapie: »Auf der Suche nach einem Familiengefühl«
8 Unterschiedliche Settings und deren Möglichkeiten
8.1 Arbeit mit Subsystemen
8.2 Mehrgenerationen-Therapie
8.3 Paartherapie in zwei Systemen (nach Kreische)
8.4 Hausbesuche in der Familientherapie
8.5 Paar- und Familiengespräche im Rahmen stationärer Behandlungen
8.6 Paar- und Familiengespräche im Rahmen von Einzeltherapien
8.7 Vor- und Nachteile von Co-Therapie
9 Hauptanwendungsgebiete
10 Wissenschaftliche und klinische Evidenz
11 Institutionelle Verankerung und Weiterbildungsmöglichkeiten
12 Abrechnungsmöglichkeiten
Literatur
Internetquellen
Sachwortverzeichnis
Die psychodynamische bzw. psychoanalytische Paar- und Familientherapie entwickelte sich aus der Psychoanalyse und der zunehmenden Verbindung psychoanalytischer Konzepte mit system- und kommunikationstheoretischen Konzepten. Die Bedeutung familiärer Beziehungen für die Entwicklung seelischer Gesundheit und Krankheit wurde in der Psychoanalyse von Anfang an thematisiert. Auch nach Aufgabe der »Verführungstheorie« und der Hinwendung zur »psychischen Realität« betonten Psychoanalytiker in der Regel die Wechselwirkung zwischen Umweltfaktoren und intrapsychischer Entwicklung. Als relevante Umwelt wurde und wird die Familie angesehen, wozu bereits früh auch mehrgenerationale Einflüsse gehörten. Zudem wurde durch die gleichzeitig oder nacheinander erfolgende psychoanalytische Behandlung von Ehepartnern das Ineinandergreifen jeweiliger neurotischer Mechanismen beider Partner deutlich. Mit der Entwicklung der Objektbeziehungstheorien wurde die Bedeutung von Umweltfaktoren und familiären Beziehungen für die psychische Entwicklung von einem Teil der hier maßgeblichen Autoren hervorgehoben (vgl. Massing et al. 2006). Die Entwicklung der Kybernetik sowie der Systemtheorie in den Naturwissenschaften fügten neue Impulse hinzu, die die Interdependenz von intrapsychischer Entwicklung, die Entstehung von Krankheitssymptomen und interpersonale Beziehungen weiter differenzierten (Massing et al. 2006). Systemtheoretische Überlegungen fanden Eingang in den interpersonellen Ansatz der Psychoanalyse von Sullivan (vgl. Beutel et al. 2020). Unter dem programmatischen Titel »Patients have families« verband Richardson bereits 1948 psychodynamische und systemtheoretische Konzepte zum Verständnis von psychosomatischen Erkrankungen. Im weiteren Verlauf wurden international z. B. durch die Arbeiten von Bowen (1960), Boszormenyi-Nagy und Mitarbeiterinnen (1965, 1981, 1986) und Framo (1965) psychoanalytische und systemtheoretische Konzepte verbunden. Im deutschen Sprachraum entwickelten Eckhard Sperling in Göttingen (Mehrgenerationenperspektive), Horst-Eberhardt Richter in Gießen (psychoanalytische Rollentheorie), Helm Stierlin in Heidelberg (Delegation, bezogene Individuation) und Thea Bauriedl in München (Beziehungsanalyse) psychoanalytische Konzepte familiendynamisch weiter, ebenso Jürg Willi in Zürich (Kollusion, Ko-Evolution) für die Paartherapie. Dabei wurden zunehmend auch Erkenntnisse aus der Kommunikationstheorie (Ruesch und Bateson 1951, 1995; Watzlawick et al. 1971) verwendet.
Im Laufe der Zeit differenzierten sich die verschiedenen familien- und paartherapeutischen »Schulen«, wobei in Deutschland die »Systemische Therapie« am weitesten verbreitet ist, die allerdings auch psychodynamisch geprägte Konzepte wie den Ansatz von Boszormenyi-Nagy und Mitarbeiterinnen, bindungstheoretische und mentalisierungsbasierte Konzepte »eingemeindet«.
Klinisch hat sich die psychoanalytische Paar- und Familientherapie entwickelt aus der Behandlung von
1. Kindern und Jugendlichen,
2. Jugendlichen mit psychosomatischen Erkrankungen, v. a. von Anorektikerinnen,
3. Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Psychosen und
4. Paaren mit neurotischen und schwereren Störungen.
Aktuell finden sich neben dem klassischen, eher konfliktorientierten mehrgenerationalen Ansatz objektbeziehungstheoretische, bindungsorientierte und mentalisierungsbasierte Ansätze in der psychoanalytischen Paar- und Familientherapie (Lebow 2017). Die aktuelle psychodynamische Paar- und Familientherapie integriert Techniken und Methoden der strukturellen und der systemischen Familientherapie (Asen und Fonagy 2017a,b; Reich et al. 2007).
Mit anderen Verfahren der Familien- und Paartherapie verbindet die psychodynamische Familien- und Paartherapie zunächst die »System-Sichtweise«. Das Handeln von Personen steht immer in einem bedeutungsgebenden interpersonellen Kontext und ist insofern interdependent, wobei sich diese Kontexte durchaus sprunghaft verändern können, z. B. durch äußere Einbrüche oder lebenszyklische Veränderungen. Psychische Symptome werden als Lösungsversuch für Konflikte, in diesem Fall interpersonelle Konflikte, angesehen. Um diese Lösungsversuche wiederum organisieren sich Interaktionen, die als »Problemsystem« bezeichnet werden können. Die wesentliche Matrix ist dabei das System der Kommunikation, wobei sich diese nicht auf die verbale Kommunikation beschränkt. Nonverbale, analoge Formen der Kommunikation, Atmosphärisches, spielen eine erhebliche Rolle.
Im Unterschied zu anderen Verfahren sind folgende Aspekte wichtig:
• Intrapsychische Prozesse werden im Unterschied zur systemischen Therapie als bedeutsam angesehen. Die Erkenntnisse der psychoanalytischen Persönlichkeitstheorien sowie der Bindungs-, Mentalisierungs- und Affektforschung werden berücksichtigt.
• Ebenso werden die Erkenntnisse der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie, insbesondere der neueren Säuglings- und Kleinkindforschung sowie der Forschungen zu lebenszyklischen Veränderungen berücksichtigt.
• Besonderes Gewicht wird auf die mehrgenerational tradierten familiären Prozesse gelegt.
• Historischen und sozialen Einflüssen wird auf der Ebene der Familie und auf der Ebene ökonomischer und gesellschaftspolitischer Veränderungen sowie den damit einhergehenden Traumatisierungen, Verlusten und deren Verarbeitung eine große Bedeutung beigemessen. Insofern ist psychodynamisch orientierte Familien- und Paartherapie am »Faktischen« orientiert.
• Dementsprechend werden die Ansichten des radikalen Konstruktivismus aus der systemischen Therapie nicht geteilt. »Wirklichkeiten« sind nicht beliebig konstruierbar. Ebenso sind der Veränderbarkeit von Personen und Beziehungskonstellationen durch frühere Entwicklungen und die äußeren Rahmenbedingungen (z. B. Ökonomie) Grenzen gesetzt. Die Anerkennung von Begrenzungen und die damit einhergehende Trauerarbeit spielen in manchen Fällen eine besondere Rolle.
• Unbewussten Prozessen, die auch mehrgenerational ablaufen, wird eine große Bedeutung beigemessen. Ebenso werden die psychoanalytischen Konzepte der interpersonellen Abwehr, der unbewussten Kommunikation, des Szenischen Verstehens sowie Einschätzungen der strukturellen Möglichkeiten der Beteiligten berücksichtigt.
• Übertragungs-Gegenübertragungsprozesse und die sich hieraus ergebende Beziehungsgestaltung werden analysiert und die Interventionen bzw. die Therapieplanung insgesamt auch hierauf abgestellt. In der Gegenübertragungsanalyse werden die persönlichen Einflüsse des Therapeuten und seiner Familien- und Lebensgeschichte besonders berücksichtigt.
• Die Indikationsstellung erfolgt adaptiv-prozessorientiert. In der Regel wird vom Gesamt-Beziehungssystem ausgehend mit bedeutsamen Subsystemen (z. B. Elternpaar, Geschwister, Vater-Sohn, Mutter-Tochter) gearbeitet. Familien- und Paargespräche können in diesem Rahmen durchaus mit Einzelbehandlungen kombiniert werden.
• Auch die Interventionstechnik wird adaptiv angepasst und prozessorientiert gestaltet, wobei durchaus systemische und strukturelle Behandlungstechniken einfließen.
Neben Erkenntnissen und Konzepten der Psychoanalyse, z. B. zur interpersonellen Abwehr, zu unbewussten Prozessen und zur Tendenz, neue Beziehungserfahrungen im Lichte früherer Erfahrungen zu interpretieren und diese somit zu wiederholen (»Wiederholungszwang«, Übertragung), spielen Systemtheorie und Kommunikationstheorie eine bedeutende Rolle. Ganz wesentlich ist zudem, dass familiäre und Paarbeziehungen einen erheblichen Beitrag zur Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Erkrankungen, aber auch zu somatischen Dysregulationen leisten. Dies gilt z. B. für depressive Störungen (Reich 2003a), Zwangsstörungen (Reich 2008; Reich 2019a; Reich 2020 in Druck), Essstörungen wie Anorexie, Bulimie oder Binge Eating (Cierpka und Reich 2010; Reich 2003b,c; Reich und von Boetticher 2017a), Persönlichkeitsstörungen (Reich 2003d; Reich und von Boetticher 2017b), Borderline-Persönlichkeitsstörungen (Reich und Cierpka 2011), Angststörungen, Psychosen (Reich und Klütsch 2014), Trauma-Erfahrungen (Klütsch und Reich 2012) sowie eine Vielzahl von körperlichen Regulationsstörungen und pathogenen Prozessen (Frisch et al. 2017; Reich 2020 in Druck). Die Verzahnung von physiologischen pathogenen Prozessen mit dysfunktionalen familiären Prozessen wurde auch im behavioralen Familienmodell (Wood et al. 2008, 2015; vgl. auch Reich 2020 in Druck) nachgewiesen.
Die Bedeutung familiärer und paardynamischer Prozesse für psychische Erkrankungen und körperliche Dysregulation belegen emprische Studien zu interpersonellen Prozessen wie dem »Spill-Over«, bei denen gezeigt werden kann, dass sich eheliche Spannungen der Eltern direkt auf Kinder übertragen, und Studien zur Kompensationshypothese. Sie zeigen sich auch zum Konzept der »Meta-Emotion«, in dem gezeigt werden kann, dass die Verbalisierung von unangenehmen Gefühlen durch Eltern es Kindern leichter ermöglicht, die negativen Folgen von elterlichen Konflikten zu bewältigen. Sie zeigen sich zudem in den Forschungen zur Parentifizierung (Chase 1999) sowie den Forschungen zur Bedeutung von Vätern und Geschwistern (vgl. Reich 2020 in Druck). Empirische Studien belegen zudem die mehrgenerationale Weitergabe einer ganzen Reihe von Problemen und problematischen Beziehungsmustern. Während diese Weitergabe in nichtgestörten Familiensystemen eher moderat ausfällt (Reich 2017; Reich et al. 2008), ist sie in gestörten Familiensystemen häufig erheblich und konnte in einer Reihe von Bereichen nachgewiesen werden, z. B. bezüglich der Bindungsmuster, der Erziehungseinstellungen, der Qualität der Ehebeziehungen, der Neigung zu Trennungen und Scheidungen, der Neigung zu Parentifizierungen, der Weitergabe von Traumafolgen und Gewalterfahrungen, bezüglich der Verletzung interpersoneller Grenzen sowie der Fähigkeiten zur Selbstregulierung (Reich et al. 2008; Reich 2020 in Druck). Auch in den Familien- und Paarbeziehungen wirksame Resilienzfaktoren wurden untersucht (Walsh 2016; Reich 2020 in Druck). Hierzu gehören gemeinsame Sinnfindung und Orientierung, Fähigkeiten zur Veränderung der Familienorganisation bei Einbrüchen wie z. B. Erkrankungen, kooperatives Elternverhalten, Respekt für die individuellen Unterschiede, die Fähigkeit zur Mobilisierung außerfamiliärer Ressourcen sowie Klarheit der Kommunikation und das offene Teilen schmerzlicher und freudiger Emotionen. Auch positive Paarinteraktionen wie verbale Unterstützung, Berührung oder Responsivität wirken salutogenetisch. Kinder profitieren zudem von stabilen Elternbeziehungen, klaren Generationsgrenzen, emotionaler Resonanz sowie davon, ob sie elterliches Verhalten, auch hochproblematisches, verstehen können oder nicht (vgl. Reich 2020 in Druck).
Familien- und Paartherapien haben sich zudem bei einer ganzen Reihe von Erkrankungen als wirksam erwiesen. Dies gilt im Erwachsenenbereich für affektive Störungen, Angststörungen, Essstörungen, Substanzmissbrauchsstörungen und Psychosen, im Bereich der Behandlung von Kindern und Jugendlichen für Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, Substanzmissbrauch und Essstörungen (von Sydow et al. 2010, 2013) (Kap. 9).
Die Initiative für eine Paartherapie geht in der Regel stärker von einem Partner oder einer Partnerin aus. Selten ist die Motivation gleichmäßig verteilt. Dies kann sich hinderlich auswirken, jedoch auch diagnostische und therapeutisch nutzbare Hinweise ergeben. Erstes Kernelement der Paardiagnostik ist in diesem Sinne die Beachtung der Szene, analog zum Konzept des Szenischen Verstehens in der Einzeltherapie (Lorenzer 2006).
Der Ansatz, den Informationen aus der Anmeldesituation und dem Erstgespräch Beachtung zu schenken, hat sich als äußerst fruchtbar erwiesen. Dabei interessieren uns Fragen wie:
• Wer meldet an, wer ergreift die Initiative?
• Wer beginnt das Gespräch, wer schildert und »definiert« womöglich das Problem?
• Wer hat ein »Problembewusstsein«?
• Stimmen die Schilderungen der Problemstellung einigermaßen überein oder unterscheiden sie sich sehr?
• Spricht das Paar vor allem miteinander oder mehr an die Therapeuten gerichtet?
• Wie erscheint das Paar: eher bedürftig, eher abgegrenzt-autonom?
• Welche Gegenübertragungsgefühle stellen sich ein? Unterscheiden sich diese zwischen weiblicher Therapeutin und männlichem Therapeuten?
Häufig meldet die Person an, die (scheinbar oder im eigenen Erleben) unbelastet von Symptomen im engeren Sinne ist, während die oder der andere als Symptomträger gekennzeichnet wird. Die Motivation zur Paartherapie ist dann nicht selten, die Symptome des oder der Einen zu bekämpfen, um die Belastung des oder der jeweils anderen zu vermindern.
Ein Paar meldet sich drängend an und sagt mehrere Termine kurzfristig ab. Jeweils fielen der Therapeutin der gehetzt wirkende Tonfall sowie eine wenig Widerspruch duldende Art, sich mitzuteilen, auf. Ein weiterer Termin musste aufgrund von Krankheit der Therapeutin verschoben werden. Als das Erstgespräch schließlich stattfindet, schildert das Paar vielfältige Schwierigkeiten, die sich aus den schweren »Kopfschmerzattacken« des Mannes ergeben. Weder seien längerfristige Wochenend- oder Urlaubsplanungen möglich, noch gäbe es ein befriedigendes Sexualleben, weil sie immer mit den »hereinbrechenden« Kopfschmerzen rechnen müssten. Medizinisch sei alles abgeklärt, Schmerzmittel helfen nur bedingt. Hinter dem betonten Mitgefühl der Ehefrau werden schnell Gereiztheit und aggressive Abwertung deutlich. Auch der Ehemann spricht »nebenbei« demütigende, abfällige Bemerkungen über seine Frau aus. Darauf von der Therapeutin angesprochen, wehren beide beschwichtigend ab: Wenn nur die Kopfschmerzen und die damit einhergehenden Einschränkungen verschwänden, gäbe es »wieder nur Harmonie zwischen uns«. Die weitere Exploration ergab, dass beide aus unterschiedlichen Gründen seit einigen Jahren beruflich zu kämpfen hatten und sich insgeheim gegenseitig schwere Vorwürfe machten. Die in den Anfangsjahren der Beziehung antriebsfördernde, eher belebend wirkende, ausgeprägte Konkurrenz zwischen den Eheleuten war nun lähmend geworden. Die Kopfschmerzen dienten als Externalisierung des Eheproblems. So konnte der »Schmerz« über die vielen Anstrengungen und Überforderungen des Alltags sowie die gegenseitige wütende Enttäuschung des Wunsches nach Entlastung aus der Beziehung herausgehalten und im Symptom »untergebracht« und gleichzeitig das unrealistische Ideal der immerwährenden Harmonie aufrechterhalten werden. Durch die Bearbeitung dieses Mechanismus verschwanden die Kopfschmerzen des Mannes zwar nicht vollständig, das Paar konnte jedoch den Umgang damit positiv verändern. Dazu gehörte ein freieres Aussprechen eigener Bedürfnisse und aggressiver Impulse. Der Widerstand war zu Anfang recht ausgeprägt, ein psychotherapeutisch-psychosomatisches Krankheitsmodell wirkte zunächst befremdlich. Die Reflektion der Szene vor Beginn der eigentlichen Gespräche ermöglichte eine Einfühlung in die innere Situation des Paares. Das Arbeitsbündnis konnte durch den Rückbezug auf die positiv besetzte Konkurrenz und deren Würdigung zu Beginn der Beziehung entwickelt werden.
Die szenischen Informationen erlauben häufig eine erste Hypothesenbildung über die Psychodynamik des Paares sowie der Widerstände gegen und Befürchtungen bezüglich einer Paartherapie. Hier gilt es auf der Therapeutenseite, die Unsicherheiten ernst zu nehmen, zu einer möglichst klaren Indikationsstellung zu finden und besonderes Augenmerk auf den Aufbau des therapeutischen Bündnisses zu legen, das eben das Paar »als Patienten« versteht. Dies sollte mit einem hohen Maß an Transparenz und Information über die Arbeitsweise einhergehen, wodurch in aller Regel diffuse Befürchtungen hinsichtlich eines paarorientierten Therapieansatzes gemindert werden können.
Die Analyse der initialen Szene einer Paartherapie gibt wertvolle Hinweise für die psychodynamische Hypothesenbildung. Dabei wird das Konzept des Szenischen Verstehens (Lorenzer 2006) auf die Paarsituation modifizierend übertragen.
Die Übertragungs- und Gegenübertragungsanalyse im paartherapeutischen Setting stellt eine besondere Herausforderung dar. Anders als in der Einzeltherapie, in der die therapeutische Dyade die Projektionsfläche für bisherige Beziehungserfahrungen bzw. -repräsentationen bilden kann, ist die Situation in der Triade Paar-Therapeut/Therapeutin bzw. der Tetrade Paar-Therapeutenpaar komplexer und unübersichtlicher. Besondere Beachtung sollte der Widerstand erfahren, den entweder das Paar oder einer der Partner entwickelt. Die Bedeutung des Widerstands gegen eine Einflussnahme durch therapeutische Maßnahmen im System Paar ist hoch einzuschätzen. Widerstand, der zu einem unbewussten Festhalten an dysfunktionalen Paarinteraktionen wie bspw. kollusiven Mustern (Kap. 4.1.4) führen kann, ergibt sich aus höchst unterschiedlichen Quellen, z. B.:
• Scham über Paardynamik oder die eigene Rolle in der Partnerschaft
• Übertragungsphänomene wie z. B. Paartherapeut als Richter, strenges Elternteil, moralische Instanz
• Angst vor Veränderung bzw. phantasiertes Unvermögen, etwas zu ändern
• Familien- bzw. Paargeheimnisse mit besonderer Funktion
• Abwehr eigener Unterlegenheitsgefühle, wenn bspw. Paartherapeuten als glückliches, erfolgreiches Paar erlebt bzw. phantasiert werden
• Gefühle des Zorns, der Hilflosigkeit oder des Ausgeliefertseins, z. B. bei Klärung und Realitätsprüfung der Situation oder Konfrontation mit Unzulänglichkeiten
• Mehrgenerational tradierte Symptome/Beziehungsmuster
• Strukturelle Defizite wie etwa Festhalten an der Dyade und/oder einer unsicheren Grenze um das Paar
Übertragungsszenen in der Paartherapie sind vielfältig. Ödipale Übertragungen können zu Gefühlen intensiver Konkurrenz oder Ausgeschlossenseins (auch des Therapeuten) oder zu Loyalitätsverschiebungen im Therapieraum führen. Diese gilt es zu erkennen und zu begrenzen bzw. für die Arbeit am Problem des Paares zu bearbeiten.
Ein Paar spricht im Erstgespräch kaum in die Richtung des Paartherapeuten, sondern eher leise und sehr vertraulich miteinander. Der Therapeut hat große Mühe, sich ein Bild vom Paar zu verschaffen, weil »Interna« ausgetauscht werden, die nur verstanden werden können, wenn der Kontext bekannt ist. Er bemerkt eine Hemmung in sich, sich bemerkbar zu machen und nachzufragen. Verwundert fühlt er sich wie ein kleiner Junge, den die Belange der Eltern nichts angehen. Als er sich aus diesem Gefühl befreien kann, aktiver ins Gespräch einsteigt und seine Rolle als erwachsener Therapeut zurückgewinnt, wird auch das Paar offener und der Kontakt verbessert sich. Dies kann als gemeinsam inszenierter Übertragungswiderstand verstanden werden.
Nicht nur Therapeutinnen und Therapeuten lösen Übertragungen aus, Paare lösen auch Übertragungen im Therapeuten aus (und nicht »nur« Gegen