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C. Otto Scharmers Theorie U hat in den letzten Jahren weit über den Wirtschaftssektor hinaus Furore gemacht. Der bekannte MIT-Forscher und Berater hat damit eine Blaupause geliefert, nach der die "Betriebssysteme" von Unternehmen, Bildungseinrichtungen und Demokratien aktualisiert und an die heutigen Herausforderungen angepasst werden können. Dieses Buch bietet einen prägnanten, leicht zugänglichen Leitfaden zu den wichtigsten Konzepten und Anwendungen der Theorie U. Es hilft Führungskräften aller Branchen und Sektoren, die Aufmerksamkeit auf die Zukunft ihrer Organisation zu fokussieren, Gestaltungspotenziale zu erschließen und die erarbeiteten Ziele umzusetzen. Scharmer behält dabei stets die großen Herausforderungen und Konflikte unserer Zeit im Blick – ökologisch, sozial und spirituell. Der Autor hat als Aktionsforscher und Berater mit Regierungen, UN-Organisationen, Unternehmen und NGOs in Afrika, Asien, Amerika und Europa zusammengearbeitet und preisgekrönte Führungs- und Innovationsprogramme für Kunden wie Alibaba, Daimler, Eileen Fisher, Fujitsu, Google, Natura und PriceWaterhouse durchgeführt.
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Seitenzahl: 234
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An
die im Entstehen begriffene Bewegung von Menschen,
die die drei großen Abgründe unserer Zeit überwinden:
die ökologische, die soziale und die spirituelle Kluft.
C. Otto Scharmer
Grundprinzipien und Anwendungen
Aus dem Amerikanischen von Astrid Hildenbrand
Zweite Auflage, 2022
Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:
Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)
Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)
Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)
Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)
Dr. Barbara Heitger (Wien)
Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)
Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)
Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)
Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)
Dr. Roswita Königswieser (Wien)
Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)
Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)
Tom Levold (Köln)
Dr. Kurt Ludewig (Münster)
Dr. Burkhard Peter (München)
Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)
Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)
Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)
Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)
Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)
Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)
Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)
Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)
Jakob R. Schneider (München)
Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)
Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)
Dr. Therese Steiner (Embrach)
Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)
Karsten Trebesch (Berlin)
Bernhard Trenkle (Rottweil)
Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)
Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)
Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)
Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)
Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)
Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)
Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann (nach Motiven der Originalausgabe)
Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach
Zweite Auflage, 2022
ISBN Print: 978-3-8497-0274-8
ISBN ePUB: 978-3-8497-8182-8
© 2019, 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag
und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg
Alle Rechte vorbehalten
Titel der Originalausgabe: “The Essentials of Theory U: Core Principles and Applications”
Das Original erschien 2018 bei Berrett-Koehler Publishers, Inc., Oakland, CA, USA.
Alle Rechte vorbehalten!
© 2018 C. Otto Scharmer
Deutsche Übersetzungsrechte vereinbart über Maria Pinto-Peuckmann, Literary Agency, World Copyright Promotion, Kaufering, Germany
© der deutschen Ausgabe Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg 2019
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Carl-Auer Verlag GmbH
Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg
Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22
Vorwort
Führen nach Theorie U: Das soziale Feld kultivieren
Danksagungen
Teil I: Das soziale Feld sehen lernen
1Der blinde Fleck
Drei Abgründe
Der blinde Fleck
Vor der leeren Leinwand
Ankunft am MIT
Von der im Entstehen begriffenen Zukunft lernen
Im Anblick des Feuers
Das Gefäß bilden
Soziale Felder
2Theorie U: Form folgt Bewusstsein
Das System dazu bringen, sich selbst zu sehen
Ein Moment des Sehens
Der Prozess: Drei Bewegungen
Das tiefere Gelände kartieren
Drei Instrumente des inneren Wissens
Das Beispiel des Zuhörens
Drei Feinde auf dem Weg entlang der linken Seite des U
Zwei Hindernisse auf dem Weg entlang der rechten Seite des U
Presencing (Anwesendwerden) und Absencing (Abwesendwerden)
Soziale Felder
3Die Matrix der sozialen Evolution
Die Grammatik sozialer Felder
Die Matrix der sozialen Evolution
Die horizontale Achse: Systemebenen
Die vertikale Achse: Bewusstseinsebenen
Auf der Suche nach der Quelle
Aufmerksam sein
Kommunizieren
Herunterladen: Feld-1-Kommunikation
Debatte: Feld-2-Kommunikation
Reflektiver Dialog: Feld-3-Kommunikation
Schöpferischer Dialog: Feld-4-Kommunikation
Organisieren
Zentralisiert
Dezentral
Vernetzt
Ökosystemisch
Institutionelle Umstülpung
BALLE (Business Alliance for Local Living Economies): White Dog Café – eine Bewegung für eine neue Ökonomie
Koordinieren und führen
Gesellschaft 1.0: Hierarchie als Koordinationsmechanismus
Gesellschaft 2.0: Wettbewerb als Koordinationsmechanismus
Gesellschaft 3.0: Koordination durch organisierte Interessen
Gesellschaft 4.0: Ökosystem-Bewusstsein als Koordinationsmechanismus
Von Feld 1 zu Feld 4: Ein Weg der Umstülpung
Das System dazu bringen, sich selbst zu erspüren und zu sehen
4Das Nadelöhr
»Ich erwarte sehr viel von Ihnen«
Die Reintegration von Geist und Materie
Der Kern systemischen Denkens
Durch das Nadelöhr
Die Beziehung zwischen System und Selbst umstülpen
Die Schlacht um Brokdorf
Sich im System bewegen
Lernen, wie man Veränderungsmacher unterstützen kann
Ein Moment der Klarheit
Gemeinsame Bilder und Imagination: Das gemeinsame Denken aktivieren
Gemeinsame Inspiration: Das gemeinsame Erspüren aktivieren
Co-Kreation: Den gemeinsamen Willen aktivieren
Von der Reaktion zur Regeneration
Teil II: Eine Methode zur bewusstseinsbasierten Systemveränderung
5Ein Prozess, fünf Bewegungen: Erneuern von der Zukunft her
1. Gemeinsam beginnen: Die gemeinsame Intention entwickeln
Ergebnisse des gemeinsamen Beginnens
Prinzipien
Praktiken
Während eines Schneesturms zur Welt gekommen
2. Gemeinsam erspüren: Die Wirklichkeit von den Systemrändern her sehen
Ergebnisse des gemeinsamen Erspürens
Prinzipien
Praktiken
Social Presencing Theater: Geist-Materie-Reintegration im sozialen Feld
3. Presencing: Sich mit dem höchsten Zukunftspotenzial verbinden
Die Presencing-Klausur
Beispiel von einem global operierenden Autohersteller
Ergebnisse des Presencing-Workshops
Prinzipien
Praktiken
Die Schatten von Berlin transformieren
4. Co-Kreation: Das Neue herauskristallisieren und durch praktisches Handeln Prototypen erstellen
Beispiele aus Namibia und Brasilien
Ergebnisse der Co-Kreation
Prinzipien
Praktiken
5. Gemeinsam gestalten: Das Neue institutionalisieren und Ökosysteme der Innovation aufbauen
Beispiele aus Namibia und dem MITx u.lab
Ergebnisse des gemeinsamen Gestaltens
Prinzipien
Teil III: Ein Narrativ des evolutionären Gesellschaftswandels
6Die Aktualisierung des gesellschaftlichen Betriebssystems
Ökonomie 4.0
Das Grundthema: Warenfiktion
Die Lösung: Aktualisierung des wirtschaftlichen Betriebssystems
Die Matrix der ökonomischen Transformation: Sieben Akupunkturpunkte
Verlagerung vom Egosystem-Bewusstsein zum Ökosystem-Bewusstsein
Demokratie 4.0
Transsektoralität 4.0
Gesundheit: Von der Pathogenese zur Salutogenese
Bildung: Vom auf den Lernenden gerichteten Lernen zur Aktivierung tieferer Quellen des Lernens
Lebensmittel: Von biologischer Landwirtschaft zur Heilung von Mensch und Erde
Finanzsystem: Von der Extraktion zur Intention
Koordination: Vom Wettbewerb zum bewusstseinsbasierten kollektiven Handeln
4.0 Labor
7Zurück zu den Wurzeln
Mit Grüßen an die Stasi
Den Kurs halten
»Ich kann es nicht nicht tun«
u.lab
Mach mit!
Literatur
Über das Presencing Institute
Über den Autor
Zehn Jahre nach der ersten Publikation von Theory U im Jahr 2006 bat mich mein amerikanischer Verleger, dieses Buch zu schreiben. In einem etwas höflicheren Ton als meine folgende Formulierung gab er mir zu verstehen: »Nun, Theory U verkauft sich gut. Aber offen gestanden haben wir keine Ahnung, warum. Das Buch ist fast nicht lesbar. 500 Seiten, Dutzende von Tabellen, Hunderte von Fußnoten – es vereint in sich alles, was wir Ihnen als Verleger empfehlen würden, nicht zu tun.« Dann schlug er vor: »Warum schreiben Sie jetzt zur Abwechslung nicht mal ein Buch, das lesbar ist – kürzer, verständlicher und aktualisiert?«
Ich wirkte wahrscheinlich etwas indigniert. Als er das merkte, wies er schnell darauf hin, dass einige andere Autoren, die ich bewundere, seiner Empfehlung gefolgt seien: Zuerst schreiben sie umfassend über das, was sie entwickelt haben, und im nächsten Buch erklären sie dies dann auf verständlichere Weise. Das Buch, das Sie jetzt vor sich liegen haben, ist das Ergebnis.
Mit der nun vorliegenden Einführung in Theorie U – eine bewusstseinsbasierte Methode für die Veränderung von Systemen – versuche ich, folgende Fragen zu beantworten: Wie lernen wir in dem Moment, in dem wir mit Umbrüchen konfrontiert sind? Wie lernen wir von der im Entstehen begriffenen Zukunft?
Theorie U verbindet Systemdenken, Innovation und Veränderungsmanagement – aus der Perspektive eines sich entwickelnden menschlichen Bewusstseins. Mit Rückgriff auf die am Massachusetts Institute of Technology (MIT) lebende Tradition der Aktionsforschung und des Learning by Doing (Lernen durch unmittelbares Anwenden) hat sich Theorie U über zwei Jahrzehnte hinweg in der praktischen Anwendung dadurch weiterentwickelt, dass ein globales Team von Praktikern Theorie U auf aktuelle und komplexe Probleme angewandt hat und anwendet. Theorie U basiert auf drei Kernelementen:
1) einem Bezugsrahmen, der den blinden Fleck der Führung und der Systemveränderung sichtbar macht;
2) einer Methode, bewusstseinsbasierte Veränderung durch einen Prozess, Prinzipien und Praktiken zu initiieren;
3) einem neuen Narrativ zu einem sich entwickelnden gesellschaftlichen Wandel und einem Upgrade unseres mentalen und institutionellen Betriebssystems in allen gesellschaftlichen Bereichen.
In Teil I werden der Bezugsrahmen und die wichtigsten Ideen von Theorie U präsentiert (Kap. 1–4). Insbesondere wird der blinde Fleck von Führung heute beleuchtet: der »innere Zustand«, die Intention, die den Quellpunkt jeder Handlung konstituiert.
In Teil II werden der Prozess, die Kernprinzipien und die Praktiken von Theorie U beschrieben (Kap. 5). Das Kapitel gibt eine Übersicht über praktische Methoden und Instrumente für Innovatoren, die etwas verändern möchten. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die kollektive Fähigkeit ausgebildet werden kann, den inneren Ort, von dem aus wir handeln, zu verändern.
In Teil III wird ein neues Narrativ für einen tiefgreifenden allmählichen Wandel in der Gesellschaft vorgestellt (Kap. 6–7). Was braucht es, um Gesellschaften so umzugestalten, dass die drängenden Herausforderungen unserer Zeit angegangen werden können? Wie lässt sich durch eine veränderte Intention und eine veränderte Achtsamkeit ein System kollektiv transformieren? In diesem Teil des Buches wird ein Gedankengerüst entworfen, wie die »Betriebssysteme« unserer Bildungseinrichtungen, unserer Volkswirtschaften und Demokratien aktualisiert werden können, also ein Upgrade bekommen. Hier werden die zentralen Konzepte von Theorie U auf die Transformation kapitalistischer Strukturen angewandt.
Theorie U verbindet folgende Methoden und Entwicklungslinien mit dem Ziel, Veränderungsmacher in ihrer Arbeit zu unterstützen:
•Aktionsforschung und organisationales Lernen in der Tradition von Peter Senge, Edgar Schein, Donald Schön, Chris Argyris und Kurt Lewin;
•Design Thinking (strukturierte Herangehensweise an Innovation, kreative Methode zur Veränderung, in Gestaltung denken – Anm. d. Übers.) in der Tradition von Tim Brown und Dave Kelley;
•Achtsamkeit, Kognitionswissenschaft und Phänomenologie in der Tradition von Francisco Varela, Jon Kabat-Zinn, Tania Singer, Arthur Zajonc und David Bohm;
•Impulse der Zivilgesellschaft in der Tradition von Martin Luther King Jr., Nelson Mandela, Mahatma Gandhi und Millionen von Menschen, die an Veränderungen in ihren lokalen Kontexten arbeiten.
Im Kern beschreibt Theorie U das In-die-Welt-kommen sozialer Wirklichkeit. Ich bin achtsam [auf diese Weise], also entsteht die Welt [in jener Weise]. Oder wie es Bill O’Brien, der frühere CEO von Hanover Insurance, formulierte: »Der Erfolg einer Intervention hängt vom inneren Zustand des Intervenierenden ab.«
Theorie U lenkt unsere Aufmerksamkeit auf den blinden Fleck von Führung und Organisation: auf die »innere Qualität«, d. h. auf die Quellen, aus denen sowohl unser individuelles als auch unser kollektives Handeln hervorgeht.
Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen. Für meinen Vater war die Qualität eines Feldes immer ein wesentlicher Punkt, an dem sich seine Arbeit ausgerichtet hat. Was ich von der Arbeit meines Vaters gelernt habe, ist, dass jedes Feld zwei Dimensionen hat: eine sichtbare, die das an der Oberfläche Wachsende zeigt, und eine unsichtbare, nämlich das unter der Oberfläche Befindliche – d. h. die Qualität des Bodens.
Die gleiche Unterscheidung gilt für soziale Felder. Wir können sehen, was Menschen tun, also die sichtbaren Ergebnisse wahrnehmen. Worauf wir aber seltener unsere Wahrnehmung richten, das sind die Quellpunkte und die inneren Zustände, auf deren Basis wir handeln. Theorie U lenkt unsere Aufmerksamkeit genau auf diesen blinden Fleck – auf die unsichtbare Quellpunkt-Dimension des sozialen Feldes – auf die Qualität von Beziehungen, die wir zueinander haben, auf das System und auf uns selbst.
Theorie U unterscheidet zwischen vier verschiedenen Quellpunkten, aus denen unsere Handlungs- und Aufmerksamkeitsstrukturen entspringen. Diese vier Ausgangspunkte ergeben sich aus der Qualität des Bewusstseins, d. h., aus der Qualität von (1) gewohnheitsmäßigen, (2) egosystemischen, (3) empathischen oder (4) schöpferischökosystemischen Beziehungsmustern.
Die Qualität von Führung verändert sich, wenn wir unseren blinden Fleck (diese inneren Zustände oder Quellpunkte) erkennen und entsprechend den inneren Ort, von dem aus wir handeln, verändern, wie es die jeweils konkrete Situation erfordert. Das heißt, dass unsere Aufgabe als Führungskräfte und Innovatoren darin besteht, den Boden des sozialen Feldes zu kultivieren. Das soziale Feld ist die Summe der Beziehungen zwischen Individuen, Gruppen und Systemen, aus denen Denk-, Gesprächs- und Organisationsmuster hervorgehen, die ihrerseits praktische Ergebnisse generieren.
Soziale Felder sind soziale Systeme, allerdings von innen her betrachtet, aus der Sicht ihres inneren Zustands. Damit wir von der Perspektive des sozialen Systems zur Perspektive des sozialen Feldes gelangen, müssen wir unseren blinden Fleck erkennen, d. h. den Quellpunkt unserer Aufmerksamkeit und unserer Handlungen in den Lichtkegel unserer Aufmerksamkeit stellen. Die Qualität dieser Quelle hat fundamentale Auswirkungen auf die Qualität und Struktur von Führung, aber auch von Lernen und Zuhören.
Heute besteht das Problem von Führung darin, dass die meisten Menschen denken, Führung sei eine Eigenschaft von Individuen und funktioniere mit einer Person an der Spitze. Doch wenn wir Führung als die Fähigkeit eines Systems – oder einer Gemeinschaft – betrachten, die Zukunft gemeinsam zu erspüren und zu realisieren, dann erkennen wir, dass Führung immer auf viele Menschen verteilt ist – sie muss jeden Einzelnen einbeziehen. Um die kollektive Fähigkeit entwickeln zu können, muss sich ein jeder in diesem System als Pfleger des größeren Ökosystems wahrnehmen und einsetzen lernen. Damit wir dies auf zuverlässigere, dezentralisierte und intentionale Weise zuwege bringen können, brauchen wir:
•eine soziale Grammatik: eine Sprache;
•eine soziale Technik: Methoden und Instrumente;
•ein neues Narrativ von sozialem Wandel.
Die Grammatik des sozialen Feldes wird in Teil I ausformuliert. Die Methode, eine bewusstseinsbasierte Sozialtechnologie, wird in Teil II beschrieben. In Teil III werden beide Teile zu einem Narrativ der gesellschaftlichen und zivilisatorischen Erneuerung zusammengefügt.
Theorie U ist um einen Kernprozess des gemeinsamen Erspürens und In-die-Wirklichkeit-Bringens von Zukunftsmöglichkeiten herum angeordnet. Doch sie ist noch viel mehr. Die in diesem Buch skizzierte Grammatik und Methode funktionieren wie eine Matrix und nicht wie ein linearer Prozess. Zu den Führungsfähigkeiten, die im Zentrum der U-Methode stehen, gehören:
•Zurückhaltung und Staunen: Nur wenn wir unsere Meinung oder unser Urteil zurückhalten, können wir staunen und Neues sehen. Wir staunen, wenn wir bemerken, dass es mehr gibt, als gewohnte Muster des Denkens, Sprechens oder Handelns herunterzuspulen.
•Gemeinsames Erspüren: Um die Quellen der Zukunft zu erspüren, ist es notwendig, sich selbst an Orte mit höchstem Potenzial zu begeben. Verbinde dich mit diesen Orten, und halte dein Denken und dein Herz weit geöffnet.
•Die Kraft der Intention: Die Kraft der »Intention« ist der Schlüssel für Veränderung. Presencing heißt, von der höchsten Zukunftsmöglichkeit her wahrnehmen und handeln. Das Wort Presencing verbindet »presence« und »sensing« und basiert auf einer Gegenwärtigung der höchsten Zukunftsmöglichkeit durch das authentische Selbst. Es geht darum, das Spektrum der Möglichkeiten zu vergrößern. Es geht um die Stärkung deiner eigenen Ressourcen in einer Welt, die uns ansonsten zerreißt. Es geht darum, sich der eigenen Quellen des Erkundens, der Empathie und des Mutes bewusst zu werden.
•Gemeinsames Erschaffen: Erkunde die Zukunft im Handeln, indem du der entstehenden Zukunft eine Landebahn bereitstellst.
•Herstellen sozialer Gefäße: Schaffe neue schützende Räume, die das schöpferische soziale Feld aktivieren.
Unsere derzeitigen gesellschaftlichen Ökosysteme haben das Problem, dass die Feedbackschleife zwischen den Teilen und dem Ganzen unterbrochen ist. Theorie U bietet eine Methode, die Teile und das Ganze wieder zusammenzufügen, indem das System die Möglichkeit bekommt, sich zu erspüren und sich selbst zu sehen. Wenn das geschieht, beginnt sich das kollektive Bewusstsein vom Egosystem-Bewusstsein zum Ökosystem-Bewusstsein umzuschichten – von einer Silomentalität hin zur Systemsicht.
Die Methoden und Instrumente von Theorie U können Gruppen dazu befähigen, diese Veränderung des inneren Ortes auf kollektiver Ebene herzustellen. Beispielsweise kann Social Presencing Theater (SPT) es ermöglichen, dass eine Gruppe sich – sowohl individuell als auch kollektiv – selbst erspürt und erkennt, indem der Beobachtungsstrahl auf die beobachtende Person1zurückgelenkt wird.
Energie folgt Aufmerksamkeit. Worauf auch immer wir als Führungskraft, Lehrer oder Elternteil usw. unsere Aufmerksamkeit lenken – das ist dann der Ort, zu dem die Energie des Teams hinfließen wird. Wenn wir sehen, dass die Qualität der Aufmerksamkeit vom Ego- zum Ökosystem, also vom Ego zum Wir, umschlägt, kommt der Moment, in dem die tieferen Qualitäten des sozialen Feldes sichtbar werden, in dem das schöpferische soziale Feld aktiviert wird.
Meine Erfahrungen in 20 Jahren Arbeit mit Theorie U und auch mit anderen Veränderungsmethoden lässt sich so auf den Punkt bringen: Die Qualität von Ergebnissen, die ein System erzielt, hängt von der Qualität des Bewusstseins ab, auf dessen Basis die Menschen in diesem System handeln. Das heißt: Form folgt Bewusstsein.
1 Auf Wunsch des Autors werden in diesem Buch nach Möglichkeit genderneutrale Formen verwendet. Zuweilen wird nur die maskuline Form verwendet – dies geschieht zum Zweck der besseren Lesbarkeit. Selbstverständlich sind damit immer alle Menschen gemeint. Verlag und Autor hoffen auf Ihr Verständnis.
Im Kern dieses Buches geht es zwar um eine neue Methode, bewusstseinsbasierten Systemwandel einzuleiten, aber es geht auch um den Weg des Selbst – in diesem Fall um den Weg meines eigenen Selbst, um den Weg eines Kindes, das auf einem Bauernhof aufwuchs, später Aktivist in sozialen Bewegungen war und dann anfing, Volkswirtschaften und den Aufbau von lernenden Infrastrukturen in Teams, Organisationen und auf gesellschaftlicher Ebene neu zu denken. Ein solcher Entwicklungsweg ist natürlich eingebettet in ein ganzes Beziehungsnetz, das die in diesem Buch beschriebene Arbeit miterschaffen hat.
Mein aufrichtiger Dank geht an das globale Netzwerk von Partnern und Mitarbeitern, die geholfen haben, (1) diesen Bezugsrahmen zu entwickeln, (2) die Methode zu verfeinern und (3) gemeinsam ein Narrativ und eine Bewegung entstehen zu lassen, die angesichts heutiger Herausforderungen nie zeitgerechter hätte sein können.
Ich verbeuge mich in tiefer Dankbarkeit vor denen, die das Presencing Institute mitgestaltet haben:
Die Mitbegründer:
•Katrin Käufer danke ich für ihre Pionierarbeit, in wertorientiert arbeitenden Banken neue Umfelder für Lernen zu entwickeln, indem sie intentionale Kapitalnutzung und Presencing-Praktiken miteinander verbunden hat.
•Arawana Hayashi danke ich für die Etablierung des Social Presencing Theater, einer neuen Methode und Kunstform für integriertes Wissen in sozialen Systemen.
•Kelvy Bird danke ich für die Entwicklung der Methode des generativen Skizzierens, das Presencing-Praktiken durch visuelle Übungen konkrete Formen gibt.
•Marian Goodman danke ich dafür, dass sie ein globales Ökosystem des Lernens um Presencing-Praktiken herum hat wachsen lassen.
•Dayna Cunningham danke ich dafür, dass sie uns beigebracht hat, wie man Presencing-Praktiken in komplexe Umfelder des systemischen Rassismus und der strukturellen Gewalt einführen kann.
•Ursula Versteegen danke ich dafür, dass sie einer auf Achtsamkeit bedachten Landwirtschaft und Bildung Presencing-Praktiken nahegebracht hat.
•Beth Jandernoa und dem Circle of Seven (ein Kreis, der sich mit Fragen der Intention und der kollektiven Aufmerksamkeitsfelder befasst) danke ich für ihre Unterstützung.
Das Kernteam des u.lab:
•Adam Yukelson danke ich für das gemeinsame Erschaffen der Plattform und der Inhalte des u.lab.
•Julie Arts danke ich für die Moderation von u.lab Hub Host und die Mitentwicklung des Ecosystem Leadership Programs.
•Angela Baldini, Florentina Baj und Simoon Fransen danke ich für die Moderation und Unterstützung der multilokalen Gemeinschaft von Hub Host und u.lab.
•Lili Xu und Jayce Lee danke ich dafür, dass sie u.lab China gegründet und darum herum ein erstaunliches landesweites Ökosystem von Innovationen aktiviert haben.
•Martin und Aggie Kalungu-Banda danke ich dafür, dass sie u.lab Africa und das Ubuntu Lab mitgestaltet und als Prototyp entwickelt haben und afrikaweit mit zahlreichen Initiativen der unterschiedlichsten Akteure zusammenarbeiten.
Unsere Partner des Kernteams in verschiedenen Weltgegenden:
•Frans Sugiarta, Dr. Ben Chan und Shobi Lawalata danke ich dafür, dass sie die Programme u.lab und IDEAS in Indonesien in Zusammenarbeit mit »UID« (United in diversity) mitmoderiert und deren Leitung mitübernommen haben.
•Julia Kim und Ha Vinh Tho danke ich dafür, dass sie die Messgröße Bruttonationalglück (BNG) und Presencing-Praktiken in Bhutan, Vietnam und Thailand miteinander kombiniert haben.
•Kenneth Hogg und Keira Oliver danke ich für die Umsetzung von u.lab in der schottischen Regierung, um eine neue Form der Gemeindeentwicklung zu aktivieren.
•Denise Chaer danke ich für ihre wegweisende Arbeit mit Food & Nutrition Lab in Brasilien.
•Katie Stubley danke ich für die Aktivierung der schöpferischen Felder auf Grundlage von Presencing-Praktiken in Australien.
•Manish Srivastava danke ich für die Integration der Presencing-Praxis in die von Gandhi inspirierten Veränderungsprozesse in Indien.
•Gene Toland danke ich für den Aufbau einer lateinamerikanischen Community of Practice.
•Reola Phelps und Wibo Koole danke ich für ihre Arbeit im Sustainable Food Lab in Äthiopien.
•Beth Mount danke ich für die Verknüpfung von Inklusionsarbeit und Social Presencing Theater.
•Liz Solms und Marie McCormick danke ich für die Führung unseres Bildungslabors (Education Lab) in Los Angeles.
•Dieter van den Broeck danke ich dafür, dass er den U-Prozess bei der Restaurierung von natürlichen Ökosystemen weltweit einsetzt.
•Susan Skeji und Kathryn Schuyler danke ich für die Zusammenarbeit hinsichtlich einer bewusstseinsbasierten Aktionsforschung.
•Ich danke John Heller und unseren Kollegen vom Synergos-Institut, die in Labor-Initiativen auf der ganzen Welt arbeiten.
•Ich danke Cherie Nursalim und unseren Kollegen von United in diversity (UID) in Indonesien, Singapur und China.
•Ich danke Claudia Madrazo und unseren Kollegen von La Vaca Independiente in Mexiko.
•Ich danke Wiebke König und Katharina Lobeck von der GIZ (Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) Global Leadership Academy.
Unser Kreis von Beratern und Vorstandsmitgliedern:
•Peter Senge, Edgar Schein, Arthur Zajonc, Diana Chapman Walsh, Eileen Fisher, Isabel Guerrero, Becky Buell, Antoinette Klatzky und Christian von Plessen danke ich dafür, dass sie das Presencing Institute von der Idee zum globalen Einfluss mitangeregt haben.
Und:
•Janice Spadafore danke ich für ihre erstaunliche Fähigkeit, dem ganzen dynamischen Chaos eine Struktur zu geben!
Mit großer Wertschätzung danke ich meinen Kollegen am MIT, unter anderem Deborah Ancona und Phil Thompson, sowie dem Präsidenten Rafael Reif und Sanjay Sarma, Vizepräsident am MIT für digitales Lernen, für seine Weitsicht bei der Entwicklung von MITx, edX und neuen Lernformen, in denen Plattformen wie u.lab gedeihen können.
Großer Dank geht auch an Joseph Jaworski, Brian Arthur, John Milton, Eleanor Rosch, Ikujiro Nonaka, Francisco Varela (1946–2001), Nan Huai-Chin, Henri Bortoft, Betty Sue Flowers, Michael Jung und Adam Kahane, die kritische Beiträge zur ersten Formulierung von Theorie U in den Büchern Theory U und Presence (zusammen mit Peter Senge, Joseph Jaworski und Betty Sue Flowers) leisteten.
Mein Dank gilt nicht zuletzt Katrin Käufer für ihre wertvollen Beiträge zu dem Manuskript; Barbara Mackay, Jan Byars und Rob Ricigliano danke ich für ihre Kommentare zum Entwurf; Janet Mowery dafür, dass sie dem Text ihr großes redaktionelles Geschick hat angedeihen lassen; Kelvy Bird dafür, dass sie die wunderbaren Abbildungen beigetragen hat; Jeevan Sivasubramaniam für den Vorschlag, dieses Buch zu schreiben; und den Teams von Berrett-Koehler und Carl-Auer danke ich dafür, dass sie das Manuskript zu einem Buch gemacht haben, das für die Leserschaft hoffentlich hilfreich und bedeutsam wird.
Ein Dank an euch alle.
Viel Freude beim Lesen!
Otto ScharmerCambridge, MassachusettsApril 2019
Oft höre ich, dass zwar viel über Veränderung geredet wird, aber genau genommen sehr wenig passiert. Meine Erfahrung ist eine andere. Ich habe in meinem Leben mehrere Male tektonische Verschiebungen erlebt. Ich habe sie erlebt, als 1989 die Berliner Mauer fiel – und mit ihr das System des Kalten Kriegs zusammenbrach. Ich habe sie erlebt, als in Südafrika die Rassentrennung aufgehoben wurde. Ich habe sie erlebt, als eine Jugendbewegung den ersten afroamerikanischen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika ans Ruder brachte. Ich sehe sie darin, wie sich in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten das Zentrum der Weltwirtschaft von der westlichen Welt in den ostasiatischen Raum und von der analogen in die digitale Ökonomie verlagert hat. Und ich sehe sie nun im jüngsten Vormarsch von Autokraten, Nationalisten und illiberalen Rechtsbewegungen als Gegenreaktion auf eine einseitige Globalisierung und als eine Überschattung von einem weitaus bedeutsameren Grundphänomen unserer Zeit: dem Erwachen eines neuen Bewusstseins überall auf der Welt.
Auch wenn nicht alle diese Veränderungen zu einer tektonischen Verschiebung geführt haben, kann man meines Erachtens zu der Schlussfolgerung kommen: Heute kann alles passieren. Ich glaube, dass die wichtigste tektonische Verschiebung zu unseren Lebzeiten nicht hinter uns liegt, sondern direkt vor uns. Diese Verschiebung hat mit der Transformation von kapitalistischen Strukturen, von Demokratie, Bildung und dem eigenen Selbst zu tun.
Wir leben in einer Zeit tiefgreifender Möglichkeiten und Umbrüche; in einem Moment, der vom Verschwinden einer alten Mentalität und Organisationslogik geprägt ist und vom Erwachen eines neuen Bewusstseins und Verfahrens, schöpferische soziale Felder zu aktivieren. Was gerade stirbt und zerfällt, ist eine Welt des Mich-zuerst, des Je-größer-desto-besser und der von Sonderinteressen gesteuerten Entscheidungsfindung, die uns in einen Zustand der organisierten Verantwortungslosigkeit geführt hat.
Was gegenwärtig entsteht, lässt sich weniger deutlich umreißen. Es hat zu tun mit der Verschiebung vom Egosystem-Bewusstsein zum Ökosystem-Bewusstsein – einem Bewusstsein, das auf das Wohlergehen aller gerichtet ist. An vielen Orten auf allen Erdteilen können wir tatsächlich das Erwachen dieses Bewusstseins und die ihm eigene Kraft miterleben: die Aktivierung der Intelligenz des Herzens. Gruppen, die auf der Basis eines solchen Bewusstseins handeln, können, um mit den Worten von Eleanor Rosch, Professorin für Kognitionspsychologie an der University of California, Berkeley, zu sprechen, »schockierend effektiv sein«.
Die Ansätze dieser Verschiebung muten – verglichen mit den enormen Herausforderungen, mit denen wir weltweit konfrontiert sind – vielleicht klein und unbedeutend an. Und in vielerlei Hinsicht sind sie es auch. Doch ich glaube, dass in ihnen die Keime für eine tiefgreifende zivilisatorische Erneuerung schlummern, die notwendig ist, um den Wesenskern unseres Menschseins zu schützen und weiter zu aktivieren.
Meine Kollegin und Mitbegründerin des Presencing Institute, Kelvy Bird, hält diese gefühlte Wahrnehmung im Bild eines Abgrunds (s. Abb. 1) fest.
Wenn wir uns auf die linke Seite des Bildes stellen, dann sehen wir eine Welt, die zerfällt und verschwindet (die Strukturen der Vergangenheit); auf der rechten Seite sehen wir die neuen mentalen und sozialen Strukturen, die gerade entstehen. Die Herausforderung ist, wie man den Abgrund überwindet, der die beiden Seiten trennt: Wie bewegt man sich von »hier« nach »da«?
Abb. 1: Die Herausforderung des Umbruchs
Dieses Bild beschreibt, kurz gesagt, den Gang dieses Buches: den Weg über den Abgrund, d. h. von einer jetzigen Realität, die an der Vergangenheit orientiert ist, hin zu einer entstehenden Zukunft, die von unserem höchsten Zukunftspotenzial inspiriert ist.
Dieser Weg ist heutzutage wichtiger als je zuvor. Wenn wir auf die heutige Situation blicken, sehen wir drei Abgründe. Diese sind:
•der ökologische Abgrund: eine noch nie da gewesene Umweltzerstörung – die zum Verlust der Natur führt.
•der soziale Abgrund: ein Auseinanderfallen der Gesellschaft, eine Polarisierung und Fragmentierung, die zum Verlust des sozialen Zusammenhalts führt.
•der spirituelle Abgrund: steigende Zahlen von Burnout-Fällen und Depressionen – was zum Sinnverlust und zum Verlust der Wahrnehmung vom eigenen Zukunftspotenzial führt.
Der ökologische Abgrund lässt sich in einer einzigen Zahl zusammenfassen: 1,7. Derzeit verbraucht unsere Volkswirtschaft die Ressourcen von 1,7 Planeten. Wir beuten die Regenerationsfähigkeit unseres Planeten Erde um das 1,7-Fache aus. Und das ist nur eine globale Durchschnittszahl. Die Vereinigten Staaten beispielsweise beuten den Planeten um mehr als das Fünffache aus.
Der soziale Abgrund lässt sich mit einer anderen Zahl abbilden: 26 Milliardäre besitzen so viel wie die Hälfte der gesamten Menschheit. Ja, das stimmt. Eine kleine Gruppe von Menschen, die man in einem einzigen Bus unterbringen kann, besitzt mehr als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, d. h. 3,8 Milliarden Menschen.
Der spirituelle Abgrund lässt sich mit der Zahl 800.000 resümieren. Jährlich begehen mehr als 800.000 Menschen Suizid – eine Zahl, die größer ist als die Summe aller Menschen, die durch Krieg, Mord und Naturkatastrophen getötet werden. Alle 40 Sekunden ereignet sich ein Suizid.
Im Wesentlichen erzeugen wir kollektiv Ergebnisse, die (fast) niemand wünscht. Zu diesen Resultaten zählen die Zerstörung der Natur, der Verlust von Gesellschaft und der Verlust des eigenen Selbst.
Im 19. Jahrhundert war die öffentliche Diskussion vielerorts auf die Entstehung der sozialen Kluft fokussiert. Im 20. Jahrhundert erlebten wir die Entstehung der ökologischen Kluft, vor allem im letzten Drittel des Jahrhunderts. Auch sie hat unser öffentliches Bewusstsein geprägt.
Und zu Beginn des 21. Jahrhunderts erleben wir die Entstehung einer spirituellen Kluft. Angefacht durch die massiven technologischen Umbrüche, die wir seit der Geburt des WorldWideWeb in den 1990er-Jahren beobachten, wird bis 2050 etwa die Hälfte unserer Arbeitsplätze aufgrund von technischen Entwicklungen wegfallen. Wir sind mit einer Zukunft konfrontiert, die »uns nicht mehr braucht«, um mit den Worten des Informatikers und Mitbegründers von Sun Microsystems, Bill Joy, zu sprechen, und die uns ihrerseits zwingt, unser Menschsein neu zu definieren und zu entscheiden, in welcher Art von Gesellschaft wir zukünftig leben und wie wir diese gestalten wollen. Bewegen wir uns nach den vielfältigen Gewaltherrschaften, wie wir sie im 20. Jahrhundert gesehen haben, jetzt auf eine Tyrannei der Technologie zu? Das ist eine der Fragen, auf die wir treffen, wenn wir in den oben beschriebenen Abgrund blicken.