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Finanzkrise, Energiekrise, Klimakatastrophe, Massenarmut, Massenmigration, Fundamentalismus – wir leben in einem Zeitalter zerstörerischen Wandels. Die alte Denkweise der "Ego"-Maximierung – maximaler materieller Konsum, "größer ist besser" – und eine von Sonderinteressen getriebene Entscheidungsfindung stoßen an ihre Grenzen: Der Zustand organisierter Verantwortungslosigkeit produziert Ergebnisse, die niemand wollen kann. Entscheidend ist ein Blickwechsel von der Bekämpfung des Alten hin zu einem Erspüren und "Gegenwärtigen" der jeweils größten zukünftigen Möglichkeit. Darin liegt der Kern von zeitgemäßer Führungsarbeit. C. Otto Scharmer hat mit der "Theorie U" die Grundlagen für das Führen von der entstehenden Zukunft her geschaffen. In seinem neuen Buch wendet er – unterstützt von seiner MIT-Kollegin Katrin Käufer – das "Presencing" auf die Praxis in Wirtschaft, Politik, Zivilgesellschaft, Medien, Wissenschaft und Kommunen an. Der Clou ist, dass die Technik des "Presencing" hier mit einem Wechsel des gesamten Bezugsrahmens einhergeht: Statt auf ein "Egosystem-Bewusstsein", das auf das Eigenwohl konzentriert ist, bauen die Autoren auf ein "Ökosystem-Bewusstsein", das auf das Wohl aller, auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist. Dieser Bewusstseinswandel betrifft nicht nur Individuen, sondern auch Teams, Gruppen und Organisationen bis hin zur Gesellschaft als Ganzes. Das Buch hilft Führungskräften, Beratern und Entscheidern dabei, Ideen, Experimente und persönliche Praktiken zu entwickeln, die diesen Wandel erleichtern und unterstützen. Ergänzendes Online-Material unterstützt die Umsetzung in den Führungsalltag.
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Seitenzahl: 495
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Für HMS und JCS
C. Otto Scharmer/Katrin Käufer
Von der Egosystem- zur Ökosystem-Wirtschaft
Theorie U in der Praxis
Aus dem Amerikanischenvon Maren Klostermann
Mit einem Vorwort von Götz W. Werner
Dritte Auflage, 2023
Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:
Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)
Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)
Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)
Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)
Dr. Barbara Heitger (Wien)
Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)
Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)
Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)
Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)
Dr. Roswita Königswieser (Wien)
Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)
Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)
Tom Levold (Köln)
Dr. Kurt Ludewig (Münster)
Dr. Burkhard Peter (München)
Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)
Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)
Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)
Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)
Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)
Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)
Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)
Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)
Jakob R. Schneider (München)
Prof. Dr. Jochen Schweitzer † (Heidelberg)
Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)
Dr. Therese Steiner (Embrach)
Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)
Karsten Trebesch (Berlin)
Bernhard Trenkle (Rottweil)
Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)
Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)
Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)
Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)
Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)
Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)
Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann (nach Motiven der Originalausgabe)
Satz u. Grafik: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach
Printed in Germany
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Dritte Auflage, 2023
ISBN 978–3-8497-0488-9 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8423-2 (ePub)
© 2014, 2023 Carl-Auer-Systeme Verlag
und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg
Alle Rechte vorbehalten
Titel der Originalausgabe: “Leading From The Emerging Future.
From Ego-System to Eco-System Economies”
Published in 2013 by Berrett-Koehler Publishers, Inc., San Francisco, USA
© 2013, C. Otto Scharmer
All Rights reserved
© der deutschen Ausgabe Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg, 2014
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Carl-Auer Verlag GmbH
Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg
Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22
Vorwort
Einleitung
Einem sterbenden System Leben einhauchen
Einstürzende Mauern
Der blinde Fleck: Führung von der im Entstehen begriffenen Zukunft her
Symptome: Eine Landschaft der Pathologien
Strukturen: Systemische Entkopplungen
Mentale Modelle, die strukturelle Entkopplungen generieren
Egosystem-Bewusstsein versus Ökosystem-Realität
Vom Egosystem- zum Ökosystem-Bewusstsein
Quellpunkt von mentalen Modellen, Strukturen und Symptomen
Der Weg zum U-Prozess
Die Wandlung des inneren Ortes, von dem aus wir handeln
Von einer im Entstehen begriffenen Zukunft her führen
Prinzipien des Presencing
Der Weg dieses Buches
1 Oberfläche: Symptome von Tod und Werden
Der Sturz von Tyrannen
Presencing: Anwesendwerden
Absencing: Abwesendwerden
Momente des Abgleitens und der Achtsamkeit
Bruchlinien
Drei Abgründe
Schlussbemerkung und praktische Übungen
2 Struktur: Systemische Entkopplungen
Der blinde Fleck (I)
Acht strukturelle Entkopplungen
Die ökonomische Verfassung unserer Gesellschaft
Die Evolution des Kapitalismus als Evolution des Bewusstseins
Eine Landkarte, viele Wege
Globalisierung 1.0, 2.0, 3.0 – und 4.0?
Schlussfolgerung und praktische Übungen
3 Denkmodelle: Die Matrix der ökonomischen Evolution
Der blinde Fleck (II): Bewusstsein
Soziale Felder
Oikos: die Ursprünge ökonomischen Denkens
Der Tod des ökonomischen Monotheismus
Die Matrix der ökonomischen Evolution
Die Matrix lesen
Fragen
1) Natur: Die Reintegration von Ökonomie und Natur
2) Arbeit: Die Reintegration von Arbeit (Beruf) und Sinn (Berufung)
3) Kapital: Die Reintegration von Finanz- und Realkapital
4) Technologie: Die Reintegration von Technik und kollektiver Kreativität
5) Führung: Die Reintegration von Führung und zukünftiger Möglichkeit
6) Konsum: Die Reintegration von Ökonomie und Wohlbefinden (Well-being)
7) Koordination: Die Reintegration von Teil und Ganzem
8) Besitz: Die Reintegration von Eigentum und gesellschaftlichem Nutzen
Schlussfolgerung und praktische Übungen
4 Quelle: Gegenwärtigung der höchsten zukünftigen Möglichkeit
Der blinde Fleck (III): Quelle
Ein Gespräch über Materie und Geist
Das Tao des Führens
Der blinde Fleck der Kognitionsforschung
Die Matrix der sozialen Evolution
Das Überschreiten der Schwelle zu 4.0-Gesellschaften
Schlussfolgerung und praktische Übungen: Die Reintegration der Matrix
5 Führen der personalen Umstülpung: Vom Ich zum Wir
Der Mensch ist ein Seil
Das Durchbrechen der Mauer
Bedingungen der Möglichkeit
Wie man sich selbst zu einem Instrument der werdenden Zukunft macht
Schlussfolgerung und praktische Übungen: Zwölf Prinzipien
6 Führen der relationalen Umstülpung: Von Ego zu Öko
Drei Hindernisse: Verleugnung, Zynismus und Depression
Gespräche erschaffen die Welt
Schlussfolgerung und praktische Übungen
7 Führen der institutionellen Umstülpung: Auf dem Weg zu einer empathischen Ökosystem-Wirtschaft
Den Ort der Führung verändern
Institutionelle Umstülpung
Die sektorübergreifende 4.0-Revolution initiieren
Ein entstehender vierter Sektor: Sektorenübergreifende Plattform für eine kooperative Ökosystem-Wirtschaft
Schlussfolgerung und praktische Übungen
8 Blick nach vorn: Landebahnen der Zukunft
Die Feedbackschleife von Materie und Geist schließen: Ökonomie 4.0
Landebahnen
U. School: Studium als personale, relationale und gesellschaftliche Erneuerung
Beispiele: Spüren, was entstehen möchte
Schlussfolgerung und praktische Übungen
Danksagung
Anmerkungen
Sach- und Personenregister
Über die Autoren
»Wollen Sie sich das wirklich antun?« Es ist mehr als 40 Jahre her, dass mir ein ehemaliger Geschäftspartner diese Frage stellte. Wir waren in seinem Büro in einem der obersten Stockwerke eines Hochhauses in Frankfurt, und ich hatte ihm gerade meine Idee erklärt, einen discountierenden Drogeriemarkt zu eröffnen. Er konnte nicht verstehen, warum ich einen gut bezahlten Managerposten mit Dienstwagen sowie Sekretärin aufgeben und von vorne anfangen wollte. Für ihn lag es viel näher, dass ich das Erreichte bewahren sollte.
Jeder kennt Situationen, in denen man diesen Drang spürt, bewährte Erfolgsrezepte zu wiederholen, zu reproduzieren, zu perpetuieren. Diesem Impuls zu folgen bedeutet, Goethes berühmte Wette zu verlieren: »Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zu Grunde gehen!« Die Frage ist: Wie oft verliere ich als Einzelner diese Wette, und wie oft verlieren wir als Gemeinschaft diese Wette?
Mein Erlebnis erzähle ich, weil es ein Kernanliegen dieses Buches veranschaulicht: Orientieren wir uns an der Vergangenheit oder an der im Entstehen befindlichen Zukunft? Meine Beobachtung ist, dass jeder Einzelne sich bei seinen täglichen Entscheidungen mal an der Vergangenheit, mal an Zukunftsweisendem orientiert. Der Punkt ist: Gelingt es uns, ein Bewusstsein für die unterschiedlichen Impulse zu entwickeln?
Wir machen es uns oft nicht klar, woher der Handlungsimpuls kommt. Deswegen kann ich jedem dieses Buch von Otto Scharmer und Katrin Käufer sehr ans Herzen legen, denn es erleichtert die Bewusstseinsarbeit, die die heutigen Herausforderungen dringend nötig machen. Wir können nur die Situationen aktiv gestalten, die wir mit Bewusstsein durchdringen. Ganz im Sinne von Joseph Beuys: »Die äußere Freiheit hat ja mit Freiheit gar nichts zu tun. Die Freiheit ist das Anwachsen des menschlichen Bewusstseins.« Oder um es mit den Worten dieses Buches zu formulieren: Aufmerksamkeit und Achtsamkeit sind das Tor zum sozialen Wandel.
Jedem grundlegenden Wandel, der mittels Einsicht erfolgt, geht ein handlungsbegründendes Realträumen voraus, das künftige Wirklichkeiten vergegenwärtigt. Die Herausforderung besteht darin, das Neue zu erkennen – also auch Chancen und Gefahren zu suchen und wahrzunehmen, für die es noch keine fertigen Begriffe gibt. Das ist nur möglich, wenn wir uns von der Vergangenheit frei machen, wenn wir uns zu einem leeren Gefäß machen können, in das die Wirklichkeit gleichsam einströmt, um dort von uns unvoreingenommen, erlebend wahrgenommen zu werden.
Worauf es ankommt ist, sich wirklich innerlich zu entrümpeln von all den Urteilen, den Vorstellungen, den Gewohnheiten, den schönen Erfahrungen. Kein (Vor-)Urteil, keine Kritik darf die Wahrnehmung verschleiern.
Damit die aufgeschlossene Wahrnehmung in einer Tat münden kann, müssen wir uns beständig daran erinnern: Auch für das größte und fernste Ziel kann nur im gegenwärtigen Augenblick gehandelt werden; die Zukunft mag noch so lebhaft vor Augen stehen, wir müssen doch den Augenblick beachten. Der Unternehmer – und jeder Mensch ist ein Unternehmer seiner Lebensbiografie – muss sich immer zurückrufen in die Verantwortung für den Augenblick, er wird leicht in Gefahr geraten, nur in die Zukunft zu denken oder in der Vergangenheit haften zu bleiben.
Können wir uns von der Vergangenheit lösen? Es geht nicht darum, die Vergangenheit zu vergessen, sondern darum, uns bewusst den gegenwärtigen Folgen unserer vergangenen Handlungen zu stellen und daraus Erkenntnisse zu gewinnen. Wenn wir aus der Erfahrung zu Einsichten und Erkenntnissen gelangen, können wir die Zukunft gestalten. Die Gefahr ist, dass sich unsere Vorstellung zwischen Wahrnehmung und Denken schiebt und dass wir das Vorgestellte für unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit halten. Dann bleiben wir in unserem eigenen Vorstellungs- bzw. Erfahrungsgefängnis gefangen.
Erfolg heißt Erfolg, weil er Folgen hat. Und die Folgen des Erfolgs sind, dass sich die Situation verändert und dass wir nicht so weitermachen können wie bisher. Im besten Fall ist es der eigene Erfolg, auf den wir zu reagieren haben. Zu dem Gespräch damals in Frankfurt kam es aufgrund des Erfolgs von Discountern wie Aldi, die die Drogeriemarktbranche aufmischten. Die herkömmlichen Drogerien verloren Marktanteile. Auch mein Arbeitgeber, eine Großdrogerie, war in einer schwierigen Lage.
Mein damaliger Gesprächspartner hatte eine verantwortliche Position in der Industrie. Ich schätzte ihn. Darum hatte ich ihn um ein Gespräch gebeten, um seine Meinung zu meiner Idee zu erfahren. Sein Unverständnis für meine Pläne lag vielleicht auch daran, dass er die Dramatik meiner Lage nicht verstand. Wenn er an meiner Stelle gewesen wäre, hätte er die Situation vielleicht ähnlich beurteilt wie ich.
Die Anzeichen des Künftigen waren damals offensichtlich. Für mich war es darum evident, dass es nicht so weitergehen konnte wie davor. Ich kündigte und eröffnete den ersten dm-Markt. Die Großdrogerie, bei der ich zuvor gearbeitet hatte, ging kurze Zeit später in die Insolvenz.
Wenn wir selbstbestimmt tätig werden wollen, brauchen wir Klarheit darüber, was oder wer den aktuellen Zustand bewirkt oder beeinflusst. Die Verhältnisse werden durch die Gedanken und die Willensimpulse von Menschen herbeigeführt. Veränderung beginnt im Denken.
Diesen Zusammenhang veranschaulicht das Lebenszeugnis von Christoph Kolumbus. Er hatte das Ziel, einen kürzeren Seeweg nach Indien zu finden. Er orientierte sich nicht an seinem Know-how oder seinem Erfahrungswissen, sondern am Know-why, am Ziel. Hinzu kam die Erkenntnis, dass die Erde rund ist. Diese konnte er sich in seinem Denken aneignen und daraus eine Erkenntnisgewissheit erlangen – nämlich dass er auch nach Westen in See stechen kann. Sein Handlungsimpuls kam nicht aus dem tradierten Weltbild, aus dem vorherrschenden Denken, sondern aus einem neuen Denken, das er sich mittels einer neuen Erkenntnis erschlossen hatte. Dieses Denken eröffnete ihm neue Möglichkeiten.
Die Biografie von Kolumbus fasziniert mich: Welche unerschütterliche Erkenntnisgewissheit brauchte er, um hinaus aufs offene Meer zu segeln? Kolumbus brachte als geistesgegenwärtiger Mensch aus einer bewussten Auseinandersetzung mit den Fragen der Vergangenheit und der Zukunft das Neue in die Welt. Vor dieser Aufgabe stehen wir jeden Tag aufs Neue. Dieses Buch eröffnet dem Leser den Zugang zum Presencing, um die Spuren der Zukunft in der Gegenwart finden, aufgreifen und verwirklichen zu können.
Götz W. Werner
Finanzkrise, Nahrungsmittelmangel, Energiekrise, Wasserknappheit, Rohstoffmangel, Klimakatastrophe, Massenarmut, Massenmigration, Fundamentalismus, Terrorismus, finanzielle Oligarchien. Wir leben in einem Zeitalter des disruptiven Wandels – der krisenhaften Erschütterungen und Zusammenbrüche. Dennoch ist die Möglichkeit tiefgreifender persönlicher, gesellschaftlicher und globaler Erneuerung nie realer gewesen als jetzt. Das hier ist unser Moment.
Dieser Moment des Umbruchs enthält zugleich Elemente von Ende und Neubeginn. Was endet, ist eine alte Zivilisation und eine Denkweise der »Ego«-Maximierung – maximaler materieller Konsum, »größer ist besser« sowie eine von Sonderinteressen getriebene Entscheidungsfindung, die uns in einen Zustand organisierter Verantwortungslosigkeit geführt hat und Ergebnisse hervorbringt, die niemand will.
Was neu entsteht, ist weniger klar, aber deshalb nicht weniger wichtig. Die Ankunft des Neuen lässt sich an vielen Orten auf der Welt erspüren. Bei dieser im Entstehen begriffenen Zukunft geht es nicht nur um Brandbekämpfung und ein Herumdoktern an der Oberfläche struktureller Veränderungen. Es geht auch nicht nur darum, ein Denkmodell, das uns nicht mehr länger dienlich ist, durch ein anderes zu ersetzen. Vielmehr geht es darum, dass diese Zukunft von uns verlangt, eine tiefere Ebene unserer Fähigkeiten und unserer Menschlichkeit aufzuschließen, gewissermaßen als Landebahn zur Verfügung zu stellen. Dieser Moment, so wir ihn nicht verschlafen, begegnet uns mit der Frage, wer wir wirklich sind und was für eine Gesellschaft wir gemeinsam in die Welt bringen wollen. Es ist eine zukünftige Möglichkeit, die wir spüren, fühlen und verwirklichen können, indem wir den inneren Ort, von dem aus wir handeln, öffnen und erweitern. Es ist eine mögliche Zukunft, die in diesen Momenten der globalen Erschütterung, durch die wir uns gegenwärtig bewegen, anwesend zu werden beginnt.
Dieser innere Perspektivwechsel, von der Bekämpfung des Alten hin zu einem Erspüren und Gegenwärtigen der höchsten zukünftigen Möglichkeit, bildet den Kern substanzieller Führungsarbeit. Dieser Umschwung erfordert, unser Denken vom Kopf-Feld auf das Herz-Feld zu erweitern. Es ist der Umschwung von einem Egosystem-Bewusstsein, das auf das Eigenwohl konzentriert ist, zu einem Ökosystem-Bewusstsein, das auf das Wohl aller, auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist. Wenn wir aus einem Egosystem-Bewusstsein heraus handeln, werden wir von den Interessen und Zielen unseres kleinen Ego-Selbst gesteuert. Wenn unser Handeln auf einem Ökosystem-Bewusstsein basiert, dann werden unsere Impulse von unserem werdenden oder höheren Selbst angetrieben – das heißt von einem Interesse, das sich am Wohl des Ganzen orientiert. Die Vorsilbe Öko geht auf das griechische oikos zurück und beschreibt das »ganze Haus«. Das Wort Ökonomie hat dieselbe Sprachwurzel. Die Weiterentwicklung unserer derzeitigen Egosystem-Ökonomie in eine im Entstehen begriffene Ökosystem-Ökonomie bedeutet, dass wir ökonomisches Denken wieder mit seinem Ausgangspunkt verbinden, nämlich mit dem Wohl des ganzen Hauses und nicht mit bloßem Geldscheffeln oder dem Wohl einiger weniger Hausbewohner*. Während allerdings für die Griechen das »ganze Haus« etwas lokal Begrenztes war, umfasst es heute auch das Wohl unserer globalen Gemeinschaften und Ökosysteme.
Dieser Bewusstseinswandel vom Egosystem zum Ökosystem betrifft nicht nur Gruppen und Organisationen, sondern auch unsere globale Gesellschaft. Ideen, Experimente und persönliche Praktiken zu entwickeln, die diesen Wandel erleichtern oder unterstützen, ist möglicherweise eines der wichtigsten Unterfangen unserer Zeit.
Über die globalen Krisen unserer Zeit sind zahlreiche Bücher geschrieben worden. Warum ein weiteres hinzufügen? Mit diesem Buch hoffen wir, Führungskräfte und Veränderungsinitiatoren in ihrer Arbeit zu unterstützen und einen Beitrag für diesen Paradigmenwechsel von der Egosystem- zu Ökosystem-Wirtschaft zu leisten.
Die Welt ist im Umbruch. Mauern bröckeln, Tyrannen stürzen, Polkappen und Gletscher schmelzen. Diesen Umbruch beobachten wir seit Jahren. Doch was tief eingefroren und unverändert erscheint, sind unsere kollektiven Denkgewohnheiten und die aus diesen Denkgewohnheiten resultierenden Handlungen.
Warum ist das so? Warum schaffen wir kollektiv eine Wirklichkeit, die niemand will? Was hält uns in alten Handlungsmustern gefangen? Und was können wir tun, um diese Muster, durch die wir fest im Griff der Vergangenheit bleiben, zu durchbrechen?
Wir haben dieses Buch für all diejenigen geschrieben, die in verschiedenen Sektoren, Kulturen und Systemen, einschließlich Wirtschaft, Regierung, Zivilgesellschaft, Medien, Wissenschaft und lokalen Gemeinschaften, an Veränderungsprozessen arbeiten. Es befasst sich mit dem, was wir für einen blinden Fleck im heutigen Diskurs halten: Wie lässt sich auf die derzeitigen disruptiven Krisen von einem tiefen inneren Ort her antworten, aus einer im Entstehen begriffenen Zukunft heraus, anstatt gegen alte Muster anzukämpfen und diese damit zu replizieren?
Unsere Überlegungen basieren auf der These, dass wir, um von der entstehenden Zukunft her zu agieren, den inneren Ort, von dem aus wir handeln, verändern müssen. Dazu müssen wir in unserem Urteilen innehalten, unsere Aufmerksamkeit umwenden, die Vergangenheit loslassen und uns in die entstehende Zukunft hineinlehnen, die uns braucht, um real zu werden.
Die Fähigkeit, nicht nur auf die Vergangenheit zu reagieren, sondern sich in eine entstehende Zukunft hineinzulehnen und sie gegenwärtig werden zu lassen, ist vielleicht eine der wichtigsten Führungsfähigkeiten, die heute gebraucht werden. Je mehr wir es mit Situationen disruptiver Krisen zu tun haben, umso wichtiger ist diese Fähigkeit, von einer im Entstehen begriffenen Zukunft aus zu handeln, und das gilt nicht nur für Institutionen und Systeme, sondern auch für Teams und Individuen. Die Zeiten, in denen Individuen einen bestimmten Beruf erlernen und ihn ihr gesamtes Arbeitsleben lang ausüben, sind vorbei. Heute stehen wir vor sich rasch wandelnden Situationen, die immer mehr von uns verlangen und in denen wir uns häufig neu erfinden. Je radikaler sich unsere Umwelt verändert, desto weniger können wir uns auf existierende Denk- und Handlungsmuster verlassen und desto besser müssen wir lernen, unserem werdenden Selbst von der Zukunft her zu begegnen, ihm von dort entgegenzulaufen.
Dieses Buch ist der Versuch, drei zusammenhängende Fragen zu beantworten:
1)
Wie führen wir angesichts von Zusammenbrüchen
von der entstehenden Zukunft her
?
2)
Wie kann ein
evolutionärer
Bezugsrahmen aussehen, der eine Orientierung im Hinblick auf die
Entwicklungsstufen der Ökonomie
bietet?
3)
Welche
Strategien
können uns helfen, unser werdendes Selbst als Mikrokosmos und Vehikel für die Transformation des Ganzen zu entwickeln?
Beginnen wir mit einem Ausflug entlang des sogenannten »Eisberg«-Modells unseres derzeitigen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems (vgl. auch Abb. 1). Wieso Eisberg? Wie bei einem Eisberg sind unter der sichtbaren Ebene der Ereignisse und Krisen tiefer liegende Strukturen, mentale Modelle und Ursachen verborgen, die für die Entstehung dieser Krisen verantwortlich sind. Ignoriert man diese tiefer liegenden Schichten, dann bleiben wir in der Reinszenierung derselben alten Muster gefangen.
Eine genauere Untersuchung der verschiedenen Schichten des Eisbergs – von der Oberfläche zur Tiefe – wirft Licht auf mehrere blinde Flecke, die – wenn man sie beachtet – dazu beitragen können, unsere Ökonomie und Gesellschaft so umzugestalten, dass sie an Intentionalität, Inklusivität und Inspiration gewinnen.
Wie die Spitze eines Eisbergs – also diese 10 Prozent, die über der Wasseroberfläche sichtbar sind – machen unsere derzeitigen Krisen den sichtbaren und expliziten Teil unserer gegenwärtigen Realität aus. Diese sichtbare Symptomebene beschreibt eine Problemlandschaft, die durch drei Abgründe gekennzeichnet ist, vor denen wir gegenwärtig als Zivilisation stehen: einem ökologischen, einem sozialen und einem spirituell-kulturellen Abgrund.
Wir plündern unsere natürlichen Rohstoffe, verbrauchen jedes Jahr größere Mengen an nicht erneuerbaren, kostbaren Ressourcen. Obwohl wir nur über einen Planeten Erde verfügen, hinterlassen wir einen ökologischen Fußabdruck von 1,5 Planeten. Das heißt: Um unsere Konsumbedürfnisse derzeitig zu befriedigen, verbrauchen wir 50 Prozent mehr an Ressourcen, als die Erde reproduzieren kann. Diese Übernutzung wird z. B. darin sichtbar, dass ein Drittel unserer landwirtschaftlich nutzbaren Fläche im Laufe der letzten vierzig Jahre verschwunden ist. Verstärkt durch den rapide sinkenden Wasserpegel erhöht sich das Risiko einer Nahrungsmittelknappheit erheblich und auch das Risiko eines starken Preisanstiegs für Nahrungsmittel.
Zweieinhalb Milliarden Menschen weltweit leben von weniger als zwei US-Dollar am Tag, und rund eine Milliarde Menschen leben in extremer Armut. Auch wenn viele Erfolge in der Armutsbekämpfung zu verzeichnen sind, hat sich an dieser Zahl in den letzten Jahrzehnten kaum etwas geändert. Hinzu kommt eine wachsende Polarisierung der Gesellschaft, bei der – im Fall der USA – das oberste Prozent ein größeres Vermögen besitzt als die Gesamtheit der unteren 90 Prozent.1
Der soziale Abgrund ist das Auseinanderfallen, ist die gähnende Kluft zwischen den Besitzenden und Besitzlosen (Haves und Have Nots).
Während der ökologische Abgrund auf einer Distanz zwischen Selbst und Natur beruht und der soziale Abgrund auf einer Distanz zwischen Selbst und dem anderen, beschreibt der spirituell-kulturelle Abgrund eine Trennung in uns selber, im eigenen Selbst – das heißt einen Bruch zwischen unserem gewordenen und unserem werdenden Selbst, unserem höchstmöglichen Zukunftspotenzial. Dieser Abgrund wird in den rasant ansteigenden Fällen von Burn-out und Depressionen immer sichtbarer und reflektiert einen Bruch zwischen unserem tatsächlichen Handeln und unserem authentischen Selbst. Laut WHO starben im Jahr 2000 weltweit mehr als doppelt so viele Menschen durch Selbstmord wie in Kriegen.2
Was ist unser Umgang als Gesellschaft mit der sich vertiefenden Kluft dieser Abgründe? Was haben wir gelernt?
Im 20. Jahrhundert haben wir Ministerien und UN-Behörden für jede dieser Bruchlinien gegründet; zudem haben wir Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) geschaffen, die sich spezifischer Krisen und Probleme annehmen; in der Wissenschaft und in Universitäten haben wir für jeden dieser Problembereiche einen oder mehrere Fachbereiche, mit entsprechenden Fachzeitschriften, Promotions- und Karrierewegen etc., geschaffen. Das Ergebnis ist eine Versäulung, ist eine Silostruktur, die die Bruchlinien der jeweiligen Problem- und Symptommuster widerspiegelt und reproduziert.
In unserem Bild des Eisbergs soll jetzt ein Versuch unternommen werden, den tiefer liegenden und nicht unmittelbar sichtbaren Rest des Eisbergs zu erkennen – die tieferen systemischen Strukturen unter der Wasseroberfläche.
Ein Blick unter die Wasseroberfläche macht wichtige strukturelle Bruchlinien oder Abkopplungen sichtbar:
1)
Die Entkopplung der Finanz- von der Realwirtschaft
. Ein Symptom dieser Bruchlinie ist der Fakt, dass sich der Gesamtwert der weltweiten Devisengeschäfte 2010 auf 1,5 Billiarden US-Dollar (1 Billiarde sind 1000 Billionen) belief, während der Gesamtwert des internationalen Handels lediglich 20 Billionen US-Dollar betrug, also weniger als 1,4 Prozent aller Devisentransaktionen. Lawrence Lau, emeritierter Professor für Wirtschaftsentwicklung an der Stanford University und Chairman von CIC International (Hongkong), erklärt in diesem Zusammenhang: »Die überwältigende Mehrheit der Devisengeschäfte ist also rein spekulativ – im Grunde reines Glücksspiel, das keinerlei nützlichen sozialen Zwecken dient.«
3
Diese Entkopplung zwischen der Finanz- und der Realwirtschaft erzeugt die Finanzblasen, die die globale Wirtschaft immer wieder heimsuchen: die lateinamerikanische Schuldenkrise (1980er), die asiatische Finanzkrise (1997), die Dotcom-Blase (2000) und die US-amerikanische Immobilienkrise (2006–2007), gefolgt von der internationalen Finanzkrise (2007–2009) und der Eurokrise (2010–). Solche Finanzblasen destabilisieren die reale Wirtschaft, anstatt ihr zu dienen.
2)
Die Entkopplung eines unbegrenzten Wachstumsimperativs von den begrenzten Ressourcen der Erde
. Diese Bruchlinie zwischen einem, von der derzeitigen Wirtschaftslogik geforderten, unbegrenzten Wachstum und den nur endlichen Ressourcen der Erde hat eine Riesenblase hervorgerufen: Die eklatante Übernutzung knapper Ressourcen wie Wasser und Boden hat dazu geführt, dass innerhalb einer Generation weltweit ein Drittel unserer landwirtschaftlichen Flächen verloren gegangen ist.
3)
Die Abkopplung der Besitzenden von den Besitzlosen
. Diese Entkopplung hat zu einer extremen Ungerechtigkeitsblase geführt, bei der die reichsten ein Prozent der Weltbevölkerung (Erwachsene mit Einkommen über 500 000 US-Dollar) 40 Prozent des weltweiten Vermögens besitzen, während die Hälfte der Weltbevölkerung (50 Prozent) gemeinsam gerade einmal ein Prozent des globalen Haushaltsvermögens besitzt.
4
Die wachsende Polarisierung von Vermögen und Einkommen unterminiert den Zugang zu gleichen Chancen und untergräbt von daher grundlegende Menschenrechte in der heutigen Gesellschaft.
4)
Die Entkopplung einer institutionellen Führung von den Menschen
. Diese Abkopplung resultiert in einem Führungsdefizit, das darin sichtbar wird, dass wir kollektiv Ergebnisse hervorbringen, die niemand will. Dieser Zustand kollektiver Paralyse ist ein Kennzeichen der derzeit bestehenden systemweiten Führungsschwäche (oder »Blase«).
5)
Die Entkopplung des Bruttoinlandsproduktes (BIP) vom Wohlbefinden in der Gesellschaft
. Diese Abkopplung wird als Konsumblase sichtbar, als zunehmender materieller Konsum, der das tatsächliche Wohlbefinden der Menschen einer Gesellschaft nicht fördert. Studien in Industrieländern zeigen, dass, im Gegensatz zu weitverbreiteten Überzeugungen, ein höheres Bruttoinlandsprodukt und höherer materieller Konsum nicht zu einem größeren Wohlbefinden führen, wie wir weiter unten noch ausführlicher besprechen werden.
6)
Die Entkopplung zwischen Governance (Leitung und Kontrolle) und Menschen ohne Mitspracherecht in unseren Systemen
. Bei der Abkopplung zwischen derzeitigen Governance-Mechanismen und den Stimmen der Marginalisierten handelt es sich um ein Governance-Versagen, bei dem die Menschen das System, in dem sie leben, sei es die Stadt, der Staat oder die Region, in keiner oder nur geringer Weise beeinflussen oder ändern können. Bauern in Indien, zum Beispiel, die die Eigentumsrechte an ihrem Saatgut an Monsanto verlieren.
7)
Die Entkopplung von Eigentumsrechten von der bestmöglichen gesellschaftlichen Nutzung von Eigentum
. Diese Entkopplung resultiert in einer katastrophalen Übernutzung und einem Missmanagement der ökologisch-sozialen Gemeingüter in einem bisher nicht gekannten Ausmaß.
8)
Die Entkopplung der Technikentwicklung von realen gesellschaftlichen Bedürfnissen
. Diese Abkopplung erzeugt Wohlfühlblasen, die dem Wohlsein einiger weniger in bereits heute überversorgten Märkten dienen. So ist zum Beispiel der Großteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung in der pharmazeutischen Industrie auf Märkte in den Industrieländern ausgerichtet, während die Bedürfnisse an der Basis der sozioökonomischen Pyramide größtenteils ignoriert werden.
Diese strukturellen Entkopplungen erzeugen Systeme, die darauf angelegt sind, nicht zu lernen. Diese Systeme operieren über verzögerte oder unterbrochene Feedbackschleifen, die die Entscheidungsträger davon abhalten, die Auswirkungen ihrer Entscheidungen selbst zu erleben, zu spüren oder ihrer wirklich gewahr zu werden. In unseren komplexen und globalen Systemen beeinflussen Entscheidungsträger durch ihre Handlungen häufig große Menschengruppen, ohne die Folgen ihres Handelns jemals zu sehen, zu fühlen oder bewusst wahrzunehmen. Ohne Feedback aber gibt es kein Lernen. Die Folge ist, dass Institutionen dazu tendieren, sich zu wenig und zu spät zu ändern.5
Ein zweites Merkmal, das den strukturellen Entkopplungen gemeinsam ist, betrifft die Externalitäten. Externalität ist ein Begriff aus den Wirtschaftswissenschaften, der sich auf unbeabsichtigte Nebeneffekte für Dritte oder auf Kosten bezieht, die im Preis nicht berücksichtigt werden. Externalitäten können positiv (Gewinne) oder negativ (Kosten) sein. So genieße ich es vielleicht, mit meinem Auto zu fahren, nehme aber im Gegensatz zu dem Fahrradfahrer hinter mir nur selten die negative Externalität – die Luftverschmutzung – wahr, die ich produziere.
Abb. 1: Das Eisberg-Modell: Eine Oberfläche mit Symptomen und strukturellen Entkopplungen darunter
Unsere soziale und ökonomische Gegenwart ist dadurch gekennzeichnet, dass positive Externalitäten in der sozioökonomischen Pyramide nach oben fließen, während die negativen tendenziell nach unten fließen. Das lässt sich sowohl in Organisationen als auch auf Gesellschaftsebene beobachten. Global betrachtet sind wertvolle Rohstoffe seit Jahrhunderten vom globalen Süden zum Norden geflossen, von Entwicklungs- zu Industrieländern, während Giftmüll und toxische Produkte den entgegengesetzten Weg gegangen sind. All diese Ströme werden durch ökonomische Theorien wie z. B. die vom komparativen Kostenvorteil erklärt. Diese Theorien berücksichtigen allerdings nicht die Wirkung von Externalitäten.
Wann immer ökologische Probleme und Umweltkatastrophen eintreten, bezahlen die Armen den höchsten Preis (z. B. nach Hurrikan Kathrina in den USA oder nach den Tsunamis von 2004 und 2011 in Indonesien und Japan). Wenn die Preise für Nahrungsmittel infolge von menschengemachten Umweltproblemen in die Höhe schießen, leiden die 2,5 Milliarden Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, am meisten darunter.
In den Vereinigten Staaten forderte der wirtschaftliche Zusammenbruch von 2008 die größten Opfer von Familien mit mittlerem oder niedrigem Einkommen. Heute wissen wir, dass die Finanzbranche mit toxischen Immobilienkrediten speziell die ärmeren Bevölkerungsgruppen ins Visier genommen hatte. Während die Gewinne an der Wall Street wieder gewachsen sind, gehören die weniger Privilegierten weiterhin zu den Verlierern: Zuerst haben sie ihre Arbeit verloren, dann Fördergelder für Schulen, Schulküchen und Bibliotheken und schließlich auch noch Heizkostenzuschüsse und medizinische Dienstleistungen.
Im Gegensatz dazu kommen die Wall-Street-Banker, deren kollektives Verhalten diese Krise verursacht hat, im Großen und Ganzen wieder in den Genuss ihrer Bonuspakete. Tatsächlich haben sich ihr Einfluss und ihre Möglichkeit, dem Staat künftig noch mehr Beihilfen zu entlocken, nach 2008 weiter vergrößert. 1995 besaßen die sechs größten Bank-Dachorganisationen in den USA ein Gesamtvermögen, das auf weniger als 17,1 Prozent des US-amerikanischen Bruttoinlandsprodukts geschätzt wurde.6 Dreizehn Jahre später, am Vorabend der finanziellen Krise von 2008, beliefen sich die Aktiva dieser Finanzdienstleister auf 55 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Im Jahr 2010 war dieser Anteil keineswegs geschrumpft. Im Gegenteil – das gemeinsame Vermögen erreichte 64 Prozent des BIP. Das heißt, der Möglichkeitsraum der sechs größten Wall-Street-Banken, exzessive Risiken einzugehen, um Gewinne zu privatisieren und Verluste zu sozialisieren, indem sie einen vom Steuerzahler finanzierten Rettungsschirm erzwingen, ist nicht kleiner, sondern größer geworden.7
Ein drittes Merkmal betrifft den Geldfluss. Um kosteneffizient zu arbeiten und Kreditrisiken zu minimieren, konzentrieren sich Banken und Finanzinstitutionen auf die Finanzierung großer Projekte für bekannte Kunden, die ausreichende Sicherheiten bieten und auf bestehende Geschäftsmodelle und bekannte Technologien in vertrauten Märkten setzen.
Kleinere Projekte von jungen Unternehmern, möglicherweise ohne einschlägige Referenzen oder Sicherheiten, erfordern von den Banken, dass sie auf den Einzelfall zugeschnittene Kreditentscheidungen treffen, die riskanter und teurer sind. Um zum Beispiel zu entscheiden, ob Innovationen im Bereich erneuerbare Energien finanziert werden sollen, braucht man Fachkenntnisse, über die traditionelle Kreditgeber in der Regel nicht verfügen. Die Folge ist, dass innovative Unternehmer und kleine, noch junge Firmen, die Projekte in neuen Bereichen in Angriff nehmen oder in Bereichen mit traditionell niedrigen Gewinnen, einen besonders eingeschränkten Zugang zum Kapital haben und mehr dafür bezahlen.
Von daher fließt Geld in unserem heutigen Finanzsystem in die falsche Richtung: Wer innovativ ist, neue Ideen ausprobiert oder sogar bewusst niedrigere Gewinne in Kauf nimmt, um zum gesellschaftlichen Nutzen beizutragen, zahlt mehr, während jene, die unter Umständen bereits mehr haben, als sie wirklich brauchen, weniger zahlen.
Das sind alles Beispiele für dasselbe grundsätzliche Problem: Das ökonomische Spielfeld ist auf die Big Player ausgerichtet, welche die Gewinne an der Spitze privatisieren und die Verluste sozialisieren. Die dadurch aufgeworfene Frage, warum ökonomische Chancen derart ungleich verteilt sind, bringt uns zum vierten gemeinsamen Merkmal der strukturellen Entkopplungen – der Rolle von organisierten Sonderinteressen.
Viele organisierte Interessengruppen, zum Beispiel in Bereichen wie Bankwesen, Landwirtschaft, Atomenergie, Öl und Pharmazie, haben einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf die Steuerungsorgane, die ursprünglich mit dem Ziel gegründet wurden, diese Gruppen zu überwachen. Zur Debatte steht nicht nur das Ausmaß an Geld und Lobbyistenmacht, über das diese Gruppen verfügen, sondern auch die Drehtür-Praxis, die in Washington und anderen Regierungszentralen weltweit herrscht.
Um nur eines von vielen möglichen Beispielen zu nennen: Am 5. November 2008, dem Tag nach der Wahl von Barack Obama zum US-Präsidenten, wurde Michael Froman von Citigroup, einem einflussreichen Spendenbeschaffer im Wahlkampf, damit beauftragt, das Wirtschaftsteam der Obama-Regierung zusammenzustellen. In dieser Funktion blieb Froman zwei weitere Monate lang Angestellter von Citigroup, obwohl es seine Aufgabe war, die Personen zu identifizieren, die in den folgenden Wochen und Monaten eine Kontrollfunktion in Bezug auf Citigroup und die anderen Finanzinstitutionen ausüben sollten.8 Das Ergebnis ist bekannt.
Ähnlich kehrten diejenigen, die für die Deregulierung der Finanzbranche während der Clinton-Regierung verantwortlich waren, in Schlüsselpositionen in der Obama-Regierung zurück, wo sie massive Rettungsschirm-Programme für ihre ehemaligen Kollegen und ihre »zum Scheitern zu großen« Banken entwickelten.
Dieses Muster wiederholt sich in der Nahrungsmittelbranche. Eine Drehtür zwischen Monsanto, dem Lebensmittelriesen, und seinen beiden regulierenden Regierungsbehörden, der Food and Drug Administration (FDA) und der Environmental Protection Agency (EPA), verhindert eine wirkungsvolle Kontrolle. Die potenziellen Schäden, die aus diesem Bündnis entstehen, sind nicht weniger gravierend als im Falle des Finanzsektors.
Wenn der politische Prozess durch ungleiche Voraussetzungen und fehlende Transparenz von vornherein beeinflusst wird, kommt es zu Dysfunktionalitäten, wie oben beschrieben. Wie wir aus der Arbeit des Ökonomen Mancur Olson über kollektives Handeln wissen, können Gruppen mit nur wenigen Mitgliedern sich selbst schnell organisieren und mit einer gemeinsamen Stimme sprechen.9 Offensichtliche Beispiele sind die Big Player in der Finanz-, Lebensmittel-, Gesundheits- und Energiebranche. Größere und diversere Gruppen können sich nicht so mühelos organisieren und haben folglich größere Schwierigkeiten, den Interessen ihrer Mitglieder Gehör zu verschaffen. Steuerzahler, die für die Rettungsschirme bezahlen, und künftige Generationen sind zwei gute Beispiele für Gruppen, deren Stimme in politischen Prozessen untergeht.
Diese strukturellen Probleme sind wichtig, und es müssen neue Wege und Lösungen gefunden werden. Doch ist die strukturelle Ebene möglicherweise nicht die Grundursache für die oben besprochene Landschaft der Pathologien. Was ist also angesichts all dieser Blasen und Brüche die force motrice, die uns dazu veranlasst, diese höchst dysfunktionalen Strukturen immer wieder zu reproduzieren?
Im Eisberg-Modell bezeichnen wir diese tiefere Schicht als »Denken«, »mentale Modelle« oder Paradigmen ökonomischen Denkens.10 Wie Albert Einstein es so treffend formulierte: »Man kann Probleme nicht mit demselben Denken lösen, durch das sie entstanden sind.«11 Das Denken erschafft die Welt. Die Strukturen des ökonomischen Denkens von gestern zeigen sich in den Strukturen der Institutionen und Handlungen von heute. Wenn wir unser globales ökonomisches Betriebssystem erneuern wollen, müssen wir als Erstes das ihm zugrunde liegende Denksystem erneuern; wir müssen unsere ökonomische Logik und Denkweise aktualisieren, d. h. wieder auf Ballhöhe bringen.
Das heutige Denken prägt, wie wir die Wirklichkeit von morgen inszenieren. Diese Verbindung zwischen Denken und Erschaffung der gesellschaftlichen Realität tritt nirgends deutlicher zutage als in unserer Wirtschaft.
Die acht oben aufgeführten Bruchlinien stehen für die Entkopplung von zwei Welten – für die Entkopplung der Struktur gesellschaftlicher Realität von der Struktur ökonomischen Denkens. Man könnte auch sagen, dass es sich um eine Entkopplung der Strukturen der Ökosystem-Realität von den Strukturen des Egosystem-Bewusstseins handelt. Die heutige wirtschaftliche Realität ist eingebettet in ein globales Ökosystem von ökologischen, sozialen, politischen und kulturellen Kontexten, die aufs Engste miteinander verwoben sind und sich auf ungewisse, komplexe und schwer fassbare Weise entwickeln. Diese Bedingungen erfordern aufseiten von Entscheidungsträgern eine Denkweise, die offener, aufmerksamer, anpassungsfähiger und eingestimmter auf entstehende Veränderungen reagiert.
Stattdessen ist in der derzeitigen Realität häufig eine Entkopplung zwischen Realität und Bewusstsein zu beobachten; das heißt zwischen einer globalen Wirtschaft, die als ein interdependentes Ökosystem strukturiert ist, und dem Bewusstsein von institutionellen Entscheidungsträgern, das um personale und institutionelle Egosysteme strukturiert ist. Das Ergebnis ist ein Krieg der Teile gegen das Ganze. Wir beobachten die Auswirkung dieser Entkopplung zum Beispiel in der dramatischen Übernutzung von knappen Ressourcen, die häufig als »Tragik der commons« bezeichnet wird.12
Die Überbrückung der Kluft zwischen Ökosystem-Realität und Egosystem-Bewusstsein ist die vielleicht wichtigste Führungsherausforderung unserer Zeit. Entscheidungsträger in allen Institutionen eines Systems müssen sich auf einen gemeinsamen Weg begeben und lernen, nicht nur den eigenen Standpunkt (Ego-Bewusstsein) zu sehen, sondern das System aus der Perspektive der anderen Akteure wahrzunehmen, insbesondere jener, die am stärksten marginalisiert sind. Ziel muss sein, gemeinsam eine entstehende Zukunft für das System zu erspüren, zu inspirieren und zu gestalten, eine Zukunft, die das Wohl aller und nicht nur das Wohl einiger weniger wertschätzt.
Das ist nicht nur eine ethische, sondern auch eine ökonomische Aufgabe. Blicken wir zum Beispiel auf die Euro-Krise im Anschluss an die globale Finanzkrise von 2008. Die Euro-Krise ist in nicht geringem Ausmaß eine Folge davon, dass Deutschland und einige andere Staaten zu einer auf den Nationalstaat zentrierten Sichtweise der Realität zurückgekehrt sind. Was hat die EU nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer so unglaublichen Erfolgsstory gemacht? Der Einklang zwischen Frankreich und Deutschland, die mit anderen europäischen Kernstaaten darin übereinstimmten, dass sie gemeinsam eine Zukunft schaffen wollten, die anders sein sollte als die Vergangenheit. Mit den immer noch lebendigen Erinnerungen an den Krieg war Westdeutschland bereit, etwas mehr zu bezahlen, als ein eingeschränktes, auf den Nationalstaat zentriertes Eigeninteresse verlangt hätte. Der daraus resultierende EU-Prozess ist größtenteils erfolgreich verlaufen. Die heutige EU hat im Gegensatz zu der in den USA herrschenden Meinung die weltgrößte Ökonomie, mit einem Bruttoinlandsprodukt von 17,6 Billionen Dollar im Jahr 2011 (gefolgt von den USA mit 15,1 Billionen Dollar und China mit 7,3 Billionen), wovon die meisten der 500 Millionen Bürger in den 27 Mitgliedsstaaten profitiert haben.
Der Erfolg der EU spricht dafür, dass eine gute Wirtschaft und eine gute Politik davon abhängen, dass man sein Eigeninteresse breit (ökozentrisch) und nicht eng (egozentrisch) definiert, damit es mit dem Wohl anderer und dem Wohl des Ganzen im Einklang steht. Leider beweisen die sich abzeichnenden Misserfolge der EU denselben Punkt. Eine schlechte Wirtschaft und eine schlechte Politik sind das Ergebnis eines zu eng definierten Eigeninteresses. Bei der Euro-Krise sieht man exemplarisch, wie ein eng definiertes Eigeninteresse zu schlechten ökonomischen und politischen Entscheidungen führt. Im September 2008, nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers erklärte der deutsche Finanzminister vor dem Parlament, dass dies ein amerikanisches, kein europäisches oder deutsches Problem sei.13 Die zweite und größere Fehleinschätzung folgte am 12. Oktober 2008, als sich die deutsche Kanzlerin und ihr Finanzminister in Paris mit ihren EU-Kollegen zum ersten Krisengipfel trafen und entschieden, dass jedes Land seinen eigenen Rettungsmechanismus entwickeln würde, anstatt einen gemeinsamen europäischen Mechanismus zu konzipieren, der die Europäische Gemeinschaft schützen könnte.14
Was fehlte, war ein Augenblick des reflexiven Gegenwärtigwerdens, bei dem alle Akteure in den Spiegel schauen und sehen, was sie sich selbst antun. Sie hätten ihre auf den Nationalstaat fixierte Ego-Sichtweise aufgeben und sie durch eine Denkweise ersetzen können, die den komplexen globalen Ökosystem-Realitäten, vor denen sie heute stehen, angemessen wäre. Diese zweite Sichtweise bezeichnen wir als Ökosystem-Bewusstsein, weil sie das Wohl anderer und das Wohl des Ganzen wertschätzt und berücksichtigt.
Der Landschaft der Symptome und den acht strukturellen Bruchlinien liegt dieselbe tiefere Ursache zugrunde – ein ökonomischer Denkrahmen, der in der Vergangenheit feststeckt. Das Denkmodell, mit dem wir heute arbeiten, mag früher angemessen gewesen sein, doch zu den komplexen Herausforderungen und Anforderungen unserer heutigen Zeit hat es keinen Bezug mehr.
Wie sind wir an diesen Punkt gekommen? Wie hat sich das ökonomische Denken im Laufe der Zeit entwickelt? Welche anderen ökonomischen Denksysteme stehen uns heute zur Verfügung, und welches könnte das nächste sein?
Abbildung 2 beschreibt vier Stadien, Denkweisen und Paradigmen ökonomischen Denkens, die jeweils eine andere Lösung für die Frage anbieten, vor der jede moderne Ökonomie steht: Wie koordiniert man Kooperationsprozesse und Arbeitsteilung? Dafür gibt es aus der Geschichte der Ökonomie vier Vorschläge:
1.0:
Das staatszentrierte Modell, in dem die Koordination durch Hierarchie und Kontrolle in einer Einzelsektorgesellschaft stattfindet.
2.0:
Das Modell des freien Marktes, das durch den Aufstieg eines zweiten (privaten) Sektors gekennzeichnet ist und in dem die Koordinierung durch die Mechanismen von Markt und Wettbewerb stattfindet.
3.0:
Das Modell der sozialen Marktwirtschaft, gekennzeichnet durch den Aufstieg eines dritten Sektors und durch die verhandelte und diskursive Koordination zwischen organisierten Interessengruppen.
4.0:
Das Modell einer generativen Gemeinwirtschaft, gekennzeichnet durch den Aufstieg eines vierten Sektors, der Plattformen schafft und die Möglichkeit für sektorübergreifende Kooperation und Innovation bietet, an denen Partner aus allen Sektoren beteiligt sind.
Wie bei den Stadien einer Evolution finden sich die früheren Stadien auch in späteren Stadien wieder: Das heißt, alle vier Koordinationsmechanismen ergänzen sich und ersetzen sich nicht gegenseitig.
Der ökonomische und politische Diskurs wird jedoch häufig als Entscheidung zwischen größerer Privatisierung, Deregulierung und Einschränkung des Wohlfahrtsstaates einerseits und mehr Regulierung, Staat und anreizbasierter Defizitfinanzierung andererseits dargestellt. Diese Debatte spiegelt die Welt des 20. Jahrhunderts, nicht die des 21. Jahrhunderts wider.
In Anlehnung an das obige Einstein zugeschriebene Zitat könnte man auch sagen: Wir können die heutigen Ökosystemprobleme, die wir als 4.0 beschrieben haben, nicht mit der 2.0- und 3.0-Denkweise lösen, die diese Probleme hervorgebracht hat. Wir müssen gemeinsam einen neuen ökonomischen Bezugsrahmen schaffen, der uns hilft, ökonomische Schlüsselkonzepte von einer bewusstseinsbasierten Perspektive aus zu überdenken und zu entwickeln. Außerdem müssen wir aus diesem Bezugsrahmen oder diesem Denken heraus Methoden, Prozesse, Institutionen und Werkzeuge entwickeln, mit denen wir die Herausforderungen unserer derzeitigen Realität in Angriff nehmen können.
Abb. 2: Das Eisberg-Modell: Symptome, Strukturen, Denken und Quellen
Geht Ihnen gerade durch den Kopf, dass diese ökonomischen Ausführungen ein bisschen langweilig sind? Nun, das ist genau das Denkmuster, das uns davon abhält, über unseren blinden Fleck hinauszuschauen. Der blinde Fleck unserer Zeit ist, dass wir das etablierte ökonomische Denken für selbstverständlich halten, so als wäre es ein Naturgesetz. Doch in Wahrheit beginnen diese sogenannten Wirtschaftsgesetze, sich zu verflüssigen und zu verwandeln, sobald man anfängt, eine wichtige Variable zu verändern: die Qualität des Bewusstseins der Teilnehmer in einem System. Wer sind diese Teilnehmer? Dazu gehören Führungskräfte und Veränderungsmacher in Wirtschaft, Regierung und Zivilgesellschaft ebenso wie Verbraucher, Investoren und lokale Gemeinschaften.
In Kapitel 3 rekonstruieren wir die Evolution der ökonomischen Logik, die der Entwicklung der Ökonomie zugrunde liegt. Und wir zeigen, dass es sich bei diesem Entwicklungsweg im Wesentlichen um eine Evolution des menschlichen Bewusstseins handelt.
Diese ökonomischen Denkrahmen beschreiben vier verschiedene wirtschaftliche Logiken oder Paradigmen, die zu vier unterschiedlichen operativen Betriebssystemen führen. Das ökonomische Betriebssystem 1.0 basiert auf einem traditionellen Bewusstsein und einem hierarchischen Denken. Das ökonomische Betriebssystem 2.0 beruht auf dem Egosystem-Bewusstsein und egozentriertem Denken (in der neoklassischen Ökonomie wird dieses »Ego« als Homo oeconomicus bezeichnet, d. h. die Vorstellung von einem Menschen, dessen Handeln ausschließlich der Maximierung seines Eigeninteresses dient). Das ökonomische Betriebssystem 3.0 basiert auf dem institutionellen Stakeholder-Bewusstsein und diskursiv verhandelten Koalitionen, die das Interesse am Wohl der Hauptakteure verinnerlichen. So verhandeln und kooperieren zum Beispiel Unternehmen und Gewerkschaften. Man kümmert sich um das Wohlergehen der nahestehenden Partner, aber nicht so sehr um das Wohlergehen des größeren Ganzen. Das ökonomische Betriebssystem 4.0 (das später noch ausführlich dargestellt wird) beruht auf dem Bewusstsein vom größeren Ganzen (Ökosystem) – das heißt einem Bewusstsein, das dem Wohl aller und dem Wohl des Ganzen dient.
Da sich die Gesetze der Ökonomie entsprechend der Bewusstseinsebene, von der aus die Akteure in einem System handeln, verändern, müssen wir eine Wirtschaftswissenschaft entwickeln, die die gesamte Matrix berücksichtigt (1.0 bis 4.0), anstatt sich auf die Erforschung von einer ihrer Spalten oder Paradigmen zu beschränken (Kapitel 3 bietet eine ausführliche Erörterung). In Anlehnung an die Psychologin Eleanor Rosch könnte man sagen, was wir heute brauchen, ist eine Wirtschaftswissenschaft, die aus der Gegenwärtigung Wissen hervorbringt (science needs to be performed with the mind of wisdom).15 Wir brauchen eine Wirtschaftswissenschaft, die den Weg von 1.0 zu 4.0 beschreibt und untersucht und das auf allen Systemebenen: für Individuen, Teams aber auch für Institutionen und das Gesamtsystem z. B. der Gesellschaft.
Der Weg vom Egosystem-Bewusstsein zum Ökosystem-Bewusstsein oder vom »Ich« zum »Wir« umfasst drei Veränderungsdimensionen: 1. eine verbesserte Beziehung zu anderen; 2. eine verbesserte Beziehung zum gesamten System; und 3. eine verbesserte Beziehung zu sich selbst. Diese drei Dimensionen erfordern von den Beteiligten, dass sie sich aus dem Zentrum herausbewegen und die Randgebiete des Systems und des Selbst erforschen.
Das Randgebiet des Systems zu erforschen bedeutet, den Ort der größten Möglichkeit aufzusuchen: sich zum Beispiel in die Lage marginalisierter Menschen zu versetzen, wie etwa der Bewohner entlegener Dörfer oder Gemeinden oder der Immigranten in einem Industrieland (siehe Kapitel 7). Nach unserer Erfahrung zeigt sich das Neue in jedem System zunächst an der Peripherie. Dort sieht man die Probleme und die Chancen wie durch ein Vergrößerungsglas. Verschiedene Stakeholder-Gruppen können ihre gemeinsamen Erfahrungen nutzen, um sich bewusst zu machen und zu erklären, was tatsächlich vor sich geht.
Randgebiete des Selbst zu erforschen bedeutet, den inneren Ort, von dem aus man handelt, zu verändern. Es bedeutet, das Denken, das Fühlen und den Willen zu öffnen. Es bedeutet, dass wir nicht automatisch in alte Beurteilungsgewohnheiten verfallen, sondern innehalten. Es bedeutet, dass wir Empathie entwickeln. Und es bedeutet, dass wir das, was in uns selbst sterben will, loslassen und das, was darauf wartet, geboren zu werden, kommen lassen.
Im Laufe der letzten achtzehn Jahre haben wir uns darum bemüht, Umwelten für diese Arten von äußeren und inneren Forschungsreisen zu entwickeln – in Organisationen, Systemen, Sektoren und Kulturen. Das Überraschende ist, wie verlässlich diese Reise an die Peripherie eines Systems funktioniert. Es ist nicht leicht. Es ist echte Arbeit. Und man kann es nicht mit der alten Methode – der der Kontrolle – erreichen. Aber man kann Bedingungen schaffen, die es möglich machen, dass eine tiefere Alchemie ihre Wirkung entfaltet – das heißt Bedingungen, die den Führungskräften in einem System helfen, ihre Sichtweise des Systems von Ego zu Öko, von »Ich« zu »Wir« zu erweitern und zu vertiefen.
Aus dieser Art des Ausprobierens und Arbeitens ergibt sich eine neue Art von auf Bewusstsein gegründetem gemeinsamen Handeln. Hier wird nicht das alte Kollektivierungsmodell genutzt, bei dem die gemeinsame DNS von oben aufgezwungen wird – die alte Top-down-Pyramide, die wir alle nur zu gut kennen. Bei diesem eher horizontalen Modell verinnerlicht jeder Knotenpunkt das Wohl der anderen. Dieses gemeinsame Bewusstsein ermöglicht eine schnelle, flexible und flüssige Koordination und Entscheidungsfindung, die wesentlich anpassungsfähiger und co-kreativer ist als irgendein anderes Organisationsmodell, das derzeit in größeren gesellschaftlichen Institutionen genutzt wird.
Wir sind 1995 in die USA gekommen, um mit dem MIT-Center for Organizational Learning, das Anfang der 1990er-Jahre von Peter Senge und seinen Mitarbeitern zusammen mit einem Unternehmensnetzwerk gegründet wurde, zu arbeiten. Bei unserer Ankunft erfuhren wir, dass Senge und seine Organisation zu derselben MIT-System-Dynamics-Gruppe gehörten, von der die einflussreiche Studie über die Grenzen des Wachstums stammte, die uns früher inspiriert hat und zum Auftakt einer globalen Umweltbewegung in den 1970er-Jahren wurde.16
Senge hatte in seiner Arbeit mit Doktoranden der System Dynamics festgestellt, dass diese herausragend Systemzusammenbrüche in unserer heutigen Gesellschaft analysieren konnten. Doch ihr praktischer Einfluss auf eine Veränderung irgendeines dieser Systeme war gleich null. Diese verwirrende Beobachtung weckte Senges Interesse an der verhaltensbezogenen Dimension von Veränderungen.
Senges Buch Die fünfte Disziplin basiert auf einer Verknüpfung von 1. Systems Dynamics, 2. organisationalem Wandel und 3. dem kreativen Prozess. Diese Synthese resultierte im Konzept für das MIT Center for Organizational Learning und in einem Basispaket von Methoden und Werkzeugen, das von dieser kleinen Gruppe von Aktionsforschern am MIT entwickelt wurde.
Nach einigen Jahren fiel Senge und seinen Mitarbeitern auf, dass einige Praktiker und Führungskräfte Erfolge mit diesen Methoden erzielten, dass aber in anderen Fällen die Anwendung derselben Methoden und Werkzeuge keine nennenswerten Veränderungen bewirkte. Warum erweisen sich dieselben Werkzeuge bei einigen als wirksam und als unwirksam bei anderen? Dieser Frage sind wir nachgegangen, unter anderem, indem wir 150 Interviews mit Führungskräften, Unternehmern und Innovatoren führten (viele dieser Interviews wurden von Otto und unserem Kollegen Joseph Jaworski geführt) und selbst Veränderungsprozesse in Unternehmen, Regierungsorganisationen und NGOs unterstützt oder durchgeführt haben.17 Das Ergebnis dieser achtzehnjährigen Arbeit ist ein 2.0-Bezugsrahmen für Lernen, Führung, Innovation und tief greifende systemische Erneuerung. Weil die Grafik, mit der wir diesen Bezugsrahmen darstellen, die Form des Buchstabens »U« hat, bezeichnen wir diesen Ansatz als Theorie U. Sie wird ausführlich in Ottos Buch Theorie U beschrieben und in dem Buch Presence, das Otto gemeinsam mit Peter Senge, Joseph Jaworski und Betty Sue Flowers verfasst hat.18
Die Grundidee ist einfach: Die Qualität der Ergebnisse, die von einem beliebigen System hervorgebracht werden, hängt von der Qualität des Bewusstseins ab, aus dem heraus die Menschen im System handeln. Die Formel für einen erfolgreichen Veränderungsprozess lautet nicht »Form folgt der Funktion«, sondern »Form folgt dem Bewusstsein«. Die Struktur des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit bestimmt, wie sich eine Situation entfaltet.
Wir entdeckten dieses tiefe Terrain der Führungsforschung, als wir Bill O’Brien, den verstorbenen CEO von Hanover Insurance interviewten. O’Brien fasste die wichtigsten Einsichten zusammen, die er aus der Leitung von Veränderungsprozessen in seinem eigenen Unternehmen gewonnen hatte, und erklärte: »Der Erfolg einer Intervention hängt von der inneren Haltung des Intervenierenden ab.«19 Man könnte auch sagen: Der Erfolg unserer Handlungen als Veränderungsmacher hängt nicht davon ab, was wir tun oder wie wir es tun, sondern von dem inneren Ort, von dem aus wir handeln (siehe Abb. 3).
Als ich (Otto) O’Brien interviewte, dachte ich: »Mann, was weiß ich eigentlich über diesen inneren Ort? Ich weiß nichts davon! Haben wir einen oder mehrere oder eine unendliche Anzahl dieser Orte?« Ich wusste es nicht, weil dieser Ort ein blinder Fleck in unserer Alltagserfahrung ist. Wir können beobachten, was wir tun und wie wir es tun. Aber die Qualität der Quelle (oder des inneren Ortes), von dem aus wir im »Jetzt« vorgehen, liegt tendenziell außerhalb des Bereichs unserer normalen Beobachtung, Wahrnehmung und Bewusstheit.
Diese erstaunliche Einsicht in die tiefere Quellebene der gesellschaftlichen Realitätserzeugung führte uns auf einen faszinierenden Forschungsweg, auf dem wir neuere Erkenntnisse aus Führung, Management, Wirtschaft, Neurowissenschaft, kontemplativer Praxis und Komplexitätsforschung untersuchten und miteinander verbanden. Die Essenz unserer Sichtweise betrifft die Kraft der Aufmerksamkeit: Wir können das Verhalten von Systemen nur verändern, wenn wir die Qualität der – individuellen wie der kollektiven – Aufmerksamkeit verändern, die die Menschen ihrem Handeln innerhalb dieser Systeme widmen.
Abb. 3: Der blinde Fleck von Führung
Bei der Erforschung dieses tieferen Terrains wurde uns klar, dass die Mehrzahl der aktuellen Lernmethoden darauf beruhte, dass man aus der Vergangenheit lernt, während die meisten der realen Führungsprobleme in Organisationen etwas ganz anderes zu erfordern schienen – nämlich dass man die Vergangenheit loslässt, um sich mit entstehenden Zukunftsmöglichkeiten zu verbinden und aus ihnen zu lernen.
Wir erkannten, dass diese zweite Art des Lernens – das Lernen aus einer im Entstehen begriffenen Zukunft – nicht nur keine Methode hatte, sondern auch keinen wirklichen Namen. Und doch können innovative, unternehmerische und kreative Menschen aus der Zukunft heraus handeln. Otto begann, diesen Prozess als Theorie U und Presencing zu bezeichnen. Presencing verbindet die Begriffe »sensing« (die Zukunftsmöglichkeit spüren) und »presence« (der Zustand des Anwesendseins im gegenwärtigen Augenblick). Es bedeutet, dass man die eigene höchste Zukunftsmöglichkeit spürt und verwirklicht – dass man das, was entstehen will, gegenwärtigt und von dieser Präsenz aus handelt.
Die Aussage von Theorie U, dass die Qualität der Ergebnisse in jedem sozioökonomischen System vom Bewusstsein abhängig ist, aus dem heraus die Menschen im System handeln, führt zur Unterscheidung von vier Bewusstseinsebenen. Diese vier Ebenen beeinflussen, wie weit der Ort, von dem die Handlungen ausgehen, jeweils von den Grenzen des Systems entfernt ist.
Nehmen wir das Beispiel des Zuhörens. Wir bezeichnen die erste Ebene des Zuhörens als Downloading oder Runterladen. Damit sind die gewohnheitsmäßigen Verhaltens- und Denkweisen gemeint, die die Verhaltensweisen und Ergebnisse der Vergangenheit reproduzieren. Diese Art des Zuhörens geht von unseren Gewohnheiten aus, von dem Wissen, das wir aus bestehenden Erfahrungen gewonnen haben. Hier ein Beispiel: Als Präsident George W. Bush und der Vizepräsident Dick Cheney vor dem 11. September 2001 CIA-Informationen über einen drohenden Angriff auf die USA erhielten, waren sie so sehr auf den Krieg gegen Saddam Hussein konzentriert, dass sie unfähig waren, die zahlreichen nachdrücklichen Warnungen seitens der Geheimdienste zu hören und zu verstehen. Sie waren nicht in der Lage, irgendetwas zu hören, das nicht zu den Erkenntnissen passte, über die sie bereits zu verfügen glaubten. Diese Unfähigkeit hielt die Entscheidungsträger innerhalb der Welt ihrer voreingenommenen Denkweisen und Ansichten gefangen.20
Im Gegensatz dazu beschreibt das Zuhören der Ebene 4, das sogenannte Presencing, wie sich der Kreis der Aufmerksamkeit erweitert und eine neue Realität am Horizont sichtbar wird und Gestalt annimmt. In dieser Qualität hat das Zuhören seinen Ursprung außerhalb der Welt unserer voreingenommenen Meinungen. Wir verbinden uns mit einer sich erweiternden Umweltsphäre und handeln auch von ihr aus. In dieser Qualität eines erhöhten Aufmerksamkeitszustands verlangsamt sich häufig die Zeitwahrnehmung, und die Erfahrung des Selbst erweitert sich von einem einzelnen Punkt (Ego) in eine verstärkte Anwesenheit und stärkere Verbindung zu dem uns umgebenden Raum (Öko). Ein Beispiel, das viele von uns kennen, ist, wenn eine Sportmannschaft plötzlich zu Topform aufläuft und sich »blind« zuspielen kann oder wenn eine Jazzband ihren Groove findet.
Die beiden dazwischen liegenden Ebenen sind Ebene 2 (faktisches Zuhören) und 3 (empathisches Zuhören). Wir werden alle vier Ebenen ausführlicher besprechen, wenn wir die Matrix der sozialen Evolution einführen (siehe Kapitel 4).
Was brauchen Einzelne, Teams, Institutionen und größere Systeme, um ihre Aufmerksamkeitslogik und Vorgehensweise vom Downloading zum Presencing zu verlagern?
Diese Frage werden wir im weiteren Verlauf des Buches noch wesentlich ausführlicher behandeln. An dieser Stelle soll es genügen, einige Schlüsselprinzipien vorzustellen, die widerspiegeln, was wir im Laufe der letzten Jahre gelernt haben, und die vielleicht auch mit einigen Ihrer eigenen Erfahrungen übereinstimmen:
1)
Energie folgt der Aufmerksamkeit
. Der Punkt, auf den Sie Ihre Aufmerksamkeit richten, bestimmt darüber, wohin die Energie fließt. »Energie folgt der Aufmerksamkeit« bedeutet, dass wir unsere Aufmerksamkeit von dem, was wir zu vermeiden suchen, abziehen und auf das richten müssen, was wir in die Welt bringen wollen.
2)
Folgen Sie den drei Bewegungen des »U«
. Wir bezeichnen das aufgrund der »Form« der Reise als den U-Prozess. Um den tiefen Punkt der Verwandlung zu erreichen (am Boden des U) ist es notwendig, zunächst an der linken Seite des U nach unten zu wandern, indem wir unser Denken, unser Fühlen und unseren Willen öffnen, und dass wir dann, nachdem wir »das Nadelöhr« am Tiefpunkt des U passiert haben, an der rechten Seite wieder nach oben wandern, um das Neue in die Welt zu bringen (siehe
Abb. 4
). Mit den Worten unseres Kollegen, des Ökonomen Brian Arthur, bestehen die drei Hauptbewegungen des U-Prozesses in folgenden Schritten:
Abb. 4: Der U-Prozess des gemeinsamen Hinspürens und Gestaltens (Co-Sensing und Co-Creating): Presencing
a)
Das U hinunterwandern:
Observe, observe, observe
(beobachten, beobachten, beobachten). Hören Sie mit dem Runterladen auf und tauchen Sie in die Orte des größten Potenzials ein, in die Orte, die für die Situation, mit der Sie es zu tun haben, wichtig sind.
b)
Am Tiefpunkt des U:
Retreat and reflect
(Rückzug und Reflexion). Lassen Sie das innere Wissen auftauchen. Suchen Sie die Stille, in der Wissen wahrnehmbar wird. Betrachten Sie an dieser Stelle all das, was Sie im Prozess des Zuhörens gelernt haben, und fragen Sie: »Was will hier entstehen?«, »Wie hängt das mit der Reise nach vorn zusammen?« und »Wie können wir ein Teil der Geschichte der Zukunft werden, anstatt an der Geschichte der Vergangenheit festzuhalten?«
c)
Das U hinaufwandern:
Act in an instant
(unmittelbares Handeln). Erkunden Sie die Zukunft im
Tun
. Entwickeln Sie einen Prototyp. Durch einen Prototyp erforscht man die Zukunft, indem man etwas Kleines, Schnelles und Spontanes tut. Er ermöglicht ein schnelles Feedback von allen wichtigen Stakeholdern und hilft, die eigene Idee weiterzuentwickeln.
3)
Suchen Sie die Grenzen des Selbst
. Um diesen Innovationsprozess im Kontext von Institutionen umzusetzen, bedarf es einer neuen Führungstechnik. Diese Technik konzentriert sich im Wesentlichen darauf, drei Instrumente einzustellen: das offene Denken, das offene Herz und den offenen Willen. Wenn unser Denken offen und wach ist, können wir in alten Denkgewohnheiten
innehalten
. Wenn unser Herz offen ist, können wir
Empathie empfinden
oder eine Situation mit den Augen einer anderen Person sehen. Wenn unser Wille offen ist, können wir
loslassen
und
das Neue kommen lassen
.
4)
Das Nadelöhr passieren
. Am Tiefpunkt des U-Prozesses befindet sich eine Schwelle. Diese Schwelle zu überschreiten, das Nadelöhr zu passieren, fühlt sich mitunter so an, als würde man sterben und neu geboren werden. Der Bibelspruch »Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt«
21
bezieht sich auf ein Tor im alten Jerusalem: Wer mit seinem Kamel durch das Jerusalemer Tor, das »Nadelöhr«, wollte, musste zunächst alle Taschen vom Rücken des Tieres entfernen, damit es hindurchpasste. Ähnliches gilt, wenn wir durch das Nadelöhr des U gehen wollen – wir müssen loslassen und das Gepäck, das nicht wichtig ist, abladen. Durch dieses Tor zu gehen bedeutet, dass wir die zwei Grundfragen unserer Reise stellen: »Wer bin ich?« und »Was ist meine Aufgabe, mein Ding?« Die erste Frage betrifft unser höchstes Selbst, unsere höchste Zukunftsmöglichkeit. Die zweite Frage bezieht sich auf das Ziel – auf die Tätigkeit, auf den Unterschied, den wir durch unsere Arbeit und unser Leben in die Welt bringen wollen.
5)
Die drei Quellen des Widerstands verwandeln
. Warum kommt es so selten vor, dass wir Muster durchbrechen und aus unserer höchsten Zukunftsmöglichkeit heraus handeln? Woran liegt es, dass sich viele Leute dieses tieferen Erkenntnisprozesses bewusst sind und er trotzdem kaum stattfindet? Ein Grund ist, dass uns in einem solchen Prozess drei Quellen des Widerstands begegnen: Die
Stimme des Zweifels und des Urteils
(SdU: das offene Denken schließen), die
Stimme des Zynismus
(SdZ: das offene Herz schließen) und die
Stimme der Angst
(SdA: den offenen Willen schließen).
6)
Ein erster Indikator ist die Stelle, wo es knackt, wo erste Risse aufbrechen
. Wo stoßen wir zuerst auf die Zukunft? In dem Film
Bagger Vance
von Robert Redford lautet die wesentliche Anweisung, die Bagger Vance für Junah parat hat: »Suche mit deinen Händen. Denk nicht darüber nach – fühle.« Die Zukunft zeigt sich zuerst in unseren Gefühlen und durch unsere Hände, nicht in unseren abstrakten Analysen. »Achte darauf, wo erste Risse aufbrechen« bedeutet, dass man auf Öffnungen und Probleme, auf Spalten und Brüche achtet, bei denen uns unser Gefühl sagt, dass hier eine Vergangenheit endet und eine Zukunft beginnen will.
7)
Man braucht einen geschützten Raum, damit sich die Gesprächsfelder von der Debatte zum Dialog und zur gemeinsamen Kreativität verwandeln können
. Jedes soziale Feld braucht ein »Gefäß«. Gespräche höherer Qualität wie Dialog und kollektive Kreativität erfordern qualitativ hochwertigere Gefäße und sichere Räume. Die Qualität des Gesprächs in einem System zu verändern bedeutet, dass man die Qualität der Beziehungen und des Denkens verändert – das heißt die Qualität der zukünftigen Ergebnisse.
8)
Stärken Sie die Quellen des Presencing, um die destruktive Dynamik des Absencing zu vermeiden
. Gesellschaft entsteht aus dem Zusammenspiel zweier kraftvoller sozialer Felder: Presencing und Absencing. Presencing heißt: das Erspüren und Gegenwärtigen der höchsten zukünftigen Möglichkeit. Absencing meint: den Verlust der lebendigen Verbindung zum werdenden Selbst, d. h. das Erstarren des Selbst im Gewordenen. Das Feld des Presencing wirkt dadurch, dass wir Denken, Herz und Willen öffnen. Wir wissen, dass es viele inspirierende Beispiele für diesen Prozess auf der Welt gibt. Doch jeder, der in Institutionen und Systemen arbeitet, weiß auch, dass es da draußen noch ein weiteres Feld gibt. Kennzeichnend für dieses Feld ist, dass man sich an die Vorstellung einer einzig gültigen Wahrheit klammert, anstatt das Denken zu öffnen, dass man im »Wir gegen die Anderen« feststeckt, anstatt das Herz zu öffnen, und dass man innerlich in einer kalten, unbeweglichen Identität erstarrt, anstatt den Willen zu öffnen. Solche sozialen Systeme, die sich durch diese drei Merkmale auszeichnen, nennen wir fundamentalistisch. Fundamentalismus ist das Ergebnis, wenn man Denken, Herz und Willen »dichtmacht« und in Kälte erstarren lässt – anstatt sie zu öffnen und mit Wärme und Licht zu füllen.
Wir leben im Spannungsfeld dieser beiden Felder. Wir sind nicht das eine oder das andere, sondern häufig zwischen beiden hin- und hergerissen. Manchmal handeln wir von unserer höchsten Zukunftsmöglichkeit aus (Presencing). Doch manchmal verlieren wir diese Zukunftsmöglichkeit aus den Augen und verfangen uns in den alten Mustern des Runterladens (Absencing). Wir erleben dieses zerbrechliche Wesen unserer gegenwärtigen Realität nicht nur in persönlichen Beziehungen, sondern auch in globalen Entwicklungen und Veränderungen. Wir sind hin- und hergerissen zwischen diesen beiden Feldern und müssen lernen, unseren Halt im Feld des Presencing zu stärken.
Abb. 5: Die sozialen Räume der kollektiven Gestaltung (Presencing) und Zerstörung (Absencing)
Die soziale Realität entsteht immer aus dem Zusammenspiel dieser beiden Kräfte: dem Feld des Presencing, das uns zur gemeinsamen Gestaltung von einer tieferen Ebene unseres Menschseins und unserer Intention aus befähigt, und dem Feld des Absencing, das uns durch unseren blinden Fleck des Nicht-Gewahrwerdens in Mustern der Zerstörung und Selbstzerstörung gefangen hält (siehe Abb. 5).
Dieses Buch begibt sich auf eine Reise durch einen entstehenden Bezugsrahmen für eine Verwandlung von Institutionen, Gesellschaften, Beziehungen und Selbst. Die ersten vier Kapitel sind eine Einladung, an der linken Seite des U durch vier Schichten des Eisbergs nach unten zu reisen, von der sichtbaren Spitze zu den weniger sichtbaren darunterliegenden Ebenen:
1)
Symptome: Zusammenbruch, Ende und Neubeginn (
Kapitel 1
)
2)
Struktur: Systemische Entkopplungen (
Kapitel 2
)
3)
Denken: Die Matrix der ökonomischen Evolution (
Kapitel 3
)
4)
Quelle: Das Hindurchgehen durch das Nadelöhr (
Kapitel 4
).
Die darauffolgenden vier Kapitel führen Sie an der rechten Seite des U hinauf in die Prozesse der Vergegenwärtigung, Verwirklichung und Verkörperung des Neuen:
5)
Führen der individuellen Umstülpung (
Kapitel 5
)
6)
Führen der relationalen Umstülpung (
Kapitel 6
)
7)
Führen der institutionellen Umstülpung (
Kapitel 7
)
8)
Die Landebahnen der Zukunft (
Kapitel 8
)
Kapitel 5 und 6 skizzieren die persönliche und beziehungsmäßige Perspektive. Kapitel 7 konzentriert sich auf das, was wir die Matrix der institutionellen Transformation nennen, eine Landkarte für den evolutionären Weg von Schlüsselinstitutionen und gesellschaftlichen Systemen von 1.0 zu 4.0. Diese Karte zeigt, dass die erforderlichen Veränderungserfahrungen in Bildung, Gesundheit, Finanzen, Wirtschaft, Regierung und Zivilgesellschaft im Grunde gar nicht so verschieden voneinander sind. Sie alle umfassen ähnliche Prozesse der Umstülpung22 von pyramidenartigen Systemen, um den Boden für ein co-kreatives Feld gemeinsamer Intention, Bewusstheit und Aktivität über institutionelle Grenzen hinweg zu bereiten. Kapitel 8 schließt mit einem konkreten Blick auf mögliche Schritte, zu denen wir – als derzeitige Generation – in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren beitragen können.
Am Ende jedes Kapitels finden sich abschließende Bemerkungen und praktische Fragen für eine individuelle Reflexion und auch für eine mögliche Gruppenarbeit (Dialogkreise). Sie sind so formuliert, dass sie ein praktisches Mittel liefern, um sich der entstehenden weltweiten Bewegung anzuschließen, einer Bewegung, die die ökologische, soziale und spirituelle Krise unserer Zeit als unterschiedliche Seiten eines tiefer liegenden Problems sieht, das von uns verlangt, den Schritt von Ego zu Öko zu tun. Die Fragen am Ende jeden Kapitels sind Vorschläge für eine mögliche Gruppenarbeit.* Die Website (www.presencing.com) mit Live-Streaming vom Global Forum usw. bietet Ihnen die Möglichkeit, sich mit anderen Menschen zu verbinden, um unseren Weg nach vorn gemeinsam zu erspüren und zu gestalten.
* Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen weitgehend verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl selbstverständlich für beiderlei Geschlecht.
* Die Fragen stehen auch als Download zur Verfügung: http://www.carl-auer.de/machbar/von_der_zukunft_her_fuehren.