Ethik des Lebens - Eberhard Schockenhoff - E-Book

Ethik des Lebens E-Book

Eberhard Schockenhoff

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Beschreibung

In der modernen Gesellschaft ist menschliches Leben an seinen Grenzen, in Geburt, Krankheit und Tod, in einem Maß verfügbar geworden, das früher undenkbar schien. Das Standardwerk zur Ethik des Lebens bietet in einer durchgesehenen und aktualisierten zweiten Auflage Klärungen zu Grundsatzfragen und Erörterungen aktueller Einzelfragen. Dabei sind neueste Entwicklungen, etwa im Zusammenhang mit Neuregelungen bei der Organspende, berücksichtigt.

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Eberhard Schockenhoff

Ethik des Lebens

Grundlagen und neue Herausforderungen

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

ISBN (E-Book) 978-3-451-80064-1

ISBN (Buch) 978-3-451-30758-4

Inhalt

Vorwort

Einführung: Was ist Leben?

I. Blick von unten: Die biologische Standarddefinition

II. Die Entstehung des Lebens

III. Wechsel der Wahrnehmungsperspektive

1. Der lebendige Körper als funktionale Ganzheit

2. Das Wechselverhältnis zwischen Teil und Ganzem

3. Leben als Ausdruck einer Innenwelt

4. Leben als Manifestation von Freiheit

5. Leben als Begegnung

6. Leben als Sterbenmüssen

Erster Teil Grundlagen der Lebensethik

1. Kapitel Theologische Lebensethik und säkulare Bioethik

I. Phasen und Schwerpunkte der Bioethik

II. Verdeckte philosophische Vorentscheidungen

1. Das ethische Begründungsmodell

2. Das ethische Prinzip: keine Gewalt gegen Unschuldige

3. Das ethische Auswahlkriterium: Personsein und Menschsein

III. Wie soll sich eine christliche Lebensethik zur säkularen Bioethik verhalten?

2. Kapitel Grundlagen der Lebensethik aus philosophischer Sicht

I. Der Streit um die Teleologie

1. Wirkursachen und Zweckursachen

2. Die Ausweitung des teleologischen Denkens in der stoisch-christlichen Tradition

3. Die Zurückdrängung des teleologischen Denkens durch diemoderne Naturwissenschaft

4. Philosophische Verabschiedung oder Erneuerung des teleologischen Denkens?

II. Physiozentrisches, biozentrisches oder anthropozentrisches Lebensmodell?

1. Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben

1.1 Darstellung

1.2 Würdigung und Kritik

1.3 Exkurs: Die »Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben« in Schweitzers Nachlasswerk

a. Die gesuchte Einheit von Religion, Naturphilosophie und Ethik

b. Die Absicht der Natur: die geistig-kulturelle Höherentwicklung der Menschheit

c. Vom naturhaften Willen zum Leben zur geistigen Bejahung allen Seins

d. Die innere Entwicklungslogik des moralischen Bewusstseins

e. Die Einheit von Mystik und Ethik

f. Das Scheitern einer Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben

2. Der Gleichheitsgrundsatz und die Rechtsgemeinschaft der Natur

2.1 Darstellung

a. Das naturphilosophische Argument: die Gemeinschaft aller Seienden

b. Das moralphilosophische Argument: die Vollendung des ethischen Universalismus

2.2 Würdigung und Kritik

3. Die Personwürde des Menschen und der Eigenwert des außermenschlichen Lebens

4. Die Überwindung einer falschen Alternative

4.1 Weltbild und Interpretament

4.2 Ist die Anthropozentrik mit der Evolutionslehre vereinbar?

4.3 Die Aktualität der Naturphilosophie Schellings

III. Die naturalen Voraussetzungen des Menschseins

1. Identität der Person und Kontinuität des Leibes

2. Selbsterfahrung und Leiblichkeit

3. Intersubjektivität und Leiblichkeit

4. Lob des Speziesismus

IV. Das Verhältnis von Person und Natur

3. Kapitel Grundlagen der Lebensethik aus theologischer Sicht

I. Die falsche Alternative: Schöpfung oder Geschichte?

II. Der Begriff des Lebens im Alten Testament

1. Das Bekenntnis zu Jahwe als dem lebendigen Gott

2. Der lebendige Mensch: relationales Sein

3. Der lebendige Mensch: verantwortliches Sein

4. Der lebendige Mensch: personales Sein

5. Der lebendige Mensch: ganzheitliches Sein

5.1 Der verlangende Mensch

5.2 Der bevollmächtigte Mensch

5.3 Der vergängliche Mensch

III. Der Begriff des Lebens im Neuen Testament

1. Die Einmaligkeit des gegenwärtigen Lebens

2. Die Endgültigkeit des ewigen Lebens

IV. Die biblischen Grundlagen des Tötungsverbotes

1. Die Eingrenzung des Tötungsverbotes

2. Die Ausweitung des Lebensschutzes

3. Von der negativen Schranke zum positiven Gebot

V. Das Bild Gottes im Menschen

1. Gottebenbildlichkeit und Personsein

2. Notwendige Unterscheidungen

2.1 Person und Persönlichkeit

2.2 Person und Individuum

2.3 Person und Subjektivität

3. Ökumenische Differenz im Personverständnis?

3.1 Außenbeziehung und Selbstsein der Person

3.2 Abhängigkeit und Eigenständigkeit des Geschöpfs

3.3 Komplementäre Denkformen

4. Konsequenzen für die Ethik

4.1 Die unverlierbare Würde aller Menschen

4.2 Die unverlierbare Würde jedes einzelnen Menschen

VI. Die Welt als Gottes Gleichnis

1. Die Welt als Darstellung Gottes: das antik-mittelalterliche Modell

2. Die Welt als Darstellung Gottes: das frühneuzeitliche Modell

3. Die Welt als Darstellung Gottes: das gegenwärtige Modell

4. Konsequenzen für die Ethik

4. Kapitel Ethische Prinzipien der Lebensethik

I. Die Garantie der Menschenwürde

1. Die geschichtliche Herkunft der Menschenwürde-Vorstellung

2. Die sachliche Begründung der Menschenwürde-Vorstellung

3. Der normative Gehalt der Menschenwürde-Vorstellung

4. Zur neueren juristischen und biopolitischen Diskussion um die Menschenwürde

5. Beruht die Menschenwürde auf einer kulturellen Zuschreibung?

II. Die Tragweite des Tötungsverbotes

1. Die Begründung des Tötungsverbotes

1.1 Töten als Verweigerung der dem Anderen geschuldeten Anerkennung

1.2 Töten als Verletzung der Ehre des Schöpfers und als Eingriff in sein Hoheitsrecht

1.3 Töten als Verstoß gegen die Heiligkeit des Lebens

2. Der Umfang des Tötungsverbotes

2.1 Die direkte Tötung des Unschuldigen

2.2 Töten in Notwehr

2.3 Die Todesstrafe

2.4 Töten im Krieg

3. Die gesellschaftliche Friedensfunktion des Tötungsverbotes

4. Töten und Sterbenlassen

4.1 Handlungstheoretische Überlegungen

4.2 Künstliches Ereignis oder natürlicher Tod?

III. Ethische Bewertungsmaßstäbe menschlichen Handelns in biomedizinischen Konfliktfeldern

1. Die Rechtfertigung der Ziele

2. Die Überprüfung der Mittel

3. Die Verantwortung für die Folgen

4. Eine Konfliktregel: Zuerst das Gerechte, dann das Gute

5. Die Relevanz ethischer Urteilskriterien auf dem Feld der Biopolitik

6. Zusammenfassung

Zweiter Teil Konkrete Problemfelder

5. Kapitel Die Verantwortung für das eigene Leben: Gesundheit und Krankheit

I. Definitorische Grenzziehungen

1. Der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff

2. Der soziologische Krankheitsbegriff

3. Der anthropologische Krankheitsbegriff

4. Zwischenergebnis

II. Kulturgeschichtliche Skizze zum Verhältnis von Gesundheit und Krankheit

III. Die religiöse Deutung der Krankheit

1. Krankheit und Heilung im Alten Testament

1.1 Die religiöse Isolation des Kranken

1.2 Das Heilungsmonopol Jahwes

1.3 Die Grenze des alttestamentlichen Krankheitsverständnisses

2. Krankheit und Heilung im Neuen Testament

2.1 Die Krankenheilungen Jesu

2.2 Der Glaube der Geheilten

2.3 Die Kritik am Vergeltungsdenken

2.4 Das Mitleiden mit Christus

3. Religiöse Deutungsmuster des Krankseins

6. Kapitel Ethische Probleme im Zusammenhang mit der Ausweitung diagnostischer Verfahren

I. Diagnostische Erfassung ohne Therapie?

II. Monokausale Erfassung genetischer Risiken?

III. Welche Schlüsse legen erhöhte genetische Krankheitsrisiken nahe?

IV. Mut zur Risikoschwangerschaft oder Fremdbestimmung des ungeborenen Lebens? Das Dilemma der Pränataldiagnostik (PND)

1. Offene und verdeckte Zielsetzungen

2. Die Ausweitung des Einsatzspektrums

3. Das Dilemma der Entscheidungssituation

4. Moralische Bewertung

5. Exkurs: Die Problematik der »Kind-als-Schaden«-Urteile

V. Erweiterung elterlicher Entscheidungsfreiheit? Die ethische Problematik der Präimplantationsdiagnostik (PID)

VI. Individuelles Risiko oder Solidarität der Gesellschaft?

7. Kapitel Ethische Probleme im Zusammenhang mit der Ausweitung therapeutischer Verfahren

I. Grenzen der Intensivmedizin

1. Das Wohl des Patienten und die Pflicht zur Lebenserhaltung

2. Ordentliche und außerordentliche, verhältnismäßige und unverhältnismäßige Mittel

3. Die Gewährleistung der Voraussetzungen eines personalen Lebensvollzugs

4. Die Problematik der künstlichen Beatmung

5. Die Problematik der künstlichen Ernährung und Hydrierung

5.1 Notwendige Unterscheidungen

5.2 Künstliche Ernährung als Bestandteil der Basispflege?

5.3 Die Notwendigkeit der Einzelfallprüfung

5.4 Die Pflicht zur Nahrungsaufnahme in der moraltheologischen Tradition

5.5 Verwirrung um eine Papstansprache

5.6 Die Bestimmung des Menschen zum geistig-personalen Dasein

II. Kriterien der Organtransplantation

1. Die Problematik der Todesfeststellung (Hirntoddefinition)

1.1 Einwände gegen das Hirntodkriterium

1.2 Subjekt, Definition und Kriterium des Todes

1.3 Der Hirntod als reales Zeichen des Todes

1.4 Der Hirntod als Ende der leib-seelischen Einheit des Menschen

1.5 Der Hirntod als notwendige Bedingung für die Organentnahme

1.6 Die falsche Parallele zwischen der Ausbildung der Gehirnanlage am Anfang und dem Hirntod am Ende des Lebens

2. Die Pietätspflicht gegenüber dem menschlichen Leichnam

3. Die ethische Bewertung der Organspende: Christenpflicht oder echte Freiwilligkeit?

3.1 Die Freiwilligkeit der Gabe und das Angewiesensein des Spenders auf sie

3.2 Die ethische Verpflichtung zu einer wohlerwogenen Entscheidung

3.3 Die Goldene Regel als Entscheidungshilfe

4. Die rechtliche Regelung der Organspende: Zustimmung, Information oder Widerspruch?

4.1 Rechtliche Regelungsmodelle

4.2 Finanzielle Anreize zur Organspende?

III. Chancen und Grenzen der Gentherapie

1. Somatische Gentherapie

2. Keimbahntherapie

8. Kapitel Ethische Probleme der biomedizinischen Forschung

I. Die Forschung mit adulten oder embryonalen Stammzellen

1. Biologische Aspekte

2. Ethische Analyse

2.1 Ziele und Mittel der Stammzellforschung

2.2 Die Rolle der überzähligen Embryonen

2.3 Die Gewinnung von Stammzellen aus Nabelschnurblut

2.4 Die Logik moralischen Argumentierens

II. Klonen zu Forschungszwecken

1. Biologische Aspekte

2. Ethische Aspekte des reproduktiven Klonens

3. Ethische Aspekte des Forschungsklonens

III. Chimärenbildung und Erzeugung von Mensch-Tier-Hybriden

1. Biologische Aspekte

2. Ethische Analyse

9. Kapitel Die Verantwortung für das fremde Leben: Abtreibung und Euthanasie

I. Sprachliche Abgrenzungen

II. Kulturgeschichtliche Skizze

1. Die Entwicklung des Abtreibungsverbotes

1.1 Das altorientalische, jüdische und römische Recht

1.2 Die ablehnende Haltung der frühen Kirche

1.3 Die Gesetzgebung des neuzeitlichen Staates

2. Die Entwicklung des Euthanasiegedankens

2.1 Der gute Tod in der antiken Literatur

2.2 Ärztliche Sterbehilfe in den medizinischen Lehrbüchern der Neuzeit

2.3 Euthanasie zwischen Mitleidsethik und Sozialdarwinismus

III. Die anthropologische Deutung des menschlichen Lebensbeginns

1. Die Erkenntnisse der modernen Humanbiologie

1.1 Die Befruchtung als Beginn der vollen Schutzwürdigkeit des Menschen

1.2 Alternative Anknüpfungspunkte

1.3 Zwei Argumentationsregeln: Unparteilichkeitsstandpunkt und tutioristisches Vorsichtsprinzip

1.4 Überprüfung alternativer Kandidaten für den menschlichen Lebensbeginn

1.5 Die Befruchtung als das willkürärmste Kriterium

2. Die anthropologische Bedeutung der menschlichen Embryonalentwicklung

2.1 Der Aspekt der Identität

2.2 Der Aspekt der Potentialität

2.3 Der Aspekt der Kontinuität

2.4 Diskussion von Einwänden

IV. Die moralische Bewertung von Abtreibung und Euthanasie

1. Die moralische Bewertung der Abtreibung

1.1 Das Lebensrecht des Kindes und das Selbstbestimmungsrecht der Mutter

1.2 Das Lebensrecht des Kindes und die Konfliktsituation der Mutter

1.3 Das Lebensrecht des Kindes und die Verantwortung des Vaters

2. Die moralische Bewertung der Euthanasie

2.1 Fördert die Euthanasie die Freiheit der Sterbenden?

2.2 Ist die Euthanasie die einzige Hilfe?

2.3 Ist die Unterscheidung von Töten und Sterbenlassen moralisch irrelevant?

2.4 Ist die Suizidbeihilfe die bessere Alternative zur Tötung auf Verlangen?

2.5 Sind Dammbruchargumente unbegründet?

V. Die religiöse Einstellung zu Lebensanfang und Lebensende

10. Kapitel Die menschliche Verantwortung für das tierische Leben

I. Begriffliche Vorklärungen

1. Sind Tiere Personen?

2. Haben Tiere Rechte?

II. Kulturgeschichtliche Skizze

III. Ethische Prinzipien

1. Der doppelte Ausgangspunkt der Tierethik

1.1 Geschichtliche Entwicklungsstationen

1.2 Die moralische Selbstachtung des Menschen

1.3 Die Empfindungsfähigkeit des Tieres

1.4 Der inhärente Eigenwert der Tiere und die Selbstzwecklichkeit des Menschen

2. Praktische Konfliktfelder der Tierethik

2.1 Tierversuche

2.2 Nutztierhaltung

2.3 Artenschutz

IV. Das Mensch-Tier-Verhältnis in biblisch-theologischer Sicht

1. Die Stellung der Tiere im Alten Testament

2. Die Stellung der Tiere im Neuen Testament

Schlussbetrachtung Christliche Grundhaltungen der Lebensethik

I. Ehrfurcht und Staunen

1. Die Balance von Nähe und Abstand

2. Die Ehrfurcht als Selbstkundgabe des Geschöpfs vor Gott

3. Die Ehrfurcht als Wahrnehmung der Majestät Gottes im anderen Menschen

4. Die Ehrfurcht als Dankbarkeit für den Dienst der Schöpfung

4.1 Der Text des Sonnengesangs

4.2 Der biographische Hintergrund

4.3 Der theologische Hintergrund

II. Mitleid und Fürsorge

1. Mitleid als Solidarität im Leiden

2. Die Umdeutung des Mitleidsmotivs

III. Selbstbegrenzung und Maß

1. Die Erkenntnis unserer Grenzen

2. Die Annahme unserer Grenzen

Personenregister

Sachregister

Vorwort

Auf keinem anderen Gebiet der Wissenschaft, mit Ausnahme der Kernenergie, ist die Ambivalenz der Moderne derzeit so deutlich erkennbar, wie auf dem Feld biomedizinischer Forschung. Sie dient dem Streben nach Autonomie und Emanzipation des Menschen und steht so im Dienst einer aufgeklärten Humanität, die sie durch eine der neuzeitlichen Wissenschaft immanente Tendenz zur Fragmentarisierung, Funktionalisierung und Vergegenständlichung des Menschen zugleich verdeckt. Sie fordert die Freiheit und Würde ein, die sie dem Menschen aufgrund einer tiefsitzenden Skepsis abspricht. Zudem hat die Moderne sich selbst radikalisiert, nicht nur durch die Beschleunigung des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschrittes, sondern ebenso durch den Verlust von Gemeinsamkeiten, die ihr am Anfang und auf dem Höhepunkt der Aufklärung noch als sicheres Fundament gemeinsamer Verständigungsprozesse unter dem Vorzeichen der Vernunft galten. Inzwischen hat sich der weltanschauliche und religiöse Pluralismus, der in der Forderung nach unbedingter Achtung vor jedem Menschen ein letztes Band der Gemeinsamkeit bewahrte, in einen Pluralismus anthropologischer Grundüberzeugungen gewandelt. An die Stelle verbindender Auffassungen über die Fundamente des Menschseins und die im Menschsein als solchem verankerten moralischen Rechte tritt eine bunte Palette von Menschenbildern. Sie reicht von dem Glauben an die Gottebenbildlichkeit und Geschöpflichkeit des Menschen bis zu weltanschaulichen Auffassungen, die in ihm einen Titanen der Macht, einen hedonistischen Glückssucher, einen ruhelosen Selbstdesigner oder auch nur einen determinierten Automaten sehen. Dabei liegen die beiden letztgenannten Sichtweisen, so sehr sie einander zu widersprechen scheinen, oft nahe beieinander.

Der Utilitarismus feiert seinen Wiedereinzug in das Theoriegebäude der Ethik durch die Hintertür: Nachdem er in der politischen Ethik mangels eines überzeugenden Gerechtigkeitskriteriums lange Zeit in Misskredit geraten war, erscheint er vielen auf dem Gebiet der Bioethik angesichts eines unversöhnlichen Pluralismus ethischer Standpunkte als kleinster gemeinsamer Nenner, der Verständigungsprozesse und Mehrheitsentscheidungen ermöglicht. Die Achtung vor der unantastbaren Würde jedes Menschen und seiner unveräußerlichen moralischen Rechte schnurrt zur Respektierung von Interessen zusammen. Zugleich nimmt der Autonomiebegriff eine neue, ihm ursprünglich fremde Bedeutung an: Er meint in weiten Strömungen der aktuellen Bioethik nicht mehr die Aufgabe, aus eigener Einsicht in das moralische Gesetz zu handeln oder die Fähigkeit zu vernünftiger Selbstgesetzgebung, sondern das Recht, eigene Wünsche zu äußern und durchzusetzen. Diese Verschiebung im Autonomiekonzept hat erhebliche Auswirkungen auf dem Gebiet der Bioethik: Die Bereitschaft, jeden Menschen, auch den schwachen und hilflosen, als Geschöpf Gottes und als Person zu achten, weicht der Aufforderung, Interessen geltend zu machen und Präferenzen zu äußern. Wer dazu nicht in der Lage ist, zählt nicht. Er wird zur quantité négligeable, wenn die moralische Gemeinschaft, die aus der vorbehaltlosen Anerkennung der Rechte jedes Menschen hervorgeht, sich in eine Gemeinschaft aufgeklärter Interessenvertreter verwandelt. Auf weite Strecken gerät das Unternehmen »Bioethik« auf diese Weise zur theoretischen Legitimation einer schleichenden Entsolidarisierung, die sich unter dem Deckmantel von Autonomie und Freiheit vollzieht.

Zudem wird das Verheißungspotential der modernen Lebenswissenschaften in der öffentlichen Debatte gezielt eingesetzt, um das Bild einer besseren, gesünderen und glücklicheren Zukunft entstehen zu lassen. Ob die erhofften Fortschritte und der Durchbruch zu neuartigen Therapien für bislang unbehandelbare Krankheiten jemals kommen werden, ist ungewiss, doch soll die Berufung auf das hohe Gut der Gesundheit mögliche Zweifel auf dem Weg dorthin ausräumen und moralische Einwände zum Schweigen bringen. Die Sozialwissenschafterin Elisabeth Beck-Gernsheim bringt die Stimmungslage auf den Punkt, unter der moralische Kontroversen über bioethische Fragen häufig geführt werden: »Gegen Gesundheit kann man nicht argumentieren, schon gar nicht in einer Gesellschaft, die keinen Gott, keine allgemeinverbindliche Moral oder fest vorgegebene Traditionen mehr kennt.«

In diesem Buch unternehme ich den Versuch, von einem christlichen Standpunkt aus moralische Argumente zu erörtern, die auch für Nicht-Christen gültig sind. Dabei argumentiere ich nicht gegen Gesundheit, denn das wäre in der Tat wenig erfolgreich und geradezu widersinnig, sondern für einen moralisch vertretbaren Weg, die physischen Übel und Krankheiten, die das menschliche Leben bedrohen, künftig noch besser zu bekämpfen und entsprechend das hohe Gut der Gesundheit durch Forschung und therapeutische Maßnahmen noch besser zu schützen. Dass eine theologische Lebensethik in der Erörterung rationaler Argumente ihre eigenen Prämissen aufdeckt, widerlegt nicht ihren Anspruch, ihren Standpunkt durch öffentlichen Vernunftgebrauch zu begründen, um auf diese Weise zu allgemein zustimmungsfähigen Urteilen zu gelangen. Entsprechend den Spielregeln einer rationalen Verständigung verstehen sich die dargelegten Argumente als ein Angebot, das beim Leser auf ein kritisches Mitgehen und auf Zustimmung hofft. Auch auf dem umstrittenen Feld der Bioethik gilt, dass moralische Argumente dann erfolgreich sind, wenn sie den Leser dazu befähigen, sein eigenes Urteilsvermögen zu schärfen, voreiligen Schlussfolgerungen durch die Beibringung besserer Gründe zu widersprechen und den eigenen Standpunkt am Ende besser zu verstehen.

Seitdem dieses Buch vor fast zwanzig Jahren in der ersten Auflage erschien, hat sich die bioethische Diskussionslandschaft in vielem verändert. Unvorhersehbare Entwicklungen führten zu neuen Herausforderungen, die damals nicht einmal dem Namen nach bekannt waren, in anderen Gebieten drängten sich Fragestellungen in den Vordergrund, die bis dahin auch in Fachkreisen nur am Rande diskutiert wurden. Um auf diese neueren Entwicklungen eingehen zu können, entschloss ich mich zu einer grundlegenden Neubearbeitung des Buches, die sowohl die theoretischen Grundlagenprobleme wie auch die konkreten Anwendungsfelder der Bioethik berücksichtigt. Über weite Strecken der Darstellung ist so ein neues Buch entstanden, auch wenn die grundlegenden Maßstäbe zur Beurteilung neuer Entwicklungen dieselben blieben. Während die bioethische Debatte der vergangenen zwanzig Jahre in allen Kapiteln berücksichtigt wurde, sind die Ausführungen zur Stammzellforschung, zur Präimplantationsdiagnostik, zum biomedizinischen oder reproduktiven Klonen sowie zur Chimärenbildung und die Frage der Suizidbeihilfe bei schwer kranken und leidenden Menschen neu in das Buch aufgenommen. Die zweite Auflage der Neubearbeitung berücksichtigt darüber hinaus die wieder entfachte Diskussion um das Hirntodkonzept und die Bedeutung der dead-donor-rule, die rasante Entwicklung der genetischen Diagnostik sowie die Kontroverse um die Frage, ob die Suizidbeihilfe mit dem ärztlichen Ethos vereinbar ist oder nicht.

Mein besonderer Dank gilt meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am moraltheologischen Lehrstuhl der Universität Freiburg. Allen voran danke ich der langjährigen Sekretärin Frau Ingelore Schmidt, ohne deren Sorgfalt und Übersicht dieses Buch nicht entstanden wäre. Für wertvolle Verbesserungsvorschläge danke ich Frau Dr. Verena Wetzstein und dem Assistenten Dr. Tobias Hack. Karoline Beck, Angelika Beinert, Sonja Keller, Ulrich Feger, Martin Stritt, Johannes Reichart und Lukas Schmitt unterstützten mich bei der Literaturbeschaffung sowie beim Mitlesen der Korrekturen und Anfertigung der Register. Für die Mithilfe bei der zweiten Auflage danke ich den Sekretärinnen Melanie Dotzauer und Dr. Maria Senoglu sowie Philipp Haas und Katharina Ruder.

Freiburg i. Br. im Mai 2013 Eberhard Schockenhoff

Einführung: Was ist Leben?

Was ist Leben? Wodurch unterscheidet sich lebendiges Sein von dem unbelebter Körper? Die Antwort auf diese Fragen fällt verschieden aus, je nachdem, unter welchem Blickwinkel sie gestellt werden. Die biologische Standarddefinition, die sich auf alle Erscheinungsweisen des Lebens von den einfachsten Bakterien bis zum Menschen anwenden lässt, sieht Leben durch Stoffwechsel, Wachstum und Fortpflanzung (Selbstreproduktion) bestimmt. Voraussetzung dieser drei Grundfunktionen des Lebens ist das Vermögen zur Selbstorganisation, das wiederum an die Fähigkeit zur Informationsspeicherung und ihr materielles Substrat, den Besitz von ein oder zwei DNS-Strängen (Desoxyribonuklein-Säure) gebunden ist. Unter dieser Rücksicht scheint das Leben nichts anderes zu sein, als ein physikalisch-chemischer Prozess oder eine emergente Eigenschaft der Materie, die beim Übergang von der unbelebten Welt zur organischen entstanden ist. Aber wird man der Eigenart und Vielfalt des Lebens gerecht, wenn man es aus Leblosem herleitet und nur als allgemeines Phänomen, als Leben »an sich«, als Durchgangsprozess durch seine bestimmten Formen beschreibt, in denen es dem beobachtenden Blick des Betrachters entgegentritt?

I. Blick von unten: Die biologische Standarddefinition

Eine wissenschaftliche Erklärung des Lebens, die dieses unter reduktionistischer Perspektive als ein physikalisch-chemisches Geschehen beschreibt, das ubiquitär über alle Formen des Lebendigen hinweg Stoffwechsel, Wachstum und Fortpflanzung ermöglicht, erkauft ihre Objektivität durch einen hohen Preis: Sie muss von dem absehen, was das Leben jeweils zu einem Lebendigen, einem individuell geformten Sein macht, dem die rätselhafte Eigenschaft des Lebendig-Seins zukommt. Das Leben als solches lässt sich zwar anhand der genannten biologischen Minimalbestimmungen in seinen Differenzmerkmalen zur unbelebten Welt beschreiben, aber es kommt in dieser biologischen Arbeitsdefinition noch nicht zum Vorschein, wer dieses lebendige Etwas ist, von dem Stoffwechsel, Wachstum und Fortpflanzung ausgesagt werden. Die wissenschaftliche Bestimmung der Eigenschaft »Leben« kann erklären, wodurch sich eine Blume oder eine Pflanze, eine Palme oder ein Frosch von einem unbelebten Ding wie einem Stein oder einem Stück Holz unterscheiden. Aber sie gibt noch keine Auskunft über den jeweiligen Träger dieses so bestimmten Lebens, über das Sub-jektum, dem Leben zukommt.

Die Auskunft, wo immer Leben erscheine, beruhe es auf chemischen Prozessen, die dem Lebewesen Informationsgewinnung- und Verarbeitung ermöglichen, verleitet zudem zu Fehlschlüssen, die eine wichtige Eigenart des Lebendigen verkennen: Das Verhältnis zwischen der Basisinformation, die Leben ermöglicht und den konkreten Erscheinungsformen des Lebens, darf nicht nach der Analogie von Software und Hardware bei einem Computer gedacht werden, die sich beim Gebrauch der Metapher »Information« aufdrängt. Während die Hardware eines Computers jede beliebige Software aufnehmen kann, kennzeichnet es lebendige Körper, dass ihr Lebensprinzip – die antike Naturphilosophie nannte es seit Aristoteles ihre Seele – auf diesen bestimmten Körper bezogen ist. Leben gibt es nicht wie die Materie als noch ungeformten Stoff, als reines Ausgedehntsein, das sich erst nachträglich in seine konkreten Erscheinungsweisen differenziert, sondern Leben ist immer nur in lebendiger Form und als konkrete Gestalt – als diese Pflanze, dieses Tier oder dieser Mensch – gegeben. Die Priorität der Form gegenüber dem Stoff, die alles Lebendige gegenüber der unbelebten Materie auszeichnet, wiederholt sich auf allen Stufen des Lebens. Schon eine Pflanze und erst recht ein Tier sind mehr als nur austauschbare Exemplare ihrer Art oder eine beliebige Durchgangsstelle für den biologischen Gesamtprozess des Lebens. Auf jeder Stufe, bereits auf der untersten des Einzellers, ist Leben nur in der Besonderheit konkreter Form und Gestalt, niemals als ungeformte Kraft oder gestaltlos-sphärische Energie über den konkreten Lebensformen oder durch sie hindurch gegeben.1

II. Die Entstehung des Lebens

Ein anderer Weg, die Eigenart des Lebens zu begreifen, eröffnet sich, wenn wir nach seinen Entstehungsbedingungen fragen. Unseren eigenen Planeten, die Erde, gibt es seit ungefähr 4,5 Milliarden Jahren; die ältesten Spuren des Lebens, die als Gesteinsablagerungen von Pflanzen oder Tieren entdeckt wurden, sind etwa 3,5 Milliarden Jahre alt. Wie kam es dazu, dass Leben auf der Erde entstehen konnte? Wie konnten sich aus den anorganischen Elementen Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff und Schwefel Eiweißverbindungen als Trägerstoffe des Lebens entwickeln? Unter welchen Bedingungen führte die chemische Evolution zum spontanen Auftreten des Lebens? Oder ist das Leben gar, wie eine besonders verwegene Theorie annimmt, erst durch einen Meteoriteneinschlag auf die Erde gelangt? Abgesehen von dem spekulativen Charakter dieser Annahme erklärt sie nicht, warum einfaches organisches Leben die notwendigen Bedingungen auf der Erde fand, unter denen es sich weiterentwickeln konnte. Daher verschiebt diese Theorie die Ursprünge des Lebens nur in noch rätselhaftere Weiten des Weltalls, ohne sie selbst zu erklären.

Die moderne Kosmologie, die die Entstehungsgeschichte des Universums seit dem »Urknall« rekonstruiert, kann den Ursprung des Lebens über die einzelnen Stufen der physikalischen, chemischen und biologischen Evolution in umgekehrter Richtung bis auf seine einfachsten materiellen Strukturen zurückführen. Sowohl die Entwicklung des Universums als auch, in diese eingebettet, die Entstehung des Lebens verliefen nach so genannten Naturkonstanten, die den Annahmen des Standardmodells der Weltentstehung zufolge unveränderlich sind. Wären diese Konstanten, zu denen vor allem die gleich bleibende Gravitation, die Lichtgeschwindigkeit, das Massenverhältnis zwischen Elektron und Proton sowie eine so genannte Feinstrukturkonstante gehören, nur um einen geringfügigen Wert von ihrem faktischen Verlauf abgewichen, wäre das Universum in einen gasförmigen Urzustand zurückgesunken, ohne komplexere Erscheinungsformen des Lebens hervorzubringen. Auch die entgegengesetzte Möglichkeit, eine zu rasche Expansion des Universums, hätte dieselben Auswirkungen gehabt und zu einem vorzeitigen Ende der physikalischen Entwicklung geführt. Erst die unwahrscheinliche Summe vielfältiger, höchst kontingenter Gleichförmigkeiten, die aus dem Anfangszustand des Universums in keiner Weise ableitbar sind, schuf den überaus schmalen Korridor, in dem die Evolution des Lebens die erforderlichen Bedingungen für ihren Fortgang fand.

Die grundlegenden Eigenschaften der Materie, die sich in den ersten Sekundenbruchteilen nach dem »Urknall« gebildet haben müssen, sind in ihrem Zusammenspiel und ihrer Feinabstimmung für alle weiteren physikalischen, chemischen und biologischen Vorgänge verantwortlich, die zur Entstehung organischen Lebens auf Erden führten und schließlich das Auftreten des Menschen ermöglichten. Computer-Simulationen zeigen, dass schon geringfügige Abweichungen im Verhältnis der physikalischen Kräfte zueinander die weitere kosmologische Entwicklung, das Entstehen der chemischen Grundelemente und die biologische Evolution der Organismen, unmöglich gemacht hätten. Die Wärmestrahlung aufgrund des Abstandes unseres Planeten zur Sonne, das Magnetfeld der Erde, das Verhältnis von Wasser- und Landflächen zueinander, die Häufigkeit des Kohlenstoff-Atoms in Relation zu anderen chemischen Elementen – wäre auch nur eine dieser Bedingungen nicht in der gegebenen Weise erfüllt gewesen, hätte die »Kette« der Lebewesen schon in ihren Anfangsgliedern nicht entstehen können. Auf jeder Entwicklungsstufe mussten sich Feinabstimmungen, Wechselwirkungen und Ordnungsstrukturen immer höherer Komplexitätsgrade einstellen und erhalten, damit pflanzliches, tierisches und menschliches Leben auf Erden auftreten konnte.2 Die extreme Unwahrscheinlichkeit des Verlaufs, den die physikalische und chemische Evolution vor der Entstehung des Lebens nahm, lässt dabei völlig offen, ob das Geschehen in irgendeiner Weise zielgerichtet verlief, so dass die Anfangsstufen auf die Ermöglichung der späteren Entwicklung hingeordnet sind. Besagt die verlässliche Feinabstimmung unter den Naturkonstanten lediglich, dass sich Leben nur unter den tatsächlich gegebenen Bedingungen entwickeln konnte, wie eine schwache Deutung des anthropischen Prinzips annimmt? Oder verlief die physikalische und chemische Evolution des Lebens so, wie es tatsächlich der Fall war, damit organisches Leben entstehen konnte, das auf einer höheren Entwicklungsstufe schließlich Bewusstsein, Wille und Geist hervorbrachte?

Diese starke Deutung des anthropischen Prinzips, nach der die gesamte Naturgeschichte auf die Entstehung des menschlichen Lebens ausgerichtet ist, wird von den meisten Physikern und Biologen wegen ihrer Nähe zu einer teleologischen Weltdeutung abgelehnt. Doch bleibt auch die schwache Variante unbefriedigend, da sie die Erklärungsbedürftigkeit des Lebens ebenso wenig beseitigt wie die Auskunft, das blinde Zusammenspiel kausaler Mechanismen mit unvorhersehbaren Zufallsfaktoren habe den Menschen hervorgebracht. Lässt sich berechtigterweise noch von einem Würfeln der Evolution sprechen, wenn die Würfel immer wieder so fielen, wie sie von der Zukunft aus gesehen fallen mussten, um diese erklären zu können?3 Wie ist es um den Zufall bestellt, wenn dieser immer zur rechten Zeit und am notwendigen Ort zur Stelle ist? Die Unklarheit der Metapher vom Würfeln des Zufalls und die extreme Unwahrscheinlichkeit, unter der die Entstehung des Lebens in der Anfangsgeschichte des Universums nach der kosmologischen Rekonstruktion seiner Ursprünge stand, führen an die Grenzen einer naturwissenschaftlichen Erklärung des Lebens. Der Versuch, das Leben in Begriffen des Leblosen zu erklären, indem es seiner Komplexität entkleidet und auf ein Zusammenwirken seiner einfacheren Bauteile zurückgeführt wird, führt nicht dazu, dass wir nun besser verstünden, was Leben ist und warum es entstand.

Das Scheitern dieser Erklärungsversuche findet seinen letzten Grund, wie Hans Jonas gezeigt hat, in dem Wissensideal der neuzeitlichen Naturwissenschaft. In ihr wurde »das Leblose, das Wissbare par excellence, der Erklärungsgrund von allem … und damit auch (der) anerkannte Seinsgrund von allem«4. Die physikalisch-chemische Analyse des Lebens, die dieses zum einen auf seine elementaren materiellen Bausteine und zum anderen auf gleichartige, in der gesamten Natur gültige Gesetzmäßigkeiten zurückführen möchte, führt zu dem Dilemma, dass nunmehr »das Leben wissenschaftlich verstehen heißt, es begrifflich dem assimilieren, was nicht Leben ist«5. Um diese Fixierung auf das Leblose, Materielle und Anorganische zu überwinden, fordert Jonas eine philosophische Biologie als Philosophie des Lebendigen, die von dem methodischen Postulat einer Einbeziehung des Lebens in seine Beschreibung ausgeht. Was Leben ist, kann nur im Ausgang vom Leben selbst und nicht durch die Einklammerung seiner charakteristischen Phänomene verstanden werden. Daher bedarf die naturwissenschaftliche Bestimmung des Lebens, bei der das eigene Erleben des Beobachters ebenso ausgeschlossen bleiben muss wie die Einfühlung in andere Lebewesen, der Ergänzung durch eine erweiterte Wahrnehmungsperspektive. Diese eröffnet sich, wenn man die Grunderfahrung des Lebens aus der theoretischen Einstellung zu ihm nicht länger ausblendet, sondern der umgekehrten Anweisung folgt: »Der Beobachter des Lebens muss vorbereitet sein durch das Leben.«6 Oder, noch prägnanter: »Leben kann nur von Leben erkannt werden.«7

III. Wechsel der Wahrnehmungsperspektive

Der Wechsel von einer äußeren Beobachterperspektive zur Teilnehmerperspektive, der den Blick auf das Leben leiten soll, zeigt sich darin, dass es ihm nicht mehr um die Dekonstruktion des Lebendigen, um die analytische Zergliederung organischer Lebensformen geht, sondern darum, die charakteristische Eigenart des Lebens aus seiner spezifischen Differenz zu der unbelebten Körperwelt zu bestimmen. Diese kommt aber nicht in den einzelnen Elementarteilen, sondern nur in der Struktur der lebendigen Formen und Gestalten des Lebens zum Ausdruck. Die Besonderheit des Lebens wird nicht an der untersten Berührungsschicht mit der anorganischen Materie, der Kontaktschwelle zur unbelebten Natur, sondern nur auf den höheren Lebensstufen erkannt, die ihre eigenen Lebensäußerungen hervorbringen. Statt die Phänomene von Bewusstsein, Subjektivität und Freiheit, die sich auf den höheren Stufen des organischen Lebens zeigen, in einer wissenschaftlichen Beschreibungssprache auf materielle Gegebenheiten (wie genetische Strukturen in der Soziobiologie oder neuronale Korrelate in der Hirnforschung) zurückzuführen, blickt eine erweiterte Wahrnehmungsperspektive von der erreichten Höhenlage aus auf die Vorstufen von Bewusstsein, Geist und Freiheit zurück, die diesen Erscheinungsformen des Lebens in seiner Entwicklungsgeschichte den Weg bereiten.

1. Der lebendige Körper als funktionale Ganzheit

Schon die Wahrnehmung eines belebten Körpers durch das menschliche Auge lässt eine erste Differenz zu unbelebten Dingen erkennen, die als reine Objekte der Außenwelt gegeben sind. Während diese durch ihr räumliches Ausgedehntsein bestimmt und in einen kontinuierlichen Wirkungszusammenhang der äußeren Welt eingespannt sind, weist der lebende Körper einen größeren Spielraum gegenüber seiner Umgebung auf, in dem er sich frei bewegen und autonom verhalten kann.8 Die Begrenzung des toten Körpers wirkt nach allen Seiten hin als eine Schranke, die nur abschließende Funktion hat; dagegen erscheint die räumliche Grenze eines Lebewesens, die sich als Haut um seinen Körper legt, als eine zu ihm selbst gehörige Grenze, die den organischen Körper zu seiner Umwelt hin nicht nur abschließt, sondern zugleich aufschließt.9 Lebendige Wesen behaupten daher nicht einfach ihren einmal erreichten monotonen »Wasbestand« an einer fixen Stelle des Raum-Zeit-Kontinuums; sie sind vielmehr durch ein prozesshaftes Werden geprägt, das zugleich Stehen und Übergehen, In-sich-Sein und Offenstehen für anderes ist.10 Daher sind Lebewesen anders als unbelebte Körper, die eine Stelle in der äußeren Welt ausfüllen, durch eine spezifische »Bezogenheit von Organismus und Umgebungsfeld« charakterisiert,11 die im Stoffwechsel und in der Empfänglichkeit des organischen Körpers für sinnliche Reize der Außenwelt ihren Ausdruck findet.

Der belebte Körper unterscheidet sich vom unbelebten des Weiteren durch eine in ihm selbst liegende Beweglichkeit, die auf ein motorisches Zentrum verweist, das seine Außenwahrnehmung durch ein fremdes Auge auch im Ruhezustand prägt. Der unbewegte Körper eines Lebewesens, das schläft oder sich absichtlich still verhält, verrät noch immer jene »Lockerung in ihm selbst«, die von außen oder aufgrund ihrer inneren Mechanik bewegten toten Körpern (z. B. »tanzenden« Gläsern auf einer von Hand bewegten Tischplatte oder einem Perpetuum Mobile) gerade nicht zukommt.12 Der Philosoph Helmuth Plessner sieht die selbstzentrierte, eigenmotorische Daseinsweise von Lebewesen durch eine eigentümliche »Positionalität« gegenüber ihrer Umgebung bestimmt, die den Rückschluss auf eine selbstbezügliche Innenwelt erlaubt, die sich im äußeren Verhalten manifestiert. Im Körper eines Lebewesens zeigt sich deshalb nicht nur ein Objekt der Außenwelt, sondern zugleich der Ausdruck einer eigenständigen Innenwelt, die Manifestation eines seelischen Erlebens, das je nach der Stufenhöhe des Organismus einen unterschiedlichen Grad an Bewusstheit und Reflexivität gewinnt. Als Wissenschaft vom Lebendigen kann die Biologie daher nicht einfach die Kategorien der unbelebten Welt verwenden, um ihre lebendigen Objekte zu bezeichnen. Sie muss vielmehr eigene »Formbegriffe« ausbilden, die von spezifischer Struktur sind und jene Unabhängigkeit gegenüber den kausalen Einwirkungen der Umwelt bezeichnen, die dem jeweiligen Organismus seine Funktionsfähigkeit in einem offenen Spielraum gegenüber seiner Umwelt verleihen.13

Im Anschluss an Biologen wie Jakob von Uexküll und Ludwig von Bertalanffy wird dafür in der Regel der Begriff eines »lebendigen Systems« gebraucht, der den früheren Terminus »Organismus« oder die klassische Bezeichnung »beseelter Körper« ersetzt. Der Systembegriff eignet sich zur Charakterisierung lebendiger Formen und Ganzheiten, weil jedes System einen inneren Einheitspunkt aufweist und durch ein wechselseitiges Aufeinander-Einwirken des Ganzen und seiner Teile gekennzeichnet ist. Jeder lebendige Körper ist nach einem Definitionsvorschlag Plessners »auf einen in ihm liegenden Zentralpunkt bezogen, der keine räumliche Stelle hat, aber als Zentrum des umgrenzten Körpergebietes fungiert und damit das Körpergebiet zu einem System macht. Die Beziehung erstreckt sich auf alle den Körper aufbauenden Elemente (Teile) und auf den Körper als ganzen«14. In seiner vollkommenen Form ist der Systembegriff nur auf den tierischen und menschlichen Organismus anwendbar, weil beide im Unterschied zur Pflanze über ein zentrales Repräsentationsorgan verfügen, das eine stärkere »Abklammerung des Lebewesens gegen seine Umgebung«15 bewirkt und die Einheit des Ganzen zu sich selbst vermittelt. Erst auf dieser Stufe kann von einem Lebewesen sinnvoll gesagt werden: »Sein Körper ist sein Leib geworden, jene konkrete Mitte, dadurch das Lebenssubjekt mit dem Umfeld zusammenhängt (…). Das Selbst (…) besitzt jetzt den Körper als seinen Leib.«16 Im Gegensatz zu dieser geschlossenen Organisationsform tierischer Lebewesen ist die Pflanze durch ihre offene Form (sie ist in ihrem Wachstum nie »fertig« wie ein Tier), durch ihre der Umgebung direkt zugewandte Flächenentwicklung, durch die Ermangelung von Zentralorganen und die fehlende Fähigkeit zur Ortsbewegung gekennzeichnet.17

Daher lassen sich nicht alle Elemente des Systembegriffs auf pflanzliches Leben anwenden, so dass diese nur in analogem Sinn als »lebendige Systeme« zu bezeichnen sind. Dies muss insofern nicht erstaunen, als Pflanzen zwar mit Tieren gemeinsam die Grundeigenschaften des Lebendigen teilen, jedoch innerhalb der Gruppe der Lebewesen keine evolutionäre Vorstufe der Tiere darstellen. Sie stammen zwar ähnlich wie Mensch und Affe von gemeinsamenVorfahren, den Einzellern ab, repräsentieren dann jedoch getrennte Entwicklungslinien, die von Anfang an zu unterschiedlichen Organisationsformen des Lebendigen führten.18

2. Das Wechselverhältnis zwischen Teil und Ganzem

Philosophisch lassen sich die Ursprünge der Rede von »lebendigen Systemen« und »Funktionsganzheiten« bis auf Kant und Aristoteles zurückführen. In seinem Spätwerk, in dem er sich um eine eigenständige Grundlegung der Biologie als Wissenschaft vom Lebendigen im Gegensatz zur Mechanik der unbelebten Natur bemühte, benutzte Kant bereits den Begriff der Selbstorganisation, um das Lebendigsein von Lebewesen zu kennzeichnen. Im Unterschied zu Apparaten und Maschinen, die nur über Bewegungsenergie verfügen, besitzen Lebewesen »in sich bildende Kraft«, durch die sie als Produkt der Natur als »organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen ein Naturzweck genannt werden können«19. Kant erkannte bereits, dass auf der Ebene des Lebendigen ein neues Verhältnis zwischen Teil und Ganzem erscheint, das für das Verständnis lebendiger Systeme von entscheidender Bedeutung ist. Anders als komplizierte Maschinen, die aus Teilen zusammengesetzt und daher auch in diese zerlegbar sind, ist die Organisationsform von Lebewesen durch ein schwebendes Wechselverhältnis zwischen beiden bestimmt, so dass die Funktion des Ganzen nur aus dem Zusammenwirken der Teile (Organe) erklärbar ist und diese ihre Funktion umgekehrt nur innerhalb des Ganzen ausüben können. »In einem solchen Produkte der Natur wird ein jeder Teil, so wie er nur durch alle übrigen da ist, auch als um der anderen und des Ganzen willen existierend, d. i. als Werkzeug (Organ) gedacht; welches aber nicht genug ist (…), sondern als ein die anderen Teile (folglich jeder den anderen wechselseitig) hervorbringendes Organ, dergleichen kein Werkzeug der Kunst, sondern nur der allen Stoff zu Werkzeugen (selbst denen der Kunst) liefernden Natur sein kann.«20

Noch prägnanter beschreibt Kant das Wechselverhältnis zwischen Teil und Ganzem, wenn er auf die teleologische Verfasstheit, d. h. die innere Zweckmäßigkeit von Lebewesen zu sprechen kommt: »Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mitte ist.«21 Entgegen allen Versuchen der neuzeitlichen Naturwissenschaft, die Eigenart des lebendigen Seins durch seine Gemeinsamkeiten mit dem leblosen und anorganischen Sein zu bestimmen, besteht Kant darauf, dass man in dieser Blickrichtung bestenfalls ein »Analogon des Lebens« finden könne, das dessen einzigartige Stellung in der Natur jedoch nicht zu erklären vermöge. Die besondere Vollkommenheit von Lebewesen, deretwegen sie »Naturzwecke« genannt werden, liegt für Kant gerade darin, dass sie durch keine Analogie zu irgendwelchen physischen Vermögen in der uns bekannten Natur hinreichend verstehbar sind. Selbst die Analogie eines Kunstwerkes, das durch das schöpferische Wirken des Menschen entstand, liefert nur ein schwaches und entferntes Analogon, das die Hervorbringung von Lebewesen durch die sich selbst organisierende Natur nicht erklären kann.22

3. Leben als Ausdruck einer Innenwelt

Die an der phänomenologischen Wahrnehmung des lebendigen Körpers in seiner Abhebung von der unbelebten Welt der Körperdinge abgelesenen Merkmale des Lebendigen lassen sich durch weitere Kennzeichen ergänzen, die der Reflexion auf die Selbsterfahrung des Lebens zugänglich sind, wie sie unser eigenes Erleben des Leibes ermöglicht. Diesen Weg ist wiederum Jonas gegangen. Er benutzt die höchsten Äußerungen des Lebens, das Erscheinen von Bewusstsein und Freiheit sowie seinen Begegnungscharakter und seine konstitutive, in Vulnerabilität und Sterblichkeit zum Ausdruck kommende Begrenztheit als methodischen Leitfaden, um Aufschluss über die Eigenart des Lebendigen zu gewinnen, die dieses auf allen Stufen prägt. Das erste Kennzeichen des Lebendigen, das aus dieser Perspektive erfasst werden kann, ist auch für ihn die Sichtbarmachung einer Innenwelt, die Manifestation von Bewusstsein, durch die sich seelisches Erleben einen Ausdruck verschafft. Mechanistisch-quantitative Erklärungen des Lebens versagen nicht erst angesichts des Menschen in seiner schöpferischen Freiheit, seinem reflexiven Selbstbewusstsein und seiner Fähigkeit zur begrifflichen Abstraktion, sondern bereits vor der Aufgabe, die Innenwelt zu verstehen, die jedem organischen Leben eigen ist. Ihr bleibt der springende Punkt verschlossen, durch den sich lebende Körper in der organischen Natur von unbelebten unterscheiden: die Dimension der selbstzentrierten Innerlichkeit. Wo Lebendiges gegeben ist, da tritt es dem Betrachter als ein eigenes »Zentrum der Welterschließung« gegenüber; dieser begegnet im fremden Lebewesen dem Ausdruck einer unerforschlichen Innenwelt, die ihm zunächst verschlossen ist.23

Diese Innenwelt kann sich in den spezifischen Lebensäußerungen dieses lebendigen Wesens, in seinen Trieben und Begierden, in Verfolgung und Flucht, in Sorge und Angst oder in den entsprechenden Körpersignalen dieser inneren Gestimmtheiten kundtun, doch bleibt auf jeder Stufe eine unübersteigbare Grenze, die dem Verstehen fremder Innerlichkeit gezogen ist und auch durch Einfühlung und analoge Interpretation nicht übersprungen werden kann. Entscheidend bleibt immer, dass mir im anderen Lebewesen ein eigenes Zentrum begegnet, das aus sich heraus auf seine Umwelt oder Mitwelt ausgerichtet ist. Wo immer sie auftreten, repräsentieren Lebewesen autonome Zentren der Selbstgegebenheit und Selbsttranszendenz; die Manifestation einer fremden Innerlichkeit ereignet sich auf allen Stufen des Organischen, nicht erst in der zwischenmenschlichen Begegnung oder im Verhältnis zu vertrauten Haustieren oder Jagdgefährten des Menschen. »Wo anders als am Anfang des Lebens kann der Anfang der Innerlichkeit gesetzt werden?« fragt Jonas und schließt daraus auf die Ergänzungsbedürftigkeit einer rein naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise des Lebens: »Wenn aber Innerlichkeit koextensiv mit dem Leben ist, dann kann eine rein mechanistische Interpretation des Lebens, d. h. eine Interpretation in bloßen Begriffen der Äußerlichkeit, nicht genügen.«24

4. Leben als Manifestation von Freiheit

In der Beteiligungsperspektive, die nach der Innenwelt des Lebendigen und seiner selbstzentrierten Individualität fragt, tritt ein weiterer Grundzug organischen Lebens hervor: seine Freiheit. Dieser durchgängige Charakter allen lebendigen Seins kann zunächst Befremden hervorrufen. Die Erkenntnis, dass Freiheit die eigentümliche Seinsart des Lebendigen ist, erscheint jedoch nur so lange merkwürdig, als der Begriff der Freiheit in seiner Höchstform als moralische, von der Einsicht in ethische Prinzipien geleitete Handlungs- und Wesensfreiheit verstanden wird. Während dieser Vollbegriff der Freiheit erst auf der Ebene des Menschen erreicht wird, lassen sich die Vorstufen einer »keimhaften Freiheit« bis zu den organischen Grundschichten der belebten Natur verfolgen, aus der sie sich Zug um Zug entwickelt haben.25 Auf der untersten Ebene erscheint bereits das Phänomen des Stoffwechsels als ein rudimentäres Freiheitsgeschehen, als »Primärmodus organischer Freiheit«, durch den sich jedes Lebewesen im Dasein erhält.26 Jedes lebendige System weist insofern eine freiheitliche Grundstruktur auf, als es sein Selbst nicht als festen stofflichen Bestand besitzt, sondern nur in einer andauernden Neuaneignung fremden Stoffes, im Durchgang der aufgenommenen Nährstoffe durch die eigene Form existiert, die nur vorübergehend der eigenen Körpersubstanz assimiliert werden. »Es ist niemals stofflich dasselbe und dennoch beharrt es als dieses identische Selbst gerade dadurch, dass es nicht derselbe Stoff bleibt.«27

Die Umkehr im Verhältnis von Stoff und Form, die sich mit dem Auftreten organischen Lebens in der Natur ereignet, bringt zum ersten Mal Freiheit hervor, denn das stoffliche Substrat des Lebewesens untersteht nun dem Primat der lebendigen Form, die sich immer wieder nach dem jeweiligen Strukturplan des entsprechenden Lebewesens die eigene organisch-stoffliche Lebensbasis schafft. Freiheit ist somit bereits im Organischen vorgebildet und kann deshalb als Leitfaden zu einer Deutung des Lebendigen herangezogen werden, die dessen wachsende Freiheitsgrade über alle Komplexitätsstufen hinweg verfolgt. In der evolutionären Rückschau auf die Anfänge der Entwicklung lässt sich erkennen, dass bereits der Übergang von der unbelebten zur belebten Natur, die erste Selbstorganisation der Materie auf Lebendiges hin »von einer in der Tiefe des Seins arbeitenden Tendenz zu eben den Modi der Freiheit motiviert war, zu denen dieser Übergang das Tor öffnete«28. Verfolgt man den Gang der Evolution dagegen in der anderen Blickrichtung nach vorne, zu ihrer offenen Zukunft hin, so führt der Vorentwurf der Freiheit auf der Ebene des Organischen über die Entwicklungsstufen des tierischen Lebens schließlich zum Menschen. Der wachsende Freiheitsgrad des Tieres ist ein Resultat dessen, dass es gegenüber der Pflanze in einem offeneren Verhältnis zu seiner Umgebung steht. Die höhere Beweglichkeit des Tieres, erkennbar am ungehinderten, schnellen Lauf des Raubtieres oder am freien Flug des Vogels, erweckt im Betrachter die spontane Assoziation einer wachsenden Freiheit, die der von Stufe zu Stufe zunehmenden Unabhängigkeit gegenüber den eingrenzenden Vorgaben der unmittelbaren Umgebung entspringt. Diese bietet sich dem Tier jeweils als ein offenes Aktionsfeld mit entsprechenden »Möglichkeiten« an, so dass der erreichte Freiheitsgrad mit der wachsenden Komplexität des tierischen Bewusstseins zunimmt.29 Im Rahmen der durch ihre Instinktregulation vorgegebenen »Richtungsbestimmtheit des Verhaltens« können Tiere ihre Aktionen lenken und den Ablauf ihres Verhaltens beeinflussen;30 keineswegs bedeutet ihr instinktbedingtes Verhalten, dass dieses gänzlich determiniert und daher als reiner Gegenbegriff zum freien Handeln des Menschen zu verstehen ist. Zwar zeigt der Mensch-Tier-Vergleich eine höhere Abhängigkeit des Tieres von einer bestimmten Reizkonstellation, die dessen möglichen Reaktionskreis eingrenzt, doch ist der konkrete Ablauf tierischen Verhaltens keineswegs in allem durch das Zueinander von äußerem Reiz und innerer Instinktneigung bestimmt. Vielmehr ergibt sich eine Lenkbarkeit des Verhaltens schon durch den Zwang, angesichts gleichwertiger Reizobjekte wählen zu müssen. Die Instinktregulation des tierischen Verhaltens darf deshalb nicht als Totaldetermination verstanden werden. Vielmehr ist bereits das Streben der Tiere von einem anfänglichen Urteilsvermögen geleitet, das sie dazu in die Lage versetzt, gegebene Situationen im Lichte ihrer natürlichen Strebensziele angemessen zu bewerten und ihr Verhalten entsprechend auszurichten.31

Erst auf der Ebene des Menschen erscheint die Freiheit in der Form eines vernunftgeleiteten Strebens, das ein Korrelat seiner Weltoffenheit ist. Als vernünftiges Lebewesen besitzt der Mensch nicht nur die Fähigkeit zur abschätzenden Situationsbeurteilung, sondern ein Handlungsvermögen, durch das er nach Gründen fragen und unter Zielen auswählen kann. Der höhere Freiheitsgrad des Menschen gegenüber dem Tier hat seinen Ursprung in der exzentrischen Daseinsweise des Menschen: Er lebt nicht nur, sondern er muss sein Leben führen. Er muss in freier und bewusster Entscheidung sein Seinkönnen ergreifen und sich erst zu dem machen, der er ist und sein kann.32 Die Nachteile der menschlichen Wesensform gegenüber manchen Tierarten wie die mangelnde Geschwindigkeit des Gehapparates, die geringere Sehschärfe der Augen oder der Zwang zur Kleidung sind dabei als eine Art Preis der Freiheit zu betrachten, der für die größere Unabhängigkeit von der Natur zu entrichten ist. Dem Menschen bleibt die relative Verhaltenssicherheit des Tieres innerhalb seines jeweiligen Umgebungsfeldes versagt; er trägt nicht nur das Risiko einer größeren Fehlerquote, die einzelne seiner Handlungen fehlschlagen lässt, sondern er steht als Ganzer in der Freiheit zur Wahl des eigenen Lebensstandortes. Dies schließt auch die Freiheit zur Unwahrhaftigkeit und Lüge, die Freiheit zu Hass und Zerstörung, die Freiheit zum Unrechttun und zur Ausbeutung des Lebens, kurz: die Freiheit zum Bösen ein. Auf der Stufe des Menschen wird die Freiheit zum Schicksal des Lebens und dieses selbst zu einem offenen Experiment mit ungewissem Ausgang. Angesichts der wachsenden Machtfülle des Menschen und der immer weiter hinausgeschobenen Grenzen seiner Naturbeherrschung bleibt dieses Experiment stets von einem Scheitern bedroht, das zu unvorstellbaren Konsequenzen führen müsste. Versteht man das Lebens von der Entstehung der Amöbe bis hinauf zum Auftreten des Menschen als eine stufenweise Höherentwicklung hin zu immer größeren Freiheitsgraden, so zeigt sich, dass das Leben selbst in allen seinen Schichten, den niedrigen und höheren, den einfacheren und den komplexeren, in die Gefährdung der menschlichen Freiheit einbezogen ist. Es ist kein unaufhaltsamer Vormarsch in eine sichere Zukunft, sondern aus biologischer Sicht ein Experiment der Natur, dessen endgültiges Gelingen oder Scheitern vorläufig offen bleibt.

5. Leben als Begegnung

Ein weiteres Merkmal des Lebendigen ist dadurch gegeben, dass es auf seine Umwelt hin offen ist und ihr begegnet. Tote Dinge liegen nebeneinander, wenn sie nicht (wie in den Kunstwerken von Josef Beuys) von Menschenhand einander zugeordnet werden, ohne dass sich zwischen ihnen ein Austausch oder eine Wechselbeziehung einstellt. Lebendige Körper dagegen interagieren miteinander; schon der Kreislauf von Stoffwechsel und Energieaustausch, der die Pflanze mit ihrer Umwelt verbindet, trägt Begegnungscharakter. Ausdruck dieser Begegnungsoffenheit, die das Sein des Lebendigen auszeichnet, ist seine Bedürftigkeit. Anders als tote Körper sind Pflanzen und Tiere, um sich im Sein erhalten zu können, von einem ständigen Austausch mit ihrer Umgebung abhängig. Jedes Lebewesen bedarf eines anderen, um leben zu können: »Bedürftig an die Welt gewiesen, ist es ihr zugewandt; zugewandt (offen gegen sie) ist es auf sie bezogen; auf sie bezogen ist es bereit für Begegnung; begegnungsbereit ist es fähig der Erfahrung; in der tätigen Selbstbesorgung seines Seins, primär in der Selbsttätigung der Stoffzufuhr, stiftet es von sich aus ständig Begegnung.«33

Leben ist daher immer auf ein Gegenüber bezogenes Sein, eine Beziehung, in der das eine Glied die Bedingung für die Selbständigkeit des anderen bereitstellt. Während aber die Begegnung des Tieres mit seiner Umwelt aufgrund der Frontalität seines Körperbaus den Charakter der Gestalterfassung trägt, kann der Mensch aus einer exzentrischen Position heraus anderem Sein begegnen, indem er sich diesem bewusst öffnet. Er weiß um sich selbst und den anderen; die Begegnung erfolgt, auch wenn sie durch Gefühle geleitet und von affektiver Zuneigung oder der Abwehr getragen ist, nicht mehr rein instinktiv. Ein Mensch begegnet dem anderen, indem er sich ihm öffnet und sich ihm als einem Du zuwendet, das ihm seinerseits als selbstbewusstes Zentrum einer eigenen Innerlichkeit entgegentritt. Jeder Partner erlebt die Begegnung als Subjekt seines eigenen Erlebens; er muss für sie bereit sein und sich für den anderen bereithalten. In ihren höchsten Formen trägt die Begegnung zwischen Menschen daher den Charakter einer wechselseitigen Erwählung und einer freien Entschiedenheit füreinander. In solchen gelingenden Begegnungen wird am Ende unwichtig, wer die Initiative ergriff, die Aktion des einen wird durch die Reaktion des anderen ermöglicht und umgekehrt. Im Blick auf die Ich-Du-Relation zwischen Menschen heißt es bei Martin Buber: »So ist die Beziehung erwählt werden und erwählen, Passion und Aktion in einem.«34 Zunächst erscheint es so, dass die Partner ihre Beziehung stiften, indem sie diese als unabhängige, autonome Subjekte aufnehmen und so die Begegnung zwischen ihnen durch ihren beiderseitigen Willen hervorbringen. Doch ließe sich nicht mit gleichem Recht auch sagen, dass die Begegnung den beiden Polen vorangeht und daher ursprünglicher ist als Ich und Du? Dies ist der Sinn der viel zitierten Sätze: »Der Mensch wird am Du zum Ich«35 und: »Alles wirkliche Leben ist Begegnung.«36 Die relationale Ontologie des Lebendigen bedeutet indessen nicht, dass die Partner der Begegnung ihr Subjektsein dem anderen verdankten oder erst in der Begegnung und durch diese erhielten. Als Person ist der Mensch ein sich selbst gegebenes, freies Wesen, dessen Leben auf Selbsttranszendenz angelegt ist und sich erst in der Begegnung mit anderen erfüllt. Das Begegnungsgeschehen zwischen Ich und Du setzt auf beiden Seiten Freiheit, Ich-Bewusstsein und Selbständigkeit voraus, damit es gelingen kann.

Erzwungene Begegnungen dagegen scheitern daran, dass ihnen das für das Gelingen personaler Kommunikation unerlässliche Moment des freien Sich-Öffnens füreinander fehlt. Man begegnet einander, nicht weil man die Begegnung sucht, sondern weil man ihr nicht ausweichen kann. Die Unmittelbarkeit der Begegnung soll durch einseitigen Oktroi hergestellt werden und kann so gerade nicht zustande kommen. In jeder wirklichen Begegnung zwischen Menschen erweist sich nämlich das anthropologische Gesetz, dass Menschen sich in ihrem Dasein nicht in reiner Unmittelbarkeit gegeben sind, sondern nur in vermittelter Unmittelbarkeit auf andere hin existieren. Es kennzeichnet den Menschen in allen seinen Akten, in seinem Erkennen und Handeln, in seinem Wollen und Lieben, in seinem Zerstören und Hassen, dass zwischen ihm und den anderen eine durch ihn selbst vermittelte Beziehung besteht.37 Weil sich die Begegnung mit der Umwelt der Dinge und der Mitwelt der anderen in einem wechselseitig erschlossenen Raum der Freiheit vollzieht, ist der Mensch für sein Mitsein mit den anderen im Gelingen und Scheitern verantwortlich.

6. Leben als Sterbenmüssen

Ein letztes Unterscheidungsmerkmal des Lebendigen ist seine Sterblichkeit. Alles geschaffene Sein ist nicht-notwendig und daher vergänglich, aber nur Lebewesen können altern und sterben. Auch in der unbelebten Natur gibt es die Phänomene allmählicher Veränderung: Ein Gletscher kann jung oder alt sein, ein Kristall wächst, Gebirgsformationen entstehen durch tektonische Verschiebungen, eine Landschaft entwickelt sich usw. Doch ist solches Wachstum und »Altern« von dem lebendiger Körper grundverschieden. Die Entstehungs- und Verfallsprozesse der unbelebten Welt erfordern nicht nur ungleich längere Zeiträume, sondern sie spielen sich auf einer anderen Ebene als das Altern organischer Lebensformen ab: Sie erfolgen durch Abnutzung, Zersetzung oder die Anlagerung fremder Körper, also auf extensive Art, aber nicht durch die Auflösung der inneren Form, die lebendiges Sein durchwirkt und erhält. Lebewesen dagegen sind sterblich, weil ihr inneres Lebensprinzip fragiler Natur ist. »Das Leben ist sterblich nicht obwohl, sondern weil es Leben ist, seiner ursprünglichsten Konstitution nach, denn solcher widerruflicher, unverbürgter Art ist das Verhältnis von Form und Stoff, auf dem es beruht.«38 Daher ist jedes Lebewesen durch eine besondere Vulnerabilität gekennzeichnet, die sich von der bloßen Zerstörbarkeit unbelebter Dinge abhebt.

Dennoch wird die Eigenart des Lebendigen durch eine tragische Weltauffassung verkannt, die den Tod zu einem immanenten Wesensmoment des Lebens verklärt und dieses in einer Art von unauflöslicher Schicksalsgemeinschaft an den Tod gekettet sieht. Das Leben ist nicht mit dem Sterben identisch, der Tod ist kein inneres Ingredienz des Geborenwerdens, wie die antike Sentenz nasci est mori (= Geborenwerden heißt Sterben) in falscher Zuspitzung sagt. Das Leben geht vielmehr von Stufe zu Stufe dem Tod entgegen und ist durch diesen von außen begrenzt; die Begrenztheit durch den Tod gibt ihm einen inneren Richtungssinn, der den einzelnen Ereignissen und Zeitabschnitten des Lebensganzen Bedeutsamkeit verleiht.39 Der Tod, auf den jedes Lebewesen unaufhaltsam zugeht, ist daher für das Leben selbst von Bedeutung – auf der Ebene der Arten, indem er Erneuerung und Verjüngung ermöglicht und so paradoxerweise als Gegenkraft zum unabwendbaren Altern der Individuen wirkt, auf der Ebene des einzelnen Menschen, weil er seiner begrenzten Lebenszeit Einmaligkeit und Unwiderruflichkeit verleiht. Das Wissen um die eigene Sterblichkeit, das den Menschen zum Menschen macht, führt daher nicht nur die Möglichkeit der Daseinsangst und eines spezifischen Leidenkönnens mit sich, die dem Tier verschlossen bleiben. Im Wissen um die Begrenztheit der eigenen Lebenszeit erfährt der Mensch zugleich, dass er diese planen, gestalten und auf eigene Ziele hin entwerfen muss. Das Wissen um die eigene Sterblichkeit nötigt den Menschen, das Wagnis einer bewussten Lebensführung auf sich zu nehmen, während die Versuchung, den Tod und seine Vorboten aus dem Leben zu verdrängen, dieses zu einem unernsten Spiel mit illusionären Möglichkeiten macht. Nicht weil er ein inneres Moment des Lebens wäre, sondern weil er dessen äußere Grenze ist, dient der Tod dem sterblichen Leben, indem er seinen Ernst, sein Gewicht und seine Bedeutung enthüllt.

Erster Teil GRUNDLAGEN DER LEBENSETHIK

1. KapitelTheologische Lebensethik und säkulare Bioethik

Schon immer stand das ethische Denken der Menschen in einem eigenartigen Wechselverhältnis zu ihrem wirklichen Leben. Jede Ethik stellt eine Reaktion der Freiheit und Vernunft des Menschen auf die Herausforderungen des Lebens dar, aber diese Antwort unterliegt zugleich den historisch-sozialen Bedingungen, die das ethische Denken vorfindet. Noch stärker als in anderen Bereichen steht das moralische Denken auf dem Feld der Bioethik unter dem Gesetz der Wechselwirkung mit den Herausforderungen unserer gegenwärtigen Lebenswelt. Das wachsende Bedürfnis nach ethischer Orientierung angesichts bislang unbekannter Eingriffsmöglichkeiten in das Leben ist zunächst ein Indikator wachsender Unsicherheit und eines steigenden Problemdrucks, der auf die modernen Gesellschaften zukommt. Die Entwicklung der biomedizinischen Techniken wird unser Dasein in seinen elementarsten Lebensvorgängen und in seinen tragenden sozialen Beziehungen verändern. Es ist deshalb eine dringliche Zukunftsfrage, ob die Menschheit den globalen Prozess, in dem sich die Bedeutung von Geburt und Tod, Sexualität und Liebe, Vatersein und Muttersein wandelt, durch ethische Überlegungen steuern kann, oder ob sie ihm hilflos ausgeliefert ist.

Angespornt durch die Aussichten der synthetischen Biologie, die Leben künstlich erzeugen und nach eigenen Plänen modellieren möchte sowie des genetic engineering und des neuroenhancement träumen Wissenschaftler und Moralphilosophen von einem neuen Zeitalter, in dem der Mensch über sich hinauswächst. Die Medizin soll sich nicht mehr darauf beschränken, Krankheiten zu behandeln und Leiden zu lindern. Vielmehr sollen die menschliche Lebensform insgesamt verändert und die conditio humana von ihren bisherigen Begrenztheiten befreit werden. Indem sich die Medizin nach den Erkenntnissen der modernen Lebenswissenschaften zu einer umfassenden Biotechnologie transformiert, soll sie eine bessere Gesundheit, ein längeres Leben, größeres Glück und am Ende ein sanftes Erlöschen durch einen natürlichen Tod garantieren. Sie soll den Menschen selbst verbessern und ihn entsprechend den Visionen des Transhumanismus über sich hinaus zu einer höheren, gesteigerten und intensiveren Daseinsstufe führen. Der in Chicago lehrende Bioethiker J. Hughes beschreibt die künftigen Möglichkeiten einer biotechnologischen Optimierung menschlicher Existenz äußerst optimistisch:

»Diese Technologie bieten uns in der Tat die Möglichkeit, größere und intensivere Nützlichkeiten (utilities) zu erfahren, als sie unser gegenwärtiges Los sind. Die Gentechnologie wird Fortschritte im pharmazeutischen Bereich und in der Therapie von Krankheiten bringen und dadurch viele Krankheiten und Leidensformen lindern. In einer etwas ferneren Zukunft könnten unsere Sinnesorgane selbst umgeschaffen werden, um uns in die Lage zu versetzen, größere Bereiche von Licht und Klängen wahrzunehmen; unsere Körper könnten modifiziert werden, um anstrengendere Aktivitäten zuzulassen, und unser Geist könnte umgeschaffen werden, um uns in die Lage zu versetzen, tiefere und intensivere Gedanken zu denken. Wenn der Nutzen ein ethisches Ziel ist, bietet die direkte Kontrolle über unseren Körper und unseren Geist durch Kybernetik, Protetik oder was auch immer die Möglichkeit unbegrenzten Nutzens und daher ein unbegrenztes Gut.«1

Andere bestärken solche biotechnologischen Zukunftsvisionen nur in ihrer tiefsitzenden Skepsis gegenüber den modernen Lebenswissenschaften und ihrem Projekt, den Menschen aus den Zwängen biologischer Notwendigkeiten zu befreien. Tatsächlich besteht jedoch zu einem grundsätzlichen Pessimismus kein Anlass, der die biotechnologischen Zukunftserwartungen als Horrorvisionen fürchtet. Vergleicht man die Ankündigungen und Befürchtungen aus der Aufbruchphase der Gentechnik mit den später tatsächlich eingetretenen Entwicklungen, so widerlegen diese sowohl die allzu euphorischen Erwartungen wie auch die Abwehrreaktionen und Ängste von damals. Eine pessimistische Zukunftsprognose übersieht zudem, dass die wachsende Nachfrage nach bioethischer Orientierung auch ein Zeichen für das geschärfte Risikobewusstsein im Umgang mit den neuen gentechnischen und biomedizinischen Handlungsmöglichkeiten ist. Insbesondere im angelsächsischen Sprachraum, in dem die Ursprünge des erst wenige Jahrzehnte alten interdisziplinären Forschungsgebietes der Bioethik liegen, löste die »zweite biologische Revolution«, die Entdeckung des genetischen Codes und die gezielte Nutzung seiner Rekombinationsmöglichkeiten in der modernen Biomedizin, von Anfang an eine intensive ethische Debatte aus. Sie betraf zunächst vor allem konkrete Fragen der medizinischen Ethik wie die Probleme um Lebensbeginn und Lebensende (Embryonenforschung, In-vitro-Fertilisation, Gendiagnostik, Abtreibung, Todesdefinition, Sterbebegleitung und Euthanasie) oder das Verhältnis der präventiven Gesundheitsfürsorge zur kurativen Medizin (Organtransplantation, Intensivtherapie, Versorgung Schwerstkranker, Patientenautonomie, informierte Einwilligung und Behandlungsverzicht). Dabei zeigte sich sehr bald, in welchem Ausmaß nicht nur die einzelnen Anwendungsfelder der neuen Bioethik, sondern auch die Grundbedingungen ethischer Verständigung in einer säkularen Gesellschaft strittig geworden sind.

I. Phasen und Schwerpunkte der Bioethik

Es ist noch zu früh, die Geschichte einer neuen Forschungsrichtung zu schreiben, die in den vergangenen Jahrzehnten unter der Bezeichnung »Bioethik« entstand. Doch hat diese inzwischen ihre Anfangsphase überwunden und längst eine feste Verankerung in den Institutionen des akademischen Lebens gefunden. In der zurückliegenden bioethischen Debatte meldeten sich so viele verschiedene Stimmen zu Wort, dass sich ihr Verlauf kaum noch überblicken, geschweige denn in allen Facetten nachzeichnen lässt. Ein phasenverzögerter Rückkoppelungseffekt zwischen der angelsächsischen und kontinentaleuropäischen Diskussion erschwert eine Periodisierung nach Themenschwerpunkten und einzelnen Argumentationsformen noch zusätzlich. Der Versuch eines Längsschnittes durch den bisherigen Debattenverlauf muss von vornherein mit solchen Überlappungen rechnen; er wird deshalb nicht mehr als ein grobes Problemraster sein können, in dem sich diachrone und synchrone Einstellungen überkreuzen. Unter diesem Vorbehalt lässt sich die bioethische Diskussion der vergangenen Jahrzehnte in drei Phasen einteilen, die jeweils durch zu ihrer Zeit einflussreiche Autoren und exemplarische Buchpublikationen aus ihrer Feder geprägt sind.

Eine erste Phase ist durch das Erscheinen zweier Bücher auf dem amerikanischen Markt angezeigt, die unter allen Publikationen der Anfangsjahre am meisten dazu beigetragen haben, der neuen Fachrichtung die Aufmerksamkeit eines breiten akademischen Publikums zu sichern. Es ist kein Zufall, dass ihre Verfasser – Joseph Fletcher und Paul Ramsey –protestantische Theologen sind. Die fruchtbaren Anstöße und der entscheidende theologische Geburtshelferdienst für die entstehende Bioethik kommen in diesen Jahren aus dem Bereich der protestantischen Ethik. Die katholische Moraltheologie war in der Zeit vor und nach dem Konzil zuerst mit Fragen der kirchlichen Erneuerung beschäftigt, während später die innerkirchlichen Kontroversen um die Sexualmoral und die künstliche Empfängnisregelung in den Vordergrund rückten.2

Das Buch von Fletcher, der in Europa später als Vertreter einer radikalen Situationsethik und durch seine suggestiv vorgetragene Forderung nach einer der Geburtenkontrolle entsprechenden »Todeskontrolle« bekannt wurde,3 erschien im Jahr 1954 unter dem Titel »Morals and Medicine«. Er löste die umstrittenen Themen der medizinischen Ethik von dem Hintergrund ab, in dem ihre moraltheologische Behandlung bis dahin einen festen Ort gefunden hatte. Diese werden nun nicht mehr im Rahmen des fünften und sechsten Dekaloggebotes, sondern auf der Basis individueller Freiheitsrechte diskutiert. Durch diesen Perspektivenwechsel greift Fletcher die in der angelsächsischen Ethik vorherrschende philosophische Tradition auf und überträgt sie auf verschiedene biomedizinische Handlungsbereiche. Er konkretisiert die allgemeine Proklamation grundlegender Freiheitsrechte des Einzelnen für den Bereich der medizinischen Ethik und gelangt dabei zu einem Katalog besonderer Menschenrechte, die in unserer gesellschaftlichen Einstellung zu Gesundheit und Krankheit und in den einzelnen Institutionen der Gesundheitsfürsorge von jedermann zu achten sind. In den Kapitelüberschriften seines Buches ordnet er medizinischen Handlungskreisen jeweils ein bestimmtes Menschenrecht zu, das in den existentiellen Grundsituationen von Gesundheit und Krankheit, Geburt und Tod, Partnerschaft und Sexualität allen zukommt. So ergibt sich die folgende Liste individueller Freiheitsrechte, deren Respektierung die bisherigen Grundprinzipien des ärztlichen Handelns einschließlich der Regel in dubio pro vita (= im Zweifel für das Leben) ersetzen soll:

Medizinische Diagnosestellung:

Das Recht auf Kenntnis der Wahrheit

Kontrazeption:

Das Recht auf Kontrolle der Elternschaft

Künstliche Befruchtung:

Das Recht auf Überwindung der Kinderlosigkeit

Sterilisation:

Das Recht auf Ausschluss der Elternschaft

Euthanasie:

Das Recht zu sterben

Der Grundgedanke, dem Fletcher in der allgemeinen Ethik ebenso wie auf dem Feld der konkreten Lebensethik zum Durchbruch verhelfen will, lässt sich als ein radikaler Paradigmenwechsel verstehen. An die Stelle allgemeingültiger Normen, die dem Menschen verbindliche Auskunft darüber geben, was er in den einzelnen Handlungsbereichen tun oder lassen soll, tritt die situationsgerechte Entscheidung aufgeklärter Individuen, die über alle Aspekte der ihnen offen stehenden Wahlmöglichkeiten zu informieren sind. Im Fall des Arztes bedeutet dies, dass die klassischen Grundnormen seines Handelns, die positive Verpflichtung auf die Lebenserhaltung und die negative Geltung des Tötungsverbotes, in ihrer Rolle als oberste Prinzipien durch den Respekt vor der Entscheidungsfreiheit seiner Patienten abgelöst werden. Diese Konsequenz entspricht im Bereich des Arzt-Patienten-Verhältnisses dem Verständnis menschlicher Freiheit als Emanzipation aus den Bindungen der Natur, die in ihr keinen Hinweis auf normative Strukturen des Menschseins mehr erkennen kann.4 Der Respekt vor der Autonomie des Patienten verdrängt tendenziell die Eigenverantwortung des Arztes, die in den berufsethischen Leitlinien salus aegroti suprema lex (= das Patientenwohl als oberste Richtschnur), neminem laedere (= niemandem Schaden zufügen) und in dubio pro vita ihren Ausdruck fanden.

Fünfzehn Jahre später markiert Paul Ramseys Buch »The Patient as Person: Explorations in Medical Ethics« (1970) den Höhepunkt und das Ende der ersten Anfangsphase US-amerikanischer Bioethik. Er leitet eine Phase ihrer weiteren Popularisierung und literarischer Produktivität ein, die den biomedizinischen Fragestellungen bis heute eine große öffentliche Aufmerksamkeit sichert. Ramseys Studie unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von der stärker als programmatische Kampfansage an die traditionelle Medizinethik empfundenen Grundthesen Fletchers. Anders als dieser hält er die klassischen ethischen Argumentationsfiguren wie die Unterscheidung von aktiver Tötung und passivem Sterbenlassen im Grenzbereich zwischen Leben und Tod auch weiterhin für unverzichtbar. Das »Recht zu sterben« versteht er deshalb als das Recht jedes Menschen, seinen »eigenen Tod« in Würde sterben zu dürfen, ohne dass der Todeseintritt durch bewusste Manipulationen des Sterbens beschleunigt oder unbarmherzig hinausgezögert wird. Die Ablehnung der aktiven Euthanasie und das starke Gewicht, das er der medizinischen und menschlich-seelsorgerlichen Sterbebegleitung beimisst,5 unterstreichen Ramseys Nähe zur christlichen Ethik, als deren Vertreter er sich ausdrücklich bekennt. Ebenso unmissverständlich fordert er aber, dass eine theologische Lebensethik ihren eigenen Beitrag heute in den Denkkategorien einer säkularen Gesellschaft formulieren muss, wenn sie auf deren Gesundheitspraxis und das Selbstverständnis ihrer medizinischen Institutionen noch Einfluss nehmen will. Im Mittelpunkt seines Buches stehen deshalb auch nicht die damals umstrittenen Reizthemen Empfängnisverhütung und Abtreibung, an denen sich viele theologische Beiträge immer wieder festbeißen, sondern die Grenzfragen zwischen Philosophie und Theologie auf der einen, und Medizin und Biologie auf der anderen Seite, die er in einem zweisemestrigen Forschungsaufenthalt an der Georgetown University kennengelernt hatte.

Stark den konkreten Problemen des Klinikalltags und der medizinischen Forschung zugewandt, behandelt Ramsey vor allem die Grundfragen der medizinischen Ethik wie die informierte Einwilligung (informed consent), die Beteiligung am Humanexperiment sowie die Problematik von Organspende und Transplantationsmedizin, Todesdefinition und Sterbebegleitung. Darin, wie er die methodische Offenheit interdisziplinärer Forschung mit der Diskussion ethischer Grundfragen zusammenführt, ist seine Darstellung der Bioethik noch immer vorbildlich, wenn sich auch das Interesse inzwischen stärker von der individualethischen Ebene der Arzt-Patienten-Beziehung zu den sozialethischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen der Gesundheitsfürsorge verschoben hat. Insbesondere hat Ramsey den Blick dafür geschärft, dass der Respekt vor der Entscheidungsfähigkeit des Patienten als oberstes bioethisches Prinzip noch abstrakt und leer bleibt, solange er nicht auch die Achtung vor seiner Personwürde in der verletzlichen Situation des Krankseins und Sterbenmüssens einschließt. Es ist zunächst nur eine Akzentverschiebung, ob sich das Augenmerk vor allem auf die Sorge um das Wohl des kranken Menschen richtet oder auf den Respekt vor seiner Autonomie, aber darin zeichnet sich bereits eine Spannung zwischen unterschiedlichen bioethischen Grundprinzipien ab, die in der zweiten Diskussionsphase stärker hervortreten wird. Sie führt in der im Allgemeinen eher konsensorientierten amerikanischen Bioethik bis heute zu unterschiedlichen Antworten auf die Frage, ob die Prinzipien der Patientenautonomie und der informierten Einwilligung oder diejenigen der Fürsorge für den kranken Menschen und der Achtung vor seiner Personwürde im Mittelpunkt des Arzt-Patient-Verhältnisses stehen sollen.6