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Die »Vereinigten Staaten von Europa«. Ein utopischer Traum? Schon am 19. September 1946 forderte Winston Churchill, der legendäre britische Kriegspremier, in einer Rede an der Universität Zürich, die heute wieder von erstaunlicher Aktualität ist: Wer die Gespenster des Krieges verbannen will, muss die »Vereinigten Staaten von Europa« schaffen. Heute scheint dieses Ziel wieder in die Ferne zu rücken. Frank-Walter Steinmeier sieht und benennt diese Gefahr klar und beschäftigt sich ganz im Sinne Churchills mit der gegenwärtigen Krise Europas. Flüchtlingsströme, Brexit und heftiger Streit in der EU dürfen dieses einzigartige Friedenswerk nicht beschädigen. Leidenschaftlich weist er Wege aus der Krise und findet deutliche Worte für ein geeintes Europa.
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Seitenzahl: 45
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Frank-Walter Steinmeier
EUROPAIST DIE LÖSUNG
Churchills Vermächtnis
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Unter Verwendung früherer deutscher Fassungen (insbesondere aus dem Europa-Archiv und der ZEIT) wurde Winston Churchills Rede an der Universität Zürich vom 19. September 1946 neu übersetzt von Dirk Rumberg.
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ISBN 978-3-7110-5187-5
FRANK-WALTER STEINMEIER
Europaist die Lösung
Natürlich kann man aus der Geschichte lernen. Aber wann tut die Menschheit das schon? Die Liste der Katastrophen, denen ähnliche Katastrophen folgten, ist lang. Uneinsichtigkeit, Sturheit, Herrsch- und Rachsucht gehören seit jeher zu den historisch gängigsten Währungen, zumal wenn diese in nationalistischen Noten ausgegeben werden.
So besehen ist die europäische Geschichte seit Ende des Zweiten Weltkriegs eine geradezu wundersame Ausnahme. Eine frühe Ahnung dieses Wunders wehte durch die Aula der Universität in Zürich, einem der wenigen unzerstörten Flecken in Europa, im Herbst des Jahres 1946. Dort redete Winston S. Churchill am 19. September vor 70 Jahren über die Zukunft Europas – und Europa hielt sprichwörtlich den Atem an. Mit der Wortgewalt eines zukünftigen Trägers des Nobelpreises für Literatur, der Churchill 1953 verliehen wurde, sprach er an jenem Tag über den am Boden liegenden, weithin verwüsteten Kontinent. Dessen Zukunft könne nur in der vollständigen Überwindung der Vergangenheit liegen, im Blick nach vorn, in der Schaffung von »Vereinigten Staaten von Europa«.
Ungeheuerlich klang das aus dem Mund jenes unbeugsamen Kriegspremiers, der von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg nichts anderes als die bedingungslose Kapitulation akzeptiert hatte und diese dann auch zu erzwingen half. Noch qualmten die Trümmer, der Schutt und die Asche, die Hitler-Deutschland überall in Europa hinterlassen hatte – und schon forderte der Unbeugsamste aller Nazi-Feinde das Unmögliche: die gleichfalls bedingungslose Versöhnung, den unbedingten Zusammenschluss der Todfeinde und Kriegsgegner von gestern zu einem vereinten Europa. Anders werde es keinen dauerhaften Frieden geben und sich die Vergangenheit, wie auch schon früher, in immer neuen Variationen wiederholen.
70 Jahre später ist Europa in einer Lage, die zu Recht als Krise empfunden wird. Nach sieben Jahrzehnten, die unserem Kontinent – ausgehend von der Vision, die Churchill in der Rede formulierte – eine nie dagewesene Periode des Friedens und des wachsenden Wohlstands beschert haben, ist der Zusammenhalt Europas in Gefahr. Die scheinbare Unumkehrbarkeit des europäischen Einigungsprozesses ist an ihr Ende gelangt. In keinem der sich überschlagenden Krisenmomente der jüngsten Vergangenheit wurde das so schmerzhaft deutlich wie im Paukenschlag des »Brexit«, des Votums der Briten, die Europäische Union zu verlassen. 70 Jahre, nachdem ein britischer Staatsmann den Völkern Europas zurief, eine gemeinsame Zukunft zu entwerfen – ein Staatsmann, der selbst, das muss hinzufügt sein, die Briten nie als Teil dieses vereinigten Europas sah –, sind wir Europäer wiederum an einen Punkt gelangt, an dem wir unsere gemeinsame Zukunft neu entwerfen müssen – und zwar ohne die Briten.
Auch, aber nicht nur deshalb lohnt es sich, einen Moment innezuhalten und Churchills Rede neu zu lesen, einen Blick zu werfen auf die Parallelen wie auf die gewaltigen Unterschiede zwischen seiner Zeit und unserer.
1946 und 2016 sind Wegscheiden für Europa. Damals wie heute blicken viele in Europa mit Verunsicherung und Ungewissheit in die Zukunft. Doch die Verunsicherung kommt, bildlich gesprochen, aus entgegengesetzten Fahrtrichtungen: Wo Churchill 1946 auf den Trümmern Europas, am Tiefpunkt der Zersplitterung, eine Vision der Vereinigung entwarf, da treten 2016, am scheinbaren Höhepunkt der Vereinigung, wieder Risse und drohende Zersplitterung in Europa hervor.
Und freilich ist auch die Welt um dieses Europa herum eine völlig andere geworden. Die Weltordnung, die Churchill bei dieser Rede im Sinn hatte, bestand aus vier Monolithen: den Vereinigten Staaten von Amerika, dem britischen Commonwealth, dem – so die Vision der Rede – vereinigten Europa und der Sowjetunion. Die heraufziehende Blockkonfrontation prägte Churchills Denken, nicht nur in seiner nicht minder wegweisenden Rede vom Eisernen Vorhang, die er wenige Monate zuvor in Fulton, Missouri, gehalten hatte, sondern auch in seiner Züricher Vision von Europa. Heute ist von monolithischer Weltordnung nichts mehr zu spüren. Globalisierung, Vernetzung, Entgrenzung sind Lebensalltag in Europa. Die Welt und ihre Verunsicherungen und Verwerfungen, Krisen und Konflikte, insbesondere in unserer südlichen Nachbarschaft, im Mittleren Osten, sind nicht nur näher an Europa herangerückt, sondern längst in unserer Mitte angekommen: in Aufnahmezentren, Schulen, Turnhallen, in Gestalt der Hunderttausenden, die in Europa Zuflucht suchen vor Krieg und Gewalt. Die Weltordnung, fernab von allem Monolithischen, gleicht heute eher einem Bild aus Robert Musils Mann ohne Eigenschaften: »wie wenn ein Magnet die Eisenspäne loslässt und sie wieder durcheinander geraten«.