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"Ein Wissenschaftler reist aus einem fernen Land nach Deutschland, um den religiösen Stamm der Evangelikalen zu erforschen. Gleich zu Anfang muss er feststellen, dass der Stamm kein geschlossenes Siedlungsgebiet hat, sondern dass in Deutschland Dutzende von religiösen und unreligiösen Stämmen durcheinander wohnen …" Wer sind die "Evangelikalen"? Sind sie mit dem wahren und richtigen Christentum gleichzusetzen, wie manche ihrer Vertreter meinen? Sind sie gefährliche christliche Fundamentalisten, politisch erzkonservativ und mit einem Weltbild aus vorigen Jahrhunderten, wie in den Medien oft dargestellt? Hansjörg Hemminger hat sie aus der Perspektive eines fi ktiven Völkerkundlers unter die Lupe genommen.
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Seitenzahl: 317
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HANSJÖRG HEMMINGER
Von Gotteskindern und Rechthabern
Bibelübersetzungen folgen, wenn nicht anders angegeben, der Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Auflage in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.Gedicht „Winterpsalm“ v. Lothar Zenetti aus:Lothar Zenetti, Auf Seiner Spur. Texte gläubiger Zuversicht© Matthias Grünewald, Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern 2011.www.verlagsgruppe-patmos.de
© 2016 Brunnen Verlag Gießen
Umschlagillustrationen: shutterstock
Umschlaggestaltung: Jonathan Maul
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN Buch 978-3-7655-2049-5
ISBN E-Book 978-3-7655-7443-6www.brunnen-verlag.de
Inhalt
Vorwort
Ein Wissenschaftler besucht den Stamm der Evangelikalen
Teil I – Die Evangelikalen: Woher kommen sie? Was wollen sie?
1. Was bedeutet „evangelikal“ und welche Evangelikalen gibt es?
Die Evangelische Allianz
Traditionell und modern
Wer sind die Evangelikalen?
Wie viele Evangelikale gibt es?
Zusammenfassung
2. Gegen die Verächter des Glaubens
Kirche, Glaube und die Ringparabel
Die aufgeklärte Religion der Gebildeten
Die historisch-kritische Methode
Die erste Phase: Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts
Die zweite Phase: Pfingstbewegung und Bibelfundamentalismus
Zusammenfassung
3. Die Evangelikalen kommen in der Gegenwart an
Die historisch-kritische Methode und die Entmythologisierung
Die dritte Phase: die Bekenntnisbewegung
Zusammenfassung
4. Wissenschaftsglaube, Wunderglaube und Okkultismus
Das eschatologische Bureau hat geschlossen
Das Unerklärliche und das Wunder
Die biblischen Wunder
Christlicher Anti-Okkultismus
An den Teufel glauben?
Zusammenfassung
Ein Wissenschaftler begibt sich in die evangelikale Glaubenswelt
Teil II – Das fromme Bermuda-Dreieck: zwischen Martin Luther, den Fundamentalisten und den Schwärmern
5. Evangelikal zum Ersten: die Lebensübergabe
Glaube, Umkehr und das neue Leben
Die erste und die zweite Wiedergeburt
Vom unfreien Willen
Peinliche Ausrutscher
Zusammenfassung
6. Evangelikal zum Zweiten: die persönliche Beziehung zu Gott
Jesus als persönlicher Erlöser
Die persönliche Beziehung – wohin sie führt
Individuum und Gemeinschaft
Die Heiligungsbewegung
Zusammenfassung
7. Evangelikal zum Dritten: Kirche, Ökumene und die anderen Religionen
Die selbstständige Gemeinde und die Gemeinde aus Gleichen
Evangelisation und Mission
Diakonie als Auftrag?
Ist Mission intolerant?
Religiöse Toleranz und das Recht
Zusammenfassung
8. Evangelikal zum Vierten: die Bibel
Der protestantische Fundamentalismus
Die biblische Lehre des Fundamentalismus
Die Wirkungseinheit von Bibel und Geist
Man kann der Bibel glauben, aber nicht an die Bibel glauben
Zusammenfassung
9. Die ungläubigen Theologen und die ungläubigen Weltmenschen
Die Bibel als Grundlage der Theologie
Die technisch-wissenschaftliche Lebenswelt und das Evangelium
Der Homo oeconomicus und der Homo religiosus
Zusammenfassung
Der Wissenschaftler analysiert die evangelikale Tradition
Teil III – Die Evangelikalen, die Kirchen und die Welt
10. Die evangelikale Tradition
Die evangelikale Bewegung und der gesellschaftliche Wandel
Die evangelikale Tradition erfinden
Eine Hoffnung weniger
„Die Evangelikalen, wie sie wirklich sind“
Die Schuldgeschichte der europäischen Christen
Zusammenfassung
11. Die Evangelikalen in der Öffentlichkeit
Evangelikale und die „rechten Themen“
Das Bild der Evangelikalen in den Medien
Homosexualität: ein Ausgrenzungsthema
Das Leben Ungeborener
Es gibt viel zu tun – Evangelikale sollten mithelfen
Gewalt in Familien
Wie man mit schlechten Nachrichten schlecht umgeht
Zusammenfassung
12. Immer Ärger mit der Evolution
Kreationismus – Importware der 1970er
Warum ist Evolutionskritik attraktiv?
Manche Philosophen wissen alles besser
Die Studentenmission und die Existenz Gottes
Evolution als Symbol des Unglaubens
Zusammenfassung
13. Es brummt nicht
Misserfolg erzeugt Missmut
Ökumene wäre ein Weg
Sind die USA ein Vorbild für uns?
Die Gotteskinder und die Rechthaber
Der Wissenschaftler zieht Bilanz
Literatur zum Weiterlesen
Anmerkungen
Vorwort
Dieses Buch über die evangelikale Bewegung in Deutschland ist aus meiner Tätigkeit in der Weltanschauungsarbeit der Evangelischen Kirche erwachsen. Zu ihr gehört die Erfahrung, dass „die Evangelikalen“ häufig von außen missverstanden werden und dass sie sich selbst oft nicht allzu gut verstehen. Mein Ziel ist, mit diesem Buch zum vertieften Nachdenken beizutragen. Allerdings habe ich dafür kein Fachbuch verfasst. Fachlich ausgerichtete Literatur zur evangelikalen Bewegung gibt es bereits, wenn auch auf Deutsch nur spärlich. Ich habe persönlich geschrieben, die Sachinformationen werden von eigenen Eindrücken und Meinungen begleitet. Berichte und Kommentare sind also nicht säuberlich getrennt, aber hoffentlich jeweils von mir kenntlich gemacht worden. Ich habe mir sogar die Eskapade geleistet, einen fiktiven Wissenschaftler einzuführen, der nichts von den Evangelikalen weiß, aber den Ehrgeiz hat, die Bewegung zu erforschen. Er kommentiert die drei Teile des Buchs aus seiner Sicht und bekommt das Schlusswort.
Quellenangaben wurden auf das unbedingt nötige Minimum beschränkt. Man sollte zwar als Autor deutlich machen, woher man die Informationen hat, die man weitergibt. Auf der anderen Seite machen diese Angaben den Text schwer leserlich, deswegen finden sich Quellenangaben, fachliche Erläuterungen, Dokumente und Ähnliches am Schluss des Buchs. Die historische Entwicklung der Bewegung wird zwar im Überblick geschildert, aber im Mittelpunkt des Nachdenkens steht die gegenwärtige Situation der Evangelikalen und damit indirekt die Situation der Protestanten in Deutschland.
Eine Warnung vorab: Wer einen kritischen Rundumschlag gegen „die Evangelikalen“ haben möchte, sollte dieses Buch nicht lesen. Es gibt vieles in der evangelikalen Bewegung, worüber man sich als evangelischer Christ freuen kann. Für eine Warnung vor dem Vormarsch der christlichen Fundamentalisten in Deutschland sehe ich keinen Anlass. Texte, die einen solchen Ton anschlagen, kann man im Internet und im Handel finden, aber nicht in der Literaturliste dieses Buchs. Wer eine unkritisch positive Darstellung „der Evangelikalen“ haben möchte, sollte dieses Buch ebenfalls nicht lesen. Es gibt vieles in der evangelikalen Bewegung, worüber man sich als evangelischer Christ ärgern kann. Ich sehe keinen Anlass, die evangelikale Bewegung mit dem wahren und richtigen Christentum gleichzusetzen. Texte, die dies tun, kann man in Form von evangelikalen Selbstdarstellungen beziehen. In diesem Buch werden die inneren und äußeren Probleme der evangelikalen Bewegung dagegen angesprochen, auch dann, wenn viele von ihnen nicht die ganze Bewegung, sondern Minderheiten in ihr betreffen. Denn die Evangelikalen sind in sich vielfältig. Von außen wird diese Vielfalt meist nicht wahrgenommen, im Innern der Bewegung oft ebenfalls nicht. Wenn dieses Buch dazu beiträgt, dass Außenstehende die Evangelikalen genauer und differenzierter sehen und die Evangelikalen ihre innere Vielfalt als Herausforderung und Aufgabe erkennen, hat es ein wichtiges Ziel erreicht.
Hinter meiner Skepsis gegen allzu viel Lob und Tadel steht die reformatorische Grundbestimmung des Christen als „simul justus et peccator“. Ein Christ ist von seinem innersten Wesen her gleichzeitig vor Gott gerechtfertigt und Sünder. Und da die Kirche aus solchen gerechtfertigten Sündern besteht, ist sie grundsätzlich ein „corpus permixtum“, ein gemischter Haufen aus Gotteskindern und Rechthabern, Liebenden und Egoisten. Man kann diesen gemischten Haufen nicht auseinandersortieren in die Reinen und die Unreinen, denn die Rollen wechseln: Alle haben Anteil am Glauben und am Unglauben, an dem, was dem Reich Gottes dient, und an dem, was ihm im Weg steht. Gott wirkt immer, in jeder Kirche und in jeder christlichen Bewegung, durch die Schwächen und Irrtümer seiner Kinder hindurch. Wo die evangelikale Bewegung Gottes Willen tut, ist es nicht ihr Verdienst, wo sie dem Willen Gottes widerstrebt, setzt sie dennoch Gottes Wirken nicht außer Kraft. Daraus folgt die reformatorische Lehre von der unsichtbaren Kirche: Die heilige, christliche Kirche ohne Makel und Schuld ist unsichtbar, sie wird weder in der evangelikalen Bewegung noch sonst irgendwo bruchlos sichtbar, sie wird im Glauben erkannt.
Damit habe ich meine eigene theologische Position bereits verraten: Ich orientiere mich an den Grundsätzen der Reformation und bin ein großer (manchmal ein wenig kritischer) Fan Martin Luthers. Darum will ich mich, bevor ich mich daran mache, die evangelikale Bewegung zu analysieren, von ihm warnen lassen, bei diesem Unternehmen nicht zum Narren zu werden:
Es ist dies Stück (Ich gläube eine heilige christliche Kirche) ebenso wohl ein Artikel des Glaubens als die anderen. Darum kann sie keine Vernunft, wenn sie gleich alle Brillen aufsetzt, erkennen, der Teufel kann sie wohl zudecken mit Ärgernissen und Rotten, dass du dich müssest dran ärgern; so kann Gott sie auch mit Gebrechen und allerlei Mangel verbergen, dass du musst drüber zum Narren werden und ein falsch Urteil über sie fassen.
(WA DB 7, 418).
Baiersbronn, März 2016
Hansjörg Hemminger
Ein Wissenschaftler besucht den Stamm der Evangelikalen
Ein Wissenschaftler reist aus einem fernen Land nach Deutschland, um den religiösen Stamm der Evangelikalen zu erforschen. Gleich zu Anfang muss er feststellen, dass der Stamm kein geschlossenes Siedlungsgebiet hat, sondern dass in Deutschland Dutzende von religiösen und unreligiösen Stämmen durcheinander wohnen. Die evangelikalen Clans siedeln zwar vorwiegend im Süden und Westen des Landes, aber auch im Osten gibt es einige Reservate. Außerdem tragen die Evangelikalen keine Tracht, keine Tätowierungen oder Schmuckstücke, an denen man sie erkennen könnte. Dennoch sammelt der fleißige Wissenschaftler einige Daten.
Bei den Evangelikalen gibt es mehr Kinder und weniger Scheidungen als bei anderen Stämmen, sie heiraten auch früher. Politisch sind sie meist regierungstreu und konservativ. Ihre Religion spielt für die Clans eine große Rolle, die meisten besuchen regelmäßig die religiösen Zeremonien. Die Priester zitieren dabei ständig aus einem Heiligen Buch, auch die übrigen Stammesangehörigen haben das Buch dabei. Sie blättern während der Zeremonie darin; warum sie das tun, ist unklar. Vielleicht misstrauen sie ihren Priestern und prüfen nach, ob diese das Heilige Buch richtig zitieren. Viele Evangelikale suchen andere Stämme auf, um ihnen von ihrer Religion zu erzählen. Das stört diese meist nicht weiter, aber manchmal gibt es deswegen Ärger.
Evangelikale lieben Musik, es wird ständig gesungen und musiziert. Einen einheitlichen Musikstil kann der Wissenschaftler aber nicht finden; jeder Clan scheint andere Vorlieben zu haben. Zeremonielle Tänze, wie sie viele Stämme pflegen, gibt es bei den Evangelikalen kaum. Bei den Treffen wird viel musiziert und gemeinsam gegessen, aber wenig Alkohol konsumiert. Stattdessen nehmen die Stammesangehörigen große Mengen eines milden Stimulans namens Kaffee zu sich.
So weit läuft das Forschungsprogramm gut, aber dann stößt der Wissenschaftler auf verwirrende Widersprüche. Einige evangelikale Clans sind friedlich und bei anderen Stämmen angesehen, andere liegen ihrer Religion wegen mit der Umwelt im Streit. Die friedlichen Clans sind größer und stabiler als die streitsüchtigen, Letztere spalten sich häufig. Einige Clans haben bedeutende Wissenschaftler in ihren Reihen, andere bekämpfen die Wissenschaft. Viele Clans sind diskussionsfreudig und die Mitglieder vertreten in Glaubensfragen verschiedene Meinungen. Die Häuptlinge haben bei ihnen nur eine begrenzte Autorität. Bei anderen Clans haben die Häuptlinge viel Macht und die Meinungen sind auffällig gleichartig. Einige Clans geraten während ihrer religiösen Zeremonien in Ekstase, pflegen die Zungenrede und manche fallen in eine rituelle Ohnmacht. Andere Clans lehnen ekstatische Zustände scharf ab und bestehen auf gesammeltem Ernst während der Zeremonie. Einige wenige gehen so weit, im Alltag auf Lachen und Frohsinn zu verzichten. Wie soll man diese vielen Widersprüche als Wissenschaftler erklären?
Noch verwirrender für den Forscher ist der Umgang mit dem Heiligen Buch. Einige kleine Clans behaupten, dass das Buch ihnen befehle, ihre Kinder zu schlagen. Die großen Clans halten das für falsch. Andere Clans lesen in dem Heiligen Buch, dass der Mann das Oberhaupt der Frau sei, während wieder andere darin lesen, dass Frau und Mann gleiche Rechte haben. Viele Clans sagen, dass die Welt vor 6000 Jahren entstanden sei, so stünde es im Heiligen Buch. Viele andere bestreiten, dass so etwas in dem Buch steht. Der Forscher findet noch viele andere Widersprüche dieser Art. Die einfachste Erklärung dafür ist, dass die Clans verschiedene Heilige Bücher verwenden. Doch das kann der Forscher durch sorgfältige Vergleiche widerlegen, alle Heiligen Bücher stimmen bis auf sprachliche Details miteinander überein. Er fragt sich, wie unter diesen Umständen die Einheit des Stamms aufrechterhalten wird, trotz der gegensätzlichen Sitten und Gebräuche? Er beschließt, sich zuerst mit der Geschichte des Stammes zu beschäftigen.
Teil I
Die Evangelikalen: Woher kommen sie? Was wollen sie?
1. Was bedeutet „evangelikal“ und welche Evangelikalen gibt es?
Sollte dem Wissenschaftler aus einem fernen Land dieses Buch in die Hände kommen, würde er einige Antworten auf seine Fragen darin finden. Zum Beispiel könnte er erfahren, wie der Begriff „evangelikal“ entstand. In der deutschen Sprache ist das Wort eine Neubildung, die sich erst nach 1960 nachweisen lässt, nicht so im Englischen. Dort bezeichnete „evangelical“ ursprünglich die Anhängerschaft der Reformation innerhalb der anglikanischen Staatskirche, man konnte das Wort mit „evangelisch“ übersetzen. Im 18. Jahrhundert wurde die methodistische Bewegung „evangelical party“ genannt. Später weitete sich der Begriff auf andere sogenannte „dissenter“ (wörtlich so etwas wie „Andersdenkende“) aus, die sich der englischen Staatskirche verweigerten. Bis heute wird in England die protestantisch geprägte „low church“ im Unterschied zur eher katholisch geprägten „high church“ als „evangelical“ bezeichnet. Ansonsten setzte sich im Englischen für die Kirchen der Reformation der Begriff „protestant“ durch. Auch in den USA war „evangelical“ noch Anfang des 19. Jahrhunderts ungefähr gleichbedeutend mit „evangelisch“, also eine Sammelbezeichnung für Kirchen in der reformatorischen Tradition. Erst als später die Auseinandersetzung um die liberale Theologie die USA erreichte, wurde „evangelical“ zur Bezeichnung einer bestimmten Richtung innerhalb des Protestantismus.
Die Evangelische Allianz
Mit der Gründung der Evangelischen Allianz in London 1846 erhielt der Begriff im Englischen diejenige Bedeutung, die sich bis heute hält. Damals versammelten sich 921 Vertreter von über fünfzig Kirchen in London, um einen Bund von Einzelpersonen (also keinen Kirchenbund) zu gründen, der dem Liberalismus in den großen Kirchen ein Zeugnis des unverfälschten Glaubens entgegensetzen sollte. Die Gründer der Allianz kamen überwiegend aus dem Methodismus und Pietismus sowie aus den Erweckungs- und Missionsbewegungen, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa und den USA gebildet hatten. Sie hatten den älteren Pietismus zum Teil aufgenommen, zum Teil neu geprägt. (Man unterscheidet deshalb auch oft alt- und neupietistische Gemeinschaften.) Man wählte für die neue Gesellschaft den Namen „Evangelical Alliance“, also nicht „Protestant Alliance“. Als das Wort schließlich ins Deutsche übernommen wurde, nämlich während des „Streits um die Bibel“ in den 1960er-Jahren, kam es zu der Neubildung „evangelikal“ für die sogenannte bibeltreue Seite in dem Konflikt. Genau genommen kann man also erst seit einem halben Jahrhundert von einer evangelikalen Bewegung in Deutschland sprechen. Dennoch werde ich den Begriff auch auf diejenigen älteren Bewegungen anwenden, die zwar nicht so genannt wurden, aber zum heutigen Evangelikalismus führten.
Aber was ist heute evangelikal? Die Antwort ist nicht einfach, denn „die Evangelikalen“ sind keine Organisation, sie sind eine Bewegung oder Strömung des Protestantismus mit unscharfen Grenzen. Sie sind durch gemeinsame Überzeugungen verbunden und es gibt einen gewissen Sinn für Zugehörigkeit. Es gibt in der Bewegung aber auch große innere Unterschiede und insgesamt ist ihre Bindungskraft gering. Viele Menschen aus Freikirchen, aus dem Pietismus oder der Pfingstbewegung teilen gewisse „evangelikale“ Überzeugungen, benutzen das Wort aber nicht (oder selten) als Selbstbezeichnung. Das Wort ist für sie nicht negativ besetzt, aber es signalisiert auch nicht das, was ihre Identität ausmacht. Sie benutzen es zur Abgrenzung von Richtungen des Protestantismus, die sie ablehnen. Was die Gründe für die Ablehnung sind und wie stark sie ist, bleibt erst einmal offen. Dadurch wird „evangelikal“ zu einem Containerbegriff mit vielfältigem Inhalt. Von außen wird dagegen oft so gesprochen, als seien „die Evangelikalen“ ein theologischer oder religiöser oder sogar politischer Block, den man klar definieren könne. Bei näherem Hinsehen wird der Begriff aber auch hier als Containerbegriff verwendet, nur wird der Container etwas anders gefüllt. Man packt von außen nämlich alles hinein, was protestantisch und konservativ ist und was besonders fromm erscheint. Diese Unklarheit legt es nahe, nicht mit einer Definition von „evangelikal“ zu beginnen, sondern zu fragen, ob es so etwas wie ein praktisches Zentrum der Bewegung gibt. Das gibt es tatsächlich, nämlich die bereits erwähnte Evangelische Allianz. Sie ist bis heute mit ihrem Zentrum in Bad Blankenburg in Thüringen die einzige Organisation, die in Deutschland eine Art Dachverband der evangelikalen Bewegung darstellt. Sie tritt vor allem durch ihren rund 70 Personen umfassenden Hauptvorstand und den langjährigen Generalsekretär Hartmut Steeb (Stuttgart) öffentlich in Erscheinung. Der Hauptvorstand wird nicht gewählt und ist nicht durch eine Basis legitimiert, sondern beruft seine eigenen Mitglieder auf jeweils sechs Jahre. Mit dem Gnadauer Gemeinschaftsverband, der Dachorganisation des deutschen Pietismus, ist die Evangelische Allianz eng verbunden. Daneben hat die aus ihr hervorgegangene, aber inzwischen selbstständige Nachrichtenagentur idea mit der Zeitschrift „idea spektrum“ eine große Bedeutung für die Identität der Bewegung. Auch der ebenfalls durch die Allianz entstandene Sender „Evangeliumsrundfunk“ (ERF) gehört zu den Medien, die in der Bewegung weithin genutzt werden. Allerdings spielen die lokalen Allianzen, in denen sich vor Ort evangelikale Christen zusammenfinden, vermutlich für die evangelikale Bewegung eine wichtigere Rolle als die Dachorganisation. Sie sind eine Art evangelikale Ökumene, die sich von der Basis her selbst organisiert und in der auch die landeskirchlichen Gemeinden oft mit vertreten sind. Von daher repräsentieren die lokalen Allianzen am ehesten die evangelikale Bewegung in ihrer Vielfalt. Die jährlich zum Jahresanfang stattfindende Allianz-Gebetswoche ist Ausdruck dieser Vielfalt, sie wird von einer breiten Basis getragen. Überregional lebt die Bewegung von einer großen Zahl evangelikaler Werke, nämlich privater Fernsehsender und Internetauftritte, Print-Verlage, Ausbildungsstätten (Bibelschulen und theologische Hochschulen), Missionsgesellschaften usw., die entweder direkt mit der Allianz verbunden sind oder sich auf die „Allianzbasis“ berufen, um ihre theologische Position zu definieren. Dieses Glaubensbekenntnis ist das einzige Dokument, das man als eine Grundschrift der evangelikalen Bewegung ansehen kann. Allerdings sind die gegenwärtig benutzten Formulierungen mit denen von 1846 nicht mehr deckungsgleich. In der Fassung der Deutschen Evangelischen Allianz e.V. hat die Allianzbasis heute folgenden Wortlaut:1
„Als Evangelische Allianz bekennen wir uns zur Offenbarung Gottes in den Schriften des Alten und Neuen Testaments. Wir heben folgende biblische Leitsätze hervor, die wir als grundlegend für den christlichen Glauben ansehen und uns als Christen eine Hilfe sein sollen zu gegenseitiger Liebe, zu diakonischem Dienst und evangelistischem Einsatz. Wir bekennen uns
zur Allmacht und Gnade Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes in Schöpfung, Offenbarung, Erlösung, Endgericht und Vollendung;zur göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift, ihrer völligen Zuverlässigkeit und höchsten Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung;zur völligen Sündhaftigkeit und Schuld des gefallenen Menschen, die ihn Gottes Zorn und Verdammnis aussetzen;zum stellvertretenden Opfer des menschgewordenen Gottessohnes als einziger und allgenugsamer Grundlage der Erlösung von der Schuld und Macht der Sünde und ihren Folgen;zur Rechtfertigung des Sünders allein durch die Gnade Gottes aufgrund des Glaubens an Jesus Christus, der gekreuzigt wurde und von den Toten auferstanden ist;zum Werk des Heiligen Geistes, welcher Bekehrung und Wiedergeburt des Menschen bewirkt, im Gläubigen wohnt und ihn zur Heiligung befähigt;zum Priestertum aller Gläubigen, die die weltweite Gemeinde bilden, den Leib, dessen Haupt Christus ist, und die durch seinen Befehl zur Verkündigung des Evangeliums in aller Welt verpflichtet ist;zur Erwartung der persönlichen, sichtbaren Wiederkunft des Herrn Jesus Christus in Macht und Herrlichkeit; zum Fortleben der von Gott gegebenen Personalität des Menschen; zur Auferstehung des Leibes zum Gericht und zum ewigen Leben der Erlösten in Herrlichkeit.Glaubensbasis der Evangelischen Allianz
vom 2. September 1846, sprachlich überarbeitet 1972“
In vieler Hinsicht folgt dieses Glaubensbekenntnis den altkirchlichen Bekenntnissen, also dem Apostolischen Glaubensbekenntnis und dem sogenannten Nicaenum, die fast allen Kirchen gemeinsam sind. Weitere Punkte stammen aus der Tradition der Reformatoren, nämlich das Bekenntnis zu einem Priestertum aller Gläubigen und zu einer weltweiten Gemeinde, die (obwohl das Wort nicht auftaucht) als „unsichtbare Kirche“ verstanden wird. Reformatorisch sind auch die Bekräftigungen für die Grundsätze „sola gratia“ und „sola fide“, also dass allein die Gnade und allein der Glaube zum Heil führen. Diese Bezüge zur allgemein christlichen und reformatorischen Tradition sind beabsichtigt: Die Gründer der Evangelischen Allianz verstanden sich als Verteidiger des christlichen Glaubens in seiner Vollgestalt so, wie ihn die Reformation formuliert hatte. Das Ziel war wie in der Reformation ein „zurück zu den Quellen“, ein Ruf zur Besinnung auf das, was christlichen Glauben ausmacht.
Traditionell und modern
Wäre dieses Selbstbild hinreichend, könnte man das Glaubensbekenntnis der Allianz als theologischen Traditionalismus charakterisieren, und zwar in einem positiven Sinn. Bei genauem Hinsehen formuliert die Allianzbasis jedoch nicht nur altkirchliche und reformatorische Grundsätze. Sie setzt der modernen Kirche und ihrer säkularen Umwelt eine Theologie entgegen, die in manchen Zügen selbst modern ist und mit der die christliche Tradition verändert wird. Das trifft vor allem auf das Bekenntnis zur Autorität der Bibel zu, nämlich
… zur göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift, ihrer völligen Zuverlässigkeit und höchsten Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.
Eine solche Aussage gibt es in den altkirchlichen Bekenntnissen nicht, dort wird die Bibel nicht erwähnt. Auch das Bibelverständnis der Reformatoren wird damit verändert. Schon die Einleitung verschiebt in Bezug auf die Bibel die Gewichte, wenn die Evangelische Allianz sich
… zur Offenbarung Gottes in den Schriften des Alten und Neuen Testaments bekennt. Das ist zwar für sich genommen eine traditionelle Formulierung. Dass sich Gott im Buch der Bibel offenbart, gehört zum Protestantismus. Allerdings ist die eigentliche Offenbarung Gottes (in der alten evangelischen Theologie die „revelatio specialis et supernaturalis“) eine Person, nämlich Jesus Christus. Er ist das eine, lebendige Wort Gottes. Die knappe Einleitung eines christlichen Bekenntnisses müsste damit beginnen. Das geschriebene Wort Gottes, die Bibel, berichtet von Christus und von dem zu ihm hinführenden Heilshandeln Gottes und ist insofern Offenbarung. Da in der deutschsprachigen Allianz-Erklärung nicht von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus die Rede ist und von der Menschwerdung Gottes nur mit einem Adjektiv, erhält das Bekenntnis zur biblischen Offenbarung ein problematisches Übergewicht. Der zweite, allerdings weniger zentrale Unterschied zur christlichen Tradition ist an herausgehobener Stelle das Bekenntnis
… zur völligen Sündhaftigkeit und Schuld des gefallenen Menschen, die ihn Gottes Zorn und Verdammnis aussetzen.
Dass diese schwierige Formulierung in den Rang eines Bekenntnisses erhoben wurde, ist heute kaum mehr verständlich. Der Hintergrund dafür wird uns in Kapitel 5 beschäftigen. Auch der Missionsbefehl Jesu hat traditionell in einem kurzen Bekenntnis nichts zu suchen, obwohl es unter Christen weitgehend unstrittig ist, dass die Kirche
„… durch seinen Befehl zur Verkündigung des Evangeliums in aller Welt verpflichtet ist …“
Es handelt sich um eine praktische Verpflichtung, wie die Verpflichtung zur tätigen Nächstenliebe, nicht um einen Glaubenssatz. Warum die Mission von der Evangelischen Allianz Bekenntnisrang erhielt, nicht aber die Diakonie, wird ebenfalls noch zu überlegen sein.
Wer sind die Evangelikalen?
Bevor wir mit der Analyse der evangelikalen Identität fortfahren, sollten wir uns einen Überblick verschaffen, welche Gruppierungen und Strömungen die evangelikale Bewegung im deutschen Sprachraum heute ausmachen. Meist unterscheidet man in Deutschland drei Typen von Evangelikalen:
Die pietistisch und methodistisch bzw. reformiert geprägten „Allianz-Evangelikalen“ sind hauptsächlich in den etablierten Freikirchen und im landeskirchlichen Pietismus zu Hause. Die meisten pietistischen und neupietistischen Gemeinschaften gehören zum Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverband mit Sitz in Kassel, viele bilden in den Landeskirchen eigenständige Gemeinden und Werke. Nicht alle würden sich allerdings selbst als „evangelikal“ bezeichnen. Daneben verstehen sich viele, aber wieder nicht alle, Mitglieder der klassischen Freikirchen im deutschen Sprachraum als evangelikal. Am ehesten evangelikal ist vermutlich der Bund Freier evangelischer Gemeinden (FeG), etwas weniger die Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinden (EFG, Baptisten und Brüdergemeinden) und am wenigsten die Evangelisch-methodistische Kirche. Das gilt ähnlich für die Mennoniten, bei denen es eher evangelikale und eher liberale Gemeinden gibt. Durchweg evangelikal sind die Siebenten-Tags-Adventisten und die verschiedenen Richtungen der Brüderbewegung (Darbysmus). Dazu kommen kleine Gruppierungen wie zum Beispiel die Herrnhuter Brüdergemeine, die Kirche des Nazareners, die Gemeinde Gottes (Anderson) und die Heilsarmee. Wegen ihrer inneren Vielfalt sehen sich nicht alle Freikirchen, und vor allem nicht die zahlreichen unabhängigen Gemeinden, durch die Evangelische Allianz repräsentiert. Da es keine andere übergreifende Organisation gibt, ist es dennoch sachgerecht, von „Allianz-Evangelikalen“ zu sprechen. Die Allianz weitet sich zunehmend auch auf die zweite Gruppe aus, auf die „charismatischen Evangelikalen“. Die charismatischen Evangelikalen (nach Friedhelm Jung2 die Pfingst-Evangelikalen) haben ihren zahlenmäßigen Schwerpunkt heute bei den klassischen Pfingstkirchen und den sogenannten neocharismatischen Kirchen und Gemeinden. Die meisten klassischen Pfingstkirchen (nicht alle) sind im Bund freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP) organisiert. Theologisch sind sie fast alle evangelikal. Die Bezeichnung spielt für sie aber keine wichtige Rolle, sie wird wenig benutzt. Dazu kommt die kleine charismatische Bewegung innerhalb der Landeskirchen, die sogenannte „zweite Welle“ des pfingstlich-charismatischen Aufbruchs. Sie kann man nur eingeschränkt als evangelikal bezeichnen. Die neocharismatische Bewegung (auch bekannt als „dritte Welle) wollte dagegen von Anfang an ausdrücklich evangelikal sein. Sie besteht heute vor allem aus unabhängigen Gemeinden ohne überregionale Organisation. Neocharismatisch ist aber auch z. B. die kleine Anskar-Kirche. Die zahlreichen unabhängigen Gemeinden haben zusammen vermutlich inzwischen mehr Mitglieder als die BFP-Kirchen. Alle „charismatischen Evangelikalen“ wurden lange Zeit vom Pietismus in Deutschland kritisch gesehen. Diese Spannung hat seit den 1990er-Jahren abgenommen, sodass pfingstliche und charismatische Gruppen immer mehr in evangelikale Dachverbände integriert werden, besonders in die Evangelische Allianz.Die sogenannten Bekenntnis-Evangelikalen orientieren sich an den reformatorischen Bekenntnissen und sind zum größten Teil nicht nur theologisch, sondern auch politisch konservativ. Sie bildeten im „Streit um die Bibel“ in den 1960er-Jahren eigenständige Organisationen und repräsentieren einen Teil (aber nur einen Teil) des konservativen Flügels der evangelischen Landeskirchen. Vertreten werden sie großenteils von der Konferenz Bekennender Gemeinschaften in der Evangelischen Kirche Deutschlands. Zu ihr gehören derzeit 17 Gruppierungen, vor allem die Kirchlichen Sammlungen in einigen evangelischen Landeskirchen, der Arbeitskreis Bekennender Christen in Bayern, die Evangelisch-Lutherische Gebetsgemeinschaft und der Gemeindehilfsbund. Gastmitglied ist die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK).Eine Reihe von evangelikalen Gruppierungen fügt sich nicht glatt in das Schema aus drei Typen ein, zum Beispiel die zahlreichen Aussiedler- und Migranten-Gemeinden. Deshalb führt Friedhelm Jung einen vierten Typ ein, die „unabhängigen Evangelikalen“. Sie sind zum Teil pfingstlich-charismatisch geprägt, zum Teil eher bibelfundamentalistisch. Letztere sammeln sich zum Teil um die „Konferenz für Gemeindegründung“ (KfG), die eine Zusammenarbeit sowohl mit der Evangelischen Allianz als auch mit den charismatischen Evangelikalen ablehnt. Über diese Gruppen wird später noch mehr zu sagen sein, wenn es um die Unterscheidung von pietistischem und fundamentalistischem Bibelverständnis geht (Kapitel 8).
Wie viele Evangelikale gibt es?
Wie sehen die Zahlenverhältnisse in der evangelikalen Bewegung aus? Wie viele Menschen sich dem Gnadauer Gemeinschaftsverband zugehörig fühlen, dem Dachverband der landeskirchlichen Pietisten, ist schwer zu sagen. Eine ungefähre Schätzung liegt bei gut 200000 Personen, von denen ein großer Teil sich (falls man sie danach fragt) als evangelikal bezeichnen würde. Die Mitgliederentwicklung ist nicht bekannt, aber vermutlich geht die Zahl zurück. Zahlen für die Bekenntnisbewegungen sind noch schwerer zu schätzen, weil die Vereine selbst nicht allzu viele Mitglieder haben, aber für eine viel größere Zahl sympathisierender Kirchenmitglieder sprechen. Diese Gruppe überschneidet sich zudem mit der Klientel des Gnadauer Verbands. Deshalb ist völlig unklar, wie viele konservative Protestanten in der EKD sich selbst als evangelikal bezeichnen würden. Es könnten neben dem Pietismus weitere 100000 sein, es könnte auch ein Mehrfaches sein.
Besser zu erfassen sind die „freikirchlichen“ Evangelikalen, die man zum Teil zu den Allianz-Evangelikalen rechnen muss, zum Teil zu den charismatischen Evangelikalen. Die Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) organisiert derzeit knapp 300000 Menschen, grob geschätzt würde gut die Hälfte von ihnen sich selbst als evangelikal bezeichnen. Mit den unabhängigen Gemeinden (s. u.) gibt es in Deutschland geschätzte 500000 „freikirchliche“ Evangelikale. Auch sie nehmen tendenziell ab, allerdings gilt das nicht für alle gleichermaßen. Starke Verluste haben zum Beispiel die Evangelisch-methodistische Kirche, Baptisten, Brüdergemeinden, Mennoniten und Adventisten. Dieser Trend beruht ebenso wie bei den Volkskirchen nur zum Teil auf Austritten, zum anderen Teil auf der Bevölkerungsentwicklung. Die Mitglieder der etablierten Freikirchen gehören zu den gleichen bürgerlichen Milieus wie die Mitglieder der Landeskirchen und nehmen entsprechend durch ihre geringen Geburtenzahlen ab. Ein relatives Wachstum in Bezug zur Bevölkerungsentwicklung weist dagegen der Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP) auf, der ebenfalls zur VEF gehört, der nach den Gesamtzahlen zu urteilen jedoch so gut wie ausschließlich durch die Integration von Migranten wächst. Inzwischen haben ein Drittel der BFP-Gemeinden einen Migrationshintergrund. Als einzige ältere Freikirche wachsen die Freien evangelischen Gemeinden (FeG) durch Neueintritte in kleinem Maßstab von rund 3 % pro Jahr. Am auffälligsten wächst jedoch die Zahl unabhängiger Gemeinden, die zu keiner Kirche oder Dachverband gehören, durch Neugründungen und Abspaltungen, durch Aussiedler aus den GUS-Staaten, durch viele (allerdings oft kleine) Gemeinden von Migranten und deren Nachkommen sowie durch einige Gemeinden messianischer Juden. Nach Schätzungen gibt es ca. 200000 „religiöse“ Aussiedler, die sich teilweise zu den Lutheranern, Mennoniten oder Baptisten zählen. Einige haben Kontakt zur bereits erwähnten Konferenz für Gemeindegründung (KfG), viele vertreten deren fundamentalistische Linie. Ein anderer Teil der Aussiedlergemeinden pflegt pfingstliche Frömmigkeitsformen. Migrantengemeinden oder, in der Terminologie der EKD, Gemeinden anderer Sprache und Herkunft, gibt es nach Informationen der Evangelischen Allianz deutschlandweit rund 1100, mit einer unbekannten Mitgliederzahl.3 Diese Gemeinden unterliegen derzeit noch nicht (oder noch nicht deutlich) der Abnahme durch geringe Geburtenraten, aber vermutlich wird sich dies im Lauf einer Generation ändern.
Früher nahm man an, dass Pietisten und landeskirchliche Konservative zusammen die Mehrheit der deutschen Evangelikalen stellen. Wahrscheinlich trifft das heute nicht mehr zu, der Schwerpunkt der Bewegung hat sich zu den Pfingstkirchen, den unabhängigen Gemeinden und Aussiedlergemeinden hin verschoben. Allerdings liegt das nicht an missionarischen Erfolgen dieser Gruppen. Ihre relativen Gewinne, und die relativen Verluste der etablierten Freikirchen sowie der Landeskirchen, gehen zum Teil, wie gesagt, auf Unterschiede in der Altersstruktur und der Geburtenrate zurück. Zum anderen Teil handelt es sich um das Ergebnis von Flüchtlingsbewegungen und Wanderungen, sowie von einem Mitgliederaustausch zwischen den Kirchen und Gemeinden. Fachlich gesprochen handelt es sich um Migrations- und Transferbewegungen. Das heißt, dass evangelikal geprägte Christen aus dem Ausland zuwandern, meist konservative Aussiedler aus Osteuropa sowie Menschen aus der weltweiten Pfingstbewegung, und dass evangelikale Christen ihre Kirchen und Gemeinden verlassen und sich anderen Kirchen zuwenden bzw. neue Gemeinden gründen (innerprotestantischer Transfer).
Wenn man also immer wieder liest, dass den großen Kirchen die Mitglieder weglaufen, während die „Evangelikalen“ zunähmen, stimmt das so nicht. Statistisch gesehen unterliegen alle christlichen Strömungen dem Sog zunehmender Religions- und Kirchenferne. Der statistische Schwund wird lediglich durch Transfer- und Migrationsprozesse verschleiert, durch die einige Segmente zulegen (Aussiedler, Pfingstbewegung) und andere verlieren.4 An der Summe der deutschen Evangelikalen scheint sich kurzfristig wenig zu ändern, langfristig nehmen sie ab. Es handelt sich um rund 1 bis 1,5 Millionen Menschen in Deutschland, das entspricht auch der Schätzung der Evangelischen Allianz. Die höchsten Schätzungen liegen bei 2 Millionen, dann wird von einer relativ hohen Zahl landeskirchlicher Konservativer in der Bewegung ausgegangen. Auf jeden Fall sind dies rund 2% der Bevölkerung, keine winzige Minderheit, aber doch eine Minderheit.
Die geografische Verteilung ist ungleich: Im Norden und Osten sind die Zahlen niedrig, im Westen und Süden viel höher. Im Vergleich zu den weltweiten Zahlen ist das alles sehr wenig: Man schätzt die globale Zahl evangelikaler Christen auch ohne diejenigen aus der Pfingstbewegung auf über 300 Millionen, mit der Pfingstbewegung (was sachgerecht ist) auf das Doppelte bis Dreifache. Nach Werner Ustorf, einem evangelischen Theologen, machen die Evangelikalen einschließlich der pfingstlichen und charismatischen Kirchen rund 28 % der organisierten Christen weltweit aus.5 Vor allem in Asien, Afrika und Südamerika weisen die evangelikalen bzw. pfingstlichen Kirchen ein starkes Wachstum auf, das zum Teil durch Missionserfolge zustande kommt, zum Teil (vor allem in Lateinamerika) aber auch durch Übertritte aus traditionellen Kirchen. In Europa und vor allem in Deutschland sind die Evangelikalen also, verglichen mit der globalen Christenheit, erstaunlich schwach. Sie stellen 3 bis 4% der kirchlich organisierten Christen, kaum mehr als ein Zehntel ihrer weltweiten Stärke. Außerdem verlieren sie, wie alle christlichen Konfessionen, laufend an Mitgliedern. Warum das so ist, wird zu überlegen sein.
Zusammenfassung
Die evangelikale Bewegung entstand im 19. Jahrhundert als Reaktion auf aufgeklärte und liberale Strömungen in den Kirchen. Die 1846 in London gegründete Evangelische Allianz ist bis heute ein Dachverband für viele, aber nicht alle Evangelikale. Die Gründer der Allianz kamen überwiegend aus dem Methodismus und Pietismus sowie aus Erweckungs- und Missionsbewegungen. Ihr Bekenntnis, die Glaubensbasis der evangelischen Allianz, ist die theologische Grundschrift der Bewegung. In Deutschland unterscheidet man drei Ausprägungen: die Allianz-Evangelikalen, die charismatischen Evangelikalen und die Bekenntnis-Evangelikalen. Ein Teil der Bewegung gehört entsprechend zum konservativen Spektrum der evangelischen Landeskirchen, ein anderer Teil besteht aus Freikirchen und unabhängigen Gemeinden. Im letzteren Teil spielen Pfingstkirchen und charismatische Gemeinden eine zunehmende Rolle. Die Evangelikalen stellen in Deutschland rund 2% der Bevölkerung und 3 bis 4% der kirchlich organisierten Christen. Im weltweiten Vergleich ist das sehr wenig. Insgesamt verliert die evangelikale Bewegung ebenso allmählich an Mitgliedern und an gesellschaftlichem Einfluss wie alle christlichen Kirchen und Konfessionen.
2. Gegen die Verächter des Glaubens
Die Gründer der „Evangelical Alliance“ wandten sich gegen die aufgeklärte Theologie und gegen die Verweltlichung (Säkularisierung) der großen Kirchen. Deshalb kritisieren sie bis heute den historisch-kritischen Umgang mit der Bibel, die Offenheit der Landeskirchen bzw. der EKD gegenüber der religionsfernen Umwelt, vor allem die Aufweichung von moralischen Normen und herkömmlichen Lebensformen, die sie als biblisch begründet verstehen. Für die Analyse muss aber unterschieden werden zwischen den historischen Erfahrungen auf der einen Seite, die zur Entstehung der evangelikalen Bewegung führten, und den vielfältigen Reaktionen dieser Bewegung auf der anderen Seite. Die historische Erfahrung war und ist, dass die Geltung des christlichen Glaubens als Grundlage von Lebensordnung und Lebenssinn in der Neuzeit in Europa verloren ging. Der Prozess ist auch heute noch nicht abgeschlossen. Diese Erfahrung ist in gewisser Weise einfach und monumental; sie betrifft nicht nur die neuzeitlichen Erweckungsbewegungen, die Freikirchen, Pietisten usw. Sie betrifft alle Christen und die gesamte westliche Kultur. Die Reaktionen darauf, die sich in der evangelikalen Bewegung bündeln, sind eine andere Sache. Sie sind vielfältig und zum Teil gegensätzlich. Oft sind sie nachvollziehbar und fruchtbar, manchmal auch nicht. Einige Reaktionen sind ein Spiegelbild des gesellschaftlichen Wandels, sind also selbst weltlich und modern.
Kirche, Glaube und die Ringparabel
Wie kam es zum Geltungsverlust von Glaube und Kirche etwa seit der historischen Zäsur des Dreißigjährigen Kriegs? Es ist hier nicht möglich, diese vielschichtige Entwicklung über Jahrhunderte nachzuzeichnen, aber einige Grunddaten müssen angeführt werden. Im 18. und 19. Jahrhundert traten innerweltliche Sinngebungen in Konkurrenz mit dem Christentum, zuerst ein aufgeklärter Vernunftglaube, der zu einem Wissenschafts- und Fortschrittsglauben wurde und revolutionäre politische Bewegungen inspirierte, vor allem bei der Gründung der USA und in der Französischen Revolution. Dann entstanden säkulare Ideologien wie Nationalismus, Sozialismus, Kommunismus usw. In der Konkurrenz mit diesen innerweltlichen Sinngebungen lösten sich die heilsgeschichtlichen und die überweltlichen (transzendenten) Inhalte des Christentums für viele Menschen auf, und zwar anfangs vor allem in der gebildeten Schicht der Bevölkerung, unter den Eliten. Der entscheidende Punkt war, dass die menschliche Vernunft zum Maßstab dessen wurde, was als wirklich und wahr gelten konnte. Und da die Wissenschaft sich auf die Letztinstanz der „Vernunft“ berief, setzte man das „wissenschaftliche Weltbild“ mit der Wahrheit gleich. Die evangelische Theologie folgte zum Teil dieser Entwicklung. Ein früher Vertreter ihres Aufklärertums war Hermann Samuel Reimarus (1694 bis 1768); die Titel seiner Hauptwerke sprechen für sich: „Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion“ erschienen 1754, darauf folgte 1756 die „Vernunftlehre als eine Anweisung zum richtigen Gebrauch der Vernunft in der Erkenntnis der Wahrheit“. Sein wichtigstes Werk erschien erst nach seinem Tod, nämlich die „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“. Diese religionskritische Schrift, die jede Form von Offenbarung als unvernünftig ablehnt, konnte er aus Furcht vor staatlichen und kirchlichen Repressionen nicht publizieren. Allerdings wurde Gotthold Ephraim Lessing (1729 bis 1781) stark von dieser Schrift beeinflusst, die er denn auch postum herausgab. Seine Ringparabel aus dem Drama „Nathan der Weise“ (1779) ist vermutlich der bekannteste und wirksamste Ausdruck des aufgeklärten Vernunftglaubens in Sachen Religion:
Ein Mann besitzt einen Ring, der seinen Träger „vor Gott und den Menschen angenehm“ macht. Da er drei Söhne hat und keinen von ihnen enttäuschen will, lässt er vor seinem Tod zwei Kopien des Rings machen und vererbt jedem Sohn einen Ring mit der Versicherung, er sei der echte. Die Söhne versuchen nach dem Tod des Vaters vor Gericht zu klären, wer den echten Ring bekommen hat. Der Richter weist sie ab mit der Begründung, dass der echte Ring den Träger anderen Menschen angenehm werden lässt. Wenn das bei keinem der drei Söhne der Fall sei, sei der echte Ring wohl schon lange verloren gegangen. Deswegen sollen alle drei Söhne glauben, ihr Ring sei der echte, und sich bemühen, seine gute Wirkung herbeizuführen.
Die Parabel zielt auf die drei damals bekannten großen Religionen Christentum, Judentum und Islam. Lessing erfand die Geschichte nicht, sie geht vermutlich auf das spanische Judentum zurück. Es ist klar, was Lessing seine Hauptfigur Nathan damit sagen lässt: Die Religionen sind nicht danach zu beurteilen, ob sie die Wahrheit über Gott und Welt sagen, sondern nach ihrer Fähigkeit, den Menschen zu verbessern. Entscheidend ist nicht die Erkenntnis Gottes, sondern „die Erziehung des Menschengeschlechts“ – so lautet der Titel des philosophischen Hauptwerks Lessings (1780). Und dazu können, so Lessing, die drei großen Offenbarungsreligionen gleichermaßen dienen. Oft wird gesagt, die Ringparabel sei als eine Begründung für religiöse Toleranz zu verstehen. Das ist nur eingeschränkt richtig. Die Parabel relativiert religiöse Wahrheiten grundsätzlich und orientiert das menschliche Leben um: Ziel ist es nicht mehr, den Willen Gottes zu tun, sondern einen neuen, besseren Menschen zu erzeugen. Religion ist dann gut, wenn sie den Menschen veredelt. Diese Haltung führt zwar auch zu religiöser Toleranz; aber nur nebenbei. An sich lässt sich Toleranz anders begründen, nämlich zum Beispiel mit dem Gebot Gottes, der Frieden will. Aber in der Folge der Aufklärung setzte sich weitgehend der lessingsche Toleranzbegriff durch. Für die Mehrheit unserer Zeitgenossen bedeutet Toleranz deshalb nicht, einen Menschen anderer Religion um Gottes willen zu achten und mit ihm Frieden zu halten. Toleranz bedeutet, in religiösen Fragen nicht zwischen wahr und falsch zu unterscheiden.
Die aufgeklärte Religion der Gebildeten
Der berühmte Theologe Friedrich Daniel Schleiermacher (1768 bis 1834) geht in seiner bedeutendsten Schrift „Über die Religion – Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ bereits 1799 davon aus, dass sich viele, wenn nicht die meisten gebildeten Zeitgenossen vom christlichen Glauben verabschiedet hatten. Ideologische Massenbewegungen wie in der Französischen Revolution, wie in Sozialismus und Nationalismus führten auch zu Kirchenfeindlichkeit in breiten Bevölkerungsschichten. Demgegenüber hielt die staatliche und kirchliche Obrigkeit an der Geltung von Kirche und Glauben zumindest äußerlich fest. Aber die „natürliche Religion“ bzw. die „vernünftige Verehrung Gottes“ wurde im gebildeten Bürgertum vorherrschend. Die evangelischen Kirchenleitungen (die damals Staatsorgane waren) dachten und handelten oft ähnlich. Ein Beispiel ist Johann Joachim Spalding (1714 bis 1804), der in Berlin als Konsistorialrat großen Einfluss hatte. Sein Frühwerk „Betrachtung über die Bestimmung des Menschen“ (1748) hatte das damals in der Theologie verbreitete Ziel, den christlichen Glauben von „widersinnigen Dogmen“ zu befreien. Das Wesen des Christentums sei, so meinte er, durch Vernunft zu ermitteln. Und ganz im Sinn Lessings bestünde dieses Wesen darin, den Menschen besser zu machen. Für Spalding fallen deshalb Glaube und Moral mehr oder weniger zusammen.