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Als Martin Luther am 31.10.1517 seine 95 Thesen an das Portal der Kirche zu Wittenberg schlug, begann eine Bewegung, die die Spaltung der christlichen Kirche bewirkte: die Reformation. Marco Kranjc zeichnet die Ereignisse nach, die zur Trennung der Kirche führten. Spannend wie ein Krimi liest sich die Auseinandersetzung um Glaube, Recht und Ordnung, die Diskussion über Freiheit und Gewissen. Außerdem schildert dieses Buch die heutige Glaubenspraxis evangelischer Christen, die Rolle des Gebets und der Bibel darin und das Gemeindeleben in den unterschiedlichen evangelischen Kirchen.
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Seitenzahl: 587
Evangelisch für Dummies
Ich glaube an Gott, den Vater,den Allmächtigen,den Schöpfer des Himmels und der Erde.
Und an Jesus Christus,seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn,empfangen durch den Heiligen Geist,geboren von der Jungfrau Maria,gelitten unter Pontius Pilatus,gekreuzigt, gestorben und begraben,hinabgestiegen in das Reich des Todes,am dritten Tage auferstanden von den Toten,aufgefahren in den Himmel;er sitzt zur Rechten Gottes,des allmächtigen Vaters;von dort wird er kommen,zu richten die Lebenden und die Toten.
Ich glaube an den Heiligen Geist,die heilige christliche Kirche,Gemeinschaft der Heiligen,Vergebung der Sünden,Auferstehung der Totenund das ewige Leben.
Amen.
Vater unser im HimmelGeheiligt werde dein Name.Dein Reich komme.Dein Wille geschehe,wie im Himmel, so auf Erden.Unser tägliches Brot gib uns heute.Und vergib uns unsere Schuld,wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.Und führe uns nicht in Versuchung,sondern erlöse uns von dem Bösen.Denn dein ist das Reichund die Kraft und die Herrlichkeitin Ewigkeit.
Amen.
Neben dem Glaubensbekenntnis gibt es vier evangelische Schlagworte, die alles das ausdrücken, was evangelisch ist:
sola scriptura – allein die Schrift: Nur die Bibel, die Heilige Schrift, kann Richtschnur für Glauben und Leben eines Christen sein.sola fide – allein der Glaube: Nur der Glaube an Jesus Christus bringt einen Menschen wieder in eine Beziehung zu Gott.sola gratia – allein die Gnade: Nur aufgrund der Gnade Gottes werden den Menschen Sünden vergeben. Sündenvergebung ist ein Geschenk, man kann sie sich nicht durch gute Taten oder eine andere Leistung verdienen.solus Christus – allein Christus: Jesus Christus ist der einzige Mittler zwischen Mensch und Gott, keine Heiligen und kein Priester.Da die Bibel so ein dickes Buch ist, musste man sich eine Methode ausdenken, wie man einzelne Abschnitte und Sätze leicht finden kann. Also hat man die einzelnen biblischen Bücher in Kapitel und Verse eingeteilt.
Wird eine bestimmte Stelle bezeichnet, nennt man zuerst das Buch, also zum Beispiel Lk (für Lukasevangelium).Dann kommt das Kapitel an die Reihe; nehmen wir das zweite, dann sieht es so aus: Lk 2.Allerdings möchte man vielleicht nicht das ganze Kapitel lesen, nur den ersten Vers. Dann sieht es so aus: Lk 2,1.Sind zum Beispiel die ersten zwanzig Verse gemeint, schreibt man Lk 2, 1–20.Und wer das tatsächlich jetzt in einer Bibel verfolgt hat, der findet dort die Weihnachtsgeschichte:
Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde … (Lk 2,1)Evangelisch für Dummies
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
2. Auflage 2022
© 2022 Wiley-VCH GmbH, Boschstraße 12, 69469 Weinheim, Germany
Wiley, the Wiley logo, Für Dummies, the Dummies Man logo, and related trademarks and trade dress are trademarks or registered trademarks of John Wiley & Sons, Inc. and/or its affiliates, in the United States and other countries. Used by permission.
Wiley, die Bezeichnung »Für Dummies«, das Dummies-Mann-Logo und darauf bezogene Gestaltungen sind Marken oder eingetragene Marken von John Wiley & Sons, Inc., USA, Deutschland und in anderen Ländern.
Wir danken für die freundliche Erteilung der folgenden Abdruckgenehmigungen:
Bibeltexte
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
Bibeltext der Schlachter, Copyright © 2000 Genfer Bibelgesellschaft. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.
Luther-Zitate
in den
Kapiteln 2
und
16
: Quelle: Projekt Gutenberg-DE,
www.projekt.gutenberg.de
,
Hille&Partner, Hamburg.
in den
Kapiteln 2
und
10
: Quelle: Martin Luther: Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart Bd. 2, Herausgegeben von Kurt Aland. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1983
Stuttgarter Schuldbekenntnis (Kapitel 18): Quelle: Evangelische Kirche in Deutschland (EKD)
Das vorliegende Werk wurde sorgfältig erarbeitet. Dennoch übernehmen Autor und Verlag für die Richtigkeit von Angaben, Hinweisen und Ratschlägen sowie eventuelle Druckfehler keine Haftung.
Print ISBN: 978-3-527-71921-1ePub ISBN: 978-3-527-83657-4
Coverfoto: © nhermann / stock.adobe.comKorrektur: Frauke Wilkens, München
Marco Kranjc hätte vielleicht ein wenig besser auf seine Füße aufpassen sollen, als er sie vor über 35 Jahren aus seinem Elternhaus im Bergischen Land setzte. Denn wie sagt es Bilbo in Der Herr der Ringe: »Es ist eine gefährliche Sache, aus deiner Haustür hinauszugehen, du betrittst die Straße, und wenn du nicht auf deine Füße aufpasst, kann man nicht wissen, wohin sie dich tragen.«
Damals hatte er gerade seine Tischlerlehre beendet und wandte sich dann der Theologie zu. Nachdem er 1996 beruflich nach Maribor in Slowenien zog (wo er heute immer noch lebt), wollten seine Füße immer weiter: Als Mitglied des Vorstands arbeitete er für einen gemeinnützigen amerikanischen Verein unter anderem in Japan, den USA, Taiwan, Ungarn, Kroatien, Bulgarien und Nordmazedonien. Bis 2005 leitete er außerdem eine evangelische Gemeinde in Maribor/Slowenien.
Im Jahre 2009 beschrieb er in seinem Buch Kulturschock Slowenien Kultur und Mentalität der Slowenen, 2011 erschien Im Ausland leben für Dummies, 2021 Weisheit des Lebens für Dummies.
Den ältesten Freunden: Reiner Distel, Karsten Gosse, Helma und Ecki Rebmann, Martin Roth (✝)
Cover
Titelblatt
Impressum
Über den Autor
Widmung
Einführung
Über dieses Buch
Konventionen in diesem Buch
Törichte Annahmen über den Leser
Wie dieses Buch aufgebaut ist
Symbole, die in diesem Buch verwendet werden
Wie es weitergeht: Ein paar Worte zum Thema Religion, Wahrheit und Toleranz
Teil I: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders!« – Die Geschichte eines Gewissens
Kapitel 1: Protestantismus – ein Baum mit vielen Zweigen
Die katholische Kirche vor der Reformation
Das Glaubensleben im Mittelalter
Erste Proteste: John Wyclif und Jan Hus
Die Sache mit dem Gewissen
Die Freiheit zu lesen
Kapitel 2: Martin Luther, das Gewitter und die Gnade Gottes
Ein Mann in Angst: Martin Luthers Suche nach Gott
Papst und Kaiser fühlen sich bedroht: Diskussionen und Debatten
Luthers zukunftweisende und fragwürdige Entscheidungen
Auf der »dunklen Seite der Macht«: Luthers Entgleisungen
Die Reformation am Abgrund
Kapitel 3: »Wer hat's erfunden?« – Die Schweizer Reformation
Es geht um die Wurst: Huldrych Zwingli in Zürich
Glaube, Tugend, Recht und Ordnung: Johannes Calvin in Genf
Zwei Wege: Lutherisch und reformiert
Kapitel 4: Radikale Reformation – Täufer, Rebellen und Pazifisten
Die Radikalen: Spiritualisten, Täufer, Apokalyptiker
Thomas Müntzer, die Bauern und das Ende der Welt
Wer ist wirklich ein Christ? – Die Täufer
Das neue Jerusalem – die Täufer in Münster
Vom Winde verweht: Die Täufer machen sich auf den Weg
Unsterblich: Das Erbe der Täufer
Kapitel 5: Bei Wittenberger Bier: Das Evangelium läuft um die Welt
Ein eigener Weg: Die Reformation in England
Tod und Toleranz auf dem platten Land: Die Niederlande
Reformation der Könige: Skandinavien
Wieder Mord und Totschlag: Frankreich
Ausgebremst: Süd- und Südosteuropa
»Das Imperium schlägt zurück«: Die Gegenreformation
Hölle auf Erden: Der Dreißigjährige Krieg
Europa: Endgültig geteilt
Kapitel 6: Fromme Wünsche: Reformation der Reformation
Die Kinder der Reformation: Streitbare Erben
Go West! – Aufbruch nach Amerika
»Fromme Wünsche«: Die Pietisten
Gemeinsames Leben: Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf
Noch eine Bekehrung: John Wesley und die Methodisten
»Näher zu Dir …« – die Erweckungsbewegung
Auswirkungen bis in unsere Gegenwart
Kapitel 7: Nachdenken über Gott: Stationen evangelischer Theologie
Ein weites Feld: Theologische Wissenschaft im Überblick
Luther war nur der Anfang: Evangelische Theologen und ihre Gedanken
Teil II: In der Kirche und im stillen Kämmerlein: Leben als evangelischer Christ
Kapitel 8: Evangelisches Gemeindeleben: Gottesdienste für Groß und Klein
Gemeinsam singen, beten und hören: Der Gottesdienst
Zwischen Liturgie und Moderation: Formen des Gottesdienstes
Kapitel 9: Vom Schreibtisch in die Herzen: Die Predigt
Von Anfang an: Die Predigt in der Bibel
Sinn und Ziel der Predigt
Am Schreibtisch: Wie eine Predigt entsteht
Eine Predigt hören mit Gewinn
Kapitel 10: Mit Herz und Mund: Protestantische Dichtung und Musik
Luthers Leidenschaft für Musik: Die Reformation singt
Evangelische Zwillinge: Dichtung und Musik
Vom Schlager zur hohen Kunst: Von Luther über Bach zu Brahms
Gottes Beat: Christliche Popmusik
»Das Wort« als Erzählung: Protestantische Literatur
Kapitel 11: Gottes Bodenpersonal: Von Pfarrern, Diakonen, Ältesten und anderen
Gleiche unter Gleichen: Das allgemeine Priestertum
Arbeitsplatz Kirche: Wer macht was?
Das evangelische Pfarrhaus
Frauen in der Kirche: Schweigen oder leiten?
Berufung und Beruf
Kapitel 12: Praktische Nächstenliebe: Diakonie
Reden und Handeln: Glaube hat Folgen
Evangelische Sozialarbeit heute: Diakonie Deutschland
Kapitel 13: Vor der Haustür und in aller Welt: Mission und Evangelisation
Machet zu Jüngern: Grundlagen von Missionsarbeit
Zinzendorfs Leute: Die Heiden-Boten
Das Jahrhundert der evangelischen Mission
Umstrittener Auftrag: Mission heute
Evangelisation: Mission vor der Haustür
Kapitel 14: Mit Gott auf Du und Du: Evangelischer Glaube im Alltag
Daheim und in Stille: Private Formen evangelischen Glaubens
Wort zum Leben: Die Bibel
Das Gebet
Was aus der Stille folgt: Leben als Christ
Teil III: Der evangelische Glaube
Kapitel 15: Fundamente und Abgrenzungen: Evangelische Bekenntnisse
Was ist eigentlich ein Glaubensbekenntnis?
»Wir glauben an …« – Bekenntnisse von der Antike bis heute
Wer glaubt das noch? – Die Kirchen und ihre Bekenntnisse heute
Kapitel 16: Das Wort
Das Buch der Bücher – die Bibel
Die Bibel lesen
Kapitel 17: Trennende Zeichen? – Von Taufe und Abendmahl
In Kürze: Die lange Geschichte der Taufe
Evangelische Ansichten zur Taufe
Zwei Dickköpfe: Der Streit ums Abendmahl
Teil IV: Die evangelischen Kirchen und Gemeinden
Kapitel 18: Erben der Reformation: Lutherische und reformierte Landeskirchen
Die Reformation und die Entstehung der Landeskirchen
Man einigt sich: Unierte Kirchen
Ein kompliziertes Gebilde: Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD)
Evangelische Kirchen in Österreich
Evangelische Kirchen in der Schweiz
Zwischen Bibel und Gewissen: Was geglaubt wird
Kapitel 19: Evangelische Vielfalt: Die Freikirchen
Nicht Kirche, sondern Bewegung: Die Evangelikalen
Ein Glaube, eine Taufe: Die Baptisten
Von der Versammlung zur Gemeinde: Die Brüdergemeinden
Einheit und Freiheit: Die Freien evangelischen Gemeinden (FeG)
Unterwegs durch Jahrhunderte: Die Mennoniten
Evangelium und soziale Verantwortung: Die Methodisten
Suppe, Seife, Seelenheil: Die Heilsarmee
Zeichen und Wunder: Die Pfingstbewegung
Neue Wege gehen: Freie und unabhängige Gemeindegründungen
Kapitel 20: Nicht Landeskirche, nicht Freikirche: Die landeskirchlichen Gemeinschaften
Die Entstehung der Gemeinschaften
Der Gnadauer Verband
Nur für Eingeweihte: Die Sprache Kanaans
Teil V: Der Top-Ten-Teil
Kapitel 21: Zehn wichtige Unterschiede zwischen katholischer Kirche und evangelischen Kirchen
Die eine oder die vielen – das Verständnis von Kirche
Big Boss – wer die Kirche leitet
Priester und Pfarrer – das Amtsverständnis
Mit oder ohne Frau – der Zölibat
Maria, Mutter Gottes
Helfer und Beter – die Heiligen
Bibel und kirchliche Tradition – worauf der Glaube gründet
Was heilig ist – Sakramente
Büßen und beichten – von der Vergebung der Sünden
Wunder oder Symbol? – Eucharistie und Abendmahl
Kapitel 22: Zehn Bibelstellen, die Protestanten wichtig sind
Das Evangelium in einem Satz: Johannes 3,16
Der Zustand des Menschen: Römerbrief 3,23
Das Fundament: Römerbrief 1,17
Was Glaube ist: Hebräer 11,1
Ein Gebet des Vertrauens: Psalm 23
Jesus tröstet: Matthäus 11, 28–30
Der Klassiker über die Liebe: 1. Korinther 13, 1–13
Die Bibel leitet durchs Leben: Psalm 119, 105
Der Wert der Predigt: Römer 10,17
Sich ab und an politisch einmischen: Jeremia 29,7
Kapitel 23: Zehn berühmte evangelische Pfarrerskinder
Friedrich Nietzsche – Philosoph
Vincent van Gogh – Maler
C. G. Jung – Psychoanalytiker
Hermann Hesse – Schriftsteller
Gottfried Benn – Lyriker und Arzt
Jochen Klepper – Dichter und Schriftsteller
Ingmar Bergman – Regisseur
Friedrich Dürrenmatt – Schriftsteller und Dramatiker
Angela Merkel – Physikerin und Politikerin
… und all die glücklichen Pfarrerskinder
Stichwortverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis
Titelblatt
Impressum
Über den Autor
Einführung
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Worte und Papier – mehr brauchte Martin Luther zunächst einmal nicht, um die damals herrschende Weltordnung zu erschüttern. Als er am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche nagelte, sollten sie zunächst nur eine Art Diskussionspapier sein. Die Tür der Schlosskirche – das war so etwas wie das Facebook des Mittelalters. Allerdings reichte eine Kirchentür für die Postings aus, weil kaum jemand schreiben konnte.
Heute, so ziemlich genau 500 Jahre später, sind die Folgen von Martin Luthers Tun rund um die Welt zu sehen. Evangelisch nannte man bald die Christen, die den Gedanken Martin Luthers und seiner Mitstreiter folgten – und irgendwann Protestanten.
Evangelisch für Dummies wird Sie durch Geschichte und Gegenwart der evangelischen Kirchen führen. Es geht nicht nur darum, den evangelischen Glauben darzustellen. Denn der Inhalt des evangelischen Glaubens wird nicht einfach von jemandem festgelegt, wie man das von der katholischen Kirche her kennen mag. Evangelischer Glaube hat seine Grundlage in der Bibel (im Gegensatz zu Bibelund Tradition in der katholischen Kirche). Dann aber auch darin, wie jeder einzelne Gläubige die Bibel versteht. Hierin äußern sich Besonderheit, Freiheit und Problematik des evangelischen Glaubens: Jeder einzelne Gläubige sollte seinem Gewissen folgen, wenn er die Bibel liest, und nicht blind Autoritäten. Vom Wort Gottes, vom Gewissen und von der Freiheit wird in diesem Buch oft die Rede sein.
Deshalb ist die Geschichte zum Verständnis des evangelischen Glaubens genauso wichtig wie die Inhalte des Glaubens. Er entstand aus dem Widerstand gegen menschliche Autoritäten und Bevormundung der Gläubigen, aus dem Wunsch heraus, Gott persönlich, ohne menschlichen Vermittler begegnen zu können, und auch aus dem Wunsch heraus, dem Menschen die Angst vor Gott zu nehmen.
Und so informiert Sie dieses Buch:
über die Geschichte der Reformation und die Entstehung des evangelischen Glaubens,
über evangelische Theologie und wichtige Glaubensinhalte,
über viele verschiedene evangelische Kirchen und ihre Entstehungsgeschichte,
über die Vielfalt des Glaubenslebens evangelischer Christen.
Evangelisch für Dummies ist das richtige Buch für Sie,
wenn Sie keine Ahnung vom evangelischen Glauben haben, aber immer schon mal wissen wollten, was »evangelisch« eigentlich bedeutet.
wenn Sie generell allen Kirchen fernstehen, aber einmal genauer wissen möchten, was es mit dem Zeitalter der »Reformation« eigentlich auf sich hat.
wenn Sie evangelisch sind und gern mehr über die Grundlagen Ihrer Kirche und Ihres Glaubens wissen möchten.
wenn Sie evangelisch sind und sich schon immer mal gefragt haben, warum es auch andere evangelische Kirchen gibt und was diese überhaupt glauben.
Ist dieses Buch für Theologen, Pfarrer oder Theologiestudenten geeignet? Es gibt keine Fremdwörter, keine komplizierten theologischen Diskussionen und vieles könnte man sicher ausführlicher darstellen. Fachleute werden Auslassungen schmerzen und manche Zusammenfassungen zu grob sein. Andererseits: Wer von den Fachleuten sich nicht scheut, ganz einfach und ohne Fachsprache von seinem Glauben und seiner Kirche zu reden, der wird in diesem Buch vielleicht manche Anregung finden.
Dieses Buch brauchen Sie nicht von vorn bis hinten durchzulesen. Es gibt Teile zur Geschichte der Reformation, zu den einzelnen Kirchen und zu den Inhalten evangelischen Glaubens. Wer zum Beispiel etwas über die Taufe wissen möchte, findet im entsprechenden Kapitel Erklärungen zu Ansichten, Diskussionen und Praxis in den verschiedenen evangelischen Kirchen. Wer eher etwas zu Martin Luther oder Johannes Calvin wissen möchte, findet das in den historischen Kapiteln.
Internetadressen von Kirchen und Organisationen sind in Schreibmaschinenschrift gedruckt.
Übrigens schadet es nicht, wenn Sie bei der Lektüre dieses Buches auch eine Bibel griffbereit haben. Wenn Sie sich mit den verschiedenen Bibelausgaben und dem Auffinden von Bibelstellen nicht auskennen, finden Sie in Kapitel 16 entsprechende Tipps.
Und welchen Leser habe ich jetzt vor Augen? Das sind ganz verschiedene:
Menschen, die sich einfach einmal darüber informieren möchten, was evangelischer Glaube eigentlich ist und wie die evangelischen Kirchen entstanden sind
Menschen, die den Anschluss an ihr evangelisches Erbe verloren haben und sich ein wenig eingehender mit der Frage beschäftigen wollen, woher sie eigentlich kommen
jeden, der nicht evangelisch ist und sich fragt, was es denn mit den Evangelischen so auf sich hat – historisch oder spirituell oder beides
evangelische Christen, die sich fragen, warum es denn noch so viele andere evangelische Kirchen gibt
Das Praktische an einem … für Dummies-Buch ist, dass Sie es nicht von vorn bis hinten durchlesen müssen. Sie können zwar die Kapitel der Reihenfolge nach lesen, wenn Sie das Thema ganz erfassen möchten. Aber die einzelnen Kapitel sprechen auch für sich. Sie können das Inhaltsverzeichnis und das Stichwortverzeichnis dazu benutzen, genau das zu finden, was Sie gerade interessiert. Im Folgenden gebe ich Ihnen einen kleinen Überblick darüber, welche Themen Sie in den einzelnen Teilen erwarten.
In diesem Teil geht es um die Geschichte der Reformation. Und da war nicht nur Martin Luther beteiligt. Es geht auch um Johannes Calvin, Philipp Melanchthon, Huldrych Zwingli und einige weitere, oft unbekanntere Reformatoren. Keine Angst vor Geschichte – einige Leute waren so außergewöhnlich, dass die Lektüre nicht nur anregend, sondern auch kurzweilig sein kann.
Das persönliche Glaubensleben, die private Spiritualität und das öffentliche Gemeindeleben kommen in diesem Teil zur Sprache. Was bedeutet das Gebet und wie liest man die Bibel? Wozu der Gottesdienst und wie hört man eine Predigt? Welchen Einfluss hatte der evangelische Glaube auf die Kunst und wie ist die Nächstenliebe praktisch organisiert?
Hier werden Inhalte des evangelischen Glaubens erklärt. Neben vielen Gemeinsamkeiten der verschiedenen evangelischen Kirchen wird hier auch auf evangelische Streitpunkte eingegangen.
In diesem Teil schreibe ich über Herkunft und Gegenwart der evangelischen Kirchen. Welches sind die großen evangelischen Kirchen, welches die kleinen? Was glauben sie und warum bilden sie nicht gemeinsam eine evangelische Kirche? Wer sich auf diesem Gebiet nicht auskennt, findet in diesem Teil Orientierung im Dschungel der vielen evangelischen Gemeinden. Evangelische Christen soll dieser Teil dazu ermuntern, den Blick über den Horizont der eigenen Kirche hinwegzuheben und die Gläubigen anderer Kirchen akzeptieren und schätzen zu lernen.
Natürlich – ohne Top-Ten-Teil kein … für Dummies-Buch. Lassen Sie sich überraschen!
Zu Ihrer raschen Orientierung dienen die Symbole, die das Buch leichter lesbar machen und strukturieren.
Dieses Symbol kennzeichnet Tipps, die Ihnen das Verständnis der Geschichte der Reformation oder den Besuch einer evangelischen Kirche erleichtern.
Bei diesem Symbol finden Sie wichtige Aussagen zusammengefasst. Es markiert auch Aussagen und Sachverhalte, die man sich besonders merken sollte.
Abschnitte mit diesem Symbol sollen helfen, Missverständnisse zu vermeiden oder wichtige Sachverhalte nicht zu übersehen.
Der evangelische Glaube ist eine Religion des einen Buches, der Bibel, und der vielen Bücher. Ohne Bücher keine Reformation und keine protestantische Kirche. Um der besseren Übersicht willen gibt es in diesem Buch kein eigentliches Literaturverzeichnis. Wichtige Bücher der protestantischen Geschichte oder empfehlenswerte, weiterführende Literatur werde ich gleich am passenden Ort neben diesem Symbol aufführen.
Die Sache mit jeder Religion ist die, dass sie die Wahrheit sein will. Und schon kommt der gläubige Mensch in Schwierigkeiten mit seinen Mitmenschen: Logisch gesehen kann man schlecht von seiner Wahrheit sprechen und die sich davon unterscheidende »Wahrheit« anderer Menschen ebenso akzeptieren. Dann wäre die Wahrheit keine Wahrheit, sondern nur eine Meinung unter vielen. Was also tun? Wie soll ein gläubiger Mensch alle »Wahrheiten« als gleichwertig nebeneinander ansehen können? Entweder es gibt Gott, oder es gibt ihn nicht. Entweder Allah ist der eine Gott, oder Christus ist der eine Weg. Ein Nebeneinander gibt es da ganz logisch gesehen nicht, und Beispiele gäbe es noch viele. Ein »Du hast mit dem, was du glaubst, genauso recht wie ich mit dem, was ich glaube!« kann einen zutiefst gläubigen Menschen (gleich welcher Religion) nicht zufriedenstellen.
Hier kommt der viel gebrauchte Begriff der Toleranz ins Spiel:
Das Wort Toleranz stammt aus dem Lateinischen (tolerare) und bedeutet erdulden oder ertragen. Somit hat es also nichts mit Gleichberechtigung, Anerkennung oder Zustimmung zu tun. Es hat eher etwas damit zu tun, sich Mühe mit Mitmenschen zu machen.
Jemanden gleichberechtigt neben sich stehen zu lassen, weil man nicht sicher ist, wer recht hat, ist eine Sache. Das ist aber keine Toleranz. Es zeigt eher Unentschiedenheit, manchmal vielleicht auch Gleichgültigkeit.
Toleranz bedeutet, jemanden mit Achtung und Respekt zu behandeln, obwohl man davon überzeugt ist, dass er unrecht hat. Jemand, der seinen Mitmenschen mit Respekt und Achtung begegnet, obwohl er denkt, dass sie falschliegen – der erst ist wirklich tolerant. Es sind nicht Unentschiedenheit oder schwache Überzeugungen und Toleranz, die zusammengehören. Es sind der Glaube an die eine Wahrheit und die Toleranz, die zusammengehören. Wirklich tolerant sein kann nur jemand, der jeden Menschen als wertvoll ansieht und ihn respektiert. Und in diesem Sinne ist ein toleranter Mensch jemand, der große persönliche Reife und eine Zuneigung zu allen Menschen beweist. Jemand, der die eigene Religion als alleinige Wahrheit betrachtet, kann also ein sehr toleranter Mensch sein.
Dass es so wenige wirklich tolerante Menschen gibt, liegt nicht an der Religion, sondern eher an fehlender persönlicher Reife und mangelnder Einsicht darüber, dass jeder Mensch wertvoll ist und unsere Achtung verdient.
Die »evangelische Welt« kann für Außenstehende ziemlich unübersichtlich sein. Evangelisch für Dummies
Teil I
IN DIESEM TEIL …
… geht es hauptsächlich um die Geschichte der Reformation in Europa, um wichtige Personen der Reformation wie Martin Luther, Johannes Calvin und Huldrych Zwingli und darum, wie sich der Protestantismus in Europa ausgebreitet hat. Zunächst aber finden sich in diesem Teil ein paar Grundlagen der Kirchengeschichte und Informationen zum christlichen (römisch-katholischen) Glauben im Mittelalter. Der evangelische Glaube ist nicht geschichtslos und es hilft, wenn man das Leben und Denken der Menschen vor 500 Jahren ein wenig nachvollziehen kann. Außerdem finden Sie Begriffserklärungen zu den Themen Theologie und Kirche.
Kapitel 1
IN DIESEM KAPITEL
Im Schnelldurchgang von Jesus zu LutherPäpste und HeiligeGensfleisch – der unbekannte Mann des JahrtausendsBibel, Bücher und »das Wort«Von Freiheit und GewissenHier und da stolpert man darüber: Es gibt katholische und evangelische Feiertage, evangelische und katholische Kinder der gleichen Schulklasse haben getrennten Religionsunterricht und der 31. Oktober ist als »Reformationstag« in ostdeutschen Bundesländern Feiertag, während der Rest der Deutschen arbeitet. Evangelische Gläubige in Süddeutschland und Österreich haben meist keinen Schimmer, warum sie an »Mariä Himmelfahrt« (15. August) daheimbleiben dürfen. Weihnachten und Ostern aber feiern katholische und evangelische Christen wenn nicht gemeinsam, dann wenigstens doch zum gleichen Zeitpunkt. Was aber hat es mit diesen Trennungen und Gemeinsamkeiten auf sich?
Während die katholische Kirche ihre Entstehung und Entwicklung durch 2.000 Jahre bis in die Zeit der ersten Christen zurückverfolgen kann, tauchen die »Evangelischen« mehr oder weniger plötzlich nach 1517 auf. Einige Jahrzehnte später nennt man sie auch »Protestanten« – und da kommen wir der Geschichte schon auf die Spur: Jemand hat protestiert. Dieser jemand war zunächst einmal ein Mann namens Martin Luther und es sollten viele weitere folgen, die sich wie er in der Kirche des Papstes Veränderungen wünschten. Aber wie sah die römisch-katholische Kirche zur Zeit von Martin Luther aus?
Da in diesem Buch noch sehr viel von der Kirche und den Kirchen die Rede sein wird, soll auch dieser Begriff kurz erklärt werden.
Der Begriff Kirche (manche Christen gebrauchen allerdings auch lieber das Wort »Gemeinde«) wird in verschiedenen Bedeutungen gebraucht:
Zunächst bezeichnet das Wort »Kirche« natürlich ein Kirchengebäude.Dann bezeichnet das Wort »Kirche« aber auch eine Organisation oder Institution, also etwa die »römisch-katholische Kirche«, die »Evangelische Kirche in Deutschland« oder auch die »Kirche des Nazareners« (eine Freikirche). Die Mitglieder dieser Institutionen treffen sich in ihren örtlichen Gemeinden beziehungsweise Kirchen.Dann kann das Wort »Kirche« auch im theologischen Sinne als die Bezeichnung für die unsichtbare, überörtliche und überzeitliche Gemeinschaft aller Christen gebraucht werden. In der Bibel wird diese Gemeinschaft auch »der Leib Christi« genannt.Mit dem Begriff »Gemeinde« kann man ebenfalls eine Kirche bezeichnen, so zum Beispiel »Freikirchliche Gemeinde«. Der Begriff wird allerdings auch gebraucht, um die einer Kirche zugehörigen Menschen anzusprechen, zum Beispiel so: »Die Gemeinde (das heißt alle Kirchenmitglieder) trifft sich nach dem Gottesdienst zum Mittagessen.«Welcher Begriff von Kirche gerade gemeint ist, kann man oft aus dem Zusammenhang erschließen, Verwirrung ist aber leider vorprogrammiert. Wenn die katholische Kirche davon spricht, dass es »kein Heil außerhalb der Kirche« gibt, dann neigt sie dazu, nur katholische Christen als echte Christen anzusehen – die Institution und der »Leib Christi« werden also als eines gesehen. Die meisten evangelischen Christen dagegen würden sagen, dass jemand, der an Christus glaubt, zur »unsichtbaren« Kirche, zum »Leib Christi« gehört, egal zu welcher örtlichen Kirche beziehungsweise Gemeinde er sich zugehörig fühlt.
Man darf nicht vergessen, dass Epochenbezeichnungen wie »Mittelalter« oder »Neuzeit« im Rückblick entstanden. Die Historiker sind sich noch nicht einmal richtig einig darüber, wann welche Epoche endet oder beginnt. Soll man zum Beispiel die Mitte des 6. Jahrhunderts nach Christi »Spätantike« oder doch lieber »frühes Mittelalter« nennen? Noch vor 150 Jahren ging man besonders in Deutschland davon aus, dass Martin Luther das »finstere Mittelalter« beendet hat. Heute ist man da vorsichtiger und vor allem weniger idealistisch. Als Martin Luther 1483 geboren wurde, war das von uns sogenannte Mittelalter wohl schon vorbei und hatte der »frühen Neuzeit« Platz gemacht.
Doch bevor wir uns intensiver der Welt von Martin Luther zuwenden, sehen wir uns im Eiltempo die ersten 1.400 Jahre des Christentums an.
Nach knapp 300 Jahren Untergrundarbeit und Verfolgung feierten die Christen im Jahr 313 nach Christus einen sensationellen Erfolg: Mit dem »Mailänder Toleranzedikt« legalisierte der römische Kaiser Konstantin (Kaiser von 306 bis 337) das Christentum. Es war nun nicht mehr verboten, Christ zu sein, und außerdem durfte man nun seinen Glauben öffentlich praktizieren.
Und der Siegeszug des Christentums setzte sich fort: Unter Kaiser Theodosius (Kaiser von 379 bis 395 nach Christus) wurde das Christentum im Jahr 380 Staatsreligion des Römischen Reiches. Theodosius war aber auch der letzte römische Kaiser über das gesamte Römische Reich. Es zerfiel in ein Weströmisches und ein Oströmisches Reich. In den nächsten Jahrhunderten folgte der Ansturm der Hunnen auf Europa, der die sogenannte Völkerwanderung auslöste. Die Germanen (also die »Deutschen«) zog es schon damals über die Alpen nach Süden. Unter dem Druck der Goten, dem Überfall der Vandalen auf Nordafrika und dem Einfall der Langobarden in Italien zerbrach das Weströmische Reich im Jahre 476.
Das Oströmische Reich mit seiner Hauptstadt Byzanz (oder Konstantinopel, heute Istanbul) konnte sich noch 1.000 weitere Jahre behaupten. Doch inzwischen war als neue Macht in Afrika und Europa der Islam entstanden. Die Kirchen Nordafrikas verschwanden ab dem 7. Jahrhundert. Konstantinopel wurde erst 1453 von den Osmanen (»Türken«) erobert und mit dem Fall Konstantinopels verschwand auch das Oströmische Reich. Die Grenze zwischen Islam und Christentum verlief von nun an auf dem Balkan.
Währenddessen hatten sich im westlichen Teil des ehemaligen Römischen Reiches die Franken unter König Chlodwig (466–511) behauptet. Mit all seinen Soldaten trat Chlodwig dann 496 zum Christentum über. Seine Dynastie, die Merowinger, wurde später von den Karolingern abgelöst. Im Jahr 800 wurde Karl der Große von Papst Leo III. zum römischen Kaiser gekrönt. Das begründete einen jahrhundertelangen Konflikt: Die Päpste waren der Meinung, dass sie Kaiser, die sie krönen, auch wieder absetzen könnten. Die Kaiser sahen das natürlich ganz und gar nicht so. Das ganze Mittelalter über bestand nun der Konflikt, dass die Kirche durch den Papst die weltlichen Herrscher regieren wollte, die weltlichen Herrscher dem Papst aber meist nur geistliche Macht zugestehen wollten. Für die Päpste hatte das weitreichende Folgen.
Die mittelalterlichen Päpste hatten enormen Einfluss auf die Politik und die Herrscher ihrer Zeit. Den Höhepunkt der weltlichen Macht erreichte die katholische Kirche unter Papst Innozenz III. (Papst von 1198 bis 1216). Innozenz nahm den Titel »Stellvertreter Christi« an und schrieb:
»Dafür stellte er (Christus) einen an die Spitze aller, den er zu seinem Stellvertreter bestimmte. Vor diesem haben alle die Knie zu beugen wie vor Christus selbst, ihm haben alle zu folgen, wie die Herde dem Hirten.«
Dieser extreme Führungsanspruch des Papstes wird 300 Jahre später die evangelische Bewegung unter Martin Luther mit dem Rücken zur Wand stellen und den Konflikt zwischen Luther und der römischen Kirche auf einen Level heben, auf dem nur noch Gewalt regieren konnte.
Ein Lesebuch für jeden Tag ist Albert Christian Sellners Immerwährender Päpstekalender (Frankfurt, 2006). Edel in päpstliches Rot gebunden, erzählt es über ein Jahr verteilt Geschichten von allen Päpsten bis zu Papst Benedikt XVI. (Papst von 2005 bis 2013). Ein Buch voller Anekdoten, Wunder, politischer Winkelzüge – und Mord und Totschlag.
Als Innozenz 1216 starb, hatte er das Papsttum zwar zu einer der mächtigsten Größen Europas gemacht. Aber zum einen hinterließ er seinen Nachfolgern mächtige Feinde und zum anderen hatten Innozenz’ Nachfolger auf dem Papststuhl weder seinen Machtwillen noch seine Stärke. Das Papsttum legte eine demütigende Talfahrt hin: Ab dem Jahre 1309, nicht einmal Hundert Jahre nach Innozenz III., mussten sich die Päpste weltlichen Herrschern beugen und residierten von nun an bis 1377 in Avignon (Frankreich). Und mit dem Papsttum ging es weiter bergab. Denn den Franzosen gefiel nicht, dass der Papst ab dem Jahre 1377 wieder von Rom aus herrschte. Nachdem 1378 Urban VI. in Rom zum Papst ernannt wurde, wählte man in Avignon Clemens VII. zum Gegenpapst. Nun mussten die zwei Lager der katholischen Kirche bis 1409 mit zwei Päpsten vorliebnehmen. Für die Kirche und die Gläubigen war das natürlich ein unhaltbarer Zustand, denn auf welchen Papst sollte man denn nun hören? Also versammelten sich 1409 einige Kardinäle, setzten beide Päpste ab und wählten einen eigenen Kandidaten. Doch o Wunder, die beiden amtierenden Päpste sahen es natürlich nicht ein, dass gerade sie abgesetzt werden sollten – und so fand die Kirche sich plötzlich mit drei regierenden Päpsten wieder …
Jetzt hatte dann auch der Kaiser des »Heiligen Römischen Reiches«, Sigismund (Kaiser von 1410 bis 1437), genug von diesen politischen Winkelzügen. Er berief eine Kirchenversammlung (ein sogenanntes Konzil) nach Konstanz ein. Alle Kardinäle, alle Bischöfe und dazu 18.000 weitere Geistliche mussten erscheinen. Man wählte Martin V. zum alleinigen Papst, forderte die drei anderen zum Rücktritt auf und nach einigen Wirren war endlich wieder Ruhe: Nun gab es wieder nur den einen Papst in Rom. Die Kirchentrennung (auch »das große Schisma« genannt) war vorbei. Aber seine alte Macht konnte das Papsttum nie mehr wiedererlangen. In den folgenden Jahrzehnten kam es zwar zu einer nie gesehenen Prachtentfaltung der Päpste in Rom. Aber Prunk, Protz und Gier machten sie auch angreifbar. Das sollte sich in dem Moment zeigen, als die Hand des Papstes immer tiefer in die Geldbeutel der Gläubigen langte und Luthers Ideen anfingen, die Menschen zu begeistern.
Apostolische Sukzession bedeutet, dass die heutigen katholischen Bischöfe und natürlich besonders der Papst sich als direkte Nachfolger der Apostel Jesu sehen. So versteht sich jeder Papst also in der direkten Nachfolge des Petrus, der dann in diesem Sinne auch als erster »Papst« verstanden wird. Dagegen führen die evangelischen Christen an, dass es für den Dienst des Petrus in Rom weder biblische noch frühe außerbiblische Zeugnisse gibt. Ebenso wenig kennt man in der frühen Zeit einen Nachfolger des Petrus.
Für uns heutige Menschen ist es nicht immer ganz einfach, sich auf das Denken der Menschen im Mittelalter einzustellen. Die meisten von uns wachen morgens auf und denken daran, was an diesem neuen Tag zu tun ist. Wir denken daran, was uns in der Schule oder bei der Arbeit erwartet, ob wir unsere Arbeit behalten werden und auch im nächsten Monat unsere Miete werden bezahlen können. Vielleicht machen wir Pläne für das, was wir dann am Abend oder am Wochenende mit unserer wohlverdienten und immer knappen Freizeit anfangen werden.
Der Mensch im Mittelalter wachte morgens auf und fragte sich, ob er denn in den Himmel kommt, wenn er stirbt. Er lebte vollständig in dem Bewusstsein, dass da ein Gott ist, der die Sünder bestraft, dass es aber auch die Möglichkeit der Sündenvergebung und Errettung gibt. Ewige Verdammnis und ewige Seligkeit, Himmel und Hölle waren für ihn ständig gegenwärtige Möglichkeiten.
Das Problem mit dem Tod war letztendlich, dass man sich nie ganz sicher sein konnte, ob man denn nun errettet oder verdammt war. Was, wenn man eine Todsünde beging und im nächsten Moment ohne Beichte und Vergebung starb? War man dann auf ewig »verloren«? Wie Sie im Laufe des Buches erfahren werden, brachte die evangelische Lehre den Menschen auch in dieser Hinsicht Befreiung.
Ein »guter Tod« war für die Menschen damals auch keinesfalls ein schneller, plötzlicher Tod. Das, was für viele Menschen heutzutage der schönste Tod wäre, war für die Menschen im Mittelalter etwas Furchtbares: Zu sterben, ohne sich vorbereiten zu können, ohne seinen Frieden mit den Mitmenschen und Gott schließen zu können – das war für sie ein schrecklicher Tod. Der schnelle Tod – das war im Mittelalter der schreckliche Tod.
Lesen konnten die meisten Menschen nicht, aber in den Kirchen sahen sie den gekreuzigten Christus und wussten, dass er da am Kreuz hängt, um die Menschen in den Himmel zu bringen. Und noch eines wussten die Menschen: Wenn sie Errettung und ewiges Leben finden können, dann nur in der Kirche. Was immer wir heute im Rückblick auch darüber denken mögen, sollten wir doch versuchen, die Ängste unserer Vorfahren zu verstehen und ernst zu nehmen. Natürlich haben die Menschen vor 500 Jahren ganz anders gedacht als wir heute, aber sie verdienen doch trotzdem unseren Respekt und unser Bemühen um Verständnis.
Auch wenn die ersten Kapitel von vergangenen Zeiten handeln, sollte man nicht vergessen, dass es auch heute immer noch viele Menschen gibt, die auf der Suche nach Gott, nach Vergebung und Erlösung sind. Vielleicht geschieht das heute oft ganz anders als im Mittelalter, aber die Suche nach Erlösung und ewigem Leben gab es damals wie heute.
Die römische Kirche versprach Hilfe in diesen Glaubensängsten. Folgende Einrichtungen der Kirche ebneten den Menschen den Weg in den Himmel:
der
Papst als Stellvertreter Christi auf Erden,
die
Heiligen, die genug gute Taten vollbracht hatten, um »normalen Gläubigen« etwas davon abzugeben,
das
Fegefeuer, das nur zeitlich begrenzte Leiden umfasste und von den noch lebenden Angehörigen verkürzt werden konnte, und
die
Messe, in der der einzelne Gläubige die Nähe Gottes und die Gemeinschaft mit Christus erfahren konnte.
Auch wenn die katholische Kirche im Apostel Petrus ihren ersten Papst sieht, war das Oberhaupt der Gemeinde von Rom in den ersten Jahrhunderten lediglich der Bischof von Rom. Erst nach und nach entwickelte sich die herausragende Stellung des »Bischofs von Rom« als Herr über die ganze Kirche. Wichtiger Architekt dieser Konzentration der Kirche auf Rom war Papst Gregor VII. (Papst von 1073 bis 1085). In den nächsten Jahrhunderten arbeiteten viele Päpste an dieser Einheit der Kirche unter Rom, sodass bis zum 13. Jahrhundert in Westeuropa ein Kulturraum entstanden war, in dem alle einflussreichen Menschen aus Kirche, Wissenschaft und Politik Latein sprachen. Aus welchem Winkel des katholischen Europas man auch kam, mit Latein konnte man sich verständigen. Immer mehr gelang es den Päpsten, das kirchliche Leben von Rom aus zentral zu steuern. Und nicht weniger erfolgreich wurde die Kirche darin, das Leben der einzelnen Gläubigen zu kontrollieren und zu beeinflussen:
Die christliche Sicht auf die
Sexualität geriet in eine totale Schieflage. Schon mit dem Auftreten der ersten Eremiten und Mönche stieg die Wertschätzung von Jungfräulichkeit und Ehelosigkeit. Im Gegensatz dazu wurde die Sexualität bis zu dem Punkt entwertet, an dem sie gerade noch zur Fortpflanzung in der Ehe halbwegs »sündlos« praktiziert werden konnte.
Mit der
Beichte, also damit, dass man dem
Priester seine Sünden erzählte, erlangte man durch die Vermittlung des Priesters die
Vergebung der Sünden und das Heil. So einfach – oder schwer? – war es für den einfachen Gläubigen, das ewige Leben zu haben. Wer eine »
Todsünde« beging und starb, ohne
beichten zu können, konnte nur in der Hölle landen. Wer aber seine Sünden bereute – auch die Todsünden! –, konnte sich durch den Zuspruch des Priesters der Vergebung gewiss sein.
Mit der »Erfindung« des
Fegefeuers fand die Kirche einen Weg, die Verbindung zwischen den Lebenden und ihren verstorbenen Liebsten aufrechtzuerhalten. Denn viele Sünder mussten erst einmal durch das Leiden im Fegefeuer »gereinigt« werden, bevor der Weg in den
Himmel frei war. Wie gut, dass die Hinterbliebenen es durch Gebete und (Geld-)Gaben in der Hand hatten, den Verstorbenen die Zeit im Fegefeuer zu verkürzen.
Der Glaube an eine Art »Zwischenaufenthalt« der Toten wurde notwendig durch die katholische Ansicht, dass niemand in den Himmel kommen kann, der unrein ist. Wenn aber jemand zwar in der Gnade Gottes, aber ohne volle Vergebung der Sünden starb, war er eben noch nicht ganz fit für den Himmel. Von einem Zwischenaufenthalt der Verstorbenen gab es zwar auch in der frühen Kirche schon vage Ideen, aber erst Papst Gregor I. (der Große, Papst von 590 bis 604) baute das konkret in die katholische Glaubenslehre mit ein.
Bis zur Zeit von Martin Luther im 15. Jahrhundert war das System des Fegefeuers so weit ausgeklügelt, dass den Hinterbliebenen genau gesagt werden konnte, welche Gabe oder welches Gebet den verstorbenen Angehörigen wie viele Jahre im Fegefeuer ersparte. Letztendlich entzündete sich am Fegefeuer und dem damit verbundenen Handel mit der Vergebung der Sünden (Ablasshandel) der Protest Martin Luthers.
Wie das Fegefeuer haben auch die »Heiligen« kirchengeschichtlich einen langen Weg hinter sich. Von der Verehrung der ersten christlichen Märtyrer als Vorbilder führte der Weg über die Verehrung ihrer Grabstätten als Gedenkorte bis hin zu der Ansicht, dass die Heiligen die Menschen begleiten und schützen können und vor Gott für die Menschen eintreten. Nach und nach entwickelte sich der Glaube, dass bestimmte Heilige für bestimmte Bereiche zuständig sind: So betet man zum Schutz gegen Feuer zum Heiligen Florian (der auch die Feuerwehrleute besonders schützt). Die Besenbinder beschützt die Heilige Anna und bei Heiserkeit hilft der Heilige Bernhardin von Siena.
Im Mittelalter wurden dann zusätzlich sogenannte Reliquien (lateinisch für Zurückgelassenes, Überbleibsel) verehrt – meist waren es Körperteile (Knochen, Haare, manchmal ein Schädel) oder Gegenstände aus dem Besitz von Heiligen. Diese Reliquien sollten eine besondere Verbindung und Nähe zum entsprechenden Heiligen schaffen.
Wesentlich für den christlichen Glauben des Mittelalters wurde aber dann die Verbindung der Heiligen mit dem Erlass von Sündenstrafen. Das betraf sowohl die noch lebenden Gläubigen als auch die Verstorbenen, die man im Fegefeuer vermutete. Knapp zusammengefasst entwickelte die Kirche folgende Lehre:
Grundsätzlich nahm man an, dass jedes Unrecht beziehungsweise jede
Sünde eine Wiedergutmachung erforderte, so wie vor einem weltlichen Gericht auch. Geistlich gesehen erwartet nun aber auch Gott von jedem Sünder irgendeine Handlung (zum Beispiel ein Gebet, eine gute Tat oder eine Spende), die beweist, dass er es mit seiner Reue ernst meint.
Diese erste Annahme verband man mit einer zweiten, die besagt, dass
Christus, die
Jungfrau Maria und die Heiligen so viele gute Taten vollbracht haben, dass dieser angesammelte »Schatz« an guten Taten für alle Gläubigen reicht. Der Papst als Stellvertreter Christi auf Erden ist nun dafür zuständig, diesen Schatz von Verdiensten an die bedürftigen Sünder zu verteilen. Der
Schatz von guten Werken dient also dazu, den Sündern – ob schon verstorben oder noch unter den Lebenden – die Zeit im Fegefeuer zu verkürzen. Diese »Umbuchung« von guten Werken vom Guthabenkonto der Heiligen auf das Minuskonto der
einfachen
Gläubigen konnte mit Gebeten, aber noch mehr mit Geld erworben werden und wurde »
Ablass« genannt.
Wen die oft krassen Geschichten der Heiligen interessieren, der kann sich von Albert Christian Sellners Immerwährender Heiligenkalender (Frankfurt/Main, 1993) durchs Jahr begleiten lassen. Er enthält außerdem einen interessanten Artikel darüber, wie die katholische Kirche eigentlich Menschen heiligspricht. Arnold Angenendt bearbeitet das Thema historisch in Heilige und Reliquien: Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart (München, 1997). Beide Bücher sind leider nur noch antiquarisch oder in der Bibliothek erhältlich.
Martin Luthers Kritik an der römischen Kirche wird sich später zunächst auf den Missbrauch dieses Ablasssystems beziehen. Ausführlicher werden Sie darüber in Kapitel 2 lesen.
In engem Zusammenhang mit der Verehrung der Heiligen stand auch die Verehrung der Mutter Jesu. Auch sie wurde um Schutz in schwierigen Zeiten gebeten und als Fürsprecherin bei Gott angesehen. Schon früh lehrte die Kirche, dass Maria mit unversehrtem Körper und ohne Todesqualen in den Himmel aufgefahren sei. Deshalb konnte es von Maria natürlich auch keine Reliquien geben. An den ihr geweihten Gebetsstätten und Kirchen findet man deshalb die Marienfiguren. Dass die katholische Kirche unter Papst Pius XII. (Papst von 1939 bis 1958) die Lehre von Marias leiblicher Aufnahme in den Himmel im Jahre 1950 zum Dogma erhob (also ein Glaubenssatz, den jeder Katholik glauben muss), wirkte auf die evangelischen Kirchen nicht gerade wie eine versöhnliche Geste. Für diesen Glaubenssatz machte der Papst zum bisher ersten und einzigen Mal vom erst 1870 erklärten Dogma der »Unfehlbarkeit des Papstes« Gebrauch –, das den Graben zwischen katholischen und evangelischen Christen ebenfalls schon erheblich verbreitert hatte.
Die heilige Messe ist der Mittelpunkt der Frömmigkeit eines katholischen Christen. Die katholische Kirche lehrt, dass der Priester in der Messe Wein und Brot in das Blut und den Leib Christi verwandelt. Dieses Geschehen nennt man die »Heilige Eucharistie«, was sich vom griechischen Wort eucharistein ableitet, was Danksagung bedeutet. Die Messe erinnert an das »letzte Abendmahl«, das Jesus vor seinem Tod mit seinen Jüngern feierte, bedeutet Katholiken aber mehr als nur Erinnerung an Jesu letztes Beisammensein mit seinen Schülern. Vielmehr versetzt sie Gläubige in die Zeit des Todes und der Auferstehung Christi zurück: Wieder wird mit Leib und Blut Christi das gleiche Opfer dargebracht – Gott, der Vater, opfert seinen Sohn Jesus Christus für die Menschheit. Und derselbe auferstandene Christus verbindet sich in verwandeltem Brot und Wein mit den Gläubigen.
Die extrem starke Bindung der Gläubigen an die katholische Kirche wurde (und wird) auch durch die Ausnahmestellung des Messgottesdienstes gefördert: So darf nur ein Priester die Messe durchführen, nur er kann den Wandel von Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi bewirken und nur er darf der Gemeinde das Abendmahl austeilen. Die Gläubigen sollten einmal in der Woche zur Messe gehen (wenn nicht, sündigen sie), außerdem dürfen sie in ihrem Glauben nicht von der Lehre der katholischen Kirche abweichen (wieder sündigen sie in diesem Falle) und dürfen eine Stunde vor dem Empfang der Heiligen Kommunion nichts zu sich genommen haben (Nüchternheitsgebot).
Das Abendmahl, seine theologische Bedeutung und die Durchführung waren und sind ständiger Streitpunkt nicht nur zwischen Katholiken und Protestanten, sondern auch bei den evangelischen Gläubigen untereinander. Begonnen hat dieser Streit schon mit Luther, Calvin und Zwingli. In Kapitel 17 gehe ich darauf ausführlicher ein.
Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts hatten sich die Lehren und die Praxis von Messe und Heiligenverehrung, vom »Schatz« der guten Werke der Heiligen und der Angst vor dem Fegefeuer zu einem System verbunden, das der Kirche die absolute Macht über Ängste, Wünsche und Hoffnungen der Menschen gab.
Es ist nicht ganz zutreffend zu sagen, dass Martin Luther mit seiner Kirchenkritik eine zerfallende und schwache römische Kirche angriff. Die Reformatoren vor, mit und nach Martin Luther erhoben ihre Stimme gegen ein perfekt laufendes System, das den Menschen Sicherheit gab und trotz aller Einschränkungen auch viele Möglichkeiten ließ, ihren Glauben zu leben.
Die Päpste entdeckten mehr und mehr aber auch einen anderen »Segen« dieses Systems: Es war eine wahre Gelddruckmaschine. Und das rief schon vor Martin Luther Kritiker auf den Plan.
Wer mehr über den katholischen Glauben erfahren möchte, ist mit dem Buch Katholizismus für Dummies (Weinheim, 2013) gut beraten. Das von zwei katholischen Priestern geschriebene Buch informiert über alles, »was Katholiken glauben« (müssen). Großformatig und monumental, aber gut lesbar ist Arnold Angenendts Geschichte der Religiosität im Mittelalter (Darmstadt, 1997). Wer sich wirklich dafür interessiert, wie unsere Vorfahren gelebt, gedacht und geglaubt haben, dem sei dieses knapp tausendseitige Buch empfohlen.
Die Sache ist die: Man kann zwar hoffen, dass Menschen nicht richtig nachdenken, aber es wird immer wieder Menschen geben, die nachdenken. So gab es während des ganzen Mittelalters immer wieder auch die Frage danach, ob nicht Jesus eigentlich materiell arm war. Hatte er irgendeinen Besitz? Was besaßen eigentlich die Apostel? Wenn man Jesus und seine Jünger als nicht gerade reich ansieht – war es dann richtig, dass der Papst und die Kirche Besitz haben und in Prunk und Verschwendung leben? Nicht erst seit Franz von Assisi (1181/82–1226) wurden solche Fragen gestellt.
Wieder einmal warf solche Fragen John Wyclif (1330–1384) in England auf. Als Doktor der Theologie in Oxford und Priester in mehreren kleinen Pfarrstellen kritisierte er den Reichtum der Kirche und forderte, dass sie in Armut leben solle. Außerdem bestritt er die politische Macht des Papstes und predigte gegen die Verehrung von Heiligen und Reliquien. Gegen Ende seines Lebens wurden Wyclifs Ansichten zwar von der Kirche verurteilt, er selbst aus Furcht vor einem Volksaufstand aber nicht belangt. Erst nach seinem Tod verurteilte das Konzil von Konstanz John Wyclif als Ketzer und befahl, seine Gebeine zu verbrennen. Das geschah dann allerdings erst 13 Jahre später, im Jahr 1428.
Der Name »Wyclif« erscheint in ganz verschiedenen Variationen: Wycliff, Wiklif, Wicliffe oder Wycliffe. Das liegt wohl daran, dass es damals noch keine einheitliche Rechtschreibung gab.
Unvergessen bleibt John Wyclif allerdings besonders durch seine Bibelübersetzung der lateinischen Bibel ins Englische. Da die Verfolgung seiner Anhänger in England eher halbherzig betrieben wurde, hielten sich die Gedanken Wyclifs vielerorts bis zur Reformation Martin Luthers über einhundert Jahre später. Besonders beeinflussten John Wyclifs Gedanken aber den böhmischen Geistlichen Jan Hus.
Nach John Wyclif benannt ist eine überkonfessionelle evangelikale Organisation namens Wycliffe Bible Translators (Wycliff Bibelübersetzer). In Andenken an die Übersetzungsarbeit von John Wyclif setzt sich die Organisation zum Ziel, die Bibel in alle Sprachen der Welt zu übersetzen: www.wycliff.de; für die Schweiz: www.wycliffe.ch.
Wesentlich dramatischer entwickelte sich die Kritik des böhmischen Geistlichen Jan Hus (um 1369 bis 1415). Er übernahm im Wesentlichen Wyclifs Kritikpunkte und passte sie an seine Umstände an. Mit großem Erfolg begann er ab 1402 in der Bethlehemskirche in Prag auf Tschechisch zu predigen. Doch bei Jan Hus ist die Kritik nicht nur gegen die Kirche und die Geistlichen gerichtet. Sein Eintreten für die tschechische Sprache und gegen die politische Macht der Kirche hatte auch nationale Bedeutung, da die Oberschicht des Königreichs Böhmen deutsch war. So verband sich mit Hus’ Aufbegehren gegen die Vormacht der römischen Kirche der Unmut der tschechischen Bevölkerungsmehrheit gegen deutschen Adel und kirchliche Bevormundung. Aus diesem Grund konnte sich Hus auch die Unterstützung des böhmischen Adels sichern.
Unter anderem lehrte Jan Hus,
nichts zu glauben, zu behaupten oder zu predigen, was nicht durch die
Bibel begründet war. Damit steht die Kirche
unter
der Heiligen Schrift, nicht darüber.
»Unter der Schrift stehen« ist eine dieser theologischen Wendungen, die sich bei evangelischen Christen oft findet. Sie bedeutet, dass man verpflichtet ist, sich nach der Bibel zu richten. Das gilt für die einzelnen Kirchen, die sich an der Bibel orientieren sollen. Aber auch den einzelnen Gläubigen kann man auffordern oder ermutigen, sein Leben »unter der Schrift« zu führen.
dass nicht das
Amt
, sondern sein
Verhalten
dem
Papst seine Autorität verleihen sollte. Nur wer nach Jesu Beispiel demütig, friedvoll und in Armut lebt, könne Papst werden.
dass die Geistlichen ein heiliges Leben führen sollten und Vorbilder für die Gläubigen sein müssten. Auch wendete er sich gegen
Reliquien und den Ablasshandel
– Gottes Gnade kann niemals käuflich sein.
Das alles konnte natürlich auch diesmal nicht geduldet werden, und Hus’ Gegner verklagten ihn beim Papst. Doch Hus war ein aufrechter Mann und ganz von der Richtigkeit seiner Sache überzeugt: Er forderte seine Gegner auf, ihn beim Konzil (eine Art von Versammlung der Kirchenoberen) in Konstanz am Bodensee zu treffen und die Sache dort mit ihm auszudiskutieren.
Das Konzil tagte in Konstanz von 1414 bis 1418 und sollte die Herrschaft von drei verschiedenen Päpsten beenden – siehe weiter oben.
Zwar bekam Hus einen Geleitbrief von König Sigismund (1368–1437), der ihm persönlichen Schutz zusicherte. Doch als Hus in Konstanz eintraf, erreichten seine Gegner, dass er angeklagt und verhaftet wurde. Er wurde zwar mehrfach verhört, doch eine Auseinandersetzung mit seinen Anliegen fand nicht statt. Es war klar: Hus war schon in dem Moment ein toter Mann gewesen, als er Konstanz betrat. Als König Sigismund endlich Konstanz erreichte, stand er vor vollendeten Tatsachen: Er konnte Hus nicht mehr helfen, ohne das eigentliche Ziel des Konzils, die Einigung der Kirche unter einem Papst, zu gefährden. Er brach sein Wort und opferte Jan Hus, der am 6. Juli 1415 zusammen mit seinen Schriften verbrannt wurde. Doch durch Böhmen lief daraufhin ein Sturm der Empörung und in den nächsten zwanzig Jahren lieferten sich die Anhänger von Jan Hus erbitterte Kriege mit den böhmischen Herrschern, die sogenannten Hussitenkriege. Bis in Luthers Zeit fast hundert Jahre später brodelte es in Böhmen – und im Jahre 1618 brach dort auch der Dreißigjährige Krieg aus.
Unter evangelischen Christen ist bis heute Jan Hus unvergessen. Doch erst mit Martin Luther wurden die Proteste gegen Papst und Kirche dann zu dem Erdbeben, das die mittelalterliche Welt erschütterte und endgültig beendete. Was Jan Hus für die späteren Reformatoren und evangelische Christen bis heute zum Vorbild machte, ist die Verteidigung einer evangelischen Grundidee: der Freiheit des Gewissens.