Evas Rache - Thomas Ziebula - E-Book
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Evas Rache E-Book

Thomas Ziebula

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Beschreibung

Eine grausame Mordreihe und ein groß angelegtes Verbrechen vor der spektakulären Kulisse der Technischen Messe Leipzig – das fulminante Ende der Reihe um Kommissar Paul Stainer Leipzig, 1922. Es will keine Ruhe einkehren in der Wächterburg: Gleich drei Lustmorde in drei Monaten halten Paul Stainer und seine Kollegen in Atem. Stainer tritt auf der Stelle und fällt zunehmend zurück in seine Depression. Dass Junghans und Mona im Liebesglück schwelgen und beschließen, zu heiraten, macht es nicht besser. Erst als auf der Technischen Messe Leipzig Eva-Maria Dorn, die Frau eines erfolgreichen Ingenieurs und Unternehmers, überfallen wird, glaubt er, eine erste Spur zu haben, die ihn zu der «Bestie von Leipzig» führen kann. Stainers Nachforschungen bringen ihn auf die Fährte eines jungen Anarchisten mit dem Tarnnamen «Schlange», der gerade erst aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt ist. Zunächst scheint der Fall eindeutig, doch die möglichen Motive sind vielfältig. Schon bald wird klar: Das Verbrechen geht weit über die Lustmorde hinaus – und auch in Eva-Maria Dorn steckt mehr als das unschuldige Opfer ... 

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Seitenzahl: 422

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Thomas Ziebula

Evas Rache

Kriminalroman

 

 

 

Über dieses Buch

Inspektor Stainers letzter Fall

 

Leipzig, 1922. In den Straßen der Stadt geht ein Lustmörder um, der einem bestimmten Typ Frau auflauert. Die sogenannte «Bestie von Leipzig» mordet gnadenlos und hält Inspektor Stainer und seine Kollegen aus der Wächterburg auf Trab. Dabei herrscht in Leipzig ohnehin gerade der Ausnahmezustand: Die Technische Messe lockt Aussteller und Besucher in die Stadt – so auch den Ingenieur Armin Dorn und seine Frau. Als Eva-Maria Dorn spurlos verschwindet, steht für Stainer und Junghans fest, dass auch sie der «Bestie» zum Opfer gefallen sein muss. Doch das eigentliche Verbrechen fängt damit erst an.

Vita

Thomas Ziebula ist freier Autor und schreibt vor allem Fantasy- und historische Romane. 2001 erhielt er den Deutschen Phantastik-Preis, 2020 den Goldenen Homer. Seine erste Krimireihe um Inspektor Paul Stainer vereint auf beeindruckende Weise Thomas Ziebulas Leidenschaft für deutsche Zeitgeschichte, spannende Kriminalfälle und seine Liebe zu Leipzig, das bis heute seine Lieblingsstadt in Deutschland ist. Der erste Band der Reihe um Inspektor Stainer, «Der rote Judas», stand auf der Shortlist für den Crime Cologne 2020. Der Autor lebt in der Nähe von Karlsruhe.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Dr. Arno Hoven

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Susan Fox/Trevillion Images; mauritius/ullstein bild

ISBN 978-3-644-01094-9

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Berthold Börner –

in dankbarer Erinnerung an unwiederbringliche Stunden

Wer geboren werden will, muss eine Welt zerstören.

HERMANN HESSE

Prolog

Leipzig, Juni 1922

Am Ende des Tages verließen sie den Felsenkeller: ein junges Paar, laut lachend und verliebt bis über beide Ohren. Die Sonne war gerade untergegangen, die blaue Stunde tauchte die Stadt in mildes Licht, und noch leuchtete die Zukunft hell wie das verheißene Land.

Er küsste sie in den Nacken, während er ihr die Wagentür öffnete. Sie ließ die Ballhupe aufheulen, während er das alte Cabriolet ankurbelte. Als der Motor brummte, setzte er sich ans Steuer und sagte: «Ich freu mich.»

«Und ich erst.» Sie drückte ihm einen Kuss auf die Lippen.

Zusammen mit dem Wirt des Felsenkellers hatten sie den Festsaal besichtigt, den Tischschmuck besprochen, die Weine ausgesucht, das Hochzeitsmenü zusammengestellt. Nur noch sieben Wochen bis zu ihrem großen Tag.

Er fuhr an. «Bring ich dich gleich nach Hause, oder gönnen wir uns vorher noch einen Abstecher zur Ziegelei?»

Sein schelmisches Lächeln verriet ihr, was er wollte – dasselbe wie sie. Sie legte ihm die Hand auf den Schenkel. «Lange her, dass wir zuletzt dort waren.»

«Stimmt. Vorgestern.» Er bog in die Zschochersche Straße ein. «Viel zu lange her.»

«Ich habe es nicht eilig, nach Hause zu kommen.» Kichernd lehnte sie sich an ihn. «Gib schon Gas.»

Irgendwo hinter ihnen am Straßenrand sprang knatternd der Motor eines Kraftrades an.

 

Ein Mann, den der Bräutigam bald kennenlernen würde, die Braut jedoch niemals, saß zur selben Stunde vier Kilometer entfernt in Connewitz auf dem Balkon seiner Wohnung und wartete auf die Fledermäuse. Mit der Rechten streichelte er die Katze auf seinem Schoß, das Schnapsglas in seiner Linken war schon wieder leer.

«Du hast ja recht», sagte er, als die Katze schnurrend zu ihm heraufäugte. «Schon das erste Glas war eines zu viel. Und gegen die verdammten Bilder in meinem verdammten Schädel wird auch das siebte nicht helfen.» Trotzdem griff er nach der halb leeren Flasche auf dem Blumenständer und schenkte sich nach.

Fetzen des erlöschenden Tageslichts hingen wie bläuliche Schleier in der Laubkrone. Die Katze hörte auf zu schnurren, richtete die Ohren auf und lauerte zum Innenhof hin – die erste Fledermaus schwirrte zwischen Linde, Hauswand und Schuppendach durch das Dämmerlicht. Und gleich darauf die nächste.

«Auf dein Wohl.» Der Mann leerte das Schnapsglas zur Hälfte. «Und sei froh, dass du das Mädchen nicht gesehen hast, das wir neulich im Wald gefunden haben.» Er leerte das Glas vollständig. «Sei froh, dass du kein Polizist bist …» In der Wohnung läutete der Fernsprecher. Als er Anstalten machte, sich zu erheben, sprang die Katze von seinem Schoß auf die Brüstung und von dort auf den Lattensteg, der den Balkon mit dem Geäst der Linde verband.

 

Der Bräutigam steuerte das Cabriolet durch das abendliche Plagwitz und bog an der großen Kreuzung nach Schleußig ab. «Überhol doch endlich», sagte er wie zu sich selbst, meinte aber den Kraftradfahrer, den er seit einiger Zeit dicht hinter seinem Wagen im Rückspiegel beobachtete.

Rechts und links flammten die Gaslaternen auf, blieben jedoch schnell zurück, während die dunkle Wand näher rückte: der Wald, der die Straße verschluckte. Die alte Ziegelei lag auf einer nahen Rodung. Im Gehölz zwischen ihr und dem Elsterufer hatte das Paar im Frühling ein Plätzchen entdeckt, das mit dem Automobil erreichbar und dennoch vor Blicken geschützt war. Dort liebten sie sich, wann immer sein Vater den Wagen herausrückte.

Hinter ihnen brüllte der Motor des Kraftrades auf. Es glitt links vorbei, entfernte sich rasch, verschwand knatternd im Wald und dann hinter der nächsten Kurve.

«Der fährt ja, als sei der Deibel hinter ihm her.» Der Bräutigam schaltete die Scheinwerfer ein.

 

Hunderte Kilometer weiter südlich, im Zentrum einer anderen Großstadt, traf zur selben Zeit eine Frau, der das Paar nie begegnet war, eine Entscheidung, die ihr Leben auf den Kopf stellen sollte. Sie fiel ihr nicht leicht, denn sie verabscheute lange Reisen, doch nachdem die Würfel gefallen waren, rauschte sie in das Kaminzimmer, baute sich vor ihrem Gatten auf und erklärte: «Ich habe es mir überlegt, Armin – ich will mit nach Leipzig.»

«Aber Dornröschen!» Ihr Gatte konnte seinen Schrecken nicht vollständig verbergen. «Was hast du dir denn da wieder in den Kopf gesetzt? Ist doch völlig überflüssig, dass du die Strapazen einer solchen Reise auf dich …»

«Alle haben sie ihre Männer schon auf die Leipziger Messe begleitet – Erna, Martha, Charlotte, alle! Nur ich nicht. Dieses Jahr will ich mit!»

«Denk doch an deine Migräne!» Ihr Gatte stemmte sich aus dem Sessel.

«Ich will mit.»

«Schon die Anreise ist eine Tortur.» Er ergriff ihre Hände und schaute sie an, als fürchte er um ihr Leben. «Und dann der Messetrubel – du machst dir ja keine Vorstellung, Dornröschen!»

«Ich will endlich einmal die Leipziger Messe erleben!» Sie entzog ihm ihre Hände und stampfte mit dem Fuß auf. «Außerdem will ich dabei sein, wenn du deine Erfindung präsentierst. Und nenn mich nicht immer ‹Dornröschen›, wenn dir meine Wünsche nicht passen!»

 

In diesen Minuten bohrte sich der Scheinwerferkegel des Cabriolets schon in die Düsternis des Waldes. In seinem Licht tanzten Mückenschwärme über dem vom Frühsommertag warmen Kopfsteinpflaster, leuchtete im Buschwerk des Straßenrandes das Augenpaar eines Tieres auf, huschte ein Igel über die Fahrbahn. Der junge Fahrer hielt kurz den Atem an, weil er fürchtete, ihn erwischt zu haben.

«Morgen Abend gehe ich ein letztes Mal über den Entwurf meines Brautkleides.» Die junge Frau schlang die Arme um ihren Bräutigam. «Und übermorgen bring ich das Schnittmuster in die Stadt zum Schneider. Mutter will unbedingt mitgehen … leider.»

«Was liegt denn da auf der Straße?» Er schob sie von sich und nahm den Fuß vom Gas. «Verdammt noch mal!» Er bremste. «Das hat der Idiot jetzt von seiner Raserei.» Der Scheinwerferkegel hatte das umgestürzte Kraftrad aus der Dunkelheit zwischen den Waldrändern gerissen; der Fahrer lag daneben und rührte sich nicht.

«Auweia!» Die junge Frau schlug die Hände gegen die Wangen. «Der wird doch nicht tot sein?»

 

Ein Mann, den sie nach all den Jahren nicht wiedererkennen würden, sollten sie ihm im Vorkriegsleipzig jemals über den Weg gelaufen sein, kramte in genau diesem Augenblick seine Papiere aus der Manteltasche. Er trug zerschlissenes Feldgrau, Mantel und Uniform. Grenzposten hatten den Zug aus Sibirien an der ukrainisch-polnischen Grenze angehalten und kontrollierten nun jeden Einzelnen der spät entlassenen Kriegsgefangenen. Die Bolschewiki nämlich pflegten mit solchen Transporten Attentäter und Spione in den Westen zu schleusen.

Die Bewaffneten gaben dem hohlwangigen Heimkehrer die Papiere zurück und wandten sich seinen Sitznachbarn zu – Männern, noch ausgezehrter als er. Barsche Worte flogen hin und her, misstrauische Blicke, dann marschierten die Grenzposten in den nächsten Waggon. Schritte und Stimmen entfernten sich, irgendwann schlugen Waggontüren zu.

Bald hörte der hungrige Heimkehrer wieder die Lokomotive zischen und stampfen. Der Zug rollte an und setzte seine Fahrt in die Nacht fort. Der Heimkehrer aber drehte sich eine Zigarette, rauchte mit halb geschlossenen Augen und träumte weiter: von sächsischem Wildschweinbraten, von der Freiheit, von zu Hause, von einer Zukunft ohne Sorgen. Träumte und versuchte, seinen Hunger zu vergessen. Und seinen Auftrag.

 

Zu diesem Zeitpunkt beugte sich das Paar bereits über den reglos und verkrümmt auf der Straße liegenden Kradfahrer. Im grellen Licht der Scheinwerfer wirkte sein vollständig in schwarze Lederkluft gehüllter Körper groß und massig; eine schwarze, unter dem Kinn festgeschnallte Lederkappe bedeckte seinen breiten Kopf fast vollständig.

Der Bräutigam stutzte, weil der Verunglückte sich nur mit größter Mühe von der Seite auf den Rücken wälzen ließ. Und erschrak bis ins Mark, als er die offenen Augen hinter der gelblich getönten Schutzbrille sah.

*

So vieles geschieht zu ein und derselben Stunde: ein Kriminalinspektor in Connewitz versucht, ein totes Mädchen zu vergessen, und füllt sein Schnapsglas zum siebten Mal; eine Frau in München überredet ihren Mann unter Tränen und Drohungen, sie mit auf die Leipziger Messe zu nehmen; ein entlassener Kriegsgefangener mit einer Brust voller Hoffnung und Träume rollt in einem Nachtzug durch Polen; ein vermeintlich verunglückter Kradfahrer stößt einem jungen Mann eine Messerklinge in die Brust und schlägt eine junge Frau nieder; eine Katze springt mit einer zappelnden Fledermaus im Maul auf eine Balkonbrüstung.

 

Alles geschah zur selben Zeit, und keiner wusste vom anderen. Noch nicht.

IDornröschens Ende

1Fliegen

München, Ende Juni 1922

Lange her, dass sie zuletzt einen Absprung gewagt hatte, nun war es wieder so weit. Sie legte sich die neue Perlenkette um den Hals, steckte den Diamantenring an die rechte, den Platinring an die linke Hand und streifte das filigrane Weißgoldgeflecht ihres Lieblingsarmbandes über das Handgelenk. Alles ging wie von selbst, ohne Nachdenken, ohne Anstrengung, wie im Traum eben.

Noch ein Blick in den Spiegel: Die Frau darin trug nur Stöckelschuhe und ihren Schmuck. Sie erschien ihr wie eine Märchenfee mit ihrem langen blonden Haar, ihrer blütenweißen Haut, ihren ebenmäßigen Zügen, ihrer goldblonden Scham und ihren langen Beinen. Und das schönste: Keine noch so kleine Narbe war zwischen Brüsten und Halsansatz zu sehen! Als hätten die Perlenreihen jede Verunstaltung mit ihrem reinen Weiß überstrahlt.

Lächelnd wandte sie sich um, schlüpfte nackt, wie sie war, in ihren neuen Nerz. Wie weich und seidig er sich anfühlte! Sie stieg auf das steinerne Geländer der Dachterrasse. Langsam richtete sie sich auf – ohne Kniezittern, ohne Sorge um ihre Balance, schwindelfrei. So fasste sie ihr Ziel ins Auge: die blühenden Kastanien auf der anderen Seite der Leopoldstraße.

Sie breitete die Arme aus und sprang ab.

Und flog. Wunderbar! Anmutig wie eine Schwalbe glitt sie über den Vorgarten. Herrlich! Elegant wie ein Milan schwebte sie über Trottoir und Straße. Himmlisch! Diesmal würde sie die Kastanien erreichen, nicht die Spur eines Zweifels beunruhigte sie.

Die befreiende Gewissheit, einfach nur die Arme ausbreiten und durch den weit geöffneten Mund atmen zu müssen, um in diesem stabilen Gleitflug zu bleiben, beflügelte sie buchstäblich. So – jedoch nur so! – würde ihr der Flug hinüber zu den Kastanienwipfeln und zurück so leicht fallen wie Sprechen oder Schlucken. Und über den Baumkronen drüben – auch diese Gewissheit spürte sie im Traum –, über den Wipfeln der Kastanien dann würde sie durch den bloßen Willensakt Flugrichtung, Geschwindigkeit und Flughöhe kontrollieren können.

So ging das. So ging Fliegen – sie wusste es genau.

Von ihrer Dachterrasse aus startete sie selten; meistens, wenn sie im Traum zu fliegen versuchte, sprang sie von einem Felsvorsprung oder aus dem Turmfenster der Kirche ihres Allgäuer Heimatdorfes und bemühte sich dann, über den kleinen Bergsee oder die Viehweide zu gleiten. Nahezu jedes Mal packte die Angst sie bereits nach wenigen Wimpernschlägen. Und wenn sie sich dann vor lauter Angst an ihre Brust fasste, wenn sie dann also die Arme über ihrem jäh rasenden Herz verschränkte, begann auch schon der Absturz.

Diesmal nicht. Diesmal empfand sie keine Angst, jedenfalls nicht sofort. Diesmal schwebte sie leicht wie eine Feder weg von Terrasse, Hecke, Bürgersteig und Laternen zur Straßenmitte hin.

Dort aber, über den Passanten, Automobilen, Fuhrwerken und Radfahrern auf der Leopoldstraße, spürte sie, wie ihr die Stöckelschuhe von den Füßen zu rutschen drohten. Und dann der immer gleiche Fehler: Sie gab die zwingend nötige Flughaltung auf – diesmal, um nach ihren Füßen greifen und die teuren roten Schuhe festhalten zu können. Sofort geriet sie in Panik, denn nun glitt ihr auch das Armband vom Handgelenk herab zu den Fingerspitzen. Und die Perlen hingen auf einmal über ihren Ohren!

Im selben Moment verloren ihre Schuhe den Halt, rutschten endgültig von ihren Zehen ab und trudelten dem Straßenverkehr entgegen. Und sie stürzte hinterher.

Die teuren Stöckelschuhe schlugen auf dem Pflaster auf und zersprangen, als wären sie aus Porzellan, mit lautem Klirren. Noch bevor sie selbst in den roten Scherben aufschlug, fuhr sie aus dem Schlaf hoch.

Der Schrei, der sich ihr in Brust und Kehle staute, schaffte es nicht über ihre Lippen, denn ihr Hals war wie zugeschnürt. Es war dunkel, eine warme Hand verschloss ihr den Mund.

«Still, Dornröschen», flüsterte ihr Mann, «ganz still. Jemand ist unten im Arbeitszimmer. Hat die Vase vom Schreibtisch gestoßen.» Sie spürte seine Hand von ihren Lippen weichen, sie hörte, wie er behutsam seine Nachttischschublade aufzog. «Keine Angst. Du rufst die Gendarmerie an, und ich schnapp mir den Burschen.»

Sie rührte sich nicht, glaubte zu ersticken. Das Herz galoppierte ihr im Brustkorb herum, wie ein Pferd in Panik.

«Hast du verstanden?» Seine Nachttischlampe flammte auf. «Die Gendarmerie, schnell!» Es knirschte metallen, als er den Hahn seines Revolvers spannte.

«Geh nicht hinunter, Armin», flüsterte sie unter Tränen, «bitte gehe nicht.»

«Zum Fernsprecher, Maria, mach schon!» Er sagte ihr die Nummer, während er zur Schlafzimmertür huschte, wiederholte sie zweimal und verschwand dann lautlos im dunklen Flur. Sie hörte nicht einmal die Treppe knarren wie sonst, so leise schlich er ins Zwischengeschoss hinunter.

Endlich warf sie sich über seine warme Bettseite, zog den Fernsprecher von seinem Nachttisch, langte nach dem Hörer. Zum Glück hatte Armin nach dem Einbruch im vergangenen Sommer einen Wohnungsanschluss installieren lassen. Mit zitternden Fingern bewegte sie die Wählscheibe. Erst nach drei Versuchen schaffte sie es, die richtige Nummer zu wählen.

«Stehen bleiben!» Unten im Arbeitszimmer hörte sie ihren Mann brüllen. «Hände hoch! Die Mappe fallen lassen!»

«Polizeidienststelle Schwabing.» Eine gleichgültige Männerstimme nölte aus der Hörmuschel. «Was gibt’s denn?»

Im Arbeitszimmer krachte ein Schuss. Heißer Schrecken durchflammte sie, ihr Atem stockte. «Haben Sie das gehört?» Sie keuchte in die Sprechmuschel. «Ein Schuss! Ein Einbrecher!» Tränen erstickten ihre Stimme. Sie schluckte einige Male und fand ihre Sprache wieder. «Kommen Sie! Mein Mann ist unten! Kommen Sie schnell!»

Wieder fiel ein Schuss.

«Gemach, gemach, gnä’ Frau, eines nach dem anderen. Erst einmal verraten Sie mir Ihren werten Namen, ja? Und dann bräucht’ ich Ihre Adresse.»

«Dorn …» Sie stammelte Namen und Adresse in den Fernsprecher – hechelnd, heulend, keuchend. «Eva-Maria Dorn …» Ein Schrei hallte vor dem Schlafzimmerfenster durch das Morgengrauen, etwas schlug hart auf der Straße auf.

Blitzartig zuckten ihr die Traumbilder durch den Kopf: Sie sah sich selbst auf das von den roten Scherben ihrer Schuhe übersäte Pflaster stürzen. Atemlos verharrte sie, lauschte mit schreckensweiten Augen und offenem Mund. Die Männerstimme aus dem Fernsprecher wollte weitere Einzelheiten zum Einbruch erfahren; unten auf der Straße rief jemand nach einem Arzt.

Sie knallte den Hörer auf die Gabel, sprang aus dem Bett, stürzte ans Schlafzimmerfenster, blinzelte ins Halbdunkel hinunter: Zwei Stockwerke tiefer – halb auf der Vortreppe, halb in der Blumenrabatte liegend – zeichneten sich die Umrisse eines reglosen menschlichen Körpers ab.

«O Gott, Armin!» Sie stand wie festgefroren. Rechts und links in den Nachbarhäusern wurden Fensterläden aufgestoßen, in den Fassaden auf der anderen Seite der Leopoldstraße flammten Lichter auf. Schritte und Stimmen näherten sich. Irgendjemand rief nach der Polizei. Sie fuhr herum, rannte aus dem Schlafzimmer, sprang die Treppe hinunter. «Armin!» Sie stürzte in sein Arbeitszimmer. «Mein Armin!»

Er beugte sich aus dem offenen Fenster. Die Hand mit dem Revolver stützte er in den Fensterrahmen. «Ein Einbrecher!», rief er irgendjemandem unten an der Vortreppe zu. «Ist er tot?!» Es roch nach Pulver und heißem Eisen.

«Mein Gott, Armin!» Sie lief zu ihm, umarmte ihn von hinten, presste sich an seinen Rücken. «Bist du verletzt?» Er zitterte und atmete schwer.

«Alles gut, Dornröschen.» Er löste sich behutsam aus ihrer Umarmung, drehte sich um, strich ihr flüchtig übers Blondhaar. «Ich muss runter. Meinen Morgenmantel, schnell!»

Sie rannte zur Tür, wobei ihr Blick durch das Arbeitszimmer flog: Die gerahmte Weltkarte lehnte gegen die Vitrine; der Wandtresor, den die Karte normalerweise verbarg, stand weit offen; auf dem Teppich darunter ein Tohuwabohu aus Geldscheinen, Dokumenten, Goldmünzen und Schmuckschatullen; auf dem Parkett neben dem Schreibtisch eine Pfütze und darin die Scherben der Meissner Vase und die Rosen, die sie ihm am Freitag zum Geburtstag geschenkt hatte.

Das Bad lag im gleichen Stockwerk. Sie riss seinen Morgenmantel vom Bügel und stürzte wieder hinaus auf den Flur, da eilte er schon mit großen Sprüngen die Treppe zum Erdgeschoss hinunter. «Hier, Armin!» Sie warf ihm den Morgenmantel hinterher.

Ein, zwei Atemzüge lang stand sie am Treppenabsatz, hielt sich am Geländer fest, versuchte, die Kontrolle über ihre bebenden Glieder, ihren zuckenden Unterkiefer zurückzugewinnen, beobachtete ihren eben noch tot geglaubten Mann mit tränenden Augen: wie er die Eingangshalle durchquerte, wie er den Mantel überstreifte, wie er die Haustür entriegelte, wie er auf die Vortreppe hinaustrat.

War das die Wirklichkeit? War das nur ein böser Traum? Stimmen empfingen ihn und rissen sie aus der Erstarrung. «Haben Sie geschossen?», fragte eine, und Armin rief: «Her mit der Mappe! Sie gehört mir.» Das war kein Traum, das war die Wirklichkeit – die Stimmen bewiesen es.

Langsam und mit schweren Beinen stieg sie wieder die Treppe hinauf. «Ruhig», flüsterte sie, «ganz ruhig. Armin ist nichts passiert. Er lebt.» Zurück im Schlafzimmer streifte sie sich ein Kleid über, schlüpfte in ihren Leopardenpelzmantel, knöpfte ihn vor dem Spiegel zu, vergaß auch den Kragenknopf nicht.

Die Haustür stand noch offen, als sie Minuten später in die Eingangshalle hinunterstieg. Auf der Schwelle ein Gendarm und ihr Mann.

«Nur die Mappe hat er rauben wollen?», fragte der Gendarm ungläubig.

«Nur sie.» Mit gekreuzten Armen presste Armin die schwarze Mappe an seine Brust.

«Zeigen S’ mir das Fenster, aus dem er hat springen wollen.» Ohne um Erlaubnis zu bitten, marschierte der Gendarm über die Schwelle und dann die Treppe hinauf. Armin folgte ihm, und sie sah ihm an, wie weich seine Knie waren.

An den Rahmen der Haustür gepresst, lugte sie zur Vortreppe hinunter. Eine Frau und vier Männer umringten den reglosen Körper des Einbrechers, einer tastete nach seiner Halsschlagader – der Arzt aus der Nachbarvilla. Der Kopf des Abgestürzten lag seltsam verdreht auf der Stufenkante, eine dunkle Lache umkränzte ihn.

«Tot.» Der Arzt aus der Nachbarvilla richtete sich auf. «Kopfschuss oder Genickbruch. Oder beides.»

*

Später saßen sie am Esszimmertisch. Michael Bronner war gekommen, Armins Assistent, Doktorand und Chauffeur. Er hatte Kaffee gemacht, servierte Gebäck. Ein Beamter in Zivil vernahm Armin, ein Uniformierter stenografierte das Protokoll. Wenige Minuten zuvor hatte ein Leichenwagen der Gerichtsmedizin den Toten abtransportiert.

«Bei Ihnen ist schon einmal eingebrochen worden?» Der Blick des Kriminalbeamten flog zwischen ihr und Armin hin und her.

«Im letzten Sommer.» Ihr Mann nickte.

Mit sanfter Geste berührte Michael Bronner ihre Schulter und schob ihr einen Teller mit Gebäck neben die Kaffeetasse. «Iss etwas, Maria», sagte er leise und mit besorgter Stimme. «Damit du den Kaffee nicht auf nüchternen Magen trinkst.» Sie nahm einen Keks und biss hinein. Er schmeckte wie gepresster Staub.

«Geld, Gold und Schmuck lässt der Einbrecher also liegen und nimmt nur diese kleine Ledertasche da mit?» Der Kriminalbeamte deutete zur Mappe, die vor Armin auf dem Tisch lag und über der er seine Hände gefaltet hatte. «Können S’ sich das erklären, Herr Professor?»

«Selbstverständlich kann ich mir das erklären, Herr Kommissar.» Armin nickte langsam. «Der Inhalt dieser Mappe ist weitaus wertvoller als alles Geld und Gold im Tresor zusammen.» Die Polizisten musterten ihn halb misstrauisch, halb begriffsstutzig. «Ich bin Erfinder, müssen Sie wissen», fügte er hinzu.

Als die Beamten gegangen waren und auch vor der Villa wieder Ruhe einkehrte, saß er am Esstisch und starrte mit brennendem Blick in den Cognac, den sie ihm eingeschenkt hatte. «Wenn du im Labor so weit bist, mach den Wagen fertig, Micha», sagte er leise. «Wir müssen die Unterlagen aus dem Haus schaffen.»

«In Ordnung, Armin.» Mit einem Nicken schritt Bronner zum Eingang des Esszimmers. So katzenartig geschmeidig und unauffällig er sich bewegte, so massig war er zugleich: Nahezu den gesamten Türrahmen füllte er aus. Bevor er hinausging, drehte er sich noch einmal um. «In zwei Stunden steht der Mercedes vor der Garteneinfahrt.»

Maria rückte ihren Stuhl dicht neben den ihres Mannes und legte ihm den Arm um die Schulter. «Hast du eine Ahnung, wer dieser Einbrecher gewesen ist?»

«Nein.» Er öffnete die Silberschatulle, langte eine Zigarette heraus und steckte sie in seine Spitze. «Oder nur eine ganz vage.»

«Nämlich?»

Er winkte ab, schüttelte stumm den Kopf. Sie gab ihm Feuer und zündete sich selbst eine an. Während sie schweigend rauchten, hakte sie sich bei ihm unter und schmiegte sich an ihn.

«Wenn er eine Pistole gehabt hätte, wärst du jetzt tot, Armin.»

«Er hatte eine Pistole.»

«Was?!» Ruckartig richtete sie sich auf.

«Er hat danebengeschossen.»

«Meine Güte, Armin …» Sie warf die Zigarette in den Ascher, schlang die Arme um ihn, weinte und murmelte ein Dankgebet.

«Tja, Maria.» Er blies den Rauch gegen den Kronleuchter. «Um ein Haar wärst du heute Witwe geworden.»

«In der Mappe sind die Pläne deiner neuen Erfindung, stimmt’s?», fragte sie leise.

Er nickte. «Drei Jahre Arbeit stecken hier drin.» Mit der flachen Hand strich er über das Leder. «Unsere Zukunft, Dornröschen.»

2Mädchenlächeln

Leipzig, Ende Juni 1922

Ohne Vorwarnung riss der alte Börner das Lenkrad nach rechts. Und ohne zu bremsen – mit quietschenden Reifen –, schlitterte der Mannschaftswagen in die schmale Dorfrandstraße hinein. Stainer prallte gegen Börner, Junghans hielt sich an der Beifahrertür fest, die Kollegen im Fond fluchten.

«Mensch, Theo!» Junghans angelte seine geliebte Schildmütze aus dem Fußraum. «Du sitzt nicht allein in der Kiste!» Börner trat wieder aufs Gaspedal, wobei er ähnlich feierlich guckte wie ein Priester beim Verteilen der Hostien. «Mach langsam! Wir können sowieso nicht mehr zu spät kommen.»

Stainer rutschte wieder in die Mitte der Sitzbank, stemmte sich gegen das Armaturenbrett und blieb stumm. Ihm war schlecht. Und das lag zum kleinsten Teil an dem Parfüm, mit dem sich Junghans in letzter Zeit zu besprühen pflegte. Zu viel Schnaps gestern Abend – so viel, dass er sich nur dunkel an das Läuten des Fernsprechers und an die Stimme in der Leitung erinnern konnte. War es nicht eine Frauenstimme gewesen?

Börner beschleunigte noch mehr und jagte den Mannschaftswagen bald mit Höchstgeschwindigkeit die enge Straße hinunter. Stainer tastete nach einem Halt, während er auf den Tachometer schielte – die Nadel zitterte der siebzigentgegen. Plötzlich rollte keine fünfzig Meter vor ihnen ein Pulk Radfahrer aus einem Gartenweg, sodass Börner scharf bremsen musste. Stainer und Junghans stürzten nach vorn, und von den hinteren Sitzbänken tönten wieder Flüche durch den schaukelnden Wagen.

«Theodor, verdammt noch mal!» Junghans stieg die Zornesröte ins Gesicht. «Ich will nicht mit Krücken und Kopfverband vor den Traualtar treten!»

«Dann bete halt, dass mir nicht noch mehr blinde Hühner vor die Kühlerhaube flattern.»

«Rede keinen Schwachsinn, Theo!» An Stainer vorbei schnauzte Junghans den Fahrer an. «Noch so ein Manöver, und du bist ausgeladen!»

Der frischgebackene Kommissar neigte sonst nicht zu lauten Gefühlsausbrüchen, und Stainer musterte ihn erstaunt. Die Schmisse auf Stirn und Nase des jungen Kollegen und die große Narbe auf seiner linken Wange blieben wächsern, sodass sein gerötetes Gesicht seltsam gestreift aussah. Der näher rückende Hochzeitstermin schien ihn nervös zu machen. Nervöser als Börners Fahrstil womöglich?

Die jungen Leute auf den Rädern schauten sich nicht einmal um, radelten einfach seelenruhig vor dem Mannschaftswagen her, und zwar einer neben dem anderen. Der Sommerwind bauschte die bunten Kleider der Frauen auf und ließ die Halstücher der Männer flattern.

Frühaufsteher auf dem Weg zum Sonntagspicknick im Park, schätzte Stainer, oder in den Wald zu den ersten Pfifferlingen. Er beneidete sie.

«Warum sitzen die nicht zu Hause in der guten Stube und köpfen ihre Frühstückseier?» Junghans zu seiner Rechten kurbelte das Seitenfenster herunter. «Sehen die nicht, dass es bald Regen gibt?» Er langte aus dem Wagen zum Dach hinauf und begann, die Ballhupe zu quetschen. «Seid ihr schwerhörig?! Polizei!» Fluchend streckte er auch noch den Kopf aus dem Fenster und schrie die Radfahrer an: «Zur Seite, Herrschaften! Polizei!»

Der alte Börner hämmerte mit der Faust aufs Lenkrad und schimpfte wie eine futterneidische Krähe. Die Kollegen im Rückraum zeterten vor sich hin, und Nürnberger schlug allen Ernstes vor, den Sonntagsradlern auf die Hinterreifen zu rücken.

«Immer mit der Ruhe, Kollegen.» Obwohl ihm das Tröten der Ballhupe auf die Nerven ging, verzog Stainer keine Miene. «Die Leiche läuft uns schon nicht davon.»

Siegfried Junghans hatte ihn aus dem Bett geklingelt, keine Viertelstunde her. Stainer war noch nicht wirklich anwesend. Unter seiner Schädeldecke drückte ihm ein Helm aufs Hirn, scharfkantig und schwer. Wie halb betäubt hockte er zwischen seinem jungen Kommissar und dem schimpfenden Fahrer, blinzelte durch die Windschutzscheibe und hoffte, dass er nicht mehr nach Schnaps roch.

Anders als die Kollegen hatte er es überhaupt nicht eilig, in den Wald zu kommen. Paul Stainer wusste, was ihn dort erwartete. Pfifferlinge? Mitnichten. Laut Junghans hatte der Anrufer die Frauenleiche zwar nicht näher beschrieben, doch ihr Bild stand ihm dennoch deutlich vor Augen. Viel zu deutlich. Es war nicht das erste tote Mädchen in diesem Jahr.

Endlich wichen die Radfahrer an den Straßenrand aus. Die Frauen hielten ihre dem Wind ausgelieferten Kleidersäume auf den Knien fest, einem jungen Burschen fegte eine Böe die Mütze vom Scheitel und aufs Straßenpflaster. Über die Schulter hinweg schrie er eine Warnung in Richtung Mannschaftswagen.

Siggi Junghans unterließ es endlich, auf dem Gummiball am Signalhorn herumzudrücken, und Börner wollte schon wieder Gas geben, doch Stainer legte ihm die Hand auf die Schulter. «Halt an, Theo, sonst überrollst du noch seinen Sonntagshut.»

Der alte Wachtmeister brummte irgendetwas Unfreundliches in sein weißes Bartgestrüpp, gehorchte aber. Draußen stieg der junge Bursche vom Rad, sprang auf die Straße und langte seine Mütze vom Pflaster. Die Radfahrer bedankten sich winkend. Dabei lächelte eine der jungen Frauen derart entzückend, dass es Stainer durch und durch ging. Junghans und die Kollegen hinter ihm winkten lachend zurück; sogar Börners Miene hellte sich ein wenig auf, als er wieder anfuhr.

Stainer aber dachte an die Tote im Wald, während er der Lächelnden im Vorüberfahren zunickte. Der dritte Frauenmord innerhalb von drei Monaten. Und derselbe Mörder. Stainer wusste es nicht mit Bestimmtheit, doch aus irgendeinem Grund war er sich dessen vollkommen sicher.

«Hoffentlich sind wir am Tatort, bevor der Regen einsetzt.» Nürnbergers Stimme aus dem Rückraum des Mannschaftswagens. «Sonst können wir die meisten Spuren vergessen.» Über Stainers Schulter hinweg reichte er die Fotografie nach vorn, die Junghans den hinten sitzenden Kollegen gegeben hatte, da einige seine Braut noch nicht kannten. «Hübsches Mädchen.»

«Und klug dazu, wie man hört», ließ der Wachtmeister Schwalbe sich vernehmen. «Wusste gar nicht, dass in Leipzig auch Frauen studieren können.»

«Wo lebst du denn, Hermann?» Stainer nahm Nürnberger die Fotografie ab und warf einen Blick darauf, bevor er sie Junghans hinhielt: Eine blonde Frau stand neben Junghans’ lächelnder Braut Mona König und hatte den Arm um sie gelegt. Siedend heiß durchfuhr es ihn – es war die Frau, die gestern Abend angerufen hatte! Rosa Sonntag!

Mist, dachte er, hoffentlich habe ich ihr nicht allzu viel Blödsinn erzählt.

«Spuren können wir sowieso vergessen, falls die Opfer schon länger dort liegen.» Junghans nahm Stainer das Bild ab und steckte es ein. «Vorgestern hat es nämlich auch schon geregnet. Außerdem wissen wir noch nicht, ob der Fundort mit dem Tatort identisch ist.»

Börner feixte. «Ganz schöner Klugscheißer, unser Kleiner, seit er sich Kommissar nennen darf, was, Herr Kriminalinspektor?» Er riss das Steuer herum und raste ein Stück über den Bürgersteig, um einem Fahrzeug des Roten Kreuzes auszuweichen. «Der hat ja einen Affenzahn drauf! Spinnt der denn, der Saftarsch?!»

Alle lachten. Alle außer Stainer. Der rutschte auf der Sitzbank hin und her, griff schließlich unter sich und zerrte eine zusammengerollte Zeitung unter seinem Hintern hervor. Gehetzt und verkatert, wie er in den Mannschaftswagen gesprungen war, hatte er sie nicht bemerkt. Beiläufig registrierte er das Datum – Sonnabend,24. Juni 1922 –, da fesselte ein Wort in der Schlagzeile seinen Blick: erschossen.

Börner bog so scharf nach links in die Antonienstraße ein, dass Stainer gegen Junghans prallte, während er die Zeitung auseinanderrollte. Ungläubig las er die Schlagzeile: Die Mordorganisation der Reaktion funktioniert! Rathenau erschossen. Der Mörder im Auto entkommen.

«Sie haben den Außenminister erschossen?!» Stocknüchtern fühlte er sich plötzlich. «Diese Drecksäue!» Ein gewaltiger Zorn packte ihn. «Hört das denn niemals mehr auf?» Er warf den Kopf in den Nacken und fuhr sich durchs weiße Haar, sodass sein Hut hinten herunterfiel. «Diese gottverdammten Drecksäue!»

Erstaunte Blicke trafen ihn von allen Seiten, während er die Zeitung glatt strich und den Bericht überflog: Rathenau in Grunewald mit Handgranate und Maschinenpistole angegriffen … auf dem Weg ins Auswärtige Amt … Mord-Mercedes neben seinem Cabriolet … Mörder entkommen.

«Sag bloß, du hast davon noch nichts gehört!» Junghans runzelte die Stirn. «Dann bist du wohl der Einzige in dieser Stadt.»

«Das ist die Spätausgabe von gestern, Herr Kriminalinspektor.» Börner, nicht weniger erstaunt, überholte eine Droschke. «Seitdem spricht man in ganz Leipzig von nichts anderem mehr.» Er raste an einer gerade noch rechtzeitig zurück auf den Bürgersteig springenden Wandergruppe vorbei.

«Walther Rathenau wird nicht der Letzte gewesen sein, den das rechte Mörderpack über den Jordan schickt.» Nürnberger klang bitter. «Ist ja auch nicht der Erste gewesen.» Er reichte seinem Chef den heruntergefallenen Fedora nach vorn.

Geistesabwesend setzte sich Stainer den Hut auf, während er mit einer Zornesfalte zwischen den Brauen Zeile um Zeile verschlang. Seine Kaumuskeln bebten, ein galliger Geschmack kroch ihm auf die Zunge. Die Reifen quietschten, als Börner nach rechts in den Wald abbog. Stainer fiel gegen den Wachtmeister, ohne den Blick von der Zeitung abzuwenden.

Nürnberger hatte recht, leider – auch der Zeitungsbericht erinnerte an die zahllosen Morde und Attentatsversuche seit dem Kriegsende. Die sozialistischen Politiker Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht hatten am Beginn der langen Opferreihe gestanden. Wenig später war der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner auf dem Weg in den Landtag von einem nationalistischen Fanatiker erschossen worden, im vorigen Sommer hatte ein rechtes Mordkommando den ehemaligen Finanzminister Erzberger während eines Spaziergangs getötet.

Nicht wenige Leute in Deutschland sympathisierten offen mit den Mördern. Auch in Leipzig. Auch im Leipziger Polizeiamt, der sogenannten Wächterburg. Auch Stainers dortiger Intimfeind gehörte zu ihnen: Kommissar Rudolph Heinze, der diesen Monat in der Reichshauptstadt vorturnte.

Und besonders bitter, ja geradezu unerträglich für Stainer: Sogar in der eigenen Familie begrüßte man die Verbrechen. Nach politischen Morden an linken Politikern pflegte sein Vater eine Flasche Wein zu entkorken. Scham und Wut erfüllten Stainer jedes Mal, wenn er daran dachte.

«Vor drei Wochen hätte es fast auch den Scheidemann erwischt.» Junghans sprach vom ehemaligen Reichspräsidenten, der kurz nach Kriegsende die Weimarer Republik ausgerufen hatte. Anfang Juni hatte ein völkisches Mordkommando ihn mit Schwefelsäure angegriffen. «Der geht ohne Pistole nicht mehr aus dem Haus.»

«Jetzt also der Außenminister», flüsterte Stainer fassungslos. «Auf dem Weg zur Arbeit.»

«Lauter Leute, die sich für den Friedensvertrag und die Republik stark gemacht haben», sagte Nürnberger leise.

«Mehr als dreihundert seit Kriegsende.» Seufzend ließ Stainer das Blatt sinken. «Die meisten sind in keiner einzigen Zeitung erwähnt worden.»

«Kein Wunder, rennen sie uns in der Wächterburg die Tür ein!» Weit über das Lenkrad gebeugt, jagte Börner den Mannschaftswagen über die gepflasterte Straße. Das kastenartige Fahrzeug schaukelte bedenklich, der Waldrand links und rechts flog nur so vorüber. «Hinz und Kunz will auf einmal amtlich beschützt werden. Halb Leipzig hat die Hosen voll!»

Börner übertrieb mal wieder, doch nicht sehr. Meistens waren es Stadtparlamentarier der linken Parteien, die Personenschutz beantragten. Oder Zeugen, die im Reichsgericht gegen Kriegsverbrecher aussagten. Stainer hatte sich mit dem Polizeidirektor geeinigt, solchen Männern zu empfehlen, nicht mehr unbewaffnet aus dem Haus zu gehen. So machten sie es auch in Berlin.

«Wohin soll das noch führen?» Kopfschüttelnd rollte Stainer die Zeitung zusammen. «Wohin geht unser armes Deutschland?»

«Da! Das schwarze Cabriolet, das der Jäger beschrieben hat!» Mit einer Kopfbewegung deutete Siggi Junghans in Fahrtrichtung. «Da steht’s ja!» Er stieß Stainer den Ellenbogen in die Seite. «Wir sind da, Paul.»

Jemand muss ihm dieses Parfüm ausreden, dachte Stainer und hob den Blick. Das alte Cabriolet stand fast mitten auf der Straße, ein zweites, größeres Automobil parkte davor im Gras des Waldrandes. Drei Männer standen bei den Fahrzeugen – einer mit geschultertem Gewehr und angeleintem Hund.

«Wohin auch immer unser Deutsches Reich gehen wird …» Der alte Börner bremste. «Wir jedenfalls gehen jetzt erst mal in den Wald, Herr Kriminalinspektor.» Er zog die Handbremse an. «Auch keine schönen Aussichten, was?» Er nahm Stainer die Zeitung ab. «Hab den Sportteil noch nicht gelesen. Muss doch wissen, ob unser Kollege Heinze eine gute Figur macht in Berlin.»

Stainer verzog das Gesicht. «Verlassen Sie sich drauf, Börner.» Rudolph Heinze, seit Neuestem Kommissar in der politischen Abteilung, nahm als Turner an den Deutschen Kampfspielen in Berlin teil. «Nichts beherrscht Heinze perfekter, als eine gute Figur zu machen.» Hinter Junghans kletterte Stainer aus dem Mannschaftswagen, ging jedoch nicht weiter, sondern drehte sich zu Börner um. «Im Grunde ist das der Hauptberuf unseres verehrten Kollegen.»

«Manchmal haben Sie wirklich Haare auf den Zähnen, Herr Inspektor.»

«Tatsächlich?» Stainer rückte seinen Hut zurecht. «Sehen Sie zu, dass Sie eine Straßensperre hinkriegen, Börner, ich will hier keine Gaffer sehen.»

«Und niemanden, der uns Spuren vermasselt!», rief Joseph Nürnberger, der schon seinen Werkzeugkoffer aus dem Laderaum zog.

«‹Korrekt!›, wenn ich ausnahmsweise mal den Kollegen Heinze zitieren darf.» Tief sog Stainer die feuchte Waldluft ein. Seine Wut auf das rechte Mörderpack machte bleierner Bitterkeit Platz. Der Kopfschmerz meldete sich wieder, und übel war ihm auch. In diesem Zustand einen Tatort untersuchen und eine Leiche inspizieren? Das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Doch hatte er eine andere Wahl? Nein, hatte er nicht.

Die Hand noch an der Beifahrertür verharrte er ein paar Sekunden lang und atmete gegen die Übelkeit an. Dabei ließ er seinen Blick wandern: vom alten Cabriolet zu der großen Limousine davor, zurück zu den drei Männern zwischen den Automobilen und schließlich zu dem großen Jagdhund.

Die Männer schauten zu ihm her – einer stand steif wie ein Stock, einer rauchte mit hastiger Gebärde und der dritte, der Jäger, winkte müde. Sein Hund streckte Hals und Nase zur Straßenmitte hin und zerrte an der straffen Leine.

Stainers Blick wanderte weiter über das Straßenpflaster in die Richtung, in die das Tier witterte, und blieb an einem großen dunklen Fleck hängen. Er sah sofort, dass dort Blut auf dem Pflaster glänzte. Viel Blut.

3Frost

München, Ende Juni 1922

Der Einbruch sprach sich schnell herum in Schwabing. Alle Viertelstunde stand ein besorgter Nachbar, Bekannter oder Student vor der Haustür, dem Maria versichern musste, dass der «bedauernswerte Dr. Dorn» unverletzt geblieben war. Auch die Presse klingelte, und wohl ein Dutzend Anrufer wollte den «armen Herrn Professor» sprechen, darunter der Rektor der Universität.

So kam es, dass sie erst am frühen Nachmittag in den Fond ihrer Limousine steigen konnten, um sich von Michael Bronner nach Harlaching chauffieren zu lassen. Maria hatte sich für eine hellgraue halblange Seidenjacke mit Zobelfellsäumen und -kragen entschieden und passende Rubine an Fingern und Ohren angelegt. Im Stadtteil Harlaching wohnte Armins Vater, und in dessen Villa wollte ihr Mann die Mappe mit den Fotografien und Konstruktionsplänen seiner Erfindung deponieren.

Auf der Isarbrücke überholte Bronner eine mit Blumen und weißen Girlanden geschmückte Hochzeitskutsche. «Wie schön!», rief Maria. «Schau nur, Armin!» Vier schneeweiße Pferde zogen die Kutsche, der Kutscher trug rote Livree mit Dreispitz, weißen Handschuhen und weißen Strümpfen. Maria war entzückt; besonders die Pferde hatten es ihr angetan. Sie und Armin waren in ihrer blumengeschmückten Mercedes-Limousine zur Trauung gefahren. «Schau doch!»

Ohne den Blick zu heben, starrte ihr Mann die schwarze Mappe auf seinem Schoß an und brummte etwas, das nach sehrhübsch klang.

«Lipizzaner.» Bronner lächelte in den Rückspiegel. «Schöne Tiere, nicht wahr?»

«Wunderschön!» Sie fuhr herum und schaute zum Heckfenster hinaus, bis ein Omnibus die Kutsche überholte, davor einscherte und den Blick auf das weiße Gespann verdeckte. Als sie sich wieder umwandte, nahm sie aus dem Augenwinkel Armins bedrückte, grüblerische Miene wahr. Plötzlich kam sie sich kindisch vor – ihr armer Mann wäre um ein Haar von einem Einbrecher erschossen worden, und sie erfreute sich an weißen Pferden?

«Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist, Armin.» Seufzend schmiegte sie sich an ihn und fasste seine Hand. «Was hast du da eigentlich erfunden, dass nun schon zum zweiten Mal jemand bei uns einbricht? Etwa wieder ein neuartiges Flugzeug?»

«Ich habe noch nie ein Flugzeug erfunden», entgegnete er unwillig. Mit mürrischer Miene stierte er über den leeren Beifahrersitz hinweg zur Windschutzscheibe hinaus. «Ist nur ein neuartiger Rotor für einen Hubschrauber gewesen, was ich da letztes Jahr zum Patent angemeldet hab.»

«Im Reich hat ihn keiner kaufen wollen, weil der Friedensvertrag Deutschland verbietet, Flugzeuge zu bauen!», rief Bronner über die Schulter hinweg nach hinten.

«Rumgesprochen hat sich’s trotzdem, wie wir seit heute Morgen wissen.»

«Wen hast du in Verdacht, Armin?», fragte Bronner.

«Die Franzosen natürlich. Über Dunkelmänner haben sie ja letztes Jahr auch die Pläne für den Rotor gekauft.» Er schoss einen strengen Blick auf Maria ab. «Das muss unter uns bleiben, sonst bekomme ich Schwierigkeiten mit dem Kriegsministerium.»

«Der Einbrecher ist ein Franzose gewesen?», staunte Maria.

«Vielleicht glauben die Franzmänner ja, wir hätten nach dem neuartigen Rotor nun auch ein neuartiges Triebwerk erfunden.» Armin zuckte mit den Schultern. «Anders kann ich mir die Einbrüche nicht erklären.»

«Und was steckt nun wirklich in dieser Mappe, dass einer sein Leben dafür aufs Spiel setzt?» Armin sprach so gut wie nie darüber, was er mit seinem Doktoranden in Werkstatt und Kellerlabor ausbrütete. «Was hast du denn schon wieder erfunden?»

Er seufzte. «Hätten sie’s gewusst, würde der Mann noch leben, denn dann hätten sie ihn nicht zu mir geschickt.»

«Sag’s mir doch, Armin.»

«Ein neues Verfahren zur Lebensmittelkonservierung.»

«Ein neues Verfahren?» Im Rückspiegel verzog sich Bronners breites, jungenhaftes Gesicht zu einem spöttischen Lächeln. «Eine Revolution! Die Lebensmittelindustrie wird sich die Finger danach lecken. Und Zigmillionen locker machen, um unseren Apparat zu produzieren.»

«Schauen wir mal.» Mehr wollte Armin dazu nicht sagen; er schwieg einfach und blickte zum Seitenfenster hinaus. Schmollend entzog sie ihm ihre Hand und löste sich von seiner Schulter. Er schien es nicht einmal zu merken.

Hält er mich für dumm?, fragte sie sich nicht zum ersten Mal. Oder warum erklärt er mir nicht, was er erfunden hat? Glaubt er, das würde meinen Verstand überfordern? Natürlich glaubt er das!

Armin räusperte sich, strich sich durchs immer noch volle schwarze Haar und richtete den ernsten Blick seiner blauen Augen auf sie. «Hör mal, Dornröschen, ich habe schlechte Nachrichten für dich. Es ist nämlich so, dass ich nicht mit der Reichsbahn zur Messe nach Leipzig fahren kann – ich muss fliegen, und zwar schon Mitte August.»

«Bitte?!» Als hätte er sie zum Sprung in den winterlichen Walchensee aufgefordert, schaute sie ihn an.

«Ich weiß ja, dass du ungern in ein Flugzeug steigst.» Er nahm ihre Hand und tätschelte sie. «Doch die letzte Augustwoche ist mit wichtigen Terminen derart vollgestopft, dass mir gar nichts anderes übrig bleibt, als zu fliegen.»

«Ungern?!» Maria war wie vor den Kopf gestoßen. «Allein bei der Vorstellung kriege ich einen Erstickungsanfall!»

«Dann nimm halt die Reichsbahn und reise mir zu Messebeginn nach Leipzig hinterher.»

«Ich hasse es, allein mit der Eisenbahn zu fahren! Das weißt du genau!» Beiläufig registrierte sie Bronners aufmerksame Blicke aus dem Rückspiegel. «Noch dazu eine derart lange Strecke!»

«Tut mir leid, Dornröschen.» Er wandte sich ab und schaute zum Seitenfenster hinaus in die vorübergleitenden Isarauen. «Dann müssen wir deine erste Leipziger Messe wohl doch noch einmal aufs nächste Jahr verschieben.»

«Kommt gar nicht infrage!» Sie entriss ihm ihre Hand und verschränkte die Arme vor der Brust. «Ich will dabei sein, wenn du der Öffentlichkeit deine Erfindung präsentierst! Außerdem will ich endlich einmal ein Konzert im Gewandhaus erleben!»

«Sei doch vernünftig, Dornröschen, ich bitte dich!»

«Und nenn mich nicht immer Dornröschen, wenn du mir eine Kröte zum Schlucken geben willst!»

«Ich bin an Termine gebunden, verdammt noch mal!» Er runzelte seine dichten schwarzen Brauen und blitzte sie zornig an. «Universitäten und Geschäftspartner pflegen leider nicht nach den Wünschen meiner Gattin zu fragen!»

Ein Wort gab das andere, der Streit wurde lauter, und dazu ständig Bronners halb betretene, halb neugierige Blicke im Rückspiegel, die Maria irritierten. Irgendwann brach sie in Tränen aus. «Ich hab doch solche Angst vorm Fliegen!» Schluchzend lehnte sie sich wieder gegen die Schulter ihres Mannes. «Versteh doch bitte, mein Armin. Und so eine lange Strecke allein mit der Reichsbahn – das schaffe ich einfach nicht.»

Da hielt Bronner bereits vor der alten Familienvilla der Dorns.

«Ist ja gut, ist ja gut.» Fahrig strich Armin ihr über den Rücken. «Reden wir später darüber.» Er schob sie von sich, stieg aus und warf entnervt die Wagentür hinter sich zu.

Maria kramte ein Tuch aus ihrer Handtasche und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, während Bronner ihr bereits die Wagentür aufhielt. Mit verstohlener Geste vergewisserte sie sich, dass der oberste Knopf ihrer Bluse geschlossen war, und machte Anstalten, aus dem Fond des Wagens zu klettern.

Bronner, der ungefähr in ihrem Alter war, bot ihr den Arm an, und sie ergriff ihn dankbar. «Danke, Micha.» Als sie ausgestiegen war, ließ sie den Doktoranden los, strich ihren Rock glatt und blickte missmutig zur Vortreppe der Villa, wo ihr Mann schon an der Kordel der Türglocke riss. «Tut mir leid, dass du wieder einmal …» Sie brachte ein verlegenes Lächeln zustande. «Wir haben uns gehen lassen. Wirklich unverzeihlich. Und peinlich. Entschuldige.»

«Das muss dir nicht peinlich sein, Maria. Streit kommt in den besten Familien vor.» Bronner schloss die Wagentür und begleitete sie zur Treppe. «Mir tut es leid.» Er senkte die Stimme, flüsterte nun beinahe. «Für dich. Du hast es wirklich nicht leicht.»

Erstaunt musterte sie ihn, entgegnete aber nichts, denn oben an der Treppe öffnete sich bereits die schwere Eingangstür, und ein kichernder Mann mit langem weißem Haar trat aus dem Haus. «Mein Mäuschen!» Marias Schwiegervater begrüßte seinen Sohn mit Wangentätscheln und Küssen. «Tritt ein, bring Glück herein!»

Während sie die Stufen zu Vater und Sohn hinaufstieg, hallten Bronners Worte in ihr nach, und nicht zum ersten Mal berührte sie der verschworen freundschaftliche Ton merkwürdig, den Armins Assistent manchmal anschlug. Und dazu die manchmal ein wenig verträumt wirkenden Blicke, wenn er sie anschaute, und die zufälligen Berührungen am Tisch.

Der junge Mann war doch nicht etwa verliebt in sie? In die Frau seines Professors? Nein, Unsinn!

Der alte Dorn schob seinen Sohn über die Schwelle, bevor er sich vor Maria verbeugte. «Wie ergötzlich, auch Sie einmal wieder an der Schwelle meines Heimes willkommen heißen zu dürfen, gnädigste Viktoria.» Unter einem Schwall von Komplimenten küsste er ihr die Hand und zog sie in den schlauchartigen Windfang.

Wie üblich ließ sie das immer gleiche Begrüßungszeremoniell über sich ergehen. Der alte Dorn steckte in längst vergangenen Zeiten fest – zwischen Tagen des letzten Jahrhunderts, in denen Armin noch ein kleiner Junge und seine Mutter eine gefeierte Münchener Opernsängerin gewesen war, die nur alle zwei Wochen einmal bei ihm und den Kindern vorbeischaute. Maria hatte es längst aufgegeben, den verwirrten Mann zu korrigieren, wenn er sie mit deren Namenansprach.

«Neues von den Preußen?» Hinter Bronner schloss er ab. «Wie geht’s unserem Kaiser? Wie stehen die Angelegenheiten in Berlin? Rathenau ist erschossen worden, schon gehört, Mäuschen? Ein Jude weniger, na und?» Er drängte sich an ihnen vorbei, versperrte den Weg zu einem schweren roten Vorhang, betrachtete Armin mit zärtlichen Blicken. «Der verdammte Dollar drückt die Reichsmark in die Knie, ein Elend! Wie geht’s dir denn, Mäuschen? Wo steckst du bloß die ganze Zeit? Siehst fantastisch aus! Gibt’s denn endlich wieder Krieg?» Mit behutsamer Geste schob er den Vorhang zur Eingangshalle wenige Handbreit zur Seite. «Herein mit euch, flink. Und immer freundlich zu den gelben Kameraden. Und zu den weißen sowieso.»

Nacheinander schlüpften sie durch den Spalt im Vorhang und fanden sich dahinter in der Eingangshalle wieder. Und in dem muffigen Gestank abgestandener Luft, scheußlicher Vogelexkremente und staubigen Gefieders. Gepfeife, Gezwitscher und gelb-weißes Geflatter umgaben Maria von einem Augenblick auf den anderen – Kanarienvögel, wohin sie blickte.

«Meine Piepmätze sind bester Dinge, wie ihr merkt. Übrigens habe ich drei rote Pärchen, die brüten.» Stolz deutete der alte Dorn auf zwei Kanarienvögel, deren Gefieder tiefrot wie Marias Rubine schimmerten. «Gibt’s erst seit Kurzem, stammen von Kapuzinerzeisigen ab. Fantastisch, nicht wahr? Und die neuen Papageien gedeihen aufs Prächtigste!» Der Alte öffnete die Tür zum Salon und winkte sie mit hastiger Geste an sich vorbei. «Schnell, schnell! Damit nicht noch mehr in die Eingangshalle entwischen.»

Im Salon war das gelb-weiße Geflatter noch dichter als in der Eingangshalle, der Gestank intensiver. Maria versuchte, durch den Mund zu atmen.

«Ist es nicht köstlich, all das zwitschernde, pfeifende, schwirrende Leben in unserem Zuhause?» Der alte Dorn kicherte fröhlich. «Sag doch, Viktoria – ist es nicht zum Niederknien?» Übergangslos verzerrte sich seine Miene zu einer bösartigen Grimasse. «Antworte gefälligst!» Verächtlich musterte er die Edelsteine an ihren Fingern und Ohrläppchen. «Jahrelang lässt du dich nicht blicken, und jetzt stehst du einfach unangemeldet vor der Tür?» Maria stand wie erstarrt und wusste nichts zu antworten.

Die Verwirrung des ehemaligen Frauenarztes blieb niemandem verborgen, der mehr als einen Satz mit ihm sprach. Immerhin konnte er sich noch selbst versorgen. Seine beiden verwitweten Schwestern, die nun mit verlegenen Mienen zu ihnen traten, halfen ihm dabei. Und Armins debiler Halbbruder, der wie ein treuer Hund an seinem Vater hing.

«Nicht doch, Wilhelm!» Eine der Schwestern schob sich zwischen Maria und den Alten. «Das ist doch gar nicht Viktoria! Das ist Eva-Maria, Armins Frau. Wenn du Viktoria etwas zu sagen hast, musst du auf den Friedhof gehen.»

Er schob sie rüde zur Seite und erhob die Rechte zum Schlag. Erschrocken wich Maria vor ihrem Schwiegervater zurück. Bronner stellte sich sofort schützend vor sie. Über seine Schultern hinweg sah sie Armin samt Mappe zwischen zwei deckenhohen Volieren im Nebenraum verschwinden. Ich werde von diesem unberechenbaren Irren bedroht, und es kümmert meinen Mann kein bisschen!, dachte sie empört. In ihrem Kopf meldete sich die Migräne mit stechendem Schmerz.

«Armins Frau? Ha! Ich lach gleich!» Der Alte schoss gehässige Blicke auf Maria ab, während seine Schwester ihn festhielt und zur Tür hin drängte. «Wenn mein Mäuschen geheiratet hätte, wüsste ich’s doch! Ihr steckt doch alle unter einer Decke, alle! Ihr habt es doch alle nur auf meine Häuser und mein Gold abgesehen!» Er drohte Maria und Bronner mit der Faust. «Doch seht euch vor: Meine gelben und weißen Kameraden werden mich beschützen! Die roten sowieso, die werden euch die Augen aushacken …!» Die Schwester warf die Tür hinter sich zu, sodass des Alten Gezeter nur noch gedämpft zu hören und kaum noch zu verstehen war.

«Ist das nicht schrecklich?» Maria schloss die Augen und senkte den Kopf. Das Krachen der ins Schloss fallenden Tür hallte stechend in ihrem Schädel wider. «Ist das nicht ganz entsetzlich?»

«Du darfst das auf keinen Fall persönlich nehmen, Maria.» Tröstend streichelte Bronner ihre Schulter. «Das ist nur sinnloses Geplapper eines verwirrten Greises.»

«Sinnloses Geplapper?» Maria öffnete die Augen und sog scharf die Luft durch die Nase ein. «Er hat mich schon vor unserer Hochzeit gedemütigt – da war er noch bei klarem Verstand, hat sogar noch praktiziert. Schon damals hat er mich wie ein kleines dummes Mädchen behandelt.»

«Scheint auf Armin abgefärbt zu haben», entfuhr es Bronner, und als Maria ihn daraufhin fragend anschaute, wich er ihrem Blick aus und errötete. «Tut mir leid, Maria. War nicht so gemeint. Ich …»

«Doch, doch – sag nur, was du denkst.» Sie wehrte einen aufdringlichen Vogel mit der Hand ab und spähte zu der Tür, hinter der Armin seine Mappe versteckte. «Und du hast ja recht, Micha – was für eine Zeitverschwendung, dem dummen Mädchen eine technische Konstruktion erklären zu wollen!»

«Ich bitte dich, Maria, sag so etwas nie wieder!»

«Wenn es doch die Wahrheit ist? So denkt er doch über mich. Für ihn bin ich ein dummes kleines Mädchen, und das wird immer so bleiben.»

«Du übertreibst, glaub mir.» Bronner räusperte sich. «Du weißt wirklich nicht, an was wir in den letzten Jahren gearbeitet haben, Maria?» Sie schüttelte den Kopf und kramte Zigarettenspitze und Zigarettenetui aus der Handtasche.

«Das wundert mich sehr. Ohne das viele Geld, das dein Vater dir vererbt hat, hätte er mit seinen Forschungsarbeiten niemals beginnen können. Und er berichtet dir nichts darüber? Das kann ich kaum glauben.»

«Es ist aber so.»

«Ungeheuerlich! Dabei wird seine Erfindung die Lebensmittelindustrie revolutionieren.» Sie blickte ihn skeptisch an. «Das meine ich wirklich ernst.» Er gab ihr Feuer.

Tief sog sie den Rauch ein. «Erzähl.»

«Wir haben ein Verfahren entwickelt, mit dem man Lebensmittel frosten kann, sodass man sie monatelang aufbewahren kann. Jahrelang!»

«Frosten?»

«Gefrieren.» Bronner nickte eifrig. «Armin ist durch den Reisebericht eines amerikanischen Kollegen darauf gekommen. Der beschreibt darin, wie die Eskimos Fische in eisiger Luft hängen lassen, bis sie gefroren sind. Wenn sie Tage oder Monate später Fleisch brauchen, tauen sie es einfach am Feuer auf.»

«Wirklich?» Maria staunte ihn an. «Aber derart strengen Frost gibt es doch in unseren Breitengraden höchstens mal an besonders kalten Wintertagen!»

«Es sei denn, man stellt den Frost maschinell her, und genau das ist uns gelungen. Um es vereinfacht zu erklären …» Michael Bronner unterbrach sich, denn die Tür zwischen den Volieren öffnete sich, und Armin kam herein.