Die rote Löwin - Thomas Ziebula - E-Book
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Die rote Löwin E-Book

Thomas Ziebula

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Beschreibung

Anno 1207. Nach dem Tod ihrer Eltern sind Runja und ihr Bruder auf sich allein gestellt. In Magdeburg geraten sie in die Fänge des machthungrigen Domdekans Laurenz. Der sieht in Runja die einmalige Gelegenheit, seinen Rivalen Pirmin auszuschalten. Denn Runja hat verblüffende Ähnlichkeit mit dessen toter Frau. Während er ihren Bruder als Geisel hält, zwingt Laurenz Runja in den Orden der Vollstrecker, wo sie zur Mörderin ausgebildet wird. Doch das Schicksal will es, dass sie sich in Pirmin verliebt. Nun muss sie sich zwischen dem Leben ihres Bruders und dem ihres Geliebten entscheiden.

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Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

KARTE

DRAMATIS PERSONAE

ZEITTAFEL

Zitat

ERSTES BUCH Der Schwarze Abt

1 SCHWUR

2 HABICHTSAUGEN

3 VERRAT

4 ABSTURZ

5 TODESANGST

6 STATUE

7 ANGELUS

8 SCHWARZER ABT

9 JEREMIAS

10 ROTER LÖWE

ZWEITES BUCH Der Orden der Vollstrecker

1 ERBARMEN

2 GOTTESURTEIL

3 DIE KUNST DES TÖTENS

4 NACKT

5 LIEBE UND TOD

6 BRIEFE

7 ROTE LÖWIN

8 FALLE

9 IM HIMMEL

10 HÖLLE UND HIMMEL

DRITTES BUCH Die feuerrote Löwin

1 BISCHOF VON HAVELBERG

2 MÖRDERMAL

3 WARTEN

4 ERLÖSUNG

5 DUELL

6 NACHRICHTEN

7 ENGEL

8 VORBEI

9 ERZBISCHOF

10 FEUER

NACHWORT UND DANK

GLOSSAR

Über den Autor

Thomas Ziebula war bis Mitte der 90er Jahre Diakon und Sozialpädagoge und schrieb vorwiegend Satiren, Kurzgeschichten und Kinderbücher. Seither ist er freier Autor und verfasst Fantasy-, Spannungs- und Science-Fiction-Geschichten, die als Hardcover, Taschenbücher und Romanhefte erscheinen. 2001 erhielt er den Deutschen Phantastik Preis. Weitere Informationen finden Sie auch auf www.thomas-ziebula.de

Thomas Ziebula

Die rote Löwin

Historischer Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln.

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Judith MandtIllustration Karte: Markus Weber, Agentur Guter Punkt, MünchenTitelillustration: © Arcangel/Katja Kemnitz; © FinePic®, MünchenUmschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-3070-0

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

KARTE

DRAMATIS PERSONAE

Es folgt eine Aufstellung der wichtigsten Figuren, wobei die historischen Personen mit einem * gekennzeichnet sind.

Rubina »Runja«, Tochter eines Schweriner Ritters und Hofmarschalls

Waldemar Runjas Bruder

Unger von Seeburg Runjas Vater, Hofmarschall des Grafen von Schwerin (Zvarin)

Wulf Ungers Waffenträger

Alwin von Tressow alter Kampfgefährte Ungers

Angelus Waldemars Elster

Pirmin von Paris Kanoniker, Gelehrter und Lehrer an der Domschule zu Magdeburg

Johannes Pirmins Gärtner

Alma Pirmins Magd

Jusuf Pirmins Koch

Laurenz von Magdeburg Domdekan zu Magdeburg

Sebastian von Meißen Laurenz’ Diener und Sekretär

Dagomar von Bamberg Mönch, der »Schwarze Abt«

Kuno von Rosenheim Ritter und Dagomars Schüler

Claudio von Venedig Gewandschneider und Dagomars Schüler

Norbert von Fulda Abt eines Benediktinerklosters

Kasimir wendischer Heerführer

Slawomir wendischer Hauptmann

Pribislaw Slawomirs Sohn

Drazko wendischer Rottenführer

Selibur wendischer Dolmetscher

Jaromar von Rügen* wendischer Fürst

Jeremias von Köln fahrender Ritter, Sänger und Gaukler

Mutter Hildegard Vorsteherin eines Damenstifts

Philipp von Schwaben* römisch-deutscher König, jüngster Sohn des Kaisers Friedrich Barbarossa

Bernhard von Sachsen* Herzog von Sachsen

Gunzelin von Schwerin* Bernhards Vasall und Graf im feindlichen Heidengebiet

Helmold Gunzelins Neffe

Walter Helmolds Bruder

Ludolf von Kroppenstedt* Erzbischof von Magdeburg

Albrecht von Käfernburg* sein Nachfolger

ZEITTAFEL

805 n. Chr.

unter Kaiser Karl dem Großen wird Magdeburg, ein fränkisches Kastell an der Elbe, zum zentralen Handelsplatz mit den Wenden

937

König Otto der Große gründet in Magdeburg das Benediktinerkloster St. Mauritius (St. Moritz)

955

Otto beginnt seiner verstorbenen Frau eine Grabstätte zu bauen: den ersten Dom von Magdeburg

961

Otto holt Reliquien des Heiligen Mauritius (Moritz) nach Magdeburg; Mauritius ist der Schutzpatron des Doms

962

Papst Johannes XII krönt Otto den Großen zum Kaiser – das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation« ist geboren

967

auf Betreiben Ottos erklärt der Papst Magdeburg zum Erzbistum

1147

Herzog Heinrich der Löwe und Erzbischof Friedrich brechen von Magdeburg aus zu einem Kreuzzug gegen die Wenden auf

1158

Kaiser Friedrich Barbarossa feiert das Weihnachtsfest in Magdeburg

1175

wegen tödlicher Unfälle verbietet Erzbischof Wichmann Turniere im Bistum Magdeburg

1187

Rubina – »Runja« – wird geboren, die Tochter des Ritters Unger von Seeburg und seiner bulgarischen Frau

1189​–​92

dritter Kreuzzug unter Kaiser Friedrich Barbarossa

1190

Geburt Waldemars, des Sohnes Ungers von Seeburg

1190

in Kleinasien ertrinkt Kaiser Friedrich im Fluss Saleph

um 1190

der Kompass wird im Abendland bekannt

1192

Ludolf von Kroppenstedt folgt Wichmann von Seeburg als Erzbischof nach

1198

der 37jährige Gelehrte Lothar von Segni besteigt als Innozenz III den Stuhl Petri

März 1198

der Staufer Philipp von Schwaben, Sohn Friedrich Barbarossas, wird von der Mehrheit der dtsch. Fürsten zum König gewählt

Juni 1198

der Erzischof von Köln und einige norddeutsche Fürsten wählen den Welfen Otto zum Gegenkönig; der Papst unterstützt ihn gegen Philipp

1200

König Philipp hält Hof in Magdeburg und feiert das Weihnachtsfest in der Stadt; prominentester Gast: der Dichter und Sänger Walther von der Vogelweide

1205

wendische Krieger ermorden Rubinas und Waldemars Familie

1205

Graf Albrecht von Käfernburg wird Erzbischof von Magdeburg

1207

am Karfreitag verwüstet ein Stadtbrand Magdeburg und zerstört den ersten Dom

Die Liebe ist geduldig und voller Güte. Sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles. Die Liebe hört niemals auf.minne ist gedultec und volleclîche güetec. si geloubet allez si hofft allez si dult allez. minne niemer endet.Caritas patiens est, benigna est. Omnia credit, omnia sperat, omnia sustinet. Caritas numquam excidit.

PAULUS VON TARSUS im ersten Brief an die Korinther, Kapitel 13

ERSTES BUCH Der Schwarze Abt

1 SCHWUR

Eben noch tönte der morgendliche Wald vom Gesang der Vögel, jetzt herrschte Ruhe. Eine schlagartige, eine böse Ruhe. Als würde der Wald den Atem anhalten. Eben noch kreisten Rubinas zornige Gedanken um den Sohn des Grafen, jetzt stand sie still, hielt ihren schwatzenden Bruder am Arm fest und lauschte.

Waldemar schwatzte einfach weiter – von einer jungen Elster, mit der er sich befreundet und die er schon beinahe gezähmt haben wollte. Rubina – oder »Runja«, wie sie zumeist genannt wurde – aber spähte nach allen Seiten, lauerte aus schmalen Augen ins Unterholz, zwischen die Stämme, zu den Baumkronen hinauf. Es war ihr, als wäre ein großer Schrecken auf den Wald gefallen.

Die Dunstschwaden über Farnfeldern und und jungem Eichengehölz hatten nichts Friedliches mehr, erinnerten eher an ein Leichentuch; die gerade noch so lieblich flirrenden Lichtbalken der Morgensonne schienen nun wie Speere durchs Frühlingslaub der Bäume zu stechen.

Und dann, von einem Augenblick auf den anderen, wieder Lärm. Warum schrien Eichelhäher gleich von drei Seiten? Warum flatterte es auf einmal in jeder Krone? Und näherten sich da nicht Rascheln und Knacken wie von vielen Schritten?

Irgendetwas geschah.

Der erste Vollmond nach dem Pfingstfest des Jahres 1205 war vor wenigen Stunden gesunken. Am letzten Ostersonntag, noch keine zwei Monate her, hatte Runja – rothaarig, weißhäutig, grünäugig und von sehniger, anmutiger Gestalt – ihr achtzehntes Wiegenfest gefeiert.

Sieben Jahre war es her, dass der Gelehrte Lothar von Segni als Innozenz der Dritte den Stuhl des Heiligen Petrus bestiegen hatte, und fünfzehn Jahre, dass Kaiser Friedrich Rotbart im Morgenland im Flusse Saleph ertrunken war. Runjas Vater hatte es damals mit ansehen müssen.

Im Reich stritten König Otto, der Sohn Heinrich des Löwen, und König Rudolph, der Sohn des Rotbarts, um die Kaiserkrone. Am Oberlauf der Elbe herrschte Bernhard von Sachsen als Herzog, und sein Vasall, der Graf Gunzelin, hatte sich am Tag zuvor von Runjas Vater verabschiedet und war mit einem kleinen Heer auf die andere Seite des Sees geritten; dort wollte er die wilden Wenden für einen Überfall auf seine Gehöfte an der Warnow bestrafen. Zu Runjas Leidwesen musste sein ältester Sohn Heinrich zuhause in der Seeburg bleiben.

Und hier im Wald, eine halbe Wegstunde entfernt von der heimatlichen Burg und ihren Höfen und Feldern, brachen gerade die wichtigsten Stunden in Runjas bisherigem Leben an.

»Angelus hat mir aus der Hand gefressen«, behauptete Waldemar. »Ich schwör’s dir, Runja. Der Vater hat mir von einer gezähmten Elster erzählt, die sprechen konnte. Weißt du, was ich Angelus beibringen werde?« Die blauen Augen des Vierzehnjährigen leuchteten. »Ich werde ihn lehren zu sagen: ›Ich bin Angelus, die Elster Waldemars, des Sohnes Ungers von Zvarin, des Burgmarschalls des Grafen Gunzelin von Zvarin.‹ Ja, das werde ich ihm beibringen, ich schwör’s dir.« Weil Runja nicht einmal spottete, musterte er sie mit gerunzelter Stirn. »Warum gehen wir eigentlich nicht weiter?«

»Die Vögel. Sie singen nicht mehr.« Runja glaubte Waldemar kein Wort. Bei Waldemar wusste man nie genau, ob er die Wahrheit sagte oder prahlte. »Hast du nicht die Häher schreien gehört? Und hörst du nicht, wie es auf einmal raschelt und knackt überall?« Sie hielt ihn fester, legte den Finger auf die Lippen, lauschte und spähte.

Was kümmerte sie Waldemars Vogelvieh? Etwas geschah im Wald. Nichts Gutes. Runja spürte es.

Das hatte sie von ihrer Großmutter geerbt, das Spüren – sagte der Vater. »Du spürst die Dinge, bevor sie geschehen«, sagte er, »wie meine Mutter.« Viele sagten das, sogar der Graf.

»Was hast du denn, Runja?« Waldemar machte sich von ihr los. »Gewiss raschelt’s im Wald. Soll’s etwa klirren und poltern?« Er ging weiter. »Du glaubst mir nicht, was? Komm schon, ich führe dich zu Angelus. Wirst ja sehen.«

Plötzlich kreischte wieder ein Häher, dann noch einer, weiter weg, und drei Elstern schwangen sich aus einer Eiche, flatterten lärmend dicht über Ginster und Farnfeld hinweg und verschwanden zwischen den Baumkronen.

Waldemar blieb stehen, äugte mit offenem Mund. Kein Wort kam mehr über seine Lippen. Runja sah genau, wie er seinen Jagdbogen fester umklammerte. Ganz weiß wurden seine Fingerknöchel. Von einem Atemzug zum anderen geriet der ganze Wald um sie herum in Aufruhr.

Runjas Blicke flogen hin und her. Rascheln und Knacken von allen Seiten, Geflatter und Vogelgekreische. Und da! Einen Steinwurf weit entfernt bogen sich Farnhalme zur Seite. Runja machte einen Satz, packte den gleich großen Bruder, zerrte ihn zu sich.

Keine zwanzig Schritte entfernt schwankte das Buschwerk. Und dann, nur einen Wimpernschlag lang, sah sie eine schwarze Schnauze, weißgraue Ohren, lauernde Augen, einen graupelzigen Schädel.

Ein Wolf!

Runja griff in Waldemars blondes Haar und zog ihn mit sich hinter den Ginster und herunter ins Moos. Auch er hatte das Raubtier gesehen: Sein schönes Gesicht hatte auf einmal die Farbe schmutzigen Leintuchs, seine Augen waren groß und feucht vor Schrecken.

»Ein ganzes Rudel«, flüsterte sie. »Ich hab an mindestens vier Stellen Äste und Halme sich beugen sehen.« Sie tastete nach ihrer Armbrust, wagte aber nicht, sie vom Rücken zu schnallen. Nur keinen Lärm machen! Nur keine Zweige bewegen!

Wölfe? Runjas Gedanken überschlugen sich. Wölfe im Licht der strahlenden Morgensonne? Das sah den pelzigen Räubern nicht ähnlich. Runja schluckte, ihr Herz raste. Flohen sie? Jagten sie? Wie viele mochten es sein?

Sie schloss die Arme um den Bruder, spürte sein Zittern. »Ganz ruhig«, flüsterte sie, »nicht bewegen. Bete.« Ihr kupferrotes Haar floss über Waldemars blonde Locken.

Wölfe eine halbe Wegstunde von der Seeburg entfernt? Und das im späten Frühling, wo der Wald wimmelte von Kitzen, Junghasen, Hirschkälbern und Auerhahnküken? Im Winter, ja, da trieb der Hunger das Raubzeug nachts sogar bis zu den Abfallkuhlen vor der hinteren Burgmauer. Aber Ende Mai?

Sie dachte an die Eltern. Die Mutter hatte noch geschlafen, als Runja und Waldemar sich aus der Burg geschlichen hatten. Der Vater war kurz zuvor betrunken vom Zechen gekommen, hatte nichts gehört, nichts gesehen. Nur der Torwächter wusste, dass die Kinder des Ritters und gräflichen Burgmarschalls Unger in den Wald gezogen waren.

Plötzlich spürte Runja, wie Waldemars schmaler Körper in ihren Armen ganz starr wurde. Sie schaute ihm ins Gesicht, folgte seinem ängstlichen Blick: Vor ihnen teilte sich der Ginster – ein mächtiger weißgrauer Wolfsschädel tauchte zwischen den welken Blüten auf. Der kalte Blick gelblicher Augen traf sie wie ein Peitschenhieb.

»Lauf!«, zischte sie und stieß Waldemar zurück auf den Pfad, auf dem sie gekommen waren. »Lauf zur Burg so schnell du kannst!« Waldemar rannte.

Runja selbst richtete sich auf, ganz langsam; sie versperrte dem alten Wolf den Pfad, lauschte den Schritten ihres Bruders. Warum entfernten sie sich nur so langsam? Warum rannte Waldemar nicht schneller? Bald verstummte das Geräusch seiner Schritte. Der Wolf aber senkte den Schädel, zog die Lefzen hoch, zeigte seine gelblichen Reißzähne.

»Lieber Heiland Jesus Christus.« Runja betete flüsternd. »Hilf mir.« Schritt um Schritt setzte sie einen Fuß hinter den anderen, entfernte sich rückwärts von dem Wolf, langsam, ganz langsam. Das Tier schob sich aus dem Ginster, senkte den Schädel noch tiefer. Sein Rückenfell und das lange Fell seiner Rute waren fast weiß.

»Hilf mir, lieber Heiland, ich bitte dich.« Endlich gelang es Runjas bebenden Fingern, die Armbrust von den Schultern zu streifen. »Rette mich vor dem frühen Tod, ich flehe dich an.« Keinen Wimpernschlag lang ließ sie den Wolf aus den Augen, lockte ihn weg von der Richtung, die der Bruder genommen hatte. »Für immer will ich dir dienen, wenn du mich rettest, lieber Heiland, ohne zu murren, will ich Heinrich heiraten.«

Der Wolf schob sich in seiner ganzen entsetzlichen Länge aus dem Ginster, lautlos und langsam wie der Schattenzeiger auf der Sonnenuhr. Gesenkter Schädel, funkelnde Gelbaugen, gestreckter Schwanz, gebleckte Zähne, triefende Lefzen – so pirschte er sich an Runja heran. Und jetzt duckte er sich zum Sprung.

Wie heiße Lohe durchzuckte Schrecken sie von den Zehenspitzen bis in die Haarwurzeln. Wie sollte sie nur die Waffe spannen? Wie einen Bolzen einlegen? Runja fuhr herum, sprang ins Unterholz, rannte, so schnell sie konnte. Hinter sich hörte sie den pelzigen Räuber knurren und springen.

Plötzlich gab der Boden unter ihren Sohlen nach. Stoff riss, Geäst brach. Hart prallte sie mit dem Rücken auf Holz und Geröll. Acht Ellen über sich sah sie die zersplitterten Äste einer geflochtenen Falltür flach aus dem Waldboden ragen. Ihre Wolljacke und der linke Ärmel ihres Kleides hingen an den Astspitzen.

Ein Teil des Geflechts lag unter ihr, bohrte sich schmerzhaft in ihren Rücken und Hintern. Hoch über der Grubenöffnung schwankte die Krone einer Eiche im Wind. Lichtbalken der Morgensonne ragten aus wechselnden Lücken im Laub. Geblendet kniff Runja die Lider zu, hörte es knurren, riss die Augen wieder auf.

Zwei feuchte, schnüffelnde Wolfsschnauzen glänzten im Sonnenlicht. Zwei Paar Wolfsaugen lauerten auf Runja herab. Zwei Wolfsschädel verdeckten ihr den Blick auf Baumkronen und Morgenhimmel – ein wuchtiger weißgrauer und ein schmaler dunkler. Warmer Schleim tropfte Runja auf die nackte Schulter.

Sand, Moos und Geröll rieselten herab. Der jüngere Wolf, der dunklere, stand halb auf den Überresten der geflochtenen Falltür. Und die neigte sich bereits unter seinem Gewicht, drohte samt des Tieres zu ihr herunter zu stürzen. Runja stockte der Atem.

Sie merkte kaum, wie ihr das Wasser fortlief, merkte kaum dass sie zitterte, dass sie betete. »Und ob ich schon wanderte im finsteren Tale, fürchte ich kein Unglück.« Sie keuchte die Worte heraus, die Psalmverse, vertraut seit frühester Kindheit. »Du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich …« Wie oft hatte sie im Morgenland die Mutter diesen Psalm beten hören, unter Tränen, unter Lachen, unter Schimpfen. »Ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.«

Runja ließ die Armbrust los, tastete nach dem Krummdolch in der Gurtscheide. Ein Geschenk des Vaters, genau wie die Armbrust Geschenke zum vierzehnten Wiegenfest. Damit du nie wieder deine Freiheit verlierst, hatte der Vater gesagt. Beide Waffen stammten aus derselben bösen Zeit, in der sie auch das Brandmal auf ihrer Schulter hatte empfangen müssen. Dasselbe Brandmal, das auch Runjas Mutter trug.

Sie nestelte die Krummklinge aus der Scheide, hielt sie mit den Fäusten über der Brust fest. Oben jaulten die beiden Wölfe auf, der dunkle rutschte vom sich neigenden Falltürgeflecht. Wolfsgestank hüllte Runja ein – Galle, Aas und Blut. Brechreiz würgte sie, Panik peitschte ihr Herz zu rasendem Galopp, hinter ihrem Brustbein loderte heißer Brand. »Rette wenigstens Waldemar«, flüsterte sie. »Lieber Heiland, rette meinen kleinen Bruder.«

Etwas Dunkles stürzte ihr entgegen. Sie presste die Lippen zusammen und stieß ihm den Krummdolch entgegen. Und ja! Die Klinge bohrte sich in die schwarzpelzige Räuberkehle, warmes Blut sprudelte ihr schwallartig ins Gesicht. Seltsam schnell erschlaffte der schwere pelzige Körper.

Zitternd und nass von Blut, Schweiß und Harn lag sie still. Würde der zweite Wolf springen, der alte? Runja kämpfte gegen den Brechreiz, lauschte nach oben. Dort knurrten Wölfe, dort sirrten Pfeile, dort brach Geäst. Kampflärm? Hatte denn Gott Rettung geschickt?

Sie wühlte sich unter dem schweren stinkenden Körper hervor, riss dem Tier ihre Klinge aus der blutenden Kehle. Ein Pfeil ragte aus dem Genick des Wolfes. Er musste bereits tot gewesen sein, als er auf sie geprallt war.

Sie wischte den Krummdolch an ihrem Kleid ab, klemmte ihn zwischen die Zähne, suchte und fand ihre Armbrust. Oberhalb des Erdlochs jaulten, knurrten und fauchten sie. Wieder sirrte ein Pfeil dort oben im Wald, wölfisches Knurren erstarb in einem Röcheln.

Runja schnallte ihre Armbrust auf den Rücken, griff in Wurzelgeflecht und vorspringende Buntsandsteinplatten und kletterte der Erdlochöffnung entgegen. Mit bebenden Lippen und flatternden Lidern spähte sie über den Rand des Waldbodens: Rechts lag der große graue Wolf und rührte sich nicht; zwei Pfeile ragten aus seiner Flanke. Links blickte sie auf die gestreckten und gesträubten Ruten zweier Wölfe.

Keine sieben Schritte vor den pelzigen Räubern stand Waldemar, breitbeinig und aschfahl. Links und rechts von ihm zwei zuckende Wolfsleiber mit Pfeilen gespickt. In seinem Rücken, geduckt und zum Sprung bereit, ein weiterer Wolf.

»Hinter dir!« Die Klinge fiel Runja aus dem Mund. Sie stemmte sich aus der Grube, griff nach dem Dolch, rollte sich ins Unterholz, streifte die Armbrust ab. Sie hörte den Pfeil sirren, hörte einen Wolf aufheulen, sah, wie Waldemar blitzschnell zum Köcher griff und herumfuhr.

Zu wenig Zeit, um einen Bolzen in die Armbrust zu spannen! Sie schwang die Waffe wie eine Keule und ging auf den verletzten Wolf los, schlug auf ihn ein, trieb ihn tatsächlich in die Flucht.

Sie atmete schwer, blickte auf – Waldemar lag auf dem Rücken und auf ihm der große schwere Wolf. Der schnappte nach seiner Kehle. Das Bogenholz mit beiden Händen umklammert, drückte Waldemar den Raubtierschädel von sich weg. Doch das Tier war stärker, seine Reißzähne berührten schon Waldemars Kinn.

Runja packte ihren Dolch und sprang den pelzigen Räuber an. Die Wucht des Aufpralls stieß den Tierleib hinunter vom schlaksigen Körper des Bruders. Den Wolf im Arm stürzte sie weg von Waldemar und ins Unterholz. Noch im Sturz hämmerte sie dem pelzigen Räuber den Krummdolch in den Leib, wieder und wieder und wieder. Bis er sich nicht mehr rührte.

Waldemar riss den Kadaver von ihr weg. Der Bruder schrie und heulte seine Wut heraus, seine Angst, seine Erleichterung. Sie knieten im Unterholz, umarmten einander, weinten und hielten sich fest.

»Du hast mir das Leben gerettet«, schluchzte sie flüsternd.

»Du hast mich gerettet.« Seine Stimme klang heiser und verrotzt.

»Gott hat uns gerettet. Damit wir immer zusammenbleiben. Immer.«

»Du hast mich weggeschickt.« Waldemar küsste ihr Blut und Tränen aus dem Gesicht. »Du dumme Gans hast mich weggeschickt. Ich hätte mir nie verziehen, wenn ich dir gehorcht hätte.«

»Ich dumme Gans …, hast du gut gemacht, so gut, so gut …«

»Wie du dich auf die Bestie geworfen hast.« Waldemar drückte sie weg von sich, sah sie an – Liebe und Bewunderung leuchteten im Blick seiner blauen, verheulten Augen. »Dass du das gewagt hast!«

»Ich liebe dich doch.« Wohin sie auch schaute, überall Blut und Rotz und Dreck und Laub: auf seinen Handrücken, an seinen Kleidern, in seinem Gesicht. »Du bist doch mein kleiner Bruder.«

»Ich bin so groß wie du, dumme Gans!« Er rümpfte die Nase. »Du stinkst nach Pisse.«

»Ich liebe dich doch, blöder Ochse«, wiederholte sie. »Und was hätte ich denn der Mutter und dem Vater erzählen sollen?« Die Vorstellung überwältigte Runja – sie presste die Rechte auf den Mund, weinte schon wieder. Weinte laut und hemmungslos.

Waldemar nahm ihre linke Hand, betrachtete die tiefe, blutende Schnittwunde in ihrem Handballen. Er sah ihr wieder in die Augen, ernster diesmal, beinahe feierlich. »Wir wollen einen Schwur tun.«

Er wischte sich das Wolfsblut und die Tränen aus seinem Gesicht. Runja sah nun die klaffende Bisswunde zwischen seinem linken Ohr und seiner linken Wange. Waldemar legte ihren blutenden Handballen auf seine Gesichtswunde.

»Ich schwöre dir, meiner Schwester Rubina, dass ich allezeit mit meinem Leben für dich einstehen werde.« Er atmete schwer. »Ich will für dich sterben, wenn es sein muss. Ich schwöre: Für immer und ewig schulde ich dir mein Leben.«

»Ich schwöre auch«, flüsterte Runja. Sie rieb ihr Blut in seine Bisswunde. »Ich schwöre dir, meinem kleinen Bruder Waldemar, dass ich mit meinem Leben für dich einstehen werde, solange ich atme.« Sie packte ihn bei den Ohren, riss seine Stirn an ihre. »Ja, ich will für dich leiden, wann immer es nötig ist, ich will für dich sterben, so wahr mir Gott helfe, und Jesus und alle Heiligen sind meine Zeugen.«

Wieder schlang einer dem anderen die Arme um den Hals. Auf den Knien rutschten sie ganz nahe zusammen und hielten einander so fest, als wollte einer den anderen nie wieder loslassen. Wie viel Zeit verging so? Sie wussten es nicht.

Irgendwann halfen sie einander hoch. Sie suchten ihre Waffen zusammen: Bogen, Pfeile, Armbrust, Krummdolch. Runja holte ihre Jacke und den abgerissenen Kleiderärmel aus dem Erdloch.

Waldemar half ihr wieder herauf. »Du bist so gefährlich wie der hier.« Bevor sie in die Jacke schlüpfen konnte, deutete er auf das rote Brandzeichen an ihrer nackten Schulter. »Gefährlicher noch als dieses Raubtier auf deiner Haut.«

»Wenn ich so schnell laufen könnte wie der, hätte ich nicht kämpfen müssen.«

»Kämpfen ist besser als davonlaufen, sagt der Vater.« Waldemar bückte sich nach dem größten der Wolfskadaver und hievte ihn auf seine Schulter. Er schwankte unter dem Gewicht.

»Was willst du mit dem toten Wolf?« Runja schritt auf den Pfad, der zum Burgweg führte. Vergessen die Elster, vergessen der Grafensohn – sie wollte nur noch nach Hause.

»Den schenke ich Heinrich.« Waldemar wankte hinter ihr her. »Damit er mir glaubt, dass ich seine Braut gerettet habe.«

Sie spuckte aus. »Und was versprichst du dir davon?« Schon wieder dieser Heinrich. Schade, dass ihr künftiger Gatte nicht mit seinem Vater gegen die Wenden gezogen war. Der Trottel hatte sich mit der Baumaxt ins Bein gehauen. Nach dem Erntedankfest sollte die Hochzeit gefeiert werden. Jeden Tag betete Runja, Gott möge diesen Kelch an ihr vorübergehen lassen.

»Dass er mir künftig mehr Respekt erweist.« Waldemar ächzte. Er warf den Kadaver ins Gestrüpp und kehrte um.

»Vergiss es.« Runja blieb stehen, wartete. »Heinrich ist und bleibt ein Rüpel. Erzähl ihm lieber, wie gefährlich ich bin. Vielleicht überlegt er sich’s dann noch mal, der blöde Kerl.«

»Es gibt schlimmere. Denk an deinen ersten Mann.« Mit dem kleinsten Wolf auf den Schultern kehrte Waldemar zurück. »Und sei froh, dass du nicht seinen Vetter Helmold heiraten musst.«

»Dasselbe grobe Vieh. Nur ist Heinrich noch dazu ein dummer Grindskopf.« Sie gingen weiter. »Hast du gehört, wie er mit der Mutter wegen der toten Maus im Mehl gestritten hat?« Runja lief schneller; sie hatte es eilig, zur Burg zu kommen; Todesschrecken wühlte ihr noch in allen Gliedern. »Und die alte Köchin hat er verprügelt, weil ihr die Milch angebrannt ist. Blöder Grindskopf!« Sie spuckte wieder aus. »Hoffentlich erschlägt ihn der Blitz noch vor Erntedank.«

»Pfui, schäm dich!« Waldemar kam kaum noch hinterher.

»Jedes Mal, wenn er mir über den Weg läuft, verschlingt er mich mit Blicken. Sogar während der Messe. Der Blitz soll ihn treffen!«

»Schäm dich!« Waldemar bekreuzigte sich. »Heinrich liebt dich.«

»Liebe? Geil ist er, weiter nichts!« Die Hitze des Zorns schoss ihr ins Gesicht. »Der Blitz soll den geilen Hund …« Runja verstummte, denn gar nicht weit entfernt brach ein Ast. Sie stand still, spähte in die Richtung des Geräusches, sah Buschwerk dort wackeln.

»Die Wölfe.« Auch Waldemar war stehen geblieben. Elstern krähten und flatterten auf. »Sie verfolgen uns.«

Etwas sirrte, ein Pfeil schlug dumpf in den Wolfskadaver ein. Waldemar ließ das tote Tier ins Unterholz gleiten. Seite an Seite duckten sie sich hinter einen Haselnussbusch. »Schlimmer als Wölfe«, flüsterte Runja. Sie starrte die dunkle Fiederung am Schaftende des Pfeils an. »Wendische Krieger.«

Sie krochen zum nächsten Buchenstamm, schoben sich hinter ihm hoch, horchten und spähten. Und dann sahen sie die Männer: Mit geschulterten Lanzen, Äxten und Schwertern tauchte einer nach dem anderen zwischen den Stämmen auf, der nächste kaum vierzig Schritte entfernt.

»Eine ganze Kampfrotte«, flüsterte Waldemar. »Ein ganzes Heer.«

Wie eine schwarze Binde fiel es Runja von den Augen: Deswegen hatte der Wendenfürst die Gehöfte an der Warnow verwüsten lassen! Um den Grafen und seine Krieger von der Seeburg wegzulocken! Mit Eisklauen griff das Entsetzen nach ihrem Herz.

»Hinter der Buche!« Gebrüll tönte plötzlich durch den Wald. Eine raue, kehlige Männerstimme, die Runja nie wieder vergessen sollte. »Da, der Blondschopf!« Sie gehörte einem bulligen Lanzenträger. »Schlagt ihn tot!« Sonnenlicht brach sich in etwas Goldenem am Ohr des brüllenden Heiden. »Schlagt ihn tot! Greift euch das rote Weib!«

»Lauf!« Runja zerrte ihren Bruder hinter sich her auf den Wildpfad. »Lauf um dein Leben!«

2 HABICHTSAUGEN

Orkanartig rauschte der Dankchoral der Benediktiner durch das Kirchenschiff. Mit gesenktem Kopf kniete Laurenz zwischen Norbert von Fulda und dem Bischof von Brandenburg vor dem Hochaltar. Die Hostie klebte ihm auf der Zunge wie ein alter Fußlappen.

Direkt vor ihm zitterte der Saum am Messgewand des alten Erzbischofs. Der Mönchschor übertönte gnädig dessen brüchige Greisenstimme. Laurenz machte Kaubewegungen, versuchte Speichel zu erzeugen, versuchte an den Leib des Herrn zu denken. Beides wollte ihm nicht gelingen. Seine Gedanken eilten schon wieder voraus zum kommenden Tag: Der König würde ihn empfangen.

Norbert von Fulda rechts neben ihm schmatzte. Der Bischof von Brandenburg zu seiner Linken schluckte geräuschvoll. Laurenz, dem Domdekan von Magdeburg, klebte die Hostie jetzt am Gaumen. Was für einen Teig benutzten sie denn hier in Wittenberg? Er kaute und kaute, rieb die Hostie mit der Zunge ab, kaute weiter, und endlich weichte sie auf, und er konnte sie herunterwürgen.

Bei all dem bewegte er die Lippen im stummen Gebet, versuchte andächtig und ergriffen zu sein, doch schon stand ihm wieder der junge Philipp von Schwaben vor Augen, der König. Gemeinsam mit dem Erzbischof und dem Abt des Moritzklosters beugte Laurenz im Geiste jetzt schon die Knie vor dem römisch-deutschen König, hörte den Erzbischof Ludolf jetzt schon sagen: »Das ist der Mann, den wir zum Bischof von Havelberg wählen wollen.«

Er tastete nach dem Goldstück im Stoff seines Chorhemdes und spähte zur Seite. Als die Männer an seiner Seite sich erhoben, stand auch er auf. Aus der zitternden Hand des Erzbischofs empfingen sie die silbernen Schalen mit den Hostien, hinter ihm her stiegen sie die Stufen des Hochaltars hinab. Der alte Ludolf stützte sich auf seinen Bischofsstab. Er wirkte gebrechlich. Lange würde er es nicht mehr machen.

Sie schritten zu den Edlen aus Kirche und Reich, die sich im Halbkreis um den Hochaltar versammelt hatten: der König, der Herzog, Markgrafen, Grafen; daneben Bischöfe, Pröpste, Äbte, Kapläne und was sonst an ranghohem Klerus nach Wittenberg gekommen war. Im Hauptschiff dahinter, abgetrennt durch einen Prachtlettner, gaffte das Volk. In der ersten Reihe entdeckte Laurenz das Mondgesicht seines Dieners und Sekretärs Sebastian.

Er senkte den Kopf, starrte den Boden an. Laurenz versuchte zu vermeiden, auf jene Stellen zu treten, wo die Fliesen mit den Ecken aneinanderstießen und die Kreuzform bildeten. Unfassbar, wie viele Kreuze die Sandsteinfliesen zwischen dem Hochaltar und den Stiefelspitzen der Feiernden formten!

Der Erzbischof und Norbert von Fulda gingen zum König und zum Herzog. Die knieten bereits nieder, um die Hostie zu empfangen. Der Bischof von Brandenburg wandte sich nach links, wo die Edlen und Höflinge von König und Herzog den Leib des Herrn erwarteten, Laurenz schritt auf die rechte Seite, wo die Geistlichkeit stand.

Kopf und Beine waren ihm schwer – die Schiffsfahrt elbaufwärts steckte ihm noch in den Knochen. Zu viel Wein, zu viel Geschaukel. Er hasste Schifffahrten, reiste lieber zu Pferd. Der Gesang der Magdeburger Benediktiner vermochte nicht, ihn feierlich zu stimmen.

Die ersten Geistlichen knieten nieder und öffneten den Mund, darunter der päpstliche Gesandte. Laurenz legte ihnen die Hostie auf die Zunge. Er wertete es als gutes Zeichen, dass der Erzbischof ihn heute erwählt hatte, den Leib des Herrn auszuteilen. Vor ein paar Jahren, als Otto, der Welfe und Gegenkönig, Teile des Erzbistums verwüstete, hatte Laurenz sich tapfer geschlagen an Ludolfs Seite. Auch das wohl ein Grund, warum der Erzbischof ihn morgen zur Wahl als Bischof von Havelberg vorschlagen wollte. Neben seinen herausragenden Qualitäten als Seelsorger und Kirchenrechtler selbstverständlich.

Ein Mann mit kurzen blonden Locken und ebenmäßigen Zügen kniete vor ihm nieder, schloss die Augen und öffnete den Mund. Pirmin, sein neuer Domscholaster. Erst ein halbes Jahr lebte er in Magdeburg, und obwohl er zum Domkapitel gehörte, hatte Laurenz kaum drei Sätze mit ihm gesprochen.

Wie andächtig er tat! Ein schönes, ein kluges Gesicht. Eine Spur zu klug nach Laurenz’ Geschmack. Die Domschüler liebten Pirmin, was Laurenz schon aus Prinzip misstrauisch machte. Außerdem hielt er den Gelehrten aus Paris für viel zu jung, um schon zu lehren. Doch es war der Wunsch des Erzbischofs gewesen, Pirmin an die Domschule zu berufen.

Laurenz legte ihm die Hostie auf die Zunge, wandte sich dem Nächsten zu. Und da sah er sie. Die Maus.

Vom Hochaltar her flitzte sie zwischen die Knieenden und Stehenden. Laurenz traute seinen Augen kaum, stand einen Atemzug lang wie festgewachsen. Beim Heiligen Moritz – eine Maus während der Eucharistiefeier! Ein schlechtes Zeichen?

Jetzt rührte auch die Maus sich nicht mehr – sie schnupperte an einem Hostienkrümel. Plötzlich hob sich ein Stiefel unter dem Saum einer schwarzen Kutte. Blitzschnell trat der Stiefelträger zu. Laurenz hörte die Knochen der Maus splittern, sah ihren Schwanz zucken, sah ihr Blut spritzen.

Er hob den Blick und schaute in lauernde graue Augen. Augen, die ihn an Habichtsaugen erinnerten. Eine Gänsehaut rieselte ihm über Nacken und Rücken.

Wer war dieser Mann? Laurenz hatte ihn nie zuvor gesehen.

*

Fünf große Zuber fasste das herzogliche Badehaus. Dazu an jeder Längswand vier lange Reihen Holzbänke für das Dampfbad, terrassenförmig angeordnet. In der Mitte des großzügig gebauten Gewölbes: Krüge, Eimer und Kuhlen für die Waschungen und Güsse. Unter der Fensterseite die Liegen und Hocker, an denen der Bader seiner Heilkunst nachging, und die Regale mit den Gerätschaften, die er dafür brauchte: Schröpfgläser, Messer, Wundlöffel, Zahnzangen, Schüsseln und dergleichen.

Laurenz stand nicht der Sinn danach, heute noch zur Ader gelassen oder geschröpft zu werden. Ein Bad war ihm Wohltat genug. Er fühlte sich gesund; nicht einmal ein Zahn tat ihm weh. Dem gerechten Gott sei Dank! Und wenn er Wittenberg in drei Tagen wieder verließ, würde er sich »künftiger Bischof von Havelberg« nennen dürfen. War er nicht ein gesegneter Mann? Wahrhaftig, das war er!

Stimmengewirr und Gelächter hallten durch das Gewölbe. Im Zuber neben dem Portal zum Ruheraum sang ein Ritter ein Lied. Sein Waffenträger, ein hübscher Bursche, stand nur mit Hüfttuch bekleidet neben dem Zuber und zupfte die Laute. Von irgendwoher tönte ein »Bravo!«. Die gesamte Badegesellschaft schien bester Dinge zu sein. Dampfschwaden wogten über Zubern und Bänken, bunte Kacheln glänzten feucht im Fackelschein und einfallendem Sonnenlicht.

Der Vorhang zum Ruheraum bewegte sich. Ein Fremder schob ihn zur Seite, blickte sich um, fasste den Zuber ins Auge, in dem auch Laurenz lag. Der machte sich so lang er nur konnte. Schnurstracks nahm der dürre Fremde den Weg, den Laurenz befürchtet hatte. Er grüßte zum Zuber hinüber, in dem König, Herzog und Erzbischof badeten, ließ sein Lendentuch fallen und stieg zu Laurenz und seinen Badegenossen ins Wasser.

Laurenz ärgerte sich, machte sich noch länger und seine Beine noch steifer, grüßte jedoch mit ausgesuchter Freundlichkeit. Der Fremde, nicht besonders groß, war ganz und gar kahl geschoren, trug nicht einmal einen Bart. Er hatte ein knochiges, auffallend kantiges Gesicht mit großer, scharf geschnittener Nase. Doch erst an seinen Augen erkannte Laurenz ihn wieder: grau und habichtsartig traten sie ein wenig aus den Höhlen.

Der Mann in der schwarzen Kutte! Der Mann, der bei der Eucharistiefeier die Maus zertreten hatte!

Unwillkürlich rutschte Laurenz ein Stück von ihm weg. Ihm war nicht mehr wohl in seiner Haut. Er lächelte, wich dem Blick des Fremden aus, sah zum singenden Ritter hinüber, zum hübschen Lautenspieler, zum Vorhang vor dem Ruheraum.

Die Betten dort lagen hinter Vorhängen, wie man Laurenz erzählt hatte. Dass ein Vorhang im Portal auch den Ruheraum selbst vor neugierigen Blicken schützte, fand er überaus angenehm. Er beabsichtigte nämlich, im Laufe des Bades noch eines der Betten in Anspruch zu nehmen. Den Fremden behandelte er wie Luft.

Alle Zuber waren von ovalem Grundriss und boten Platz für jeweils sechs Badende. Über die Mitte der Längsseite lag ein Tafelbrett mit Weinbechern zwischen Tellern und Schüsseln voller Speisen: Früchte, Fleisch, Brot, Gebäck, Gemüse. Der Mundschenk des Herzogs selbst ging mit einem Krug von Zuber zu Zuber und schenkte Wein nach.

Zugleich mit dem Fremden beugte Laurenz sich nach vorn zum Tafelbrett. Einen Wimpernschlag lang belauerten sie sich Auge in Auge. Der Unbekannte griff sich ein Stück Spanferkel. Laurenz fiel der schwarze Stein am Finger seiner Linken auf. Das Wappen darauf konnte er nicht erkennen; zu schnell lehnte der andere sich wieder zurück.

Laurenz selbst wollte in den Teller mit dem Gebäck langen, doch die beiden letzten Zuckerstangen lagen über Kreuz. So nahm er sich lieber eine Traube Weinbeeren. Jede Art von Kreuzform, die ihm hier in Wittenberg begegnete, betrachtete er als gutes Omen für seine Bischofswahl. Sie zu berühren, womöglich zu zerstören, würde ihm ganz gewiss Unglück bringen.

Zu fünft hockten sie nun in Laurenz’ Zuber. Zum Glück war es ihm gelungen, sich den Platz in der Mitte zu sichern, zwischen einer Hofdame und einem hübschen, jungen Ritter namens Kuno. Hier war der Zuber am breitesten, und niemand saß dem beleibten Domdekan von Magdeburg gegenüber, sodass er seine langen, nicht eben zierlichen Beine ausstrecken konnte, wie er wollte. Allerdings achtete er darauf, den Fremden nicht zu berühren.

Eine junge, strohblonde Magd goss heißes Wasser nach, wohlige Wärme umwogte Laurenz’ Bauch, Hoden und Hintern. »Wunderbar, mein Kind, das machst du ganz wunderbar.« Er rutschte bis zum Hals in duftenden Schaum und dampfendes Wasser und stemmte seine Beine neben Norbert von Fulda gegen die andere Seite des Zubers.

Quer über Tafelbrett und Zuber hinweg scherzte Norbert mit dem schwarzhaarigen Kuno. Der hübsche flaumbärtige Ritter sprach einen schwer verständlichen Dialekt, und Norbert, ein frommer Benediktinerabt, lehrte ihn, die zehn Gebote auf Mittelhochdeutsch zu sprechen. Beide hatten ihren Spaß; die kichernde Hofdame sowieso.

Die Magd lächelte auf Laurenz herab und drückte den Krug an ihren kleinen Busen. Hübsches Kind, vierzehn Jahre alt höchstens. Der Anblick solch jungen Fleisches – gleich, ob Knabe oder Mädchen – vermochte Laurenz im Nu zu entflammen. »Danke, mein Kind.« Er seufzte behaglich. »Gott segne dich.« Die Magd entfernte sich, und der Dekan lauschte ihren klatschenden Schritten hinter sich.

Wahrhaftig: allein das zu hören – die lieblichen Schrittchen ihrer nackten Füßchen –, allein das schon erhitzte das Blut in seinen Lenden.

»Kaum zu fassen, dass Heiden sich derart paradiesische Wonnen ausdenken können«, tönte es von der anderen Seite des Tafelbrettes. Dort stopfte Norbert von Fulda sich inzwischen mit Entenschlegeln voll und spülte das Fleisch mit Wein herunter. Morgen sollte er dem König für den Bischofsstuhl von Naumburg vorgeschlagen werden. »Habe ich nicht recht, mein lieber Bruder Laurenz?«

»Und wie recht Ihr habt.« Laurenz sah, wie der Habichtsäugige der Magd hinterhersah; wahrscheinlich wackelte sie wieder genauso anmutig mit ihrem süßen Popo wie vorhin, als sie zum Zuber gegenüber schritt, um dem Herzog Bernhard und dem König Philipp den Rücken zu schrubben. »Gönnen wir es den Heiden doch«, sagte Laurenz. »Die armen Seldschuken müssen dafür in der Hölle brennen, wenn ihr eitles Leben mit seinen eitlen Wonnen hinter ihnen liegt.«

»Eitles Leben, eitle Wonnen, ja, ja.« Norbert lachte. »Paradiesische Wonnen allerdings.« Norbert lachte lauter, hob seinen frisch gefüllten Kelch und prostete einem nach dem anderen zu. »Beinahe paradiesisch jedenfalls, will ich sagen.«

»Und wie schnell all das hinter einem liegen kann, nicht wahr?« Der Fremde hatte eine erstaunlich tiefe Stimme. Sie brachte das Wasser auf Laurenz’ Haut zum Vibrieren. Sein Nackenhaar richtete sich auf. »Das Leben, die Wonnen, die Eitelkeit, alles.« Wie Laurenz und die anderen auch, griff er nach einem Kelch und trank.

»Danken wir Gott im Himmel für die Zeit, die wir auf Erden weilen dürfen«, säuselte die Hofdame links von Laurenz. Der nickte ihr lächelnd zu. Graue Strähnen zogen sich durch ihr Haar, und ihre Brüste welkten bereits. Wahrscheinlich war sie früher einmal schön gewesen.

»Und bitten wir ihn um Klugheit, diese Zeit sorgfältig zu nutzen«, sagte der Fremde leise.

Und der hübsche Ritter rechts von Laurenz rief in knödelndem Mittelhochdeutsch: »Ein Hoch auf Herzog Bernhard von Sachsen, der uns diese lustvollen Stunden in seinem Prachtbad geschenkt hat!« Norbert von Fulda lachte laut, doch alle hatten Kuno wohl verstanden, denn überall in den Zubern griffen Männer und Frauen nach ihren Weinkelchen, prosteten einander zu und tranken auf den Herzog.

Philipp von Schwaben hielt Hof hier in Wittenberg. In der Burg von Herzog Bernhard, der ihn Anfang des Jahres mit einigen anderen Reichsfürsten zum König gewählt hatte. Leider hatten im Januar zu Aachen etliche Fürsten gefehlt; und leider hielt es auch der Papst noch mit deren Favoriten Otto.

Laurenz prostete hinüber zu seinem Erzbischof im Zuber des Königs und des Herzogs. Der Greis nickte nur, verzog keine Miene; er trank keinen Wein, den vertrug er nicht. Laurenz hatte diesem alten Bauernsohn geraten, entgegen der päpstlichen Politik dem Lager der Staufer die Treue zu halten und Philipp, den Sohn des Rotbarts, als König anzuerkennen. Der Dompropst von Magdeburg, auf Italienreise wie meist, hätte ihm zu Otto geraten. Innerlich klopfte Laurenz sich auf die Schulter. Und trank auf sein eigenes Wohl.

»Vom Fenster des Rittersaals aus sah ich Euch gestern an Land gehen, Hochwürden.« Die Hofdame rückte näher. »Wer war denn der edle Herr mit den blonden Locken, der mit Euch und dem Erzbischof im Schiff reiste?«

»Pirmin von Paris.« Das Mädchen tauchte vor dem Zuber auf, Wasser dampfte aus seinem Krug. »Ist seit neuestem Domscholaster von Magdeburg. Lehrt an der Domschule.«

»Der berühmte Pirmin von Paris?« Die Hofdame schlug die Hände zusammen und guckte ganz verzückt. »Der ist jetzt Lehrer an Eurer Domschule? Man hört nur Gutes über ihn. So gelehrt und fromm er sei, so schön sei er auch.«

»Schon möglich, edle Dame.« Die hübsche Magd goss wieder heißes Wasser nach, diesmal von der anderen Seite des Zubers. Wohlige Wärme hüllte Laurenz’ Füße und Beine ein. Er lächelte ihr zu, und sie lächelte auf lieblichste Weise zurück.

Dieses Weizenhaar, diese leuchtenden blauen Augen, diese niedliche Stupsnase, dieser schöne Kussmund! Höchste Zeit, dem Kind ein Zeichen zu geben. Natürlich musste es vor ihm in den Ruheraum gehen, das war er seinem Amt schuldig.

Der Fremde langte aus dem Schaum, packte den Arm der Weizenblonden und zog sie zu sich herunter in die Hocke. Er flüsterte ihr ins Ohr. Laurenz fiel das Lächeln aus dem Gesicht. Was, beim Heiligen Moritz, hatte das jetzt zu bedeuten?

»Wie großzügig er doch ist, unser geliebter Herzog Bernhard«, flötete ihm von links die Hofdame ins Ohr. »Dass er uns in sein neues Badehaus eingeladen hat!« Unter Wasser tastete sie nach seiner Hand. »Wie freundlich, nicht wahr, Hochwürden?«

Sie lächelte Laurenz ins Gesicht, und der lächelte zurück, ohne es recht zu merken. Er hörte auch kaum noch zu, denn der Fremde stieg aus dem Zuber, bückte sich nach seinem Tuch und schritt zum Portal vor dem Ruheraum. Laurenz blickte sich um. Wo steckte denn die hübsche Magd auf einmal?

»Schade, dass der edle Pirmin Euch nicht ins Badehaus begleitet hat. Hätt’ ihn so gern kennengelernt.« Die Hofdame drückte ihren Schenkel gegen seinen. »Gehört Ihr denn auch zu denen, die der König morgen empfangen will, Hochwürden?« Zum ersten Mal zweifelte Laurenz, es mit einer Hofdame zu tun zu haben.

»Und ob er zu denen gehört!«, tönte Norbert von Fulda. »Und sein Erzbischof gehört zu den Klugen des Reiches, die König Philipp mit der Kaiserkrone auf dem Haupt sehen wollen.« Der Vorhang zum Ruheraum fiel hinter dem Fremden mit den Habichtsaugen zu.

»Ludolf von Kroppenstedt, der Erzbischof von Magdeburg, wird mich morgen dem König zur Wahl für den Bischofsstuhl von Havelberg vorschlagen.« Laurenz lächelte bescheiden; sein Blick suchte die junge Magd. Verschwunden, einfach verschwunden.

»Wie schön für Euch, Hochwürden!« Die Frau tat entzückt, legte ihre Hand auf seine Schulter. »Und wie schön für das Reich. Das braucht fromme und tapfere Bischöfe wie Euch. Vor allem östlich der Elbe, wo noch so viele Heiden ihr sündiges Unwesen treiben.«

»Sicher doch.« Unter Wasser drückte er ihre Hand und erhob sich.

»Noch gar nicht lange her, dass der Herzog dieses Badehaus eingeweiht hat.« Die Frau blicke zu ihm hoch, redete einfach weiter.

»Ich weiß, edle Dame.« Als hätte sie ihn angesprochen, ergriff wieder Norbert das Wort. »Es ist in morgenländischem Stil erbaut.« Laurenz stieg aus dem Zuber. Sein Blick streifte flüchtig den schwarzen Stein an Kunos Ringfinger. Er stutzte kurz, verhüllte seine Lenden, wandte sich ab. »Nach Plänen seines Oheims, wie man hört«, tönte Norbert. »Der ist dem Kaiser auf seinem Kreuzzug gefolgt und hat die heidnischen Badefreuden im Palast eines Sultans erlebt.«

Die Stimme Norberts blieb hinter Laurenz zurück. Er grüßte freundlichst nach allen Seiten, schaukelte an den Zubern vorbei dem Vorhang zum Ruheraum entgegen. Der König forderte den ritterlichen Sänger auf, ein Lied anzustimmen, das er Walther von der Vogelweide in Magdeburg hatte singen hören, unter der Fensterwand brüllte einer ganz viehisch, dem der Bader einen Zahn herausbrach, und im Schaum vor dem singenden Ritter glaubte Laurenz eine Kreuzform zu erkennen. Er trat in den Ruheraum.

Der Vorhang fiel hinter ihm vors Portal, Stimmen und Gesang dahinter klangen nur noch gedämpft. Laurenz schlich von Bett zu Bett. Vor dreien waren die Vorhänge vorgezogen. Er lauschte. Hinter den schweren, roten Samtstoffen kicherte, stöhnte und ächzte es.

Hinter einem am Ende des schmalen Raumes flüsterte eine Mädchenstimme. Die Magd! Er beugte sich näher an die Ritze zwischen Vorhang und Bettrahmen, sah Blondhaar und nackte Haut. Plötzlich zischte eine Männerstimme, und es klatschte wie von einem Schlag auf nackte Haut. Laurenz zuckte zurück.

Der Fremde mit dem Habichtsgesicht! Tiefes Bedauern erfüllte Laurenz: Die Schwarzkutte war ihm zuvorgekommen.

»Hier bin ich«, sagte eine Frauenstimme hinter ihm. Er fuhr herum – die Hofdame, nackt. Silbrige Locken glänzten in ihrem Schamhaar. »Kommt, Hochwürden.« Sie lief zu ihm, zog ihn mit sich und auf eines der beiden freien Betten. Laurenz wünschte, sie hätte ihn nicht gar so laut »Hochwürden« genannt.

Die Frau riss erst den Vorhang vor das Bett, und dann Laurenz das Hüfttuch vom Leib. Hatte sie seinen Händedruck missverstanden? Offenbar. Schon kniete sie vor ihm und schlang ihm die Arme um den Hals, küsste ihm Wangen und Mund, hauchte: »Nenn mich Maria.« Sie presste ihre Lippen auf seinen Mund, und sogleich drang ihre Zunge in ihn ein. Hatte sie es denn so eilig?

Kaum gelang es ihm, sich von ihrem Mund zu lösen. »›Johann‹.« So hieß er mit zweitem Namen. Sofort hing sie wieder an seinen Lippen. Er streichelte ihren Rücken und ihren Hintern. Der fühlte sich ein wenig schlaff an. Laurenz dachte an das Mädchen zwei Betten weiter. Die Enttäuschung brannte hinter seinem Brustbein. Maria griff ihm ins Gemächt – auch daselbst ging es noch eher schlaff zu.

Sie knetete und rieb. Laurenz beschwor den nackten Leib der weizenblonden Magd vor sein inneres Auge, und endlich schwoll es mächtiger in Marias Faust. Sie rieb ihren welken Busen an seiner Brust, zog ihn schließlich mit sich in die Decken hinunter.

Ein spitzer Schrei von einem anderen Bett ließ ihn zusammenfahren. Maria schien nichts gehört zu haben – sie zog seine Hand auf ihren Busen, stöhnte bereits. Und wieder ein Schrei. Maria klemmte die Beine um Laurenz’ massige Taille. Die Magd! Kein Zweifel, das war ihre Stimme! Was trieb er da mit dem süßen Kind, der Kahlkopf mit den Habichtsaugen? Was tat er ihr an?

Maria streckte die Arme nach seinem Kopf aus, zog ihn zu sich herunter, rieb ihren Schoß an seinem endlich gerüsteten Liebesglied. Dann half sie ihm hinein. Laurenz ließ es geschehen, wollte es hinter sich bringen. Die Augen tapfer geschlossen, wackelte und rüttelte er und dachte an nichts anderes als an die hübsche Magd zwei Betten weiter. Ihren Leib stellte er sich vor, ihre Brüste, ihren Schoß, ihren Popo.

Die wilde Lüsternheit der Hofdame unter ihm überrumpelte ihn. Wie sie zappelte, wie sie sich aufbäumte, wie sie hechelte! Ihr lautes Benehmen verjagte ihm das Bild des hübschen Kindes. Er öffnete die Augen, sah welke Brüste, sah einen eckigen Mund, und als er die junge Magd erneut schreien hörte, ging gar nichts mehr. Er griff sein Tuch und rutschte zum Vorhang. »Es war mir eine Ehre, edle Maria.«

Kaum berührte seine Fußsohle die Fliesen, hörte er die Magd aufheulen. Dann das Geräusch eines zur Seite gerissenen Vorhangs. Laurenz hob den Blick: Da sprang es aus dem Bett des Fremden, das hübsche Kind. Schreiend lief es los, drückte Kleid und Mieder gegen die blutenden Brüste.

Laurenz traute seinen Augen nicht – die Lippen blutig, ein Auge zugeschwollen und tränennass rannte die Magd an ihm vorbei. Er sah ihr nach, sah Biss- und Kratzwunden auf ihrem nackten Hintern und ihrem Rücken. Sein Atem stockte, Schrecken lähmte ihn.

3 VERRAT

Sträucher, Stämme und Büsche flogen vorüber, Jungbuchen, Ginster, Birken, Holunder. »Rette uns, gütiger Gott!« Runja betete keuchend. Sie folgten dem Wildpfad, krochen durch Farnfelder, bückten sich unter Brombeerhecken hindurch, zerrissen sich Kleider und Haut.

Männerstimmen brüllten durch den Wald. Einer rief dem anderen zu, was er hörte, was er sah. Lauerten sie ihnen auf? Viel zu gefährlich, so schnell zu rennen, machte viel zu viel Lärm, bewegte viel zu viel Gestrüpp. Runja wusste es, doch was sollten sie tun? Zu drängend war die Angst, zu mächtig der Drang zu fliehen. Nur nicht den wilden Heiden in die Hände fallen! Nur nicht in diese grausamen Hände! »Rette uns, gütiger Gott!«

Sie erreichten den Bach, rannten am Ufer entlang, nahmen die Brücke, rannten weiter, immer weiter. Wieder und wieder blickte Runja sich nach Waldemar um. Das halbe Frühjahr hatte der Bruder mit Fieber in der Kammer gelegen, doch er hielt Schritt. »Dem Heiland sei Dank«, keuchte sie. Die Brücke blieb zurück.

Tiefhängende Eichenzweige peitschten Runja ins Gesicht. Sie setzte über einen Wurzelkrater voll lehmigen Wassers. Waldemar sprang hinter ihr her. Dann entlang des Stammes, eine entwurzelte Buche. Sie warf sich auf die Knie, auf den Bauch, zog ihren Bruder mit sich, kroch mit ihm unter den Stamm.

Da lagen sie nun im Moos, rangen nach Luft und versuchten, so geräuschlos wie möglich zu atmen. Erst einmal lauschen, erst einmal Orientierung gewinnen. Von nirgendwoher Gebrüll, schon eine ganze Weile nicht mehr. Hatten sie die wilden Wenden schon abgeschüttelt? Oder brüllten die grausamen Krieger nicht mehr, weil die Seeburg näher rückte? Ganz ruhig, lieber Heiland, mach mich ganz ruhig. Runja betete stumm. Du wirst uns retten, nicht wahr? O gütiger Gott, wirst du uns retten?

Eine Elster landete zwei Schritte entfernt zwischen den Blaubeersträuchern. Struppig, klein, mit seltsam schiefem Kopf. »Angelus!«, zischte Waldemar. »Das ist er, das ist Angelus!«

»Wieso ›er‹?« Runja flüsterte, verstand kaum die Hälfte. »Wieso ›Angelus‹?«

»Weil er ein Hahn ist. Und ein Engel. Wahrscheinlich. Heißt ›Engel‹ nicht ›Angelus‹ auf Lateinisch?«

Das war ihr gleichgültig, denn das Herz schlug ihr in Kehle und Schläfen. Die kleine Elster aber breitete ihre Schwingen aus, erhob sich über die entwurzelte Buche, stieg über die Wipfel. Vierzig Schritte weiter kreiste sie über einem lichten Waldstück, bevor sie auf der höchsten von drei Birken landete. Dort krähte und zeterte sie.

»Da verläuft der Fahrweg in die Burg«, flüsterte Runja. Sie schob sich unter dem Stamm hervor und spannte die Armbrust. Endlich kam sie dazu.

»Genau dort entlang dürfen wir nicht gehen.«

»Wieso nicht?« Runja lauschte. Es blieb dabei: keine Stimmen mehr, kein Rascheln, kein Splittern. »Das ist unser Weg. Tausend Schritte noch höchstens bis zur Burg.« Sie legte einen Bolzen in die Sehne, richtete sich auf den Knien auf. »Bleib geduckt, lass uns schleichen.«

Waldemar hielt sie fest. »Nicht dorthin, wo Angelus sitzt und schimpft.«

»Warum nicht?« Runja machte sich los, kroch auf den Knien durchs niedrige Buchengehölz.

»Dort lauert jemand«, flüsterte Waldemar hinter ihr. »Der Elsternhahn will uns warnen. Merkst du das nicht, dumme Gans?«

»Nicht frech werden, kleiner Furz.« Runja stand auf. »Komm schon. Keine Elster auf der Welt warnt einen Menschen vor Feinden.« In gebückter Haltung schlich sie zwischen den größer werdenden Buchenbüschen dem Burgweg entgegen.

Auf einmal wieder Gebrüll, lauter und näher als zuvor – drei Männer brachen aus dem Gestrüpp bei den Birken am Wegrand. »Wir haben sie!« Wendische Krieger, struppig und bärtig, in Leder und Fell. Sie schwangen Äxte und Lanzen. »Hierher! Wir haben sie!« Und schon erhob sich wieder Rascheln und der Lärm brechender Äste ringsum im Wald. Die Elster flog davon.

Runja riss die Armbrust hoch, schoss, warf sich zwischen die Büsche, spannte die Waffe erneut. Jemand schrie wie unter großen Schmerzen. Hinter ihr sprang Waldemar aus der Deckung, jagte den wilden Kriegern einen Pfeil entgegen. Ein kurzer gellender Schrei, dann ein Fluch. An ihr vorbei und tief geduckt, rannte Waldemar ins Buschwerk. Runja folgte ihm, tastete nach einem Pfeilbolzen im Brustgurt.

Kurz blieb sie stehen, spähte zum Weg: Nur einer der drei Heiden stand noch auf den Beinen. Fluchend und die Lanze über die Schulter gestemmt, drehte er sich um sich selbst. »Hierher! Schnell!« Er schrie, er hatte Angst – Runja hörte es seiner Stimme an. Schrittlärm und Rufe näherten sich aus dem Wald, näherten sich beängstigend schnell.

Runja wartete, bis der Krieger ihr den Rücken zuwandte, dann löste sie den Abzugsbügel aus. Der Pfeilbolzen traf den Mann im Nacken. Niemand schoss so zielsicher wie die Tochter des Ritters Unger von Seeburg; niemand in der Burg, niemand in der gesamten Grafschaft Zvarin. Außer ihr Lehrmeister: der Vater.

Runja senkte die Armbrust. Sie hörte den Wenden stöhnen, sie hörte ihn röcheln, hörte ihn im Unterholz aufschlagen. Das Gewissen stach sie nicht im Geringsten: ein Heide, ein Mordbube, ein Wende. So einen durfte man von hinten erschießen.

Weiter. Sie hetzte Waldemar hinterher, achtete jetzt darauf, keinen Zweig zu zertreten, kein Geäst anzustoßen. Sie erreichten den Burgweg, überquerten ihn, liefen in dichteren Wald. Runja überholte ihren Bruder, lief zielstrebig zum Fuchsbau, erspähte den Wildpfad zum Waldteich, bog in ihn ein. Sie kannte sich besser aus hier im Wald als Waldemar.

Der Pfad nahm kein Ende, wie zäher Morast stockte die Zeit, Runjas Beine wurden schwerer und schwerer. Am Teichufer endlich sah sie die beiden wuchtigen Rundtürme über die Wipfel ragen. Die Seeburg! Noch höchstens fünfhundert Schritte bis zum Tor!

Waldemar stolperte. Runja packte seinen Arm. »Halt durch!« Sie riss ihn hoch, riss ihn hinter sich her. »Weiter! Gleich haben wir’s geschafft!«

Dann endlich der Waldrand, die Rodung vor der Wehrmauer, die ersten Gehöfte. »Wenden!«, schrien Runja und Waldemar wie aus einem Hals. »Rette sich, wer kann!«

Sie rannten über die Rodung, liefen dem Tor entgegen. Runjas Brust stach und brannte schon, kaum spürte sie noch ihre Füße, ihre Knie, ihre Schenkel. Und gütiger Gott – wie ihr Herz raste!

Die ersten Bauern sprangen aus Ställen und Obstgärten, ein paar Frauen und Kinder liefen bereits auf die Burgmauer zu, trieben Schweine vor sich her. Zwischen den Zinnen der Wehrmauer tauchten erste Helme und Lanzen auf. Runja winkte, hatte keinen Atem mehr für Geschrei. Am hohen Wuchs und der breiten Gestalt erkannte sie Helmold, den Vetter des Grafensohns.

»Die Heiden kommen über uns!« Waldemars Stimme überschlug sich. »Wenden im Wald! Öffnet das Tor!«

Zusammen mit ein paar Bäuerinnen, ihrer Kinderschar und ihrem Borstenvieh erreichten sie den Burggraben. Wie gut, das Rasseln und Quietschen der Zugbrücke zu hören. »Danke, lieber Heiland!« Runja bekreuzigte sich. »Gesegnet seist du, Heilige Jungfrau.«

Sie sprangen auf die Brücke, rannten durchs Tor. Im Burghof lief ihnen der Vater entgegen. »Wo kommt ihr her? Was ist geschehen?« Er öffnete die Arme; Runja stürzte hinein. Zuhause! Der Vater! Seine Stimme, seine Arme! Tief sog sie es in sich hinein, dieses Gefühl von Geborgenheit und Schutz. Des Vaters liebe Stimme! Des Vaters starke Arme! In ihrer Brust lösten sich Angst und Anspannung. Sie weinte.

»Wölfe«, stammelte sie unter Tränen. »Erst Wölfe, dann Wenden.« Sie klammerte sich an ihm fest. Wie gut, ihn zu spüren – den Starken, den Ritter, den Vater. »Sie wollten Waldemar töten, wollten mich fangen.« Der Vater hatte ihr Wendisch beigebracht, jedes Wort der Heiden hatte sie verstanden. »Sie haben das gräfliche Heer weggelockt von der Burg. Gleich stehen sie vor dem Tor.«

Der Vater rief Befehle, verlangte nach Bogenschützen, heißem Sand, heißem Öl und Feldsteinen. Seinen Waffenträger Wulf und einen alten Ritter namens Alwin schickte er mit zehn Bogenschützen an die Nordmauer. Der Vater befehligte die Burg während der Abwesenheit des Grafen; er, der Ritter und Burgmarschall Unger, war der erste Mann. Noch vor Heinrich, dem Grafensohn.

Dessen dürre Gestalt erschien jetzt über der Treppe zur Hauptburg. Wie der Vater trug er Kettenhemd und Harnisch und klemmte einen gehörnten Helm unter den Arm. Auf sein Langschwert gestützt nahm er Stufe um Stufe, hinkte schließlich über den Hof.

»Höre ich recht? Wenden?« Er hinkte zu Runja, berührte ihr Haar. »Sie haben dir doch nichts getan, mein Täubchen, mein Herz!« Runja schüttelte den Kopf. »Bleib in meiner Nähe, wenn der Kampf beginnt, ja, Täubchen? Ich werde dich beschützen.« Er stülpte den Helm über.

Runja wandte sich ab und lief zur Treppe. Pass nur auf, dass du dir nicht den Schniedel abstichst mit deinem Riesenschwert, Ritterchen. Sie spuckte aus. In ihrer Kammer schälte sie sich aus den nassen und zerrissenen Kleidern, zog ein Wildlederkleid über frische Wäsche.

Danach kletterte sie zum Vater auf die Wehrmauer. Von oben sah sie Waldemar mitten im Burghof. Halbwüchsige, Kinder und Frauen umringten ihn, bedrängten ihn mit Fragen. Auch die Mutter, die Tante, die jungen Vettern und die Basen entdeckte sie in der Schar.

Von allen Seiten rannten die Bogenschützen zu den Mauerstiegen. »Hoch mit euch, schnell!« Mehr als zwanzig Männer waren es nicht, die nun zur Mauer hinaufkletterten. Die meisten Schützen waren mit dem Grafen gegen die Wenden gezogen. Nur insgesamt fünfzig Krieger hatte Gunzelin zur Sicherung der Seeburg zurückgelassen.

»Du auch, Waldemar!«, rief der Vater. »Wo bleiben die Steinkörbe? Glüht der Sand schon? Stehen Öl und Wasser auf dem Feuer?«

Runja spannte ihre Armbrust, spähte zwischen den Zinnen hindurch. Die letzten Bauern rannten von den Gehöften herbei. Manche trugen Greise huckepack oder zogen Kranke, Lämmer und Gänse auf Leiterwagen hinter sich her.

Sie schaute nach rechts und in den Gesichtshelm des Vaters. Runja sah sein Gesicht nicht mehr, spürte dennoch, auf welche Weise er sie anblickte: voller Stolz und Zärtlichkeit. Sie schaute nach links: Waldemar und die gräflichen Schützen legten die ersten Pfeile in ihre Bögen. Dahinter, auf der Wehrmauer über dem Tor, befahl Helmold, die Zugbrücke hochzuziehen. Sein jüngster Bruder stand bei ihm.

Sein Vetter Heinrich, der Grafensohn, schaffte es trotz seines verletzten Beines auf die Wehrmauer, hockte sich nur wenige Schritte von Runja entfernt an einen Flaschenzug. Der quietschte und knarrte kurz darauf – der erste Korb mit den Feldsteinen schwebte herauf.

»Wirst du wohl die Zugbrücke unten lassen?« Der Vater blaffte zu Helmold hinüber, der das Tor befehligte.

»Siehst du nicht die Heiden?«, schrie der junge Helmold zurück. »Stürmen doch schon auf die Rodung!« Und er hatte recht: Einen wendischen Krieger nach dem anderen spuckte der Wald aus.

»Die Brücke bleibt unten, bis ich’s sage, du Hundsfott!« Der Vater wurde laut. »Bis auch der letzte lahme Bauer in der Burg ist!« Alle auf der Wehrmauer zogen die Köpfe ein, alle außer Helmold. Doch er gehorchte; die Brücke senkte sich wieder über den Graben.

Runja bekreuzigte sich, legte die Armbrust zwischen zwei Zinnen, zielte und wartete ab. Die Sturmspitze der heidnischen Angreifer erreichte eben das erste Gehöft. Schräg unter ihr hetzten die Bauernfamilien über die Brücke und in den Burghof.

»Gebt allen Lanzen und Keulen, die sie halten können!«, rief der Vater in den Hof hinunter. »Herauf zur Mauer, wer Steine stemmen kann! Die anderen zu den Kesseln!«

Frauen und Halbwüchsige schleppten bereits Eimer mit dampfendem Wasser aus der Burgküche zu den Flaschenzügen und Mauerstiegen. Im Burghof entzündeten alte Männer Holzstöße unter Kesseln. Mädchen und Jungen leerten Wasser in die einen, Rapsöl, Sand oder Schlachtfett in die anderen.

Die letzten Bauersleute zogen Handkarren mit Kleinkindern, Siechen und Kranken über den Burggraben und durchs Tor, sanken erschöpft im Burghof nieder. »Hoch mit der Brücke!«, befahl der Vater. Rasseln und Knarren setzten ein, die Zugbrücke hob sich, das Torgitter fiel ratternd, schlug lärmend auf der Torschwelle auf.

Kaum dreihundert Schritte trennten die ersten Angreifer noch von der Mauer. Dreißig wendische Krieger zählte Runja; ein massiger, graubärtiger Hüne führte sie an. Weitere fünfzig folgten, und immer noch stürmten einzelne Männer und kleine Rotten aus dem Wald.

Runja nahm einen Lanzenträger ins Visier und schoss den Pfeilbolzen ab – der Krieger stürzte ins Gras, überschlug sich, griff sich an den Hals. Runja duckte sich, lehnte mit dem Rücken gegen die Mauer, spannte ihre Waffe aufs Neue.

Ihre kunstvoll gearbeitete Armbrust – halb aus Eibenholz, halb aus Hirschhorn – stammte aus der Werkstatt eines morgenländischen Meisters. Runjas Vater hatte sie einem maurischen Krieger abgenommen, den er im Zweikampf getötet hatte. Sie war zierlicher und leichter als die Armbrüste, die man von den Normannen oder aus dem Frankenreich kannte. Dennoch schoss sie weiter als die Kriegsbögen der sächsischen Ritter oder der wendischen Krieger.

Runja schob sich an der Mauer hoch, legte ihre Armbrust zwischen die Zinnen und zielte und schoss. Und wieder brach ein Angreifer getroffen zusammen. Grimmige Freude erfüllte sie. Hinunter auf die Planken des Wehrganges und den nächsten Bolzen in die Armbrust gespannt!

Als sie den Kopf wieder hoch zu den Zinnen hob, erschrak sie: Auf dem Burgweg rollten Fuhrwerke der Seeburg entgegen, beladen mit Rammböcken und Sturmleitern. Zwei Gespanne zogen Katapulte. Auch von Norden her schafften die Heiden Gerätschaft heran.

»Heißes Wasser an die Pechnasen!«, schrie Heinrich, der Grafensohn. Statt Körbe mit Feldsteinen schob er jetzt Eimer, aus denen Dampf quoll, auf den Wehrgang. Die Bogenschützen traten vor die Zinnen, der erste Pfeilhagel ging auf die Angreifer nieder.

»Schafft glühenden Sand auf die Mauern!«, verlangte der Vater. »Wo bleibt das Öl?!« Und dann hörte Runja ihn fluchen. »Willst du wohl auf deinem Posten bleiben, du Hundsfott!«

Runja spähte zum Tor, während sie die Armbrust wieder spannte. Helmold kletterte von der Tormauer in den Hof hinunter; sein kleiner Bruder Walter und eine Handvoll Krieger folgten ihm. »Jemand muss die hintere Mauer befehligen!«, rief Heinrichs Vetter im Laufen. »Dort hat’s schon Tote gegeben!«

»Und warum weiß ich nichts davon? Du tust, was ich sage!« Doch Helmold hörte nicht, stürmte schon am Südturm vorbei. »Stinkender Hundsarsch, du!«, fluchte der Vater.

Runja schoss. Daneben diesmal. Schade. Gut drei Dutzend Wenden hatten den ersten Pfeilhagel überstanden, suchten vor dem zweiten hinter den Fuhrwerken Deckung. Runja spuckte aus, duckte sich hinter die Mauer, tastete nach dem nächsten Pfeilbolzen.

Ein Blick auf den Vater: Wie wild er gestikulierte, wie durchdringend seine Befehle über die Wehrmauer hallten, wie schnell er auf jede Veränderung draußen vor der Wehrmauer reagierte! Runja bewunderte ihn. Seine Nähe flößte ihr Siegesgewissheit ein. Vom Flaschenzug aus winkte ihr Heinrich zu. Sie tat, als merkte sie es nicht, spannte den Bolzen in die Sehne.

Nicht weit von ihr schoss Waldemar Pfeil um Pfeil auf die Angreifer. Sie beobachtete ihn: den Pfeil in die Sehne legen, den Bogen spannen, die Sehne loslassen, hinter die Schulter greifen, den nächsten Pfeil aus dem Köcher reißen und in die Sehne legen – eine einzige Bewegung war das; und wie anmutig das aussah!

Ihre Blicke trafen sich. Sie nickten einander zu, lächelten flüchtig, kämpften weiter. Runja sprang auf, legte die Armbrust an, schoss. Und traf. Doch schon zerrten die Wenden unten vor dem Burggraben die Leitern von den Fuhrwerken. Eine kleine Heidenrotte brachte den Katapult in Stellung. Runja spannte die Armbrust, ohne in Deckung zu gehen, schoss auf einen der Krieger beim Katapult. Und traf.

»Wir werden sie zertreten wie Würmer, mein Täubchen!« Von links hörte sie Heinrich rufen. Kein Wort wollte sie verstehen. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie er sich hochstemmte und vom Flaschenzug zu den Zinnen hinkte. Dort höhnte und fluchte er zu den Heiden hinunter. Plötzlich riss er die Arme hoch, taumelte rückwärts gegen den Flaschenzug, fiel seitwärts auf Wehrgang und Stiege und stürzte in den Hof hinunter.

Runja hörte ihn aufschlagen. Sie stieß sich von der Mauer ab, beugte sich über den Wehrgang, sah hinunter: Da lag er, der Grafensohn, und ein Pfeil ragte aus seiner rechten Augenhöhle. Kinder und Frauen umringten ihn und bekreuzigten sich.