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Nicht zu wissen, ist manchmal schwerer zu ertragen als zu wissen Familie bedeutet für Isa: sie, ihr Vater, ihr jüngerer Bruder Ben und ihre Pflegegeschwister Alexander und Sera. Mehr braucht sie nicht. Doch dann verschwindet Ben auf der Suche nach ihrer Mutter in der Provence, und für Isa steht fest, dass sie verhindern muss, dass ihre Mutter die Familie noch einmal zerstört. So, wie Adéle es schon einmal getan hat, als sie vor vielen Jahren einfach abgehauen ist. Um Ben zu finden, muss Isa sich jedoch den Geheimnissen ihrer Familie stellen. Geheimnisse, die nicht nur die verwirrenden Gefühle zwischen Alexander und ihr bedrohen, sondern auch dazu führen, dass Isa alles infrage stellen muss, was sie über sich selbst und ihr Leben zu wissen glaubte … Hochemotional zeigt Kathrin Lange, dass Familie das ist, was man gemeinsam daraus macht und wie wir selbst bestimmen können, wer wir sind.
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Seitenzahl: 473
Weitere Bücher von Kathrin Lange im Arena Verlag:
Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein HerzDie Fabelmacht-Chroniken (1). Flammende ZeichenDie Fabelmacht-Chroniken (2). Brennende Worte
Kathrin Langegeboren 1969, arbeitete als Verlagsbuchhändlerin undMediendesignerin, bevor sie 2005 das Schreiben zu ihremBeruf machte. Seither ist sie für ihre Thriller und fantastischenJugendbücher bekannt. Kathrin Lange lebt mit ihrerFamilie in der Nähe von Hildesheim.
Ein Verlag in der Westermann Gruppe
1. Auflage 2024
© 2024 Arena Verlag GmbH
Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Textbaby Medienagentur, www.textbaby.de
Text: Kathrin Lange
Lektorat: Laura Held
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München
Umschlagmotive: Johannes Wiebel; mariadeta – stock.adobe.com
Layout und Satz: Malte Ritter, Berlin
E-Book ISBN: 978-3-401-81092-8
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We are all broken. That’s how the light gets in.(Ernest Hemingway zugeschrieben)
Die Bustür öffnete sich und mit einem Hüpfer landete IsaDurant auf dem Bürgersteig neben dem Fahrzeug. Sie drehte sich um und wartete, bis ihr Bruder Ben und Sera, ihre Wahlschwester, ebenfalls ausgestiegen waren. Dann verzog sie die Mundwinkel zu einem spöttischen Grinsen. »Der Typ da eben hätte nur allzu gerne deine Telefonnummer gehabt«, sagte sie zu Sera.
Die blies sich gegen die dunkelblonden Haarsträhnen und verdrehte die Augen. »Klar.«
Isa lachte. »Komm schon! Der war doch wirklich ganz süß!«
»Süß?«, warf Ben ein. »Der war einfach nur ein Macho!«
Das sah Isa anders, aber sie behielt das lieber für sich. Ben und sie hätten für Zwillinge durchgehen können, obwohl Ben fast ein Jahr jünger war als sie. Sie hatten beide das gleiche schmale Gesicht und die gleichen feinen Haare, die so hellblond waren, dass sie im Sonnenlicht manchmal weiß wirkten.
»Ist doch egal!« Sera zuckte mit den Schultern. Sie hatte den Jungen im Bus längst abgetan, das war klar. Isa betrachtete ihre Wahlschwester einen Moment lang. Nicht nur, dass Sera fast einen Kopf größer war als Isa und Ben, ihre Haare waren viel dunkler und kräftiger als Isas und ihre Züge energisch. Selbstbewusst, fand Isa. Wenn es ein Wort gab, das Sera beschrieb, dann war es selbstbewusst.
»Sie ärgert sich immer noch über die blöde Lefebre«, erklärte Ben mit einem Grinsen. Und diesmal hatte er recht. Sera schien in Gedanken wirklich noch bei der letzten Schulstunde dieses Tages zu sein. Kurz zuvor, im Bus, hatte sie Isa und Ben erzählt, dass MadameLefebre, ihre Physiklehrerin, sie zum Vorrechnen an die Tafel geholt hatte. Sera war an der komplizierten Formel spektakulär gescheitert und der herablassende Spott ihrer Lehrerin wurmte sie.
»Jetzt hör schon auf, über die blöde Kuh zu grübeln!«, rief Isa. »Weiß doch jeder, dass die Frau einen Knall hat.« Sie selbst hatte MadameLefebre in Mathe und in dem Fach stand demnächst eine Klausur an, die sie eigentlich hätte nervös machen sollen. Aber Isa hatte, so lange sie denken konnte, einen Wahlspruch: Über Dinge, die man nicht ändern konnte, sollte man besser nicht allzu lange grübeln. Das, worüber Sera sich manchmal tagelang aufregen konnte – ein Pickel auf der Stirn, ein verregnetes Wochenende oder eine verhauene Klausur zum Beispiel –, entlockte Isa meist nur ein müdes Lächeln. Irgendwie, dachte sie, war das schon immer so gewesen: Tief in ihrem Innersten wusste sie, dass die alltäglichen, kleinen Katastrophen belanglos waren. Weil einem nämlich jederzeit etwas wirklich, wirklich Schlimmes passieren konnte. Etwas, worüber es sich zu grübeln lohnte …
Ihre Gedanken wurden unterbrochen, weil Sera sich bei ihr unterhakte. »Hast ja recht.« Sie machte ein so komisch-verzweifeltes Gesicht, dass Isa auflachte.
»Alte Grüblerin!« Sie knuffte Sera in die Seite, dann zog sie sie mit sich, die Straße entlang, in der ihr Zuhause lag.
Der Art-déco-Hausflur wirkte dunkel gegen die kalte Frühlingssonne, die über Paris schien. Isa wandte sich dem Briefkasten mit der Aufschrift Durant / Leroc zu und während sie in ihrer Jackentasche nach ihrem Schlüsselbund kramte, verkündete Sera: »Ben und ich gehen schon mal hoch!«
»Macht das.«
Die beiden liefen die geschwungene hölzerne Treppe nach oben. Isa fand den Schlüsselbund, öffnete den Briefkasten und sah hinein. Mehrere Sendungen lagen darin, darunter zwei verspätete Glückwunschkarten für das vierte Mitglied ihres Geschwisterkleeblattes, Alexander, der vor ein paar Tagen achtzehn geworden war. Genau wie Sera war auch Alexander nicht mit Isa und Ben verwandt, sondern lebte als ihr Pflegebruder bei ihnen. Aber während Seras Mutter vor ein paar Jahren einmal eine längere Beziehung mit Isas und Bens Vater gehabt hatte, die irgendwann wieder auseinandergegangen war, war Alexanders Mutter vor ein paar Jahren bei einem furchtbaren Autounfall ums Leben gekommen. Wie so oft, wenn Isa daran dachte, musste sie schlucken. Sie schob die Gedanken an Alexander fort und sah die anderen Umschläge durch. Sie sahen allesamt offiziell aus. Rechnungen und Schreiben von der Bank oder einer Versicherung. Ein ziemlich großer Brief kam von dem Literaturagenten von Isas Vater, der Schriftsteller war. Auf allen Umschlägen stand der Name von Isas und Bens Vater: Johann Durant.
Und dann war da noch das in braunes Packpapier eingeschlagene Päckchen. Es maß vielleicht zehn mal zehn Zentimeter im Quadrat, war dafür aber auch mindestens drei oder vier Zentimeter dick. Die Postbotin musste es gerade so durch den Briefkastenschlitz bekommen haben.
Neugierig betrachtete Isa die auffällige Frauenhandschrift darauf.
Familie Durant
JohannIsménaBenjamin
Die Absenderin hatte Isas Namen ausgeschrieben, und den von Ben auch. Und sie hatte die Herzchen, die sie zwischen die Namen gesetzt hatte, sorgfältig gezeichnet und mit einer sauberen Schraffur gefüllt. Neugierig drehte Isa das Päckchen um, weil sie nachsehen wollte, von wem es kam.
Es hatte keinen Absender.
Sie hob ihren Rucksack auf, den sie kurz abgestellt hatte. Dann nahm sie die gesamte Post mit nach oben in die Wohnung, in der es jetzt am späten Nachmittag nach Essen roch und ein wenig nach dem Holzofen im Wohnzimmer, der meistens von Herbst bis Ostern brannte. Fast alle Wände der Wohnung waren mit randvollen Bücherregalen bedeckt. Die gesamte Einrichtung war eine Mischung aus chaotisch vollgestellt und hyperkreativ mit all den Büchern und Kunstwerken, die Isas Vater sammelte, mit den Bildern, die Isa selbst gemalt, und den Dingen, die Ben aus Schrottteilen zusammengeschraubt hatte und die seltsame Namen trugen wie Ikarus weint oder Ein Tag am singenden Meer.
Isa zog ihre Jacke aus und hängte sie an die Garderobe. Wie üblich waren Sera und Ben sofort nach dem Heimkommen in ihren Zimmern verschwunden. Alexander und auch Isas Vater würden heute erst kurz vor dem Abendessen zu Hause sein, sodass Isa nur auf Claudia traf, das deutsche Au-pair-Mädchen der Familie. Claudia stand in der Küche und bereitete irgendeine Quiche vor. Isa begrüßte sie beiläufig, legte die Briefe und die Glückwunschkarten für Alexander auf den Küchentisch und überlegte dann, ob sie mit dem Päckchen zu Ben gehen und es ihm zeigen sollte. Irgendwas jedoch hielt sie davon ab. Unschlüssig stand sie da.
»Post von einem Verehrer?«, fragte Claudia mit einem raschen Blick über die Schulter. Ihr Französisch war fast fehlerfrei, aber sie hatte einen harten deutschen Akzent, den Isa lustig fand, weil er so zackig klang.
»Ha, ha!«, murmelte sie, dann nahm sie das Päckchen mit in ihr eigenes Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Im Raum war es eisig, da sie heute Morgen das Fenster offen stehen gelassen und die kalte Frühlingsluft stundenlang Zeit gehabt hatte, sich breitzumachen. Isa legte das Päckchen auf den windschiefen Stapel ungelesener Bücher auf ihrem Nachtschrank. Ihren Rucksack ließ sie achtlos von der Schulter gleiten, die Schuhe streifte sie von den Füßen. Dann schloss sie das Fenster, drehte die Heizung auf und betrachtete einen Moment lang das Poster neben der Tür.
Es war eine Reproduktion eines Selbstbildnisses von van Gogh. Er trug darauf einen Verband um den Kopf, weil er sich in einem Anfall von Wahnsinn kurz vorher ein Ohr abgeschnitten hatte. Das Gemälde hatte Isa schon immer fasziniert, auch wenn sie nicht so recht sagen konnte, warum eigentlich. Es hatte so was Dramatisches an sich, das sie aus irgendeinem Grund ansprach. Außerdem mochte sie van Goghs Malstil. Die Art, wie er die Pinselstriche auf die Leinwand gesetzt hatte, sodass sich daraus Sonnenblumen oder Sterne ergaben, versuchte sie immer wieder zu kopieren – mit eher mäßigem Erfolg allerdings.
Sie wandte sich ihrer Staffelei und der leeren Leinwand darauf zu. Sie malte viel und gern, aber gerade wusste sie nicht, was das Motiv ihres nächsten Kunstwerks sein sollte. Mit einem Schnaufen warf sie sich der Länge nach auf das Bett.
Wer das Päckchen wohl geschickt hatte?
Sie schüttelte es vorsichtig. Etwas im Inneren klapperte. Sie setzte sich aufrecht hin. Sollte sie es öffnen? Es war immerhin auch an sie adressiert und sie konnte ihrem Vater und Ben den Inhalt ja später immer noch zeigen.
Vorsichtig löste sie das Klebeband und entfernte das Packpapier. Zum Vorschein kam ein kleiner Karton, in dem irgendwann einmal Macarons einer Handwerksbäckerei aus Avignon gewesen waren.
Isa runzelte die Stirn. Tante Claire, die Schwester ihres Vaters, lebte in Avignon. Ob sie das Päckchen geschickt hatte? Aber sie hatte nicht so eine schöne, fast dramatisch wirkende Handschrift. Vor allem aber würde die praktisch veranlagte Claire niemals Herzchen in eine Adresse malen. Nein, dieses Päckchen musste definitiv von jemand anderem kommen.
Noch neugieriger geworden, pulte Isa auch von dem Karton das Klebeband ab. Dann klappte sie den Deckel auf.
Zum Vorschein kam ein matt glänzendes rotes Seidentuch, das lose zusammengeknüllt den ganzen Karton ausfüllte. Es sah edel aus und ziemlich teuer. Vorsichtig schlug Isa seine Zipfel zur Seite. Darunter befand sich eine dieser Miniaturmechaniken, die man in Souvenirshops kaufen und in Spieluhren einbauen konnte. Isa nahm die Mechanik aus der Kiste und schaute auf die Unterseite.
Sur le Pontd’Avignon, stand dort auf einem kleinen Aufkleber. Verwundert drehte Isa die Spieluhr wieder um. Warum schickte ihnen jemand so ein Ding?
Auf der Suche nach einer Antwort warf sie einen Blick in den Karton. Unter dem Seidentuch lag ein zusammengefaltetes Blatt. Genau wie das Tuch wirkte auch das Papier teuer. Isa nahm es heraus, faltete es auseinander.
Dieselbe dramatische Handschrift wie auf dem Päckchen kam zum Vorschein. Die Nachricht war nur kurz.
Lieber Johann,
ich weiß, es ist lange her, und was geschehen ist, tut mir unendlich leid. Ich würde mich gern mit dir und den Kindern zur üblichen Zeit unter der Brücke treffen. Unsere Vergangenheit habe ich zerstört, aber vielleicht gibt es für uns ja eine Zukunft? Mein Herz sehnt sich danach.
Adèle
Isa ließ das Blatt sinken.
Adèle.
Ihr war ein wenig schwindelig zumute. Der Brief war von ihrer Mutter! Sie nahm ihn wieder auf, starrte auf die Worte, die vor ihren Augen verschwammen, und horchte in sich hinein, wo sich tief in ihrem Magen ein kleiner, schmerzhafter Knoten gebildet hatte. Adèle hatte die Familie schon vor Jahren verlassen. Isa war damals gerade mal vier Jahre alt gewesen und sie hatte so gut wie keine Erinnerungen an ihre Mutter. Ganz im Gegenteil: Für Isa war Adèle nur irgendeine Frau, die zwar zufällig Ben und sie geboren, die aber sonst nicht das Geringste mit ihnen zu tun hatte. Isa fühlte überhaupt nichts, wenn sie an Adèle dachte. Sie und Ben lebten bei ihrem alleinerziehenden Vater und das war völlig okay so.
Während ihr diese Gedanken durch den Kopf gingen, drehte Isa den seltsamen Brief in den Händen.
Was sollte sie nun tun? Spontan verspürte sie das Bedürfnis, Ben vor diesem Brief zu beschützen. Anders als sie hatte ihr kleiner Bruder nämlich oft Sehnsucht nach Adèle. Es beschäftigte ihn, dass er seine Mutter nicht kannte, und jetzt diesen Brief von ihr zu lesen, würde in ihm vermutlich die starke Hoffnung wecken, seine Mutter würde irgendwie wieder zu ihnen zurückkehren. Und ihr Vater? Was würde er empfinden, wenn er diesen Brief las? Isa wusste aus Erzählungen ihrer Tante Claire, dass er damals sehr lange und sehr stark unter Adèles Fortgang gelitten hatte.
Sie biss die Zähne aufeinander, legte den Brief auf die Bettdecke, nahm ihn wieder zur Hand.
Am besten, sie zeigte ihn und auch die Spieluhr Sera und besprach mit ihr, was sie nun tun sollte. Sera würde eine Lösung wissen. Sie wusste oft so viel besser, was man tun konnte, als Isa selbst.
Isa stand auf und trat mit Spieluhr und Brief auf den Flur hinaus. Bens und Seras Zimmertüren waren immer noch zu, vermutlich schrieben die beiden entweder mit Klassenkameraden oder waren auf Insta und TikTok unterwegs. Claudia briet Zwiebeln an und hatte dafür die Küchentür geschlossen, damit der Geruch nicht penetrant durch die ganze Wohnung zog. Drückende Stille umfing Isa. Alles, was sie hören konnte, war der gedämpfte Lärm des Verkehrs unten auf der Straße.
Aus irgendeinem seltsamen Grund machte diese Stille etwas mit ihr. Plötzlich wusste sie, was sie tun musste.
Sie ging ins Wohnzimmer, vorbei an dem Flügel, der dort stand, und hin zu dem brennenden Ofen. Direkt davor blieb sie stehen, spürte die Hitze auf ihrem Gesicht.
Sie nahm den Ofenhandschuh.
Zog ihn über und öffnete die Glastür. Sie zögerte, fragte sich, ob es richtig war, was sie vorhatte, aber dann gab sie sich einen Ruck. Sie warf beides, Spieluhr und Brief, in die Flammen.
Einige Wochen später
Isa umrundete die Ecke des Schulgebäudes und wäre beinahe mit Alexander zusammengerempelt, der bei den Fahrradständern stand und knutschte.
Mist!, dachte sie. Das hatte ihr ja gerade noch gefehlt. Der Tag war von Anfang an verkorkst gewesen. Gleich früh am Morgen hatte sie saure Milch auf ihr Müsli gegossen und es erst gemerkt, als sie einen Löffel voll davon schon im Mund hatte. Dann hatte sie die Matheklausur zurückbekommen, die sie bei MadameLefebre geschrieben hatte. Sie hatte sie natürlich verhauen, was sie mit ihrem üblichen Achselzucken kommentiert hatte. Und jetzt zu allem Überfluss musste sie auch noch mit ansehen, wie ihr großer Bruder an den Lippen eines Mädchens hing.
Das Mädchen hatte Isa den Rücken zugewandt, aber trotzdem erkannte sie sofort, dass es nicht Jeannine war, mit der Alexander zurzeit eigentlich ging. Jeannine hatte schulterlange dunkelblonde Haare, das Mädchen hier allerdings war weizenblond. Ihr Pferdeschwanz fiel ihr bis fast zu den Hüften hinab.
In der ganzen Schule gab es nur ein einziges Mädchen mit solchen Haaren.
Chloe!
Wann hatte Alexander mit Jeannine Schluss gemacht? Und was noch viel wichtiger war: Warum hatte er ihr nichts davon erzählt? Besonders die zweite Frage nervte Isa, denn eigentlich besprachen Alexander und sie alles. Wirklich alles. Auch wenn sie nicht verwandt waren: Alexander war ihr großer Bruder. Sie liebte und bewunderte ihn, wie man nur einen großen Bruder lieben und bewundern konnte, und umso mehr ärgerten sie seine neuerdings ständig wechselnden Freundinnen. Unbemerkt versuchte sie, sich an den beiden Turteltäubchen vorbeizuschieben. Es gelang nicht. Alexander öffnete genau im falschen Moment die Augen und entdeckte sie.
Mist!
»Lasst euch nicht stören!«, murmelte sie, ging mit gesenktem Kopf zu ihrem Fahrrad und schloss es auf. Seit es in Paris Frühsommer geworden war, verzichtete sie nur allzu gern auf den meist überfüllten Bus.
Alexander löste sich von Chloe. Über ihre Schulter hinweg grinste er Isa an, und wie immer, wenn er das tat, erschienen zwei tiefe Grübchen rechts und links seiner Mundwinkel. Der Anblick war Isa so vertraut, dass sie schlucken musste.
Zu allem Überfluss drehte sich jetzt auch noch Chloe zu ihr um. »Oh. Isa! Hey!«
»Hey, Chloe.« Isa zog ihr Rad aus dem Fahrradständer und wendete es. »Bis nachher, Al.« Sie wusste, dass er es hasste, wenn sie ihn so nannte. Er bestand mit großem Eifer darauf, dass er Alexander hieß, und zwar deutsch ausgesprochen, weil seine Mutter eine Bewunderin von Alexander von Humboldt gewesen war.
»Bei aller Knutscherei das Abendessen nicht vergessen!« Isa wartete Alexanders Erwiderung nicht ab, sondern schwang sich in den Sattel und machte, dass sie wegkam. Erst als sie um eine Hausecke gefahren war und Alexander sie ganz sicher nicht mehr sehen konnte, atmete sie tief durch.
Dieser Blödmann wechselte seine Freundinnen neuerdings wirklich wie andere Leute ihre Hemden. Es tat verblüffend weh, das zu denken, und wie an einer Schnur gezogen, wanderten Isas Gedanken zu dem Tag zurück, als sie neun Jahre alt gewesen war und ihr Vater Alexander bei sich aufgenommen hatte …
»Isa, Ben, ihr kennt Alexander ja. Er wird ab heute bei uns wohnen, und ich erwarte, dass ihr nett zu ihm seid.« Das hatte ihr Vater zu ihnen gesagt, als er mit Alexander den Hausflur betreten hatte. Vor Isa stand ein schmaler dunkelhaariger, gerade mal elfjähriger Junge mit großen, verblüffend blauen Augen, in denen es verdächtig glitzerte. Kein Wunder, dachte sie, denn sie wusste ja bereits, dass Alexanders Mutter bei einem Autounfall gestorben war. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn ihr Vater sterben würde. Oder Ben. Es ging nicht. Die beiden waren einfach immer da und es durfte – nein, es würde niemals, niemals anders sein! Alexanders Maman aber war tot. Sie war in ihr Auto gestiegen und nicht mehr zurückgekommen, aber nicht, weil sie abgehauen war, wie Isas Mutter. Sondern weil ein unaufmerksamer Lastwagenfahrer ihr Auto gerammt hatte. Einfach so. Isa hätte zu gern gewusst, was in Alexander vorging, aber auch wenn sich ihre Blicke sehr lange und sehr intensiv ineinander verhakten, konnte sie seine Gedanken nicht erraten. Sie sah ihm nach, als er schweigend an ihr vorbeiging und ihrem Vater in das Zimmer folgte, das extra für ihn eingerichtet worden war. Erst später am Tag – beim allerersten gemeinsamen Abendessen – machte Alexander den Mund auf. Isas Vater hatte gerade versucht, ein Gespräch in Gang zu bringen und irgendwas sehr Dummes gesagt wie: »Ist doch eigentlich schön, dass ihr jetzt noch einen großen Bruder habt, oder?« Isa erinnerte sich noch sehr genau, was Alexander daraufhin erwidert hatte.
»Ich kann nicht Isas Bruder sein.«
»Ach?«, rutschte es Ben raus. »Und warum nicht?«
»Weil ich sie später mal heiraten werde.«
Vor lauter Lachen prustete Ben seinen Orangensaft quer über den Tisch. Ihr Vater sah ihn tadelnd an und fasste dann Alexander ins Auge. »Das ist ein sehr nettes Kompliment«, sagte er und Isa hatte nicht so recht gewusst, was sie denken sollte. Sie fand den Spruch irgendwie sonderbar, gleichzeitig aber auch ziemlich süß.
Alexander jedoch hatte nur mit den Schultern gezuckt. Danach hatte er viele Tage lang gar nicht mehr gesprochen und es hatte lange gedauert, bis er seine Trauer um seine tote Mutter überwunden hatte und zu ihrem großen Bruder geworden war. Seitdem jedoch war er ein fantastischer großer Bruder. Einer, um den Isa viele beneideten. Er war zur Stelle, wenn sie etwas von einem hohen Regal nicht selbst herunterholen konnte oder wenn sie einen Schraubverschluss nicht aufbekam. Früher hatte er ihr Mut zugesprochen, wenn sie sich im Freibad nicht vom Dreier getraut hatte. Er hatte mit ihr aus Decken und Stühlen Höhlen gebaut und darin die halbe Nacht im Schein von Taschenlampen Comics gelesen … Sie presste die Lippen aufeinander.
Die Erinnerung fühlte sich an wie etwas, das wütend in ihrem Kopf herumpolterte. Gleichzeitig war es, als würde jemand sie gegen den Strich streicheln. Das nervte total und nicht mal der Anblick der langsam dahinfließenden Seine und die Pont de Grenelle, die sie sonst sehr mochte, gefielen ihr heute. Das Haus ihrer Familie lag in einem Viertel links von dem großen Fluss. Isa und ihre Geschwister gingen allerdings auf eine Privatschule im 16. Arrondissement, und das war am anderen Ufer. Darum musste sie auf dem Schulweg eben diese Pont de Grenelle überqueren. Es war eine breite Brücke, auf der sie sich manchmal vorkam wie zwischen zwei Welten hindurchgefallen. Linker Hand konnte man von hier aus nämlich den Eiffelturm sehen, und rechter Hand, auf einer kleinen Landzunge mitten in der Seine, stand eine Kopie der Freiheitsstatue. Manchmal, wenn Isa über diese Brücke fuhr, kniff sie spaßeshalber die Augen zusammen und stellte sich vor, dass sie nicht durch Paris radelte, sondern durch Manhattan.
Heute allerdings war sie mit ihren Gedanken zu sehr bei Alexander für solche Spielchen.
Mit einem Kopfschütteln blieb sie an einer roten Ampel stehen. Das war genau der Moment, als ihr Handy klingelte. Seufzend schob sie das Rad ein Stück zur Seite und nahm das Telefon aus der Tasche. Ben, verkündete das Display.
Ihr jüngerer Bruder war mit seinem Geschichtskurs für eine Woche auf Studienfahrt in der Provence. Die Reise war ziemlich wichtig für ihn, denn er musste anschließend darüber einen Essay schreiben. Und von diesem Essay hing ab, ob er in die nächste Klasse versetzt werden würde. Ben nahm die Sache sehr ernst und aus genau diesem Grund hatte Isa nicht damit gerechnet, etwas von ihm zu hören. Dass er so unvermittelt anrief, machte sie ein bisschen nervös.
War ihm etwa was passiert? Eilig nahm sie ab. »Hey!«
»Hey, Isa! Ich bin’s!«
»Ist was passiert?«, rutschte es ihr tatsächlich raus, und sie biss sich auf die Lippe. Ben hasste es, wenn sie ihn bemutterte.
»Nö? Wieso soll was passiert sein?« Er klang überrascht, aber nicht so, als habe er ihre Reaktion nicht erwartet, sondern eher, als wundere er sich gerade über die gesamte Welt. »Wir haben heute einen Tagesausflug nach Avignon gemacht und Talleyrand hat uns den Nachmittag freigegeben, damit wir uns die Stadt ansehen können.« Sie hörte ein Grinsen in seiner Stimme.
Isa war erleichtert. »Avignon! Wie cool! Da hättest du ja direkt Tante Claire besuchen können.«
Tante Claire lebte auf einem alten Weingut in der Nähe der Stadt, und wenn Isa an sie dachte, hatte sie diverse Sommerferien in der Provence im Kopf. Dann spürte sie sofort das Gefühl von Sonne auf der Haut, hatte den Geruch von Lavendel oder reifen Feigen in der Nase. Ferien bei Tante Claire, das bedeutete: lange faule Nachmittage unter uralten Olivenbäumen und Platanen, winzige Fledermäuse, die nach Einbruch der Dunkelheit unter einer mit Blauregen bewachsenen Pergola auf Beutezug gingen. Nicht zu vergessen, Tante Claires unfassbar leckere provenzalische Küche … Beinahe hätte Isa bei all diesen Erinnerungen wohlig geseufzt.
»Hab ich nicht, nein. – Isa …?« Plötzlich klang Ben angespannt. »Ich rufe dich wegen was ganz anderem an.«
In Isas Magen bildete sich augenblicklich ein Knoten. »Was ist los, Ben?«, fragte sie. So wie Alexander ihr großer Bruder war, war sie Bens große Schwester. Solange sie denken konnte, hatte sie sich Sorgen um ihn gemacht.
Ben atmete tief durch. »Okay. Ich …«
Bevor er weitersprechen konnte, erklang im Hintergrund eine Frau: »Mit wem telefonierst du da? Ist das Isa? Los doch! Sag es ihr!« Isa hatte die Stimme noch nie gehört.
»Gleich!«, sagte Ben zu der unbekannten Frau, dann kehrte er ans Telefon zurück. »Hör zu, Schwesterherz.« Jetzt klang er, als hätte er sich entschlossen, den Sprung von einer hohen Klippe zu wagen. »Das eben, das war … Maman.«
Isa nahm das Handy vom Ohr, starrte es an. Presste es wieder ans Ohr. »Du verarschst mich doch!«
»Nein, ich … he! Wo willst du denn hin?« Die letzten Worte rief er offenbar der Frau hinterher, dann wandte er sich wieder an Isa. »Ich muss Schluss machen. Ich melde mich wieder.«
Nichts da, kleiner Bruder!, wollte Isa ihn anfahren, aber da hatte er schon aufgelegt.
Isa lehnte das Rad, das sie das ganze Telefonat über zwischen den Beinen festgehalten hatte, an eine Hauswand. Zum ersten Mal seit Wochen musste sie wieder an das Päckchen denken, dessen Inhalt sie aus einem Impuls heraus verbrannt hatte. Erst hatte ihre Mutter ihnen dieses Päckchen geschickt, und jetzt traf sie sich mit Ben? Es sah fast so aus, als sei sie nach all den Jahren wirklich wild entschlossen, wieder Kontakt zu ihrer Familie aufzunehmen.
Isa war unsicher, ob sie das gut oder schlecht finden sollte.
Warum hatte Ben so angespannt geklungen?
Sie versuchte, ihn zurückzurufen. Vergeblich. Ben ging nicht ran, aber er schickte ihr eine kurze Nachricht.
Melde mich! Erzähl Papa nichts, okay?
Sie ahnte, warum er darum bat. Ihr Vater wäre in den Grundfesten erschüttert, wenn er erführe, dass ihre Mutter wiederaufgetaucht war. Okay, schrieb sie zurück. Mit einer Mischung aus Verwirrung und Beunruhigung stieg sie anschließend wieder auf ihr Rad.
Die Gedanken kreisten durch Isas Kopf, als sie durch ihr Heimatviertel fuhr. Wieso tauchte Adèle nach all den Jahren plötzlich wieder auf? Hatte Ben sie zufällig in Avignon getroffen? Oder hatte Ben sich da unten auf die Suche nach ihr gemacht? Immerhin hatte ihre Familie mal dort unten in der Provence gewohnt – damals, als Adèle noch bei ihnen gewesen war. Vielleicht hatte Adèle ja nach dem Schicken des Päckchens auch irgendwie Kontakt mit Ben aufgenommen. Hatte sie gewusst, dass er auf Klassenfahrt in der Provence war?
An der nächsten roten Ampel versuchte Isa, ihren kleinen Bruder noch einmal anzurufen. Vergeblich.
Okay. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten. Ben hatte versprochen, sich wieder zu melden. Vielleicht sollte sie einfach Ruhe bewahren, bis er das tat. Vielleicht war das Ganze ja auch nur ein übler Scherz.
Ja, genau. Ein Scherz! So musste es sein. Sicher hatte sie ihn mit irgendwas verärgert und jetzt rächte er sich auf diese fiese Weise …
Die Ampel sprang um und Isa radelte weiter durch die Straßen des Quartier Germain. Die Wohnung ihrer Familie lag in einem eleganten Bau aus dem 19. Jahrhundert mit vier Stockwerken, winzigen Balkons vor den Fenstern und dem für Paris so typischen metallbeschlagenen Dach. Obwohl ihr Vater als Schriftsteller recht erfolgreich war, hätte er sich eine Wohnung in einem der teuersten Viertel von Paris nie im Leben leisten können. Aber er hatte die Wohnung von seinen Eltern geerbt, vor vielen Jahren schon, als die Innenstadt von Paris noch nicht so teuer gewesen war wie heute. Dieser Tage war eine Wohnung in ihrem Viertel und von ihrer Größe locker einen niedrigen Millionenbetrag wert.
Zu Hause angekommen schloss Isa die Haustür auf, brachte ihr Rad in den Keller und war gerade auf dem Weg die Kellertreppe nach oben, als die Haustür sich erneut öffnete.
Alexander schob sein silbernes Rennrad in den Flur. »Mademoiselle.« Mit einer übertriebenen Verbeugung und einer affektierten Handbewegung bedeutete er ihr, die Treppe frei zu machen, damit auch er sein Rad nach unten tragen konnte.
Der Gedanke an Chloe und die Art, wie er mit ihr rumgemacht hatte, vertrieb Isas Grübelei über Bens sonderbaren Anruf. Ein ganz feiner Stich fuhr ihr durch den Magen. Sie wollte sauer auf Alexander sein, weil er schon wieder eine neue Freundin hatte, aber irgendwie ging es nicht. Das, was sie empfand, fühlte sich nicht an wie Ärger oder Wut. Aber was war es dann? Sie bekam es nicht so recht zu fassen. Mit zusammengepressten Lippen überwand sie die letzten Stufen. Alexander überragte sie um einen ganzen Kopf. Als sie sich an ihm vorbeischob, roch sie das Aftershave, das sie ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Fierce hieß es. Bisher hatte er es noch nie benutzt. Sie mochte den Geruch, aber sie hielt trotzdem die Luft an, als sie sich an ihm vorbeischob und ihm dabei ganz nahe kam. Sie war schon halb die Treppe in den ersten Stock hoch, als er ihr nachrief.
»Hey!«
Sie verdrehte die Augen, blieb aber stehen.
»Isa …«, sagte er.
Jetzt erst drehte sie sich um. »Was denn?« Sie klang schroff, das hörte sie selbst. Seltsamerweise hatte sie seit Kurzem ganz oft, wenn sie mit ihm redete, das Gefühl, ihn anzicken zu müssen.
Alexander stand immer noch vor der Kellertür. Sein Rad befand sich zwischen ihnen. »Ist alles okay mit dir?«, fragte er. Das war so typisch ihr großer Bruder. Er hatte ihr schon immer angesehen, wenn etwas nicht in Ordnung war, und genau das hasste sie jetzt gerade. Wie eigentlich alles an ihm. Sein gutes Aussehen. Sein schwaches, leicht verunsichertes Lächeln. Die Art, wie er sich ständig Sorgen um sie machte. Das vor allem fühlte sich seit Kurzem nicht mehr beruhigend an, sondern viel eher einengend. Mehr noch. Plötzlich hatte Isa manchmal sogar das Gefühl, deswegen keine Luft mehr zu bekommen.
»Klar«, gab sie zurück. Es sollte cool klingen, aber irgendwie kam es einfach nur lahm heraus.
Alexanders Augenbrauen hoben sich ein paar Millimeter. Sein Blick hatte sich an ihrem festgehakt. Sie wollte ihn sich fortwischen, aber sie stoppte ihre Hand auf halbem Wege zum Gesicht, stopfte sie in die Hosentasche.
»Du magst nicht, dass ich mit Chloe zusammen bin«, sagte er ihr auf den Kopf zu.
»Ich dachte, du datest Jeannine«, erwiderte sie kühl.
Leicht beschämt senkte er den Blick und sie hatte das Bedürfnis nachzutreten.
»Ach nee, warte! War das nicht Nuri? Nein, die hast du ja wegen Jeannine sitzen lassen. Vor … zwei Wochen, oder so?«
Diesmal blitzte Ärger in seinen Augen auf. Sie hätte gern gewusst, was genau hinter seiner Stirn vorging, aber aus irgendeinem Grund konnte sie ihn nicht mehr so lesen wie früher. Dazu war sie wahlweise zu wütend auf ihn oder zu verwirrt, wenn er in ihrer Nähe war.
»Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du Lust hast, mit Chloe, mir und ein paar anderen morgen Abend ins Kino zu gehen«, sagte er. »Aber wenn du so drauf bist …«
»Keine Lust!« Sie verzichtete darauf, ihm zu sagen, dass ein Kinobesuch zusammen mit ihm und Chloe ungefähr das Letzte war, das sie wollte. Stattdessen nickte sie ihm zu, dann eilte sie den Rest der Treppe hinauf.
Als sie gleich darauf die Wohnung betrat, roch es im Flur lecker nach Thymian und Knoblauch. Sie streckte den Kopf in die Küche und begrüßte Claudia.
Das Au-pair-Mädchen schaute von dem Brettchen auf, auf dem sie Hühnchenbrüste in schmale Streifen schnitt. »Essen dauert noch mindestens zwanzig Minuten.« Aus einem kleinen Bluetooth-Lautsprecher auf der Arbeitsplatte erklang ein deutscher Popsong, bei dem Isa nur die Refrainzeile verstand: Ich vermisse dich. Okay. Damit war bewiesen, dass ihr Deutsch genauso schlecht war wie ihre Matheskills. Als hätte Claudia ihre Gedanken gelesen, fragte sie: »Und? Die Mathearbeit wiederbekommen?«
Isa verzog das Gesicht. »Reden wir nicht davon.«
»So schlimm?« Claudia lächelte mitleidig. »Tut mir leid.«
»Schon okay. Ich habe nicht vor, später mal Astrophysikerin zu werden.«
Das Wort Astrophysikerin hatte Claudia offenbar nicht verstanden, denn auf ihrer Miene erschien dieser leicht verwirrte Ausdruck, den Menschen bekamen, wenn sie rätselten, was da gerade zu ihnen gesagt worden war.
Isa winkte ab. »Nicht so wichtig.«
Sie ließ Claudia weiterschnippeln und ging den langen, mit honiggelben Holzdielen ausgelegten Flur entlang zu ihrem Zimmer. Ganz am Ende des Flurs befand sich eine der wenigen Wände in der Wohnung, an der keine Regale standen. Stattdessen hingen hier neben einem Bild von Tante Claires Weingut, das Isa gemalt hatte, ein paar silbern gerahmte Familienfotos. Isas Blick streifte eines, auf dem sie selbst mit ihren zwei Brüdern zu sehen war. Das Foto war irgendwo am Meer aufgenommen worden. Sie stand darauf zwischen Alexander und Ben. Alexander hatte ihr in einer brüderlichen Geste einen Arm um die Schultern gelegt und lachte das strahlende, herzzerreißende Lachen, das er früher oft gelacht hatte. Und das Isa irgendwie ganz schön vermisste. Alexanders Haare auf dem Foto glänzten nass und wirkten dadurch fast schwarz und lockig. Seine Haut hatte ständig einen leichten Bronzeton, selbst im tiefsten Winter, in dem Isa und Ben bleich wie Wasserleichen rumliefen.
Isa musste sich zwingen, den Blick von Alexander loszureißen. Sie marschierte in ihr Zimmer und warf die Tür hinter sich zu. Nach ihrem üblichen Ritual – Rucksack von der Schulter, ihre Schuhe in eine Ecke – schaute sie van Gogh auf seinem Selbstbildnis an, dann starrte sie auf die Staffelei vor dem Fenster. Diesmal war die Leinwand darauf nicht leer. Isa hatte auf ihr Umrisse einer einsamen Landschaft skizziert. Das Bild wartete darauf, dass sie daran weitermalte, aber sie war gerade nicht in der Stimmung, kreativ zu sein, also warf sie sich auf ihr Bett und lauschte in sich hinein. Sie fühlte sich, als wäre ihre Haut dünn und mürbe wie uraltes Pergamentpapier.
Um dieses blöde Gefühl zu vertreiben, versuchte sie noch einmal, Ben anzurufen, aber er ging immer noch nicht ran. Na toll! Da die Zeit bis zum Mittagessen ohnehin nicht reichte, um irgendwas anzufangen, ging Isa auf Instagram.
Ein bisschen Unterhaltung konnte schließlich nicht schaden.
Dass es allerdings mit Ablenkung nichts werden würde, wurde ihr klar, als gleich die erste Story, die ihr angezeigt wurde, von JulietPovret war. Juliet war in Isas Parallelklasse und in Isas Augen war sie eine hochgestylte, dumme Pute, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, sämtliche Beziehungen an der Schule auf ihrem Account süffisant durch den Dreck zu ziehen. Ihre Posts strotzten nur so vor Klatsch und Tratsch, waren immer gewürzt mit ein paar mehr oder weniger geistreichen, immer aber gehässigen Pointen und vor allem jeder Menge Halbwahrheiten. Isa folgte Juliet mit eher schlechtem Gewissen, denn eigentlich interessierte sie sich null für deren Geschreibsel. Aber vor ein paar Wochen hatte Juliet sich an Alexander rangeschmissen und er hatte sie spektakulär abblitzen lassen. Natürlich hatte er sie sich damit zur Erzfeindin gemacht, und seitdem war er Juliets liebstes Hassobjekt. Beinahe jeden Tag arbeitete sie sich an ihm ab, doch Alexander schien das völlig gleichgültig zu sein. Egal, was für Spitzen Juliet gegen ihn abfeuerte, er tat einfach so, als würden sie an ihm abprallen. Isa hingegen hatte das Gefühl, dass irgendjemand Juliets Gemeinheiten im Auge behalten musste, darum hatte sie sich schweren Herzens entschieden, der blöden Kuh zu folgen.
Natürlich hatte Juliet auch heute wieder eine fiese Story über Alexander gemacht.
Es war ein absichtlich mit einem Weichzeichnungsfilter hinterlegtes Foto von einem knutschenden Pärchen. Alexander und Chloe, das erkannte Isa sofort. Über das Foto hatte Juliet einen Sticker gelegt, bei dem man auf die Frage »Wie lange, bis MrSuperhot sie diesmal abserviert?« entweder mit »Drei Stunden« oder mit »Drei Tage« antworten konnte. Isa hätte gern gewusst, wie die Abstimmung stand, aber dazu hätte sie selbst mit abstimmen müssen, und das ging dann doch eindeutig zu weit.
Ihr drehte sich der Magen um. »Du blöde Bitch!«, murmelte sie und wusste nicht genau, auf wen sie in diesem Augenblick wütender war, auf Juliet, auf Alexander oder doch viel mehr auf sich selbst und ihre verknoteten Gefühle.
Alexanders Bett stand Wand an Wand mit dem von Isa, und ihm war bewusst, dass er vermutlich nur wenige Zentimeter von ihr entfernt auf seiner Bettdecke hockte. Früher hatten sie oft geheime Klopfzeichen ausgetauscht, wenn sie eigentlich längst hätten schlafen sollen. Allein der Gedanke daran sandte ein wehmütiges Lächeln auf sein Gesicht.
Eben im Treppenhaus hatte Isa ihn angesehen, als habe er sich über Nacht in eine Kakerlake verwandelt. Kein Wunder. Sie hatte gesehen, wie er mit Chloe geknutscht hatte und irgendwie war das ja auch der Sinn dieser Aktion gewesen.
Alexander presste den Rücken fester gegen die Wand, zog ein Knie an und versuchte, seine Gedanken von Isa abzulenken. Alles, was er damit erreichte, war allerdings, dass er an den Kuss denken musste, den er und Chloe vorhin getauscht hatten. Das Gefühl, ein Dreckskerl zu sein, wurde von Minute zu Minute größer. Er hatte es bewusst ausgenutzt, dass Chloe seit Monaten auf ihn stand. Ihm kam dieser Umstand sehr gelegen, auch wenn er sich beim besten Willen nicht erklären konnte, warum so viele Mädchen etwas in ihm sahen, das er selbst nicht finden konnte. Obwohl sein Herz keiner von ihnen gehörte, war er erst mit Nuri gegangen und dann mit Jeannine und jetzt … Er schloss die Augen, rieb sich die Stirn, hinter der es dumpf pochte. Seufzend nahm er das kleine schwarze Notizbuch zur Hand, das er immer bei sich trug und in das er seine Gedanken und Gefühle notierte, wenn er nicht mehr weiterwusste.
Mit zusammengebissenen Zähnen schlug er es auf und las sich das Gedicht durch, das er gestern Abend geschrieben hatte. Es war melodramatischer Scheiß. Mit einem leisen Fluch wollte er das Notizbuch schon wieder zuklappen, doch dann überlegte er es sich anders. Er zog einen zweifach zusammengefalteten Zettel aus dem hinteren Fach. Das Papier war angegilbt, die Falze so alt und brüchig, dass er vorsichtig sein musste beim Auseinanderfalten.
Auch auf dem Zettel stand ein Gedicht, allerdings stammte es nicht von ihm. Es war mit einer altmodischen Schreibmaschine geschrieben, bei der jemand so heftig auf die Tasten gehämmert hatte, dass bei manchen A und O kleine Löcher in das Papier gestanzt worden waren.
Mit einem melancholischen Gefühl las Alexander die wenigen Zeilen.
Hab dich mir unters schlüsselbein graviert
friere an dir fest
zieh du mir die Gefühle aus
mondblume
gleiche dem vogel der an dein
fenster
prallt
wieder und wieder
und …
Seufzend hing Alexanders Blick an der letzten, unvollständigen Zeile, und er fühlte sich wie gehäutet. Gemma, seine Mutter, hatte ihm diesen Zettel gegeben, eine knappe Stunde bevor sie diesen furchtbaren Unfall gehabt hatte und dabei gestorben war. »Wir reden heute Abend darüber«, hatte sie gesagt.
Dazu war es dann allerdings nie gekommen und Alexander hatte weder eine Ahnung, wer das Gedicht geschrieben, noch warum Gemma es ihm gegeben hatte. Als er die Worte jetzt allerdings zum wohl zehntausendsten Mal las, wurde ihm bewusst, dass sie exakt das wiedergaben, was er gerade empfand.
Verdammt!
Er fühlte sich, als schwebe er mit einem Fuß über dem Abgrund, und er wusste nicht, ob Isa ihn von der Kante wegziehen konnte – oder vielmehr diejenige war, die ihn in die Tiefe stürzen würde.
Seufzend strich er sich über die Unterlippe. Dann faltete er das Gedicht wieder zusammen und schob es zurück in die Tasche hinten im Notizbuch. In seinem Mund lag ein Geschmack, als hätte er Kupfermünzen gelutscht.
Sein Handy vibrierte und zeigte an, dass er eine Nachricht erhalten hatte. Er schaute auf das Display: Chloe. Mit einem schlechten Gewissen drehte er das Handy um. Er würde sich später ansehen, was sie geschrieben hatte.
Vielleicht sollte er ihr sagen, dass ihre Küsse ihm nichts bedeuteten, und vielleicht sollte er es bald tun. Bevor er ihr das Herz im Leib zu Staub zermahlen hatte.
Was bist du neuerdings für ein Scheißherzensbrecher? Das hatte Isa ihm voller Verachtung an den Kopf geknallt, als er mit Jeannine Schluss gemacht hatte. Jeannine, die nicht wie Chloe nach Erdbeerlipgloss schmeckte, sondern meistens nach Minzkaugummi und ein ganz bisschen nach dem Zigarettenrauch, den sie damit zu überdecken versuchte.
Isa roch nie nach Lipgloss und auch nie nach Kaugummi … Bevor seine Gedanken diesen eingeschlagenen Höllenpfad weitereilen konnten, schluckte er den Kupfermünzengeschmack runter. Warum eigentlich war er nicht froh, dass Isa ihn verachtete? Warum tat ihre Verachtung – ganz im Gegenteil – so furchtbar weh? Er wollte ihre schwesterliche Bewunderung zurück. Er wollte, dass sie … Der Schmerz hinter seiner Stirn wurde heftiger, wie so oft, wenn er es nicht schaffte, seine Gedanken im Zaum zu halten.
Er lehnte den Kopf wieder an die Wand, veränderte seine Sitzposition ein wenig und legte die flache Hand gegen die Tapete. Wenn er sich stark genug konzentrierte, konnte er Isas Gegenwart durch die Wand hindurch spüren.
Als Isa zum Essen die Küche betrat, war Claudia gerade dabei, Reis sowie Hühnchen in Tomatensoße auf mehrere Teller zu verteilen. Sera, die heute zwei Stunden früher Schulschluss gehabt hatte als Isa, saß bereits am Tisch. Alexander ließ wie immer auf sich warten.
Isa setzte sich neben ihre Wahlschwester, griff nach ihrem Besteck und starrte dabei auf den ebenfalls verwaisten Platz ihres Vaters. »Ganz schön reiselustig, unsere Familie, oder? Deine Mutter in Dubai, Papa auf Lesereise irgendwo in der Bretagne, Ben in Avignon. Und wir armen zurückgelassenen Kinderchen …«
Claudia lachte auf. »Klar. Ihr armen vernachlässigten Küken.«
Sera lachte ebenfalls. Sie hatte ihre langen Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden, aus dem sich ein paar Strähnen gelöst hatten und sich um ihr ovales Gesicht kringelten. »Wie war die Mathearbeit?«
Isa verzog das Gesicht.
»Oha!« Sera lachte.
Isa nahm es ihr nicht übel.
»Jeder hat ein Fach, das ihm einfach nicht liegt«, tröstete ihre Wahlschwester.
»Was mich am meisten nervt, ist die viele Zeit, die ich mit Lernen verschwendet habe«, sagte Isa, nahm von Claudia einen Teller entgegen und schnupperte daran. »Das riecht lecker.« Es roch sogar so gut, dass Isa das Wasser im Mund zusammenlief. Da das Mathethema abgeschlossen zu sein schien, erkundigte sie sich: »Wo ist Alexander?«
»Der kommt gleich«, antwortete Claudia. »Er musste noch irgendwas aufschreiben, hat er gesagt.«
Es war in der Familie ein offenes Geheimnis, dass Alexander vorhatte, in die Fußstapfen von Isas Vater zu treten und auch Schriftsteller zu werden. Manchmal, wenn ihm eine Idee für ein Gedicht oder eine Geschichte durch den Kopf schoss, dann sprang er sogar vom Essen auf und rannte in sein Zimmer, um sie zu notieren. Und manchmal, wenn er zu sehr mit Schreiben beschäftigt war, dann kam er eben auch zu spät zu Tisch. Genau wie heute.
Als ihr großer Bruder kurz darauf erschien, murmelte er eine Entschuldigung und setzte sich. Ganz kurz nur streifte sein Blick Isa, und es fühlte sich an, als würde in ihrem Magen irgendwas zu flattern anfangen.
Sie wusste nicht so recht, wohin sie schauen sollte. Sie spürte Seras Blick, wich ihr ebenso aus wie Alexander und pulte mit der Gabel in ihrem Reis herum. Sollte sie den anderen von Bens Anruf erzählen? Aber dann müsste sie ihnen eventuell auch von dem Päckchen beichten, das sie verbrannt hatte, und das war nicht so einfach. Es gab eine Art unausgesprochenes Gesetz zwischen den vier Geschwistern: Wir haben keinerlei Geheimnisse voreinander. Mit ihrem spontanen Einfall, den Brief und die Spieluhr ins Feuer zu werfen, hatte Isa dieses Gesetz gebrochen, und Bens sonderbarer Anruf hatte sie sozusagen mit der Nase auf diese Missetat gestoßen. Seit sie gehört hatte, dass ihr kleiner Bruder mit Adèle zusammen durch Avignon marschierte, hatte sie ein megaschlechtes Gewissen, weil sie den anderen ihre zerstörerische Tat verschwiegen hatte.
Aber spät war immerhin besser als nie, oder? Besser also, sie machte hier und jetzt reinen Tisch …
»Stimmt mit dem Essen was nicht?« Claudias Blick wanderte zu Isas Teller.
»Nein, nein«, versicherte Isa. »Ich habe nur plötzlich keinen Hunger mehr.« Sie lächelte das Au-pair-Mädchen an. »Tut mir leid. Dein Essen schmeckt toll, aber mir liegt wohl noch die Mathearbeit im Magen.«
Lügnerin!, flüsterte eine Stimme in ihrem Hinterkopf. »Juliet hat schon wieder eine neue Story über dich gepostet«, hörte sie sich zu Alexander sagen.
Er nahm es mit der üblichen Gleichgültigkeit hin. »Na und?« Gelassen schob er Hühnchen und Reis auf seine Gabel.
Froh, nicht mehr über den Brief und die Spieluhr nachdenken zu müssen, holte Isa ihr Telefon raus und hielt ihm den Screenshot vor die Nase, den sie gemacht hatte. Er kaute unbeeindruckt. Es ärgerte sie, dass er so ruhig blieb. Sie selbst hätte Juliet am liebsten die Augen ausgekratzt.
»Zeig mal!«, verlangte Sera und Isa zeigte auch ihr die Story.
Sera machte eine finstere Miene. »Du solltest zur Schulleitung gehen, Alexander, und Juliet dort anzeigen.«
Alexander jedoch schüttelte den Kopf. »Die will nur Aufmerksamkeit. Irgendwann wird ihr langweilig, wenn ich nicht auf sie reagiere.« Isa sah ihn schwer schlucken und stellte sich vor, dass sich Reis und Hähnchen in seinem Mund in rostige Nägel verwandelt hatten.
In Wahrheit, das spürte sie, ließen ihn Juliets Gemeinheiten alles andere als kalt. Ganz im Gegenteil. Isa sah ihm an, dass etwas ihn umtrieb, und sie hätte zu gern gewusst, was es war. Sie ahnte aber auch, dass die Zeiten, in denen sie sich gegenseitig das Herz ausgeschüttet hatten, aus irgendeinem Grund vorbei waren.
Sie wollte Alexander am liebsten packen und schütteln.
Als sie zurück in ihrem Zimmer war, warf sie sich wieder auf ihr Bett und öffnete Instagram. Ihr Feed erschien und als Erstes wurde ihr ein Reel angezeigt, das Ben gepostet hatte. Das Titelbild zeigte nichts weiter als ein paar verschwommene grüne und rote Flecken.
Neugierig tippte Isa auf die Kachel und das Video startete. Es zeigte ein antikes Karussell, das sich drehte. Das Bild wackelte stark, ganz offensichtlich war das Video schnell und aus der Hand gedreht worden. Seltsam. Normalerweise plante und choreografierte Ben seine Insta-Beiträge sorgfältig. Sein Account war ein Gesamtwerk aus Fotos seiner Kunst und kleinen Videos davon, wie er bei deren Entstehung vorgegangen war. Dieses laienhaft aufgenommene Filmchen passte überhaupt nicht in seinen Feed, vor allem deshalb nicht, weil die ferne Karussellmusik auf einmal vom Summen einer Stimme übertönt wurde. Isa brauchte einen kleinen Moment, aber dann erkannte sie die Stimme der Frau, die vorhin bei Ben gewesen war.
Adèle.
Aus dem Off und mit dem Mikro offenbar ganz dicht am Mund summte sie eine Melodie. Sur le Pontd’Avignon.
Fast hätte Isa den Beitrag nach oben hin weggewischt, aber dann hielt sie inne. Die Stimme war ihr immer noch völlig fremd. Die Melodie allerdings …
Warum hatte Isas Herz plötzlich angefangen zu jagen?
Sie saß da und starrte vor sich hin, auch noch, nachdem das Video durchgelaufen war. Ihre Finger zitterten, als sie es erneut startete und dann die Melodie mittendrin stoppte. Es dauerte etliche Minuten, bis ihr Herzschlag sich wieder beruhigt hatte. Verflixt, wieso reagierte ihr Körper so seltsam auf dieses harmlose Lied? Auf die Melodie, die auch diese Spieluhrmechanik gespielt hätte – wenn Isa sie nicht ins Feuer geworfen hätte …
Mit einem Ruck sprang sie auf.
Sie ging zu ihrem Schreibtisch, schloss die unterste Schublade auf und öffnete sie. Das Holzkästchen, das sie von ihrer Großmutter zum zehnten Geburtstag bekommen hatte und in dem sie ihre kleinen Schätze aufbewahrte, lag obenauf. Sie schob es achtlos beiseite. Darunter kam lauter Krimskrams zum Vorschein, unter anderem ein altes Handy samt pinkfarbener, mit Strasssteinen beklebter Hülle und ein samtgebundenes Poesiealbum, das sie zweckentfremdet hatte. Bevor ihr Vater ihr erlaubt hatte, ein eigenes Smartphone zu besitzen, hatte sie Alexander oft gebeten, ihr Fotos von den Schauspielern und Sängern auszudrucken, für die sie schwärmte. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie er bei dieser Bitte geschmunzelt hatte und wie sie beide dafür dann heimlich den Computer ihres Vaters benutzt hatten. Sie hatten die rote Farbpatrone seines Laserdruckers völlig leer gedruckt, was ein bisschen Ärger gegeben hatte. Jetzt tanzten Isas Fingerspitzen achtlos über den Umschlag des Albums, dann schob sie das Buch zur Seite und wühlte weiter, bis sie weichen Stoff ertastete.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich schon wieder. Sie bekam den in das blutrote Seidentuch eingeschlagenen Gegenstand zu fassen und zog ihn hervor. Sekundenlang wog sie ihn unschlüssig in der Hand, legte ihn dann auf die Schreibtischplatte.
Sie musste sich ein Herz fassen, um die Zipfel des Tuches auseinanderzuschlagen. Vor ihr lagen die angekohlten Überreste der Spieluhrmechanik. Isa hatte sie nach wenigen Sekunden wieder aus dem Feuer geholt, weil sie es nicht mit ansehen konnte, wie die Mechanik zerschmolz. Den Brief allerdings hatte sie nicht mehr retten können. Er war vollständig verbrannt und zu Asche zerfallen.
Das Bild des in den Flammen verkokelnden Briefes tanzte vor Isas Augen, und sie spürte wieder das schlechte Gewissen, das sie in dem Moment damals empfunden hatte. Sie musste das endlich Ben und ihrem Vater beichten, aber sie konnte es immer noch nicht. Sie fühlte sich völlig paralysiert und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wieso. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie die halb verbrannte, halb geschmolzene Spieluhrmechanik wieder in das rote Tuch einschlug und zurück in die Schreibtischschublade stopfte. Irgendwann klopfte es an ihrer Tür und gleich darauf streckte Sera den Kopf ins Zimmer. »Alles in Ordnung mit dir? Du warst beim Mittagessen so komisch.«
Isa nickte, aber natürlich sah Sera, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. »Oh!«, machte sie. Dann kam sie herein, drückte die Tür hinter sich ins Schloss und trat an Isas Bett. »Was ist denn los, Süße?«
Isa wollte abwinken. Sie wollte behaupten, dass gar nichts los, dass alles in Ordnung war. Sie fühlte sich seltsam, irgendwie, als wäre sie soeben über die Kante eines tiefen Abgrunds hinaus ins Freie getreten und würde nun in der Luft hängen. Die Melodie aus Bens Reel hallte in ihrem Kopf wider und plötzlich war da ein Unbehagen, das sich richtig, richtig fies anfühlte.
»Raus mit der Sprache!«, befahl Sera.
Zitternd holte Isa Luft. »Ach …«, meinte sie gedehnt.
»Rutsch mal ein Stück!« Sera scheuchte sie zur Seite und als Isa ihr Platz gemacht hatte, setzte sie sich neben sie aufs Bett. »Und jetzt der Reihe nach: Was ist los? Geht es um Alexander?«
»Wie kommst du darauf?« Das rutschte Isa sehr viel heftiger heraus, als sie beabsichtigt hatte. Sie hatte jetzt definitiv keine Lust, sich mit Sera über ihren großen Bruder zu unterhalten!
Sera schwieg nur. Wartete.
Da seufzte Isa. »Es geht um Bens aktuellen Insta-Post.«
Sera zog die Augenbrauen hoch. »Was ist damit?«
Isas Hände zitterten schon wieder, als sie ihrer Schwester das Video zeigte. Erneut erklang die Stimme, die Sur le Pontd’Avignon summte. Erneut fühlte es sich an, als würde Isa der Boden unter den Füßen weggezogen.
Auf Seras Gesicht jedoch erschien nur ein verwirrter Ausdruck. »Was soll das denn?«
»Ben muss das gepostet haben, nachdem er … mich vorhin angerufen hat.« Den zweiten Teil des Satzes musste Isa regelrecht hervorwürgen.
»Ben hat dich angerufen? Warum hast du davon beim Essen kein Wort gesagt?«
Tja. Warum?
Isa wusste es selbst nicht genau. Sie musste sich zusammennehmen, bevor sie hervorbrachte: »Er hat gesagt, dass er sich mit Adèle getroffen hat!«
Danach war es eine Weile sehr still im Zimmer. Seras Augen wurden so riesengroß, dass Isa das Gefühl hatte, durch ihre Pupillen bis in ihr Hirn schauen zu können. Irgendwann stand Sera wortlos auf und wollte den Raum verlassen. Isa, die wusste, was nun kam, stoppte sie. »Nicht Alexander Bescheid sagen!«
Einige Sekunden lang musterte SeraIsa aufmerksam und die kam sich vor wie unter einem Röntgengerät. Dann beschloss Sera, Isas Bitte zu ignorieren. Sie verließ das Zimmer. Isa hörte, wie sie an Alexanders Tür klopfte und sie dann öffnete. »Fab-Four-Notfall!« Mehr musste sie nicht sagen.
Fab-Four-Notfall war das Codewort dafür, dass eines der vier Geschwister die Hilfe der anderen brauchte. Was auch immer vorher passiert war – egal, ob sie sich gestritten hatten oder ob einer von ihnen sich auf eine wichtige Klausur vorbereiten musste –, wenn der Fab-Four-Notfall ausgerufen wurde, dann ließen die anderen alles stehen und liegen und kümmerten sich.
Wir sind so was wie eine klitzekleine NATO. So hatte Ben es einmal ausgedrückt und der Vergleich gefiel Isa. Alexander hingegen verglich ihr Geschwisterquartett manchmal mit den vier Musketieren. Einer für alle. Alle für einen, und so. Isa hatte bisher nicht entschieden, ob er eher der draufgängerische d’Artagnan war, oder doch eher der grüblerische und düstere Athos. Sie liebte es, dass sie alle vier so eng miteinander waren. Heute allerdings wäre es ihr sehr recht gewesen, wenn Alexander in seinem eigenen Zimmer geblieben wäre.
»Isa oder du?«, hörte sie ihn fragen.
»Isa«, antwortete Sera.
»Ich komme.« Klang er genervt? Isa konnte es nicht sagen und als er gleich darauf in ihrem Zimmer stand, hochgewachsen, mit verwuschelten Locken, die aussahen, als habe er sie gerade gerauft, da machte ihr Herz einen kleinen Satz. »Was ist passiert?«, fragte er. Er trug seine älteste, verwaschene und an den Knien zerrissene Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Und er war barfuß. Isa ahnte, dass er auf seinem Bett gehockt und geschrieben hatte. Sie hätte gern gewusst, worüber, und als sie an Chloe dachte und an die Art, wie er sie geküsst hatte, hätte sie fast angefangen zu heulen. Verdammt noch mal! Was war bloß los mit ihr?
»Ben hat Isa angerufen«, erklärte Sera. Sie saß bereits wieder neben Isa auf dem Bett. »Wie es aussieht, hat er sich mit Adèle getroffen.«
»Was?« Auch Alexander riss die Augen auf, aber ganz kurz nur, dann gewann sofort sein Verstand die Oberhand über seine Überraschung. »Hat er sie zufällig getroffen, oder was?«, fragte er mit dieser besonnenen Großer-Bruder-Stimme, die Isa früher immer so beruhigend gefunden hatte, die ihr jetzt jedoch nur noch schwer erträglich vorkam.
»Das habe ich mich auch gefragt«, murmelte sie. Sie zog die Knie vor die Brust und umschlang sie mit beiden Armen.
Alexander ging zum Schreibtisch und nahm sich ihren Drehstuhl. Während er den Stuhl ans Bett rollte, sich umgekehrt darauf niederließ und die Arme auf der Rückenlehne verschränkte, klebte Isas Blick an der Schublade mit der Spieluhrmechanik darin. Nur mühsam riss sie sich davon los und zeigte Alexander genau wie Sera zuvor Bens Insta-Video. »Das hat er kurz nach seinem Anruf gepostet.« Sie musste sich zwingen, bei der unheimlichen Melodie nicht zu schaudern.
Alexander betrachtete das Reel schweigend und ebenfalls schweigend nahm er Isa das Handy weg und startete den Film ein zweites Mal. Wieder erklang dieses geisterhafte Summen, aber offenbar nutzte der unheimliche Effekt sich ab. Diesmal fühlte Isa sich nicht mehr ganz so angefasst davon wie die Male zuvor. »Als Ben und ich telefoniert haben, war eine Frau bei ihm«, berichtete sie. »Er hat gesagt, dass es Adèle ist, aber mehr hat er nicht erklärt. Es klang, als würde sie vor ihm davonlaufen und er musste hinterher. Er meinte, er würde sich wieder melden.« Sie rieb sich die Stirn.
»Und? Hat er das?«, fragte Sera.
»Bisher nicht. Und ich erreiche ihn auch nicht. Nur dieses Video hat er gepostet.«
Alexanders Augenbrauen berührten sich beinahe über seiner Nase. Noch einmal startete er das Video und diesmal ließ er Isa nicht aus den Augen. »Ich kann verstehen, warum du auf Adèle verwirrt reagierst, aber was ist mit diesem Lied? Du wirkst ja regelrecht paralysiert davon.«
Mist, das hatte er ihr angesehen? Eigentlich hatte sie gedacht, sich gut im Griff zu haben.
Sie schluckte.
Paralysiert. Genau. Das war das passende Wort dafür, wie sie sich gerade fühlte. Paralysiert. Ihr Blick wollte schon wieder zu ihrer Schreibtischschublade wandern. Nur allzu gern wollte sie Sera von dem Päckchen und ihrer dummen Aktion mit dem Feuer erzählen. Aber Alexanders Gegenwart hielt sie davon ab und sie wusste nicht genau, warum.
»Keine Ahnung.« Sie lauschte in sich hinein, hatte auf einmal ein total raues Gefühl in der Kehle. »Es kommt mir vor, als würde ich dieses Lied kennen. Von früher, als meine Mutter noch bei uns war.«
Alexander sah ihr in die Augen. Völlig sachlich sagte er: »Du warst vier, als sie verschwunden ist.«
Stimmt.
Weil sie nicht darauf reagierte, fuhr er fort: »Man kann sich in der Regel nicht daran erinnern, was man mit vier Jahren erlebt hat.«
Es wurmte sie, dass er ihr nicht glaubte. »Denkst du, ich lüge, oder was?« Das kam schroffer heraus, als sie beabsichtigt hatte.
Sanft schüttelte er den Kopf. »Denke ich nicht, nein.«
Sie biss sich auf die Unterlippe. Das raue Gefühl in ihrer Kehle hatte sich in ein Brennen verwandelt und sie spürte, wie ihr schon wieder die Tränen in die Augen schießen wollten.
Zu allem Überfluss wurde Alexanders Miene jetzt auch noch weich. Klar, er hatte sie noch nie weinen sehen können. Sie wollte, dass er sie in den Arm nahm, und gleichzeitig hatte sie genau davor eine Heidenangst. Sie war erleichtert, als er auf Abstand blieb. Und nur eine Sekunde später fand sie genau das unerträglich.
Herrgott noch mal! Dieses Gefühlschaos war ja kaum auszuhalten!
Alexander strich sich über den Nasenrücken. »Ich glaube dir, dass du denkst, du kannst dich an dieses Lied erinnern. Aber manchmal erinnern wir uns an Dinge, die nicht echt sind. Vielleicht haben wir ein Foto gesehen und glauben, deshalb, dass wir uns an die Szene erinnern. Oder jemand hat uns von einer Melodie erzählt, die wir als Baby gehört haben, und wir halten das für eine Erinnerung.«
Sie hatte den Mund schon auf, um ihm zu widersprechen, aber sie wusste einfach nicht, was sie sagen sollte: dass ihr jedes Mal der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, wenn sie dieses bescheuerte Lied hörte? Dass sie einmal sogar das unheimliche Gefühl gehabt hatte zu fallen?
Das hätte sich doch völlig bekloppt angehört!
»Ach, verdammt!«, flüsterte sie.
An Alexanders Stelle zog Sera sie nun in die Arme. »Du bist ja ganz durcheinander! Vielleicht sollten wir Ben über Insta anschreiben und ihn fragen, was das Ganze soll.«
Isa war so erleichtert über diesen Vorschlag, dass sie sich vorbeugte, Alexander ihr Telefon wieder aus der Hand pflückte und die DMs von Insta aufrief. Schnell schrieb sie: Was ist das für ein komisches Video? Und was ist das für eine Sache mit Adèle?? Melde dich mal!!! Als sie die Nachricht abgeschickt hatte, fühlte es sich an, als hätte sie eine wichtige Entscheidung getroffen.
»Was, wenn er jetzt gerade bei ihr ist?«, flüsterte sie. »Bei Adèle