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Wer rettet Florenz? Um 1500: Nur die »Kinder der Nacht« können Florenz vor dem Untergang bewahren, denn nur sie können in das dunkle Reich Florenturna gelangen. In Florenturna herrscht Mercurius, dessen einziges Ziel es ist, Florenz zu vernichten. Der elfjährige Girolamo hat noch nie etwas von den »Kindern der Nacht«gehört, bis eines Tages ein fremder Reiter in sein Dorf kommt. Plötzlich wird die Luft von mächtigen Flügelschlägen und gellenden Schreien durchschnitten, kopflose Bestien sind auf der Jagd – nach Girolamo. Denn er ist der Auserwählte, der die »Kinder der Nacht« in ihrem Kampf gegen Mercurius anführen soll. Wird es ihnen gelingen, Mercurius zu besiegen? Die Vergangenheit ist nur einen Flügelschlag entfernt – ein phantastisches Abenteuer um Freundschaft, Mut, Tapferkeit und Treue.
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Seitenzahl: 423
Kathrin Lange
Florenturna – Die Kinder der Nacht
Roman
Fischer e-books
Für Oliver
Selenes Welt ist die Welt, in der Geschichten wahr werden, wenn es nur der Richtige wagt, sie zu erzählen.
(Aus: Lorenzo de' Medici, Chronik des geheimen Wissens der Narratori)
Im Jahre 1486
kämpfte eine Handvoll Tapferer gegen einen mächtigen Feind. Viele verloren dabei ihr Leben, und seit jener Zeit wird die Nacht ihrer Niederlage »die Blutnacht« genannt. Es heißt aber auch, dass diese Blutnacht nicht die letzte gewesen sein wird, dass eine weitere folgen wird, und dass sich dann der Schleier zwischen unserer Welt und Florenturna noch einmal heben wird, auf dass eine Handvoll Kinder - die Kinder der Nacht - das Schicksal beider Welten entscheiden muss - zum Guten oder zum Bösen.
(Aus: Lorenzo de' Medici, Chronik des geheimen Wissens der Narratori)
Dies ist die Geschichte dieser Kinder. Sie beginnt im Jahre des Herrn 1497.
Girolamo sah den Hieb nicht kommen.
Vergnügt summend saß er auf der warmen Ofenbank und hielt ein Butterbrot in den Händen, das Mama Marta dick mit Honig bestrichen hatte. Im nächsten Moment landete die Faust seines Vaters Piero mitten in seinem Gesicht. Die Brotscheibe flog durch die Luft. Schmerz zuckte durch Girolamos Lippe, Sterne tanzten vor seinen Augen, und er spürte, wie etwas Warmes über seine Haut lief. Es war Blut, vermischt mit flüssiger Butter und Speichel, das kurz am Kinn hängen blieb und dann auf sein ohnehin schon schmutziges Hemd tropfte.
»Hör auf zu singen!«, zischte Piero. Seine Stimme war flach und tonlos, und sie klang überaus gefährlich.
Mit tränenden Augen blickte Girolamo auf. Er hatte keine Ahnung, was er nun schon wieder falsch gemacht hatte, aber als er das wutverzerrte Gesicht seines Vaters über sich schweben sah, die großen Hände, die sich zu Fäusten ballten und wieder öffneten, da begriff er, dass er besser nicht nachfragte. Wütend biss er die Zähne zusammen, blinzelte die Tränen fort, und der Schmerz in seiner Lippe wurde zu einem dumpfen Pochen.
Sein Blick blieb an der silbernen Kette hängen, die Piero niemals ablegte. Der silberne Anhänger daran baumelte direkt vor Girolamos Augen: ein dreifacher Mond, dessen einzelne Sicheln Rücken an Rücken angebracht waren und auf diese Weise eine Art zackigen Stern bildeten.
»Hast du mich gehört?« Jetzt schrie Piero. An seinem Hals pochte eine einzelne Ader, dick und blau wie ein fetter, ekelhafter Wurm.
Girolamo schluckte. Rasch nickte er. »Nat-t-türlich.« Er zog die blutende Unterlippe zwischen die Zähne und saugte daran. Das Blut schmeckte bitter, und ihm wurde schlecht.
Da ließ Piero die Schultern hängen. »Verschwinde aus meinen Augen«, flüsterte er.
Das ließ sich Girolamo nicht zweimal sagen. Er rappelte sich auf die Füße und lief aus dem Haus, in den Garten, in dem Mama Marta damit beschäftigt war, die Apfelbäume zu beschneiden.
»Mistkerl!«, murmelte er. Über beide Schultern hinweg blickte er sich um, und als er sich unbeobachtet fühlte, kletterte er auf den alten Olivenbaum in der Mitte des Gartens. Er zog sich auf einen der dicken, waagerechten Äste, ließ die Beine rechts und links davon baumeln und lehnte sich gegen den Stamm, der sich in der kühlen Februarluft kalt und rau anfühlte. Der Baum stand auf einem kleinen Hügel, und darum war er Girolamos Lieblingsplatz. Von hier konnte man fast das gesamte Dorf überblicken.
»Mistk-k-kerl!«, fluchte Girolamo noch einmal. Vor Empörung und Wut war das Stottern, unter dem er mal mehr, mal weniger litt, besonders schlimm.
Sein Vater schlug ihn schon beinahe so lange, wie er denken konnte. Von einem Moment auf den anderen konnte Piero sich von einem ruhigen, freundlichen Mann in einen zornigen, brutalen Kerl verwandeln, dessen große Hände dann auf Girolamos schmächtigen Körper niedersausten, auf seine Arme, seinen Rücken — oder seinen Kopf, je nachdem, was gerade im Weg war. Und was das Schlimmste war: Hinterher versank Piero dann meistens in Selbstmitleid! Schon oft hatte Girolamo gehört, wie sein Vater sich nach einer Prügelattacke in sein Zimmer eingeschlossen und murmelnd um Vergebung gebetet hatte. Seit langem versuchte Girolamo herauszufinden, was die Stimmung seines Vaters kippen ließ, welches Verhalten ihn zum Brüllen und Schlagen trieb und welches nicht. Es war unmöglich, es vorherzusagen.
Manchmal war es auch unmöglich, es auszuhalten.
Diesmal war es nur eine Kleinigkeit gewesen. Das Lied, das er gesummt hatte.
Girolamo stieß ein bitteres Lachen aus, dann seufzte er. Wenn er doch nur schon älter wäre! Dann würde er das Dorf verlassen und nach Florenz gehen, in diese große und reiche Stadt am Arno, in der sich mit Sicherheit gut leben ließ. Aber zu seinem Bedauern war er erst elf Jahre. Viel zu jung, um sich allein durchzuschlagen. Oder?
Schlimmer als hier konnte es eigentlich nirgendwo sein.
Filippo, Mama Martas dicker, roter Kater, kam mit hoch aufgerichtetem Schwanz den Ast entlangstolziert, auf dem Girolamo hockte. Dicht vor ihm setzte er sich hin, ringelte den Schwanz um seine Vorderpfoten und schaute sein Gegenüber an, als wollte er sagen: »Na, wieder einmal Prügel bezogen?«
»Sch-schlimmer als hier k-k-kann es n-n-nirgendwo sein!«, sagte Girolamo. Filippo blinzelte und rührte sich nicht.
Der Wind drehte sich für einen kurzen Moment. Girolamo sah Mama Marta in der kühlen Februarluft erschaudern. Der Geruch von Lammfleisch, das sie auf ihrem Herd vor sich hin köcheln ließ, wehte durch ein offenes Fenster zu ihm herüber. Girolamos Magen fing an zu knurren. Das schöne Brot lag jetzt im Dreck, und der Honig sickerte wahrscheinlich gerade in die Ritzen zwischen den Holzdielen.
Girolamo rieb sich über den Bauch. Die Hose, die er trug, musste mit einem Sackband festgehalten werden, damit sie ihm nicht herunterrutschte. Obwohl Mama Marta sich alle Mühe gab, ihn dick und rund zu füttern, war er dünn und schlaksig. Er hatte einfach immer Hunger.
Seufzend kraulte Girolamo Filippos Kopf. Sonst schloss der Kater bei dieser Berührung die Augen, schmiegte die Wange in Girolamos Hand und begann zu schnurren. Heute jedoch blieb er mit wachem Blick und angespannten Ohren aufrecht sitzen.
»Was meinst du«, fragte Girolamo, »ob M-mama Marta uns ein neues B-brot macht?«
Filippo antwortete nicht. Stattdessen wandte er den Kopf und blickte in Richtung Tal und über die Straße, die sich von Florenz und Fiesole hinauf in die Hügel zu Girolamos Dorf wand. Von dort näherte sich ein Fremder. Girolamo wusste, dass es ein Fremder sein musste, denn er ritt auf einem Pferd, und im Dorf besaß niemand ein Pferd. Nur der alte Alberto, dessen Haus ganz am Rand der Felsen stand, hatte zwei Maultiere, dunkelgraue, struppige und missgelaunte Biester, denen Girolamo lieber aus dem Weg ging, weil sie nur allzu gerne mit ihren riesigen, gelben Zähnen nach ihm schnappten.
Das Pferd des Fremden jedoch war von glänzender, rötlicher Farbe. Ein Fuchs, dachte Girolamo und war stolz, dass er den Namen kannte. Das Tier hielt den Kopf hoch in die Luft gereckt. Die Sonne spiegelte sich auf seinem Hals und seinen Flanken, und das Klappern seiner Hufe schallte bis zu Girolamo herüber und verriet ihm, dass das Pferd Eisen trug.
Der Reiter war in farbenfrohe Gewänder gehüllt, die vom Februarwind gebauscht wurden. Nur eine dicke Schafsfellweste schützte ihn vor der Kälte, und ein bunter Schal, den er sich um den Hals geschlungen hatte, flatterte wie eine Fahne hinter ihm her.
Als der Wind einmal für einen Moment nachließ, konnte Girolamo hören, dass der Fremde sang: Mit weithin schallender Stimme schmetterte er ein Lied, das voller derber Scherze steckte. Ein Spielmann, dachte Girolamo. Das versprach, interessant zu werden!
Er reckte den Hals.
Der Mann ritt um einen Hügel herum, hinein ins Dorf, wo er mitten auf dem Platz sein Pferd anhielt, aus dem Sattel sprang und sich daranmachte, ein Bündel loszuschnallen. In diesem Moment richtete Filippo, der Kater, sich zu seiner ganzen Größe auf. Dann sprang er mit einem bösen Fauchen von dem Olivenbaum und verschwand in den Büschen des Gartens.
Verwundert sah Girolamo ihm nach. Er kletterte auf den untersten Ast des Olivenbaums und ließ sich wie immer rückwärts davon herunterfallen. In der Luft drehte er sich und landete sicher auf seinen Füßen.
Eilig umrundete er das Haus, spähte vorsichtig um die Ecke, ob sein Vater in der Nähe war. Doch es war niemand zu sehen, und so rannte er gleich darauf in Richtung Dorfplatz. Der Fremde hatte sich mit seinem Fuchs nicht von der Stelle gerührt. Girolamo wollte schon zu ihm, als er plötzlich aus vollem Lauf anhielt.
Sein Vater kam um eine Hausecke.
Rasch verbarg Girolamo sich in einem Gebüsch.
Piero baute sich vor dem Spielmann auf. »Niemand hat dich hierher eingeladen!«, sagte er missmutig.
Der Fremde wandte sich langsam um. Seine Bewegungen wirkten angespannt, auf der Hut. Girolamo konnte nun zum ersten Mal einen Blick in das Gesicht des Spielmannes werfen, und vor Überraschung pfiff er leise durch die Zähne.
Der Fremde war viel jünger, als er gedacht hatte!
Höchstens sechzehn oder siebzehn Jahre alt konnte er sein, und sein Gesicht wirkte noch weich. Auf seinem Kinn wuchs heller, blonder Flaum, der erst später ein richtiger Bart werden sollte.
»Stimmt«, entgegnete der Spielmann, und seine Stimme klang gänzlich ruhig und freundlich. Seine Blicke huschten über Pieros Gesicht, als suche er darin etwas Bekanntes. Seine Miene wirkte leicht verwirrt, aber trotzdem lächelte er.
»Mein Name ist Matteo.« Er deutete eine Verbeugung an.
Piero ballte die Hände zu Fäusten. »Das ist mir egal«, knurrte er. »Sieh zu, dass du von hier verschwindest! Du bist hier nicht erwünscht!«
Nicht in allen Dörfern rings um Florenz waren Spielleute willkommen, das wusste Girolamo. Mancherorts verjagte man sie, weil man ihre Lieder und Kunststückchen für Teufelszeug hielt.
Matteo wirkte bekümmert. »Ich wollte nur einen Abend lang singen«, erklärte er. »Im Austausch gegen ein Nachtlager und etwas zu essen.« Seine Augen wurden eng, als Piero drohend ein Stück auf ihn zukam. »Ich bin nur ein einfacher Spielmann«, versicherte er. »Ein paar Lieder, ein oder zwei Zauberkunststückchen, mehr nicht.«
Piero kam noch ein Stück näher auf ihn zu. »Verschwinde von hier!«, zischte er, und er betonte jede einzelne Silbe dabei. Inzwischen berührten sich beinahe ihre Nasen.
Matteo blinzelte irritiert. Er trat zurück und seufzte. »Also gut! Ich werde mich nicht aufdrängen.« Er machte Anstalten, das Bündel, das er vom Sattel losgeschnallt und neben sich auf den Boden gelegt hatte, wieder festzuzurren. Aber gerade, als er sich auf seinen Fuchs schwingen wollte, kam Martino, der Schmied, angelaufen.
»Heda, guter Mann!«, rief er schon von weitem. »Was ist Euch? Wollt Ihr etwa schon weiterreiten?« Er blieb schweratmend neben Piero stehen, während Matteo sich im Sattel zurechtrückte.
»Es scheint mir«, antwortete der Spielmann mit einem leichten Lächeln in Pieros Richtung, »dass ich hier nicht willkommen bin. Und ich gehöre nicht zu den Menschen, die sich aufdrängen. Gehabt Euch wohl!« Er wendete sein Pferd und tippte sich grüßend an die Stirn, aber Martino griff ihm in die Zügel.
»Nicht so hastig! Wer sagt denn, dass alle hier im Dorf so denken wie dieser Mann?«
Über Matteos Gesicht glitt ein Schmunzeln, und Girolamo kam es vor, als wären Aufsteigen und Wenden seines Pferdes nichts weiter gewesen als Theater.
»Ist es nicht so?«, fragte der Spielmann freundlich.
»Nein!« « Martino klatschte in die Hände. »Wir haben nicht viel, aber ein gemütliches Lager im Stroh und ein warmes Essen sollten sich für Euch finden lassen.« Er blickte auf ein Lederfutteral an Matteos Sattel. »Ihr spielt Laute, sehe ich?«
Matteo berührte das Instrument. »Ja. Recht gut, wenn ich das sagen darf.«
»So bleibt!«, rief der Schmied. »Und fühlt Euch bei uns wie zu Hause!«
Mit jedem Wort, das er sagte, wurde Pieros Gesicht finsterer und finsterer. Schließlich wandte Girolamos Vater sich brüsk um und stiefelte davon.
»Nun?«, fragte Martino den Spielmann. »Bleibt Ihr?« Matteo überlegte, aber schließlich nickte er. »Also gut.«
Beim Abendessen, als Girolamo zusammen mit Mama Marta und Piero am Tisch saß und sich sein Bauch schon ganz prall anfühlte von dem vielen Lammfleisch, das er in sich hineingeschaufelt hatte, nahm er seinen ganzen Mut zusammen.
»V-vater?«, fragte er.
Piero legte den Löffel zur Seite. »Was ist?«, brummte er schlecht gelaunt.
Girolamo berührte seine Lippe, die noch immer von dem Hieb am Morgen schmerzte. »Der M-mann, der v-vorhin angekommen ist ...«
Marta zuckte zusammen. Sie presste ihre faltige Hand auf die Tischplatte, so fest, dass sich ihre Fingernägel weiß verfärbten. Girolamo sah sie an, ein bisschen verwundert über ihre Reaktion.
»Was ist mit ihm?«, fragte Piero.
Jetzt erst wagte Girolamo den Blick zu heben und seinen Vater anzusehen. »D-du k-kanntest ihn, oder? Den Spielmann, meine ich.«
»Nein!«
Girolamo schaute Hilfe suchend in Martas Gesicht, doch sie starrte Piero nur voller Missbilligung an. Ihre weißen Augenbrauen, aus denen die letzten schwarzen Haare wie Fliegenbeine in die Höhe ragten, waren zusammengezogen.
Pieros Augen funkelten zornig, als er ihrem Blick begegnete, aber da war auch etwas anderes in seiner Miene. Unsicherheit. Wovor hatte er plötzlich solche Angst?, dachte Girolamo.
Mit gesenktem Kopf und unter seinen Haaren hervor schielte er in die Richtung seines Vaters. »S-singt er heute A-abend auf dem D-dorfplatz? D-darf ich ihm zuhören?«, fragte er und ärgerte sich über sich selbst, weil er es nicht fertigbrachte, seinem Vater in die Augen zu sehen.
Piero starrte ihn nur an. »Auf keinen Fall!« Er sprach die drei Worte so bestimmt aus, dass Girolamo auf der Stelle erstarrte. Enttäuschung flutete durch seinen Körper, gefolgt von einem Anflug von Wut.
»W-w-warum nicht?«, flüsterte er. Er fühlte sich schlagartig ganz klein und elend. Tränen drängten von hinten gegen seine Lider, doch er kämpfte sie zurück. Er war elf Jahre alt, und er würde auf keinen Fall anfangen zu weinen wie ein Krabbelkind! Schließlich hatte er heute Morgen bei dem Fausthieb auch nicht geweint.
»Weil ich es sage!«
Marta nahm die Hand von der Tischplatte, hob sie, so dass sie über Pieros Unterarm schwebte. Es sah aus, als wolle sie Girolamos Vater berühren, doch sie tat es nicht. Zögernd legte sie die Hand wieder an die alte Stelle. Seit Girolamos Geburt, bei der seine Mutter gestorben war, kümmerte sich Marta um den Haushalt, und im ganzen Dorf war sie die Einzige, die es wagte, Piero zu widersprechen.
»Du kannst es nicht ewig von ihm fernhalten,« murmelte sie.
»Was weißt du schon?«, herrschte Piero sie an.
Sie hielt seinem finsteren Blick stand, und er schaute beschämt auf seine Hände. Seine Finger krümmten sich, und die Nägel bohrten sich tief in das schwielige Fleisch.
Girolamo blickte von Marta zu Piero und wieder zurück. »W-wovon redet ihr?«
Aus Pieros Augen sprühten Funken. »Von nichts!«, knurrte er. »Du bleibst heute Abend hier im Haus, ist das klar?« Beiläufig berührte er die Gürtelschnalle an seinem Bauch, und Girolamo verstand die Drohung hinter dieser Geste nur zu genau.
Mühsam nickte er.
Dann stand er auf, und mit schweren Schritten ging er die Treppe zu seiner Kammer hinauf. Piero folgte ihm, und er musste sich nicht umwenden, um zu wissen, dass die Hand seines Vaters nach wie vor auf der Gürtelschnalle lag. Sein Magen krampfte sich zusammen, als er in sein Zimmer ging, sich umdrehte und sah, wie sein Vater in der Tür stand.
Pieros Gesicht war bleich, und mit zitternder Hand fuhr er sich über Mund und Kinn, während er Girolamo betrachtete. Dann endlich schien er sich zu besinnen. Er ließ seine Faust mit solcher Wucht gegen den Türrahmen krachen, dass Girolamo zusammenzuckte. »Du verlässt dieses Zimmer nicht, hast du mich verstanden?«
Girolamo nickte nur. Die Tür fiel hinter Piero zu, und das Geräusch, mit dem draußen der Riegel vorgelegt wurde, klang dumpf.
Es war Girolamo einfach unmöglich, brav in seiner Kammer zu sitzen. Er trat an das Fenster und sah hinaus. Die fast volle Mondscheibe wurde immer wieder von schnell treibenden Wolken verdeckt.
Auf dem Dorfplatz saßen sie jetzt wahrscheinlich an einem lustigen Feuer und lauschten den Liedern und Geschichten dieses Spielmanns!
Und er selbst?
Die nächste Tracht Prügel würde sowieso kommen, was machte es also schon, wenn er sich vorher ein bisschen vergnügte?
Entschlossen öffnete Girolamo das Fenster, schwang sich hinaus und ließ sich vorsichtig auf das Dach des Ziegenstalls fallen. Das war der einfache Teil gewesen, nun wurde es komplizierter. Langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, tastete er sich über das Dach. Ein falscher Schritt, und er würde durch die dünnen Strohschindeln brechen und mit lautem Knall auf der Erde landen. Aus wäre es gewesen mit seinem Ausflug! Aber seine Füße fanden die sicheren Stellen, unter denen sich die Holzsparren befanden, und schließlich stand er am Rand des Daches, von wo aus er sich zu Boden gleiten lassen konnte.
Mit klopfendem Herzen schlich er zum Dorfplatz, wo die Menschen sich tatsächlich um ein Feuer versammelt hatten, neben dem Matteo stand und ein Lied zum Besten gab. Weil Girolamo wusste, dass die Leute es Piero verraten würden, wenn sie ihn hier sahen, versteckte er sich zum zweiten Mal an diesem Tag im Gebüsch.
Matteo spielte das Lied zu Ende, ließ ein weiteres folgen und legte dann die Laute zur Seite. Eine Weile lang berichtete er von den Neuigkeiten, die er in den umliegenden Dörfern und auch in Florenz aufgeschnappt hatte, und beantwortete geduldig die Fragen der Dorfbewohner nach den Menschen, die er auf seinem Weg hierher getroffen hatte.
»Lebt die alte Maria Pellicano in Fiesole noch?«
»Wie viele Kinder hat der Müller vom Berghof inzwischen?«
»Wie geht es dem Bauern im Nachbardorf, der sich beim Schleifen seiner Sense den halben Arm aufgeschlitzt hat?«
Die Fragen und auch die Antworten Matteos verschwammen in Girolamos Geist zu einem eintönigen Gemurmel, das ihn nicht ein bisschen interessierte. Er war kurz davor einzuschlafen, als ein Mann in der Menge seine tiefe Stimme erhob.
»Du hast gesagt, du kannst Zauberkunststücke vorführen!«, rief er. »Los! Wir wollen etwas sehen!«
Mit einem Mal war Girolamo wieder hellwach. Er hatte einen der Nachbarssöhne von Spielleuten erzählen hören, die Tücher aus ihren Ohren ziehen konnten und eine ganze Taube in einem Hut verschwinden ließen. Er reckte den Hals. Das musste er unbedingt sehen!
Aber Matteo zögerte. »Ich weiß nicht so recht!«, murmelte er.
Doch die Leute drängten ihn, versprachen ihm einen Extralohn, wenn er ihnen ein paar seiner Tricks zeigte. Da endlich ließ er sich breitschlagen.
»Also gut«, sagte er. »Seht her!« Er hob seine Arme in die Höhe, legte die Fingerspitzen gegeneinander, so dass seine Hände eine Kugelschale vor seiner Brust formten. Mit einem Ruck schleuderte er die weiten Ärmel seines bunten Gewandes zurück.
Eine Frau aus dem Publikum kicherte und wurde sofort niedergezischt.
Matteo blickte kurz in ihre Richtung, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf seine Finger. Seine Lippen bewegten sich, aber kein Laut war zu hören. Und dannbeinahe hätte Girolamo vor Erstaunen einen Schrei ausgestoßen - flammte ein winziges blaues Licht zwischen Matteos Fingern auf.
Ein Raunen ging durch die Menge.
Matteo hob die Arme ein wenig. Das Licht schwebte ein Stück höher. Dann senkte er sie, und wieder folgte das Licht.
»Was seht ihr darin?«, fragte er, und auf einmal standen Girolamo alle Haare am Körper zu Berge. Matteos Stimme hatte plötzlich einen gänzlich anderen Klang, samtig und ganz weich, fast wie ein Schnurren.
Hinten in der Menge begannen die Menschen erschrocken zu tuscheln. Girolamo hörte das Wort »Hexenwerk«, doch ein Mann, ein Bauernsohn aus der ersten Reihe, stand auf und drehte sich einmal um seine eigene Achse, so dass jeder sein breites Grinsen sehen konnte.
»Einen Schmetterling!«, sagte er, und seine Lippen zuckten vor falscher Freundlichkeit.
»Einen Schmetterling«, wiederholte Matteo mit seiner Samtstimme, doch der Bauernsohn fiel ihm ins Wort.
»Einen blauen. Mit grünen Punkten auf den Flügeln.« Wieder kicherte jemand in der Menge, und diesmal fielen andere ein. Es war klar, dass der Bauernsohn dem Spielmann eine Falle stellen wollte. Nirgendwo gab es einen Schmetterling mit grünen Punkten auf den Flügeln, und es war einfach unmöglich, dass Matteo ein Tier dieser Art aus seinen weiten Ärmeln zaubern konnte.
»Einen blauen Schmetterling«, wiederholte Matteo. Sein Blick war in weite Ferne gerichtet. »Mit grünen Punkten auf den Flügeln. Seht genau hin!« Und er zog seine Hände ein wenig auseinander, so dass der kugelförmige Raum, den er umschloss, etwas größer wurde. Das blaue Leuchten verstärkte sich.
Girolamo hielt den Atem an.
Und dann, mitten in dem blauen Leuchten, erschien ein kleiner blauer Schmetterling mit grünen Punkten auf den Flügeln.
»Jesus, Maria und Josef!«, murmelte die Frau, die eben noch gekichert hatte. Das Tuscheln in den letzten Reihen wurde lauter. Jemand wiederholte: »Hexenwerk!«
Und es war dieses eine Wort, das die anderen aufgriffen.
»Hexenwerk!« Auf einmal stand eine alte Frau auf den Beinen und streckte einen Zeigefinger nach Matteo aus.
Der blickte von seinen Händen auf, das blaue Leuchten verpuffte mit einem leisen Zischen, und mit ihm verschwand auch der Schmetterling.
»Wie hast du das gemacht?«, rief jemand.
Aber die anderen ließen ihn nicht zu Wort kommen. »Er ist ein Hexer!«
»Jagt ihn fort!«
Doch Martino, der Schmied, richtete sich zu seiner ganzen Größe auf und brachte die Menschen damit zum Schweigen. »Er ist unser Gast!«, donnerte er. »Und nur weil seine Tricks besser sind als die der Scharlatane, die ihr sonst zu sehen bekommt, werdet ihr nicht die Gesetze der Gastfreundschaft verletzen!« Er wandte sich an Matteo. »Ich weiß nicht, wie Ihr das gemacht habt, und ich will es auch gar nicht wissen. Der Abend ist weit vorangeschritten. Wir sollten schlafen gehen. Mein Stall steht Euch zur Verfügung, wie ich es versprochen habe. Aber morgen früh - habt Ihr gehört? Morgen früh seid Ihr aus diesem Dorf verschwunden!«
Matteo stand mit locker herabhängenden Armen da. Seine Blicke schweiften über die Menge, und um seine Mundwinkel stand ein spöttisches Grinsen. Dann nickte er.
Girolamo verließ sein Versteck in dem Gebüsch erst, als auch der letzte Dorfbewohner gegangen war und die Haustür hinter sich geschlossen hatte. Das Dorf lag eine Weile lang völlig still unter dem silbrigen Licht des Mondes. Nur eine alte Eule flog von einem ihrer Aussichtsposten zu einem anderen.
Als der Mond sich hinter Wolken verbarg, schlüpfte Girolamo aus seinem Versteck und flitzte geduckt zwischen den Häusern hindurch.
Vor Martinos Schuppen angekommen, zögerte Girolamo. Was machte er hier eigentlich? Was, wenn der Fremde wirklich ein Hexer war? Nicht umsonst hatte Mama Marta ihm immer wieder eingetrichtert, Fremden gegenüber nicht zu vertrauensselig zu sein. Aber Piero war dagegen gewesen, dass Matteo im Dorf blieb, und das allein reichte schon aus, um den Spielmann in Girolamos Augen interessant zu machen.
Er atmete tief durch, straffte die Schultern und stieß die Tür auf.
Im Inneren des Stalles war es düster. Irgendwo in der Dunkelheit meckerte eine Ziege, eine zweite antwortete. Stroh raschelte.
»Ah, Besuch!«, hörte Girolamo Matteo sagen. »Komm rein und mach die Tür zu. Es wird kalt hier drinnen.«
Schweigend gehorchte Girolamo. Dann blieb er stehen und versuchte, die Dunkelheit mit den Blicken zu durchdringen. Er meinte, eine Gestalt zu erkennen, die gegen eine Wand gelehnt dasaß.
»Was ist? Bist du festgewachsen?«, fragte der Spielmann.
Girolamo schüttelte den Kopf und ärgerte sich über seine Scheu. »N-nein«, schickte er hinterher und musste sich erneut räuspern. Sein Herz klopfte ihm ganz oben im Hals, und ihm war ein bisschen schwindelig.
Matteo lachte leise. »Dann komm her und setz dich. Ich habe gerade Lust auf eine nette Plauderei.«
Zögernd trat Girolamo einen Schritt näher.
Eine Ziege meckerte leise.
In diesem Moment schob sich der Mond hinter der Wolke hervor. Sein Licht drang durch die grob gezimmerten Wände des Stalles und fiel in langen, silbrigen Streifen auf den Boden.
Matteo stemmte sich aus dem Stroh und streckte eine Hand aus. »Sei mir gegrüßt! Wie heißt du?«
Girolamo nannte seinen Namen, aber er zögerte, die Hand zu ergreifen und zu schütteln. Doch dann wurde ihm bewusst, wie unhöflich es war, sie abzulehnen, und er fasste zu. In diesem Moment geschah es.
Etwas durchfuhr Girolamo wie ein Blitz. Schlagartig fühlte er ein Kribbeln am gesamten Körper, seine Haare knisterten, und er riss erschrocken die Augen auf.
Matteo schien es auch gespürt zu haben. Gleichzeitig ließen sie beide los und zuckten zurück.
»Heiliger Strohsack!«, murmelte der Spielmann. »Was war das denn?« Er rieb sich die Handfläche.
Girolamo blickte auf seine eigenen Hände nieder. Sie zitterten! Langsam hob er den Blick und begegnete dem des Spielmanns. Und auf einmal spürte er ein starkes Ziehen in seiner Brust. Es fühlte sich an, als würde irgendetwas ihn mit großer Macht an Matteo binden.
Er schüttelte sich und wischte die Hände an der Hose ab. »Keine Ahnung.« Die Nachwirkungen des Kribbelns ließen langsam nach.
Matteo lachte auf. Es klang unbekümmert, so, als hätte er das eben Geschehene schon wieder vergessen. »Egal! Komm, jetzt setz dich endlich hin!«
Girolamo gehorchte. Das Stroh piekste durch seine Hose, aber er achtete nicht darauf. Mit Macht vertrieb er das mulmige Gefühl, das er verspürte. »Der Schschmetterling«, meinte er hastig. »W-wie habt Ihr das gemacht?« «
Matteo lachte leise. »Oh! Nach dem, was eben geschehen ist, kannst du ruhig du zu mir sagen.«
Girolamo nickte. »G-g-gut«, murmelte er.
»Du stotterst ganz schön stark, was?« In Matteos Stimme lag keinerlei Spott.
Girolamo zuckte die Achseln. »Und w-wenn?«
Da lachte Matteo. »Richtig so! Und wenn! Das sage ich mir auch immer, wenn mir so was passiert wie heute Abend.«
»Die Leute denken, dass du ein Z-z-zauberer bist.« Und wenn Girolamo ehrlich war, dann dachte er das inzwischen auch. Eine innere Stimme warnte ihn davor, hierzubleiben, aber seine Neugier war einfach zu groß.
»Bin ich ja!« Matteo vollführte eine schnelle Handbewegung mit der Rechten. Girolamo spürte, wie seine Finger ihn am Ohr streiften, dann hielt Matteo ihm etwas vor die Nase. »Du solltest dir öfter die Ohren waschen«, riet er. »Dir wachsen Blumen aus dem Kopf.«
Staubkörner tanzten im Licht des Mondes.
Girolamo nahm die Blüte. Sie bestand aus dünnem Stoff, der zu einer kleinen Knospe gedreht worden war, und es war offensichtlich, dass Matteo sie irgendwie aus seinem Ärmel gezaubert hatte. »Ich meine keine a-albernen Tricks«, sagte er ärgerlich. »Ich m-meine das mit dem Schmetterling!«
»Ach das!« Wieder lachte Matteo. »Warum denkst du, dass das nicht auch ein Trick war?«
Girolamo griff sich ins Genick, wo seine Haut schon wieder angefangen hatte zu kribbeln. Er gab keine Antwort, denn er wusste nicht, was er sagen sollte. Wieder machte sich das seltsame Ziehen in seiner Brust bemerkbar. Er legte die Hand auf die Stelle über seinem Herzen.
Matteo sah ihn aufmerksam an. »Du spürst es auch, oder?« «
Girolamo nickte nur. Eine Weile schwiegen sie beide.
»Was ist es?«
»Keine Ahnung! Ehrlich.« Matteo legte den Kopf gegen die Stallwand und schloss die Augen.
»Ich habe so was noch nie z-zuvor gefühlt«, murmelte Girolamo. »Es ist so ...« Ihm fiel nicht das passende Wort ein. »... unheimlich«, meinte er dann.
»Ich habe es bisher auch nur zweimal gespürt.« Matteo öffnete die Augen wieder und sah Girolamo an. »Einmal bei einem Maler in Florenz. Hieronymus hieß er. Komischer Name, oder? Er stammt aus einem Herzogtum weit im Norden. Und das zweite Mal vorhin. Bei deinem Vat...« Plötzlich verstummte Matteo. Er beugte sich vor, griff nach Girolamos Arm und drückte ihn fest.
Girolamo zuckte zusammen. »Scht!«, machte der Spielmann.
Girolamo erstarrte.
Auf einmal überkam ihn ein nagendes Gefühl von drohender Gefahr. Es war so mächtig, dass ihm die Luft wegblieb. Er wollte sich rühren, aber er schien wie zu Stein erstarrt. Da war etwas, ein Geräusch, ein fernes Echo, schwach und trotzdem hallend: ein langgezogener, wehmütiger Schrei. Girolamo bekam eine dicke Gänsehaut.
Dann, so übergangslos, wie es gekommen war, verschwand das Gefühl der Bedrohung wieder.
»W-w-was war das?«, hauchte Girolamo.
»Keine Ahnung!« Ganz heiser klang Matteo, und in den zwei Worten schwang so viel Angst mit, dass Girolamo sich vor Entsetzen auf den Knöchel seines Zeigefingers biss. »Es ...«
Mitten im Satz wurde der Spielmann unterbrochen, die Tür des Schuppens flog auf, und Piero kam mit langen, zornigen Schritten hereingestürzt. »Finger weg von meinem Sohn!«, brüllte er.
Matteo sprang auf die Füße. »Ich tue Eurem Sohn nichts!«
Aber Piero ließ sich dadurch nicht besänftigen. Er packte Matteo am Kragen und schüttelte ihn, so dass dessen Zähne aufeinanderschlugen. »Du wirst meinen Sohn nicht bekommen! Er ist nicht der, den du suchst!«
»Vater!« Girolamo fiel Piero in den Arm. »Du bringst ihn ja um!«
Da hielt Piero inne. Er starrte Girolamo ins Gesicht, dann erst ließ er Matteo los. Der Spielmann sackte in sich zusammen und schnappte nach Luft. »Ihr seid ja nicht mehr bei Verstand!«, keuchte er.
Aber Piero beachtete ihn nicht. Sein Gesicht war totenbleich geworden, und noch immer starrte er Girolamo an.
Das Band, das Girolamo zu Matteo hingezogen hatte, war nun wieder zu spüren. Jetzt zog es ihn jedoch zu Piero. Das Gefühl war so stark, dass es beinahe schmerzte.
»Die Gabe«, ächzte Piero. »Du hast ...« Er konnte nicht weiterreden.
Girolamo wollte etwas sagen, aber in diesem Moment kehrte das Gefühl der Bedrohung zurück und ließ sie alle drei erstarren. Wieder erscholl der Schrei.
Girolamo stöhnte auf.
Pieros Kopf flog zu ihm herum. »Hörst du es?« Er war bleich geworden; im silbrigen Licht des Mondes sah seine Haut aus wie aus Wachs.
Girolamo konnte nur nicken.
»Was ist das?«, fragte Matteo. Seine Lippen waren schmal, und auch wenn er nicht so blass geworden war wie Piero, so spiegelten seine Augen das Entsetzen, das auch er verspürte.
»Jäger! Aber noch sind sie keine Gefahr.« Piero straffte sich. »Kommt mit!«, forderte er Matteo auf. »Wir müssen uns überlegen, was wir tun sollen!«
Verwirrt nickte Matteo und folgte ihm dann aus dem Stall hinaus. Eilig rannte Girolamo hinter ihnen her, doch kaum hatten sie Pieros Haus erreicht, als sein Vater sich zu ihm umwandte, ihm streng ins Gesicht sah und befahl: »Du, mein Sohn, du gehst schlafen!«
Girolamo wollte protestieren, aber er klappte den Mund wieder zu, bevor er ihn halb geöffnet hatte. Die Augenbrauen seines Vaters waren gesträubt und zu einem dicken Balken zusammengezogen. Diesmal musste Piero seine Gürtelschnalle nicht berühren. Mit hängendem Kopf nickte Girolamo, warf Matteo einen letzten Blick zu und trottete dann die Treppe nach oben zu seiner Schlafkammer.
Natürlich dachte er nicht daran, sich schlafen zu legen. Ganz im Gegenteil: Er legte sich flach auf den Holzfußboden und presste ein Ohr an die Ritze zwischen zwei Dielen. Manchmal, wenn sein Vater unten in der Wohnstube mit jemandem redete, konnte Girolamo auf diese Weise mithören, aber heute hatte er kein Glück. Vielleicht ahnte Piero, dass er belauscht wurde, denn er redete so leise, dass Girolamo nicht mehr verstehen konnte als ein undeutliches Gemurmel.
Frustriert schlug Girolamo mit der Faust auf den Boden. »Die Gabe ...«, flüsterte er ins Dunkel.
Wenn er bloß gewusst hätte, was das zu bedeuten hatte!
Plötzlich setzte Girolamo sich mit einem Ruck auf.
Hatte er sich getäuscht, oder war plötzlich ein kühler Luftzug durch das Zimmer geweht?
Ein Schauer lief Girolamo über die Arme und hinauf ins Genick. Er presste das Ohr wieder gegen die Dielen und schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können.
»... Jäger ...«, hörte er Piero sagen. »... auf der Suche nach uns ... Girolamo vor allem ...« Dann begann sein Vater unten im Haus mit schweren Schritten auf und ab zu gehen, und von diesem Augenblick an war gar nichts mehr zu verstehen.
Girolamo seufzte und spielte mit dem Gedanken, vom kalten Fußboden aufzustehen und sich auf sein Bett zu setzen.
In diesem Moment ertönte der Schrei, der ihn senkrecht hochfahren ließ.
Sein Herz schlug ihm bis in den Hals, so heftig, dass ihm schlecht davon wurde. Ein eisiger Hauch streifte seine Haut. Schlagartig wurde ihm am ganzen Körper kalt.
Unten im Haus erklang das Geräusch von Stuhlbeinen, die über den Boden schrammten.
Girolamos Unterkiefer fiel herunter, und sein Mund formte ein perfektes, rundes O.
Und dann ertönte der Schrei ein weiteres Mal. Diesmal erkannte Girolamo, was ihn so unheimlich machte: Er war eigentlich gar nicht zu hören! Er schien direkt in seinem Kopf zu entstehen, hoch und schrill und kreischend, so dass Girolamo die Hände auf die Ohren pressen musste. Doch es nützte nichts. Der Schrei dauerte an und dauerte und dauerte, bis Girolamo glaubte, den Verstand zu verlieren; bis er sich auf dem Fußboden krümmte und die Arme um den Kopf schlang. Bis er vor Entsetzen aufschluchzte.
Dann endlich wurde es still.
Eine summende, unheilschwangere Stille.
Ein dröhnendes Geräusch ertönte: das Poltern, mit dem einer der zurückgeschobenen Stühle umfiel. Girolamo begriff, dass der Schrei bei weitem nicht so lange angedauert hatte, wie es sich angefühlt hatte.
»Nein!«, ertönte ein entsetztes, halb irres Kreischen, das Girolamo nur mit Mühe als die Stimme seines Vaters erkannte. Er taumelte auf die Füße. Der Schrei ertönte ein drittes Mal, wieder kam er mit eisiger Kälte einher, wieder dehnte er die Zeit zu einem nicht enden wollenden Moment des Grauens, in dem Girolamo sich Halt an der Bettkante verschaffen musste, um nicht der Länge nach wieder zu Boden zu stürzen.
Diesmal klingelten seine Ohren nach dem Verstummen des Schreis. Er stolperte zur Tür, riss sie auf, wankte auf den Treppenabsatz hinaus, von dem aus er einen Blick nach unten werfen konnte.
Die Stube war nur noch zur Hälfte da. Die gesamte gegenüberliegende Wand war zusammengebrochen, Steine rieselten zu Boden, und Girolamo glaubte seinen Augen nicht zu trauen, denn sie fielen langsam wie Federn.
Er fuhr herum, weil er eine Bewegung in seinem Augenwinkel wahrnahm, und ein entsetzter Schrei entrang sich seiner Kehle. »Marta!«
Seine Ziehmutter lag auf dem Treppenabsatz. Blut rann aus einer großen Wunde an ihrer Brust, sammelte sich auf der Treppe zu einer Lache, einer viel zu großen, furchtbaren, dunkelroten Lache.
»Girolamo!« Der Ruf seines Vaters ließ ihn aufblicken.
Piero hockte unten in der Wohnstube, inmitten der zertrümmerten Möbel. Auch er blutete aus einer Wunde am Kopf. In seiner Hand baumelte die Kette mit dem dreifachen Mond. »Sie haben dich ... gefunden«, stammelte er. »Sie waren viel schneller ...«
»Was ... geschieht hier?« Girolamo krallte die Hände um das Treppengeländer. Der Blick seines Vaters war ausdruckslos, Girolamo wich zurück.
Als befände er sich noch immer im Bann des grausigen Schreis, hob Piero langsam den Kopf. Er sah Girolamo in die Augen, dann verzerrte sich sein Gesicht zu einer solchen Maske des Entsetzens, dass Girolamo aufwimmerte.
»Lauf!«, schrie Piero und schleuderte die Kette in Richtung Kamin. »Lauf, mein Junge! Ich lenke sie von dir ...« Das letzte Wort ging in einem grässlichen Kreischen unter; in einem Kreischen und in dem lauten Rauschen großer Schwingen, das sich von jenseits der zerstörten Hauswand näherte.
Girolamo überlegte nicht lange.
Er machte auf dem Absatz kehrt, sprang zurück in sein Zimmer und dann hinaus auf das Dach des Ziegenstalls. Er brach durch die Strohschindeln, stürzte ins Innere des Stalls, rappelte sich wieder auf und rannte ins Freie. Die Schwingen waren hinter ihm, doch er drehte sich nicht um, sondern jagte zwischen den Häusern des Dorfes hindurch, auf den Weg, der zum Wald führte.
Das Kreischen gellte ihm in den Ohren, er glaubte, etwas an der Schulter zu spüren, etwas, das ihn packte. Schreiend riss er sich los. Kurz irrte dabei sein Blick über die Schulter zurück, und beinahe wäre er stehen geblieben. Da war ... NICHTS!
Nur die Dunkelheit der Nacht und das silberne Licht des Mondes, wenn die Wolken für einen Augenblick lang aufrissen.
Girolamos Schritte verlangsamten sich.
Doch dann streifte etwas seine Wange, etwas, das sich heiß anfühlte wie die Zunge eines großen Hundes. Kurz meinte Girolamo einen süßlichen Geruch wahrzunehmen. Die Haut in seinem Gesicht begann zu brennen.
Er hetzte weiter.
Der Schrei des Jägers erscholl ein weiteres Mal, vermischte sich mit einem zweiten, der von weiter links ertönte. Was immer es war, sie waren zu zweit.
Und sie jagten ihn!
Girolamo brach durch das Unterholz, sein Fuß verfing sich in einer Wurzel, und wieder stürzte er der Länge nach hin. Er riss sich die Hände an den Dornen auf, ein biegsamer Ast peitschte ihm ins Gesicht, Tränen schossen ihm in die Augen. Doch er rappelte sich auf und rannte.
Und rannte.
Und rannte.
Bis er keine Luft mehr bekam und nicht mehr weiterkonnte. Auf einer kleinen Lichtung blieb er schweratmend stehen, lauschte auf seine unsichtbaren Verfolger. Doch er konnte weder das Rauschen noch das unheimliche Schreien vernehmen.
Alles, was ihn umgab, war Stille. Tiefe, absolute Stille. Er ließ sich auf die Knie fallen und verbarg das Gesicht in den Händen.
Für den Augenblick, so sah es aus, war er entkommen.
Das Gras, mit dem die Lichtung bewachsen war, schimmerte im Mondlicht und roch ein bisschen wie bittere Medizin.
Der Mond hüllte sich in Wolken und schob sich dann langsam wieder dahinter hervor. Sein silbriges Licht ergoss sich über Girolamo, und seltsamerweise tröstete ihn das ein wenig. Mit der Zeit ging sein Atem wieder langsamer, der Schmerz in seiner Lunge verflog und auch der in seinen Beinen. Nur das Brennen auf seiner Wange blieb und fühlte sich an wie ein Sonnenbrand. Und als er den rechten Arm bewegte, zuckte ein scharfer, ebenfalls brennender Schmerz durch seine Schulter. Jetzt erst sah er, dass sein Hemd einen langen, blutigen Riss aufwies. Das Wesen, das ihn verfolgt hatte, hatte ihn verletzt. Er dachte an die schreckliche Wunde Martas, plötzlich zitterten ihm Hände und Knie gleichzeitig. Er war tatsächlich entkommen! Vor Erleichterung musste er schrill auflachen und schlug sich gleich darauf die Hand vor den Mund.
Mama Marta. Sie war tot.
Mit diesem Gedanken kehrte die Angst wieder. Was, wenn diese Monster zurückkamen? Sein Vater hatte gerufen, dass er sie von ihm ablenken würde ... Girolamo hob den Kopf.
Sein Vater!
Was war mit seinem Vater geschehen? Kurz flackerte ein Bild vor seinem inneren Auge auf: Pieros Körper, ähnlich zugerichtet wie Mama Marta.
Girolamo rappelte sich auf, verließ die mondbeschienene Lichtung und machte sich auf den Heimweg.
Er roch es, kaum dass er den Waldrand erreicht hatte. Feuer!
Sein Herz sank, und bevor er wusste, was er tat, rannte er auch schon in Richtung des Dorfes.
Die Rauchsäule sah im Silberlicht des Mondes beinahe schön aus, doch ihr Anblick trieb Girolamo einen verzweifelten Schrei auf die Lippen. Das Dorf brannte!
Dichter Qualm stieg in die Nachtluft und hüllte Girolamo ein, als er zum Haus seines Vaters stürzte, das ebenso wie die meisten anderen in hellen Flammen stand.
»Vater!« Er war noch dort drinnen! Ohne zu überlegen, warf Girolamo sich vorwärts, direkt in die Flammen hinein.
Die Hitze raubte ihm den Atem und verklebte seine Wimpern miteinander, aber trotzdem zuckte er nicht zurück. Er kämpfte sich durch den kleinen Vorraum, der zur Wohnstube führte. Rechts und links von ihm schwelten und kohlten die Holzwände, und der Rauch, der ihm in Augen und Nase drang, ließ ihn husten.
Marta lag noch dort, wo Girolamo sie vor seiner Flucht gesehen hatte: auf der Treppe, mit den Füßen nach oben, den Blick in unerreichbare Ferne gerichtet. Zwischen den dunklen Deckenbalken rannen bläulich lodernde Flammen entlang wie lebendige Wesen, und auch die Geländerstäbe brannten lichterloh — Fackeln gleich markierten sie den Aufgang ins obere Stockwerk.
Dann fing Martas Rock Feuer.
Girolamo begann vor Entsetzen zu würgen. »Nein!«, wimmerte er. Wind fuhr durch die hintere, eingestürzte Wand und fachte das Feuer mit einem lauten Fauchen an. Ganz in Girolamos Nähe brach ein Teil der Decke ein und krachte funkenstiebend zu Boden.
Girolamo sprang zur Seite und entging knapp einem Stück Holz, das neben ihm zu Boden rauschte. Beiläufig nur bemerkte er, dass es ein Teil seines eigenen Bettes war.
»Vater!«, rief er, so laut er konnte. »V-vater! Wo bist du?«
Aber er erhielt keine Antwort. Sein Vater befand sich nicht mehr dort, wo er vor Girolamos Flucht gehockt hatte. Ob er entkommen war? Hoffnung presste Girolamos Herz zusammen, und sein Blick fiel auf die Stelle beim Kamin. Auch die Silberkette war verschwunden. Hustend wich Girolamo einen Schritt in Richtung Tür. Raus hier!, schrie ihm eine innere Stimme zu. Kümmere dich nicht um den alten Mistkerl! Aber er ignorierte diese Gedanken. Er durfte seinen Vater doch nicht im Stich lassen ... seinen Vater ... jetzt, wo Marta tot war, war sein Vater alles, was er noch hatte ...
Ein Schauer aus Flammen, brennenden Holzsplittern und Rauch regnete zwischen Girolamo und der Tür zu Boden. Girolamo eilte quer durch den Raum, wich den Trümmern der verkohlten Möbel aus, sprang dann zum rückwärtigen Fenster.
Mit beiden Handflächen krachte er gegen den geschlossenen Fensterladen. Die Wunden, die er sich auf seiner Flucht zugezogen hatte, schmerzten heftig, aber er achtete nicht darauf.
Er stieß die Fensterläden nach außen, sprang ins Freie, wo er auf allen vieren landete. Er hatte gerade noch Zeit, einmal tief durchzuatmen, bevor der erste Stein ihn traf.
Sterne explodierten vor seinen Augen, und ein grelles Licht füllte für einen Moment lang seinen gesamten Geist aus. Dann erst kam der Schmerz.
Girolamo schrie auf. Seine Hand zuckte zur Stirn, tastete Blut, das ihm aus den Haaren rann.
»Er ist schuld!«, hörte er eine zornige Stimme. Er rappelte sich aus der knienden Position auf. Sein Atem ging keuchend, und der Rauch ringsherum ließ ihn husten. Dennoch kämpfte er sich auf die Beine und wandte sich um.
Der Bauernsohn, der versucht hatte, Matteo zu übertölpeln, rannte auf ihn zu, das Gesicht von Hass und Angst zu einer Grimasse verzerrt, die Hand hoch erhoben. Den zweiten Stein sah Girolamo kommen. Er duckte sich, spürte das Geschoss haarscharf an seiner Wange vorbeistreifen. Der Mann blieb vor ihm stehen und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ihn.
»Er ist schuld an allem!«, wiederholte er, und seine Stimme klang flach vor Hass und Entsetzen. »Wegen ihm ist dieser ... dieser Spielmann zu uns gekommen, dieser Hexer. Er hat dieses Unheil heraufbeschworen!« Hinter ihm erschienen nun andere Dorfbewohner, allesamt erwachsene Männer, ein jeder von ihnen mindestens anderthalb Kopf größer als Girolamo. Er blickte in geschwärzte Gesichter mit geröteten Augen.
Er wich zurück, aber die Hitze verhinderte, dass er weiter als einen Schritt kam. Sein Körper krümmte sich, und er wusste nicht, ob vor Erschöpfung oder vor Angst.
»S-sie h-haben unser H-haus doch auch zerstört!«, murmelte er, doch er hörte sich mutlos an und heiser. Das Stottern war ihm schmerzlich bewusst.
Der Bauernsohn und die anderen kamen näher. Hände ballten sich zu Fäusten, Girolamo sah, wie sich zwei Männer nach weiteren Steinen bückten. Das Blut, das ihm aus den Haaren rann, kitzelte ihn am Nasenrücken.
»Schaut doch h-hin!«, brüllte er. »Sie h-haben mein Zuhause als Erstes a-a-angegriffen! Mein Vater ...« Er stockte, weil die Worte ihm den Atem nahmen. Tränen schossen ihm in die Augen, rannen kühl über seine erhitzten Wangen. »Er ist noch da drin!«, flüsterte er schließlich. Er trat zur Seite, so dass die anderen einen ungehinderten Blick auf das brennende Haus werfen konnten. Marta ... Girolamo schluchzte auf, als die Erinnerung an den leblosen, zerrissenen Körper seiner Ziehmutter vor seinem inneren Auge aufflackerte.
Die Flammen hatten inzwischen das gesamte Haus in einen glutroten Umhang der Zerstörung gehüllt. Ihr Brüllen hörte sich an wie das eines lebendigen Wesens, das Ächzen der Dachbalken mischte sich darunter, und es klang, als flehe das Haus um Gnade. Dann, mit einem langgezogenen, qualvollen Stöhnen, stürzte es in sich zusammen. Und begrub das, was von Girolamos Familie noch übrig war.
Girolamo ließ den Kopf sinken. Er fühlte sich leer, ausgebrannt, wie das Haus, wie der halbe Rest des Dorfes. Er spürte, dass seine Schultern nach unten sackten und er unter dem ungeheuren Gewicht der Last, die auf ihn niedergesunken war, zusammenbrechen wollte.
Er schwankte, aber dann riss er sich zusammen und hob das Kinn.
Der Bauernsohn stand jetzt dicht vor ihm. Der Blick seiner dunklen Augen brannte auf Girolamos Gesicht. »Verschwinde von hier, Dreckskerl!«, presste er zwischen den Zähnen hervor.
Bevor Girolamo etwas sagen konnte, kam ein weiterer Stein geflogen und traf ihn am Oberschenkel. Die Dorfbewohner schrien.
»Er hat das Unheil auf uns herabbeschworen!«
»Er ist verflucht! Ein Blutmondkind!«
»Zaubererpack!«
»Gottlose Kreatur! Verschwinde von hier!«
»Mörder!«
Das letzte Wort wurde ihm mit so viel Wucht entgegengespien, dass er die Hitze vergaß und vor Schreck rückwärts taumelte. Die Glut verbrannte seinen Nacken.
Der dritte Stein traf ihn am Mund. Schmerz durchzuckte seinen Vorderzahn, als ein Stück davon abplatzte. Als sei ein unsichtbarer Bann gebrochen, prasselten die Steine jetzt von allen Seiten auf ihn ein, trafen seine Beine, seinen Leib, die Schultern, den Nacken.
Girolamo versuchte zu entkommen, stieß mit den Knien gegen ein Hindernis und stürzte zu Boden. Die Luft wurde ihm aus den Lungen getrieben. Er drehte sich um. Auf allen vieren krabbelte er vor den wütenden Menschen davon, schluchzend vor Angst und Entsetzen. Rotz lief ihm aus der Nase, vermischte sich mit dem Blut aus seiner Lippe und dem aus seiner Wunde am Kopf. Doch er verschwendete keine Zeit damit, es fortzuwischen, sondern krabbelte so schnell er konnte.
Der Steinhagel wurde dünner. Schließlich versiegte er ganz. Girolamo rappelte sich auf die Füße, rannte ein paar Schritte, dann hatte er den Waldrand erreicht. Zum zweiten Mal in dieser Nacht stürzte er sich ins Unterholz, um Schutz zu suchen.
Jäger — diese gnadenlosen Kreaturen hassen die Menschen, denn sie neiden ihnen das eine, das ihr Schöpfer ihnen nicht zugeben vermochte: eine Seele.
(Aus: Lorenzo de' Medici, Chronik des geheimen Wissens der Narratori)
Fiesole, ein kleiner Ort östlich von Florenz, bot einen wunderbaren Blick auf die Stadt am Arno. Von den Hügeln blickte man auf ein Meer rötlichbrauner Dachziegel, aus dem eine Reihe Türme aufragten. Brücken führten über den Fluss, der sich in der frühen Morgensonne trübe braun dahinwälzte, und auf einer von ihnen blieb der Blick jedes Wanderers hängen. Die Ponte Vecchio. Breit war sie und über und über bebaut mit Häusern, deren Fassaden in den unterschiedlichsten Farben leuchteten. Metzger und Schmiede hatten hier ihre Werkstätten.
Am auffallendsten jedoch war die Kuppel des Domes, die alles überragte - gigantisch und wuchtig, so dass der Campanile, der Glockenturm, daneben beinahe filigran wirkte.
Für all das hatte Girolamo jedoch keinen Sinn. Alles, was er empfinden konnte, als er sich nahe dem Kloster San Francesco auf einen umgestürzten Baumstamm fallen ließ und auf die Stadt hinunterbfickte, war Verzweiflung.
Wie oft hatte er sich gewünscht, hierherzukommen! Wenn er nur geahnt hätte, auf welch schreckliche Weise sein Wunsch erfüllt werden würde, er wäre vorsichtiger gewesen mit seinen Träumen.
Er ließ den Kopf sinken, stützte ihn in beide Hände. Dann rutschte er an dem Baumstamm zu Boden, krümmte sich zusammen und wünschte sich, wieder ein kleines Kind zu sein, Mama Martas warme Hand auf dem Rücken zu spüren und ihre tröstenden Worte zu hören. »Es wird alles wieder gut, Giro!«
Er stieß einen gequälten Schrei aus. Nichts würde wieder gut werden! Wenn er doch nur auch tot wäre! Womit verdiente er es, weiter zu leben, wenn Marta das nicht konnte?
Warum nur hatte sein Vater ihn gewarnt, hatte ihm befohlen, fortzulaufen? Und warum hatte er ihm gehorcht? Warum hatte sein Vater die Monster abgelenkt? Sein Vater, der ihn so lange wie er denken konnte immer nur misshandelt und geschlagen hatte. Warum nur hatte er sich für ihn geopfert, als diese Bestien angegriffen hatten ...
Die Bestien.
Wie hatte sein Vater sie genannt? »Jäger« ... Allein bei dem Gedanken an sie sträubten sich Girolamos Nackenhaare, und er empfand wieder das Entsetzen, das der kreischende Schrei in ihm wachgerufen hatte.
Jäger. Wer waren sie? Und warum konnte er sie nicht sehen?
Er verdrängte alle Gedanken an das Geschehene und an die unheimlichen Wesen und versuchte sich darauf zu konzentrieren, was er jetzt tun sollte. Er war hierhergekommen, weil ihm Matteos Worte eingefallen waren.
»Ein Maler in Florenz ... Hieronymus hieß er ... Er stammt aus einem Herzogtum weit im Norden.«
Bei ihm hatte Matteo ebenfalls dieses mysteriöse Ziehen in der Brust gespürt. Vielleicht würde Girolamo hier ein paar Antworten auf all seine Fragen erhalten. Ein paar Antworten und etwas zu essen.
Er zwang sich aufzustehen. Florenz lag vor ihm.
Er sprach sich selbst Mut zu. Dann marschierte er mit zusammengebissenen Zähnen und lang ausgreifenden Schritten den Hügel hinunter, auf ein Tor zu, das von einer vorgelagerten Bastion beschützt wurde, zu dieser Tageszeit jedoch offen stand.
Girolamo folgte der freundlichen Einladung, die die Stadt ihm darbot.
Und zum ersten Mal in seinem Leben betrat er Florenz.
Als er das Stadttor durchquerte, fiel ihm auf, wie leer und verlassen die winterlichen Straßen dalagen. Dann hörte er Lärm und Gesang aus dem Zentrum der Stadt.
Er bog um eine Hausecke. Sein Blick fiel auf die Rücken von unzähligen Menschen, die die Straßen säumten.
Es sah aus, als warteten sie auf etwas, und tatsächlich: Gerade als Girolamo es geschafft hatte, sich an einem Mauervorsprung in die Höhe zu ziehen, um einen Blick über die Köpfe der Menschen hinweg zu werfen, zog eine Prozession in die Straße.
Hunderte von Menschen folgten der Statue eines Jesuskindes, das von vier Engeln getragen wurde. Die meisten von ihnen waren weiß gekleidet, viele hielten kleine rote Kreuze in den Händen und die unterschiedlichsten Gegenstände dazu. Girolamo sah Spiegel, Bücher, Bilder in kostbaren Rahmen und vieles mehr. Lobgesänge auf Gott und Jesus Christus erklangen aus Hunderten von Kehlen, und es gab einen eigenartigen Missklang, weil die Menschen weiter vorne in der Prozession etwas schneller sangen als die hinteren.
Ein Mann fiel Girolamo in der Menge besonders auf, obwohl er genauso gekleidet war wie die meisten anderen. Auch er trug ein weitfallendes, weißes Gewand und sang Psalmen, und doch war etwas an ihm, das Girolamos Blicke auf sich zog.
Er hatte eine große, hakenförmige Nase und buschige, schwarze Augenbrauen. Seine Miene wirkte auf seltsame Weise gleichzeitig missmutig und zufrieden. Als er sich ganz in Girolamos Nähe befand, wandte der Mann den Kopf.
Seine Augen waren schwarz und stechend, und er ließ seine Blicke über die Menge schweifen, bis er Girolamo entdeckte.
Für einen Moment starrten sie sich über die Köpfe der Menschen hinweg an, doch der Umzug setzte unaufhaltsam seinen Weg fort. Dann bogen die Menschen um eine Ecke, und der Blickkontakt riss ab.
Verwirrt blieb Girolamo auf seinem Aussichtsposten zurück.
Auch bei diesem finsteren Mann hatte er das Ziehen in seiner Brust gespürt.
Nachdem die Prozession vorbeigezogen war, schlossen sich die meisten Menschen ihr an. Girolamo tat das Gleiche. Er folgte der Menschenmenge bis zu einem Platz vor einem großen, prächtigen Palast, auf dem ein riesiger Scheiterhaufen errichtet war. In sieben Stufen ragte er auf, bestimmt zehn Mannslängen hoch und am Boden dreißig erwachsene Männer lang.
Bei seinem Anblick blieb Girolamo stehen, so dass eine alte Frau, die hinter ihm gegangen war, gegen ihn rempelte.
»Pass doch auf!«, raunte sie ihn an, aber Girolamo achtete kaum auf sie. Sein Blick hing wie gebannt an dem Scheiterhaufen. Gerade wurde das Holz entzündet, und die Flammen leckten sofort bis in die Höhe. Der Rauch, den sie in den Himmel sandten, erinnerte Girolamo an sein brennendes Zuhause. Ihm wurde die Kehle eng.
»W-was m-m-machen die da?«, fragte er die alte Frau. Sie blickte ihm mitten ins Gesicht. »Bist wohl ein Idiot, oder was? Redest zumindest wie einer!« Mit der Linken wies sie auf den Scheiterhaufen, in den die Menschen jetzt all die mitgebrachten Gegenstände zu werfen begannen. Jedes Mal jubelte die Menge auf, wenn ein Bild oder ein Buch Opfer der Flammen wurde. Die Spiegel zerbarsten in der Hitze der Flammen mit lautem Knallen, die zahllosen Puderdöschen und Cremetöpfe färbten das Feuer grün oder blau. Es begann zu stinken, doch die Menschen schien das nicht zu stören. An vielen Ecken des Platzes wurden neue Lobgesänge laut.