Ewig und eins - Adriana Popescu - E-Book
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Ewig und eins E-Book

Adriana Popescu

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Beschreibung

Ein warmherziger und humorvoller Roman über Liebe und Freundschaft, um Erinnerungen und Neuanfang»Manchmal habe ich Angst, dass wir eines Tages nur noch eine Erinnerung sind und langsam verblassen.«Sie dachten, ihre Freundschaft wäre für immer. Doch dann kam das Leben. Nach sieben Jahren Funkstille sehen sich Ben, Jasper und Ella auf einem Klassen­treffen wieder. Als die Feierlichkeiten zu Ende gehen, beschließen die drei, noch weiter zusammen um die Häuser zu ziehen. Wie damals. Nur für eine Nacht. Doch noch immer sind viele Fragen offen, und je später es wird, desto schneller schlägt Ellas Herz – bis ein paar über die Jahre hinweg gerettete Worte es brechen lassen. Vielleicht für immer.»Ein Roman fürs Herz.« BILD

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Inhalt

Cover & Impressum

Zitat

Comeback

Tor zur Vergangenheit

Wiedersehen Plus eins

Update

The Game is on!

Zeitkapsel auf vier Rädern

Alte Schule

Spotlight

Fast Tanzen

Perfekter Schnappschuss

Der Turm

So wie wir waren

Sternbilder

Sprung!

Flucht!

Loslassen und festhalten

Bens Buch

Deal unter Freunden

Drehscheibe der Erinnerungen

Banditen und Musketiere

Neuer Rekord

Der Sprung des Phönix

Eine letzte Runde?

Team Ben

Team Jasper

Endstation Strand

Ein letzter Tanz

Ewig+1

Road Trip des Lebens

Danksagung

Zitat

»What’s too painful to remember

We simply choose to forget.

So it’s the laughter

We will remember …«

»The Way We Were« – Barbra Streisand

Comeback

 

Manchmal habe ich Angst,dass wir eines Tagesnur noch eine Erinnerung sindund langsam verblassen.

»Wow! Du hast die beiden also ewig nicht mehr gesehen?«

Für meinen Geschmack schaut Kerstin, die 20-jährige Studentin am Steuer, etwas zu selten auf die Straße vor sich. Immerhin befinden wir uns auf einer dreispurigen Autobahn und fahren entspannte 220 Stundenkilometer, und wenn wir schon dabei sind: Sie sollte sich auch anschnallen und den Schulterblick beim erneuten Einfädeln zumindest antäuschen. Okay, sie könnte auch mal den Blinker setzen. Gerne nur, wenn sie die Spur wechseln, überholen oder abbiegen will.

»Ja. Sieben Jahre. Eine gefühlte Ewigkeit.«

»So alt siehst du gar nicht aus.«

In ihrer Überraschung reißt Kerstin das Lenkrad nach rechts und zwängt sich somit – vermutlich ungewollt – zwischen einen LKW und einen Kombi, dessen Fahrer wütend gestikuliert, was ich im Rückspiegel erkenne. Das würde Kerstin auch, wenn sie den Rückspiegel so einstellen würde, dass sie zur Abwechslung mal sieht, was hinter uns passiert. Vielleicht würde sie ihn dann sogar auch mal in Gebrauch nehmen.

Tut sie aber nicht.

Also lasse ich mich etwas tiefer in den Sitz ihres roten VW Golf GTI sinken und bete schnell noch mal zu einer höheren Macht, irgendeiner Gottheit – oder wer auch immer für das Überleben im Straßenverkehr zuständig ist.

Wenigstens drängelt sie, seit wir uns über mein anstehendes Abiturtreffen unterhalten, keine BMWs mehr von der linken Spur. Ein echter Lichtblick, wenn ich nicht lesen könnte, dass der LKW vor uns im November zum TÜV muss.

»Aber … trifft man sich normal nicht nach fünf Jahren oder zehn oder so?«

Kerstin sieht mich ernsthaft irritiert an, ohne auch nur eine Schrecksekunde an Massenkarambolagen oder unsere Sterblichkeit zu denken.

»Ja, eigentlich sollte es unser Fünfjähriges werden, aber die Chaoten, die für die Planung zuständig waren, haben ziemlich lange dafür gebraucht. E-Mail-Verteiler aktualisieren, perfekten Termin finden, keine Schulferien erwischen, Geburtstermine abwarten … Solche Dinge.«

Das nächste Autobahnschild lässt mich kurz aufatmen: »Stuttgart 80 km«. Ich habe es fast überlebt.

»Und ihr hattet gar keinen Kontakt? Nicht mal über Facebook?«

Kerstin starrt mich noch immer ungläubig von der Seite an, während sie links ausschert, um den LKW doch noch zu überholen – natürlich ohne dabei auch nur einen Blick auf die Fahrbahn zu werfen. Wie um alles in der Welt macht sie das nur?

»Nein, nicht mal über Facebook.«

Dort sind wir zwar noch befreundet, aber unser »Kontakt« beschränkt sich seit Jahren darauf, dass ich ab und an schaue, was sie gepostet haben. Ben wohnt alle drei Monate in einer anderen Stadt und hält sich mit kleineren Jobs bei Filmproduktionsfirmen über Wasser, und Jasper bereist die ganze Welt, wo er bei Vernissagen seine Gemälde bestaunen lässt. Er hat es von uns dreien am weitesten gebracht. Momentan wohnt er in Kapstadt, soweit ich weiß. Ich versuche, nicht zu oft auf ihren Profilen herumzulungern, weil ich die beiden dann noch viel mehr vermisse und mich frage, wie es nur dazu kommen konnte, dass wir gar keinen Kontakt mehr haben. Wir! Ausgerechnet wir.

»Das ist krass. Meine Freunde von damals und ich, wir sind noch voll tight.«

Süß, wie sie »von damals« betont und es so klingen lässt, als würde zwischen ihrem Abitur und dem heutigen Tag mindestens ein Menschenleben liegen. Dabei klebt auf der Heckscheibe noch immer ein großes, ausgeblichenes »Abi 2013« von letztem Jahr. Irgendwie niedlich – und irgendwie saublöd. Jetzt fühle ich mich alt, dabei bin ich noch nicht mal 30. Noch lange nicht!

»Und das wird sich auch niemals ändern, echt jetzt.«

Fast empört blickt Kerstin endlich wieder durch die Frontscheibe.

»Wir bleiben immer Freunde. Immer.«

Dann tritt sie das Gaspedal noch etwas mehr durch. Wie schnell kann so ein GTI überhaupt fahren? Hat er auf beiden Seiten Airbags? Und vor allem: Habe ich meinen Organspendeausweis eingepackt?

»Best friends forever.«

Inzwischen spricht sie nur noch mit sich selbst und murmelt alle zwei Kilometer freundschaftserhaltende Mantras vor sich hin. Zumindest sieht sie mich jetzt nicht mehr so an, als wäre ich aus einem anderen Jahrhundert in ihrem Wagen gelandet. Danke, liebe Mitfahrzentrale, für dieses Abenteuer!

Ich lehne meinen Kopf an die kühle Fensterscheibe und betrachte die Sommerlandschaft, die viel zu schnell an uns vorbeizieht. So wie mein Leben. Sieben Jahre nach dem Abi komme ich also tatsächlich wieder nach Hause. Zurück in die Stadt, die ich wie meine Westentasche kenne, in der ich aufgewachsen bin und einmal glücklich war – und eine kleine Berühmtheit. Okay, man hat mich nicht auf der Straße erkannt und um ein Autogramm gebeten. Dafür gibt es einfach zu wenige Leute, die sich für Ballett begeistern. Meine Eltern haben trotzdem einen ganzen Ordner voll mit Zeitungsberichten über mich gesammelt. Ich habe es geliebt zu tanzen, und ich war auch gut darin. Seit ich fünf Jahre alt war, habe ich Ballettunterricht genommen, und als ich dann mit sieben an der renommierten Stuttgarter John-Cranko-Ballettschule aufgenommen wurde, konnte ich mein Glück kaum fassen. Vormittags saß ich ganz normal in der Schule, nachmittags hat meine Mutter mich in die Innenstadt gefahren, wo meine musikalische und rhythmische Begabung gefördert wurde – am Ende sechs Mal in der Woche. Ich war die jüngste Tänzerin, die jemals bei einer der großen Cranko-Produktionen im Opernhaus Stuttgart die Julia in »Romeo und Julia« von Sergej Prokofjew tanzen durfte, vor ausverkauftem Haus. Alle waren sich damals sicher: Aus der kleinen Ella Klippenbach wird mal was ganz Großes! Die erobert die Herzen und Bühnen der Welt im Sturm!

Kurz schließe ich die Augen.

Die Musik des Orchesters setzt ein. Der Vorhang geht langsam auf, und der Zuschauerraum liegt dunkel vor der hell erleuchteten Bühne. Dennoch meine ich, in den Augen der Zuschauer in den ersten Reihen wachsende Bewunderung zu erkennen, als ich beginne, mich zu bewegen, während ich loslasse und das tue, was als Bestimmung durch meine Adern fließt. Die tiefe Leidenschaft, die durch meinen Körper strömt und mich antreibt. Weiter, immer weiter, immer höher lasse ich mich von den Melodien tragen, bis alles um mich herum verschwindet. Ich tanze. Mein Körper wird eins mit der Musik, und erst als der letzte Ton verhallt ist, komme ich wieder zu mir. Dann bricht die Begeisterung in einem lauten Applaus über mich herein. Nicht nur für mich. Für alles: die Musik, die Choreografie, das Bühnenbild, die Kostüme … Der Applaus für das große Ganze.

Plötzlich spüre ich, wie sich etwas tief in mir schmerzhaft zusammenzieht. Damals schien alles möglich, heute … kehre ich zum ersten Mal zurück, in meine schwäbische Heimat, wo alles angefangen hat, wo ich einmal glücklich war – wo ich nie wieder hinwollte, weil inzwischen alles vorbei ist. Für immer.

So hatte ich mir vor sieben Jahren meine Rückkehr jedenfalls nicht vorgestellt. Ich komme weder mit dem Flugzeug aus dem Ausland noch mit einer großen Limousine. Ich komme nicht mal mit dem Zug, weil sogar das zu teuer geworden wäre. Nein, ich komme mit dem Auto, allerdings nicht mit meinem eigenen – denn ich habe keinen Wagen –, sondern mit einer geschwindigkeitsbesessenen Studentin, die von Stuttgart weiter an den Bodensee zu einem Musikfestival mit »richtig guten DJs und so« fahren wird.

Ich komme als Touristin in meine Heimat, und ich mache mir keine Hoffnungen: Ich werde hier mein altes Leben nicht wiederfinden. Ich komme nur als Besucherin, die sich ein paar alte Erinnerungen gönnt, und dann, bevor das Wochenende vorbei ist, wieder in den Norden verschwindet. Zurück nach Hamburg an die Staatsoper, wo ich nicht auf der Bühne stehe, sondern Reisegruppen durch das Haus an der Dammtorstraße führe. Hamburg, das »Tor zur Welt«, ist schon etwas anderes als diese Kesselstadt, die außer Weinbergen und einem Fernsehturm nicht viel zu bieten hat. Das behaupte ich zumindest im Norden, wo man den Süden nicht besonders mag. Ist klar. Also habe ich versucht, mich anzupassen, und behaupte immer wieder: »Stuttgart? Ach was, fehlt mir gar nicht. Wieso auch? Hat ja nicht mal das Meer.« Die Wahrheit ist eine andere: Ich vermisse Stuttgart! Mir fehlen die vertrauten Gerüche und Geräusche, die Stuttgarter Luft, das Leben hier, das Gefühl, wirklich zu Hause zu sein. Das alles habe ich zurückgelassen. Und noch so viel mehr.

Sofort blitzt Bens Lachen und das Leuchten seiner grünen Augen in meinem Kopf auf. Ich sehe, wie er und Jasper sich nach einem Tor johlend in die Arme fallen – im VfB-Trikot in der Cannstatter-Kurve. Dann spüre ich, wie er meine Hand nimmt, mich zu sich zieht, mich anlächelt und küsst, während um uns herum Tausende Menschen jubeln.

Mein Herz hat gerade spontan an Gewicht zugenommen und hängt jetzt etwas tiefer in meinem Brustkorb. Es ist immer schwer, an die beiden zu denken. Sie fehlen mir. Ich hätte nicht gedacht, dass das letzte Gespräch zwischen Ben und mir – am Flughafen in New York – alles verändern würde. Für uns drei. Zu vieles ist damals ungesagt geblieben, weil mir die Worte gefehlt haben. Die richtigen Worte. Oder überhaupt irgendwelche Worte. Ich habe einfach nur dagestanden und ihn angesehen: meine erste große Liebe, meinen Ben. Wenn ich damals das Richtige gesagt hätte, wäre er geblieben. Da bin ich mir sicher. Aber das, was heute, im Nachhinein, vielleicht richtig gewesen wäre, erschien mir damals falsch. Zu viel hatte ich in meinen Traum investiert, zu groß war das Glück gewesen, ein Stipendium an der Juilliard School in New York zu bekommen – und es wären ja nur vier Jahre gewesen, bis ich meinen Bachelor gemacht hätte. Dann wäre ich zurückgekommen, zu ihm. Aber alles das habe ich ihm nicht gesagt, und so ist er gegangen – und ich bin geblieben. Seitdem fühlt es sich an, als ob unsere Geschichte mit einem großen Cliffhanger geendet hätte, und die Leute warten seit Jahren auf die neue Staffel von »Ben & Ella«, weil sie sich fragen, wie es wohl mit uns weitergehen wird.

Okay, vielleicht frage auch nur ich mich das. Ben, so nehme ich an, beschäftigt das schon lange nicht mehr. Sieben Jahre sind eine lange Zeit. Er hat den Kontakt damals von einem Tag auf den anderen komplett abgebrochen und ihn seither nicht mehr aufgenommen. Er postet lieber Fotos von Filmpremieren auf Facebook, auf denen er war und auf denen er meist nur halb zu sehen ist. Ohne mich. Ohne Jasper. Warum allerdings auch Jasper den Kontakt damals abgebrochen hat, weiß ich nicht. Ich habe bis heute keine Antwort auf meine Fragen bekommen. Von keinem von beiden. Sie haben mich einfach aus ihrem Leben gelöscht und dann vergessen.

Bei diesem Gedanken kracht mein Herz irgendwo auf meinen Magen. Man sollte doch annehmen, dass man mit den Jahren erwachsen wird und über so etwas hinwegkommt, oder? Über die erste große Liebe und alte Freundschaften aus der Schulzeit. Über die Menschen, die einen so gesehen haben wie noch kein anderer Mensch zuvor. Oder danach. Oder überhaupt.

»Hattest du was mit einem von beiden? Oder sogar mit beiden?«

Ich höre ein Kichern neben mir und reiße erschrocken die Augen wieder auf. Kerstin!

»Ähm. Mit Ben war ich früher mal zusammen. Jasper ist nur ein Freund.«

»Nur ein Freund?«

Kerstin zieht das Wort »Freund« so lange, bis es eindeutig zweideutig klingt.

»Ja, nur ein Freund. Mehr nicht.«

Nein, Jasper war mein bester Freund, und das so lange ich denken kann. Die meisten Frauen hatten in ihrer Kindheit und Jugend beste Freundinnen, ich hatte Jasper. Das klingt im ersten Moment vielleicht fast wie eine Krankheit, aber er war das Beste, was mir passieren konnte. Es existiert in meinem Kopf keine nennenswerte Erinnerung, in der Jasper nicht vorkommt. Dieser durchgeknallte Chaot, der zu jeder Tages- oder Nachtzeit vor unserer Haustür stand. Sein schiefes Grinsen, die großen dunklen Augen hinter noch größeren Brillengläsern, das ständige Plappern und die fiese Frisur, die das letzte Mal bei Hugh Grant im Film »Notting Hill« angesagt war. Wobei – vermutlich nicht mal da. Zum Glück kam irgendwann die Pubertät, und Jasper hat sich von dem Modegeschmack seiner Mutter emanzipiert. Aber auch nachdem er die Brille gegen Kontaktlinsen eingetauscht hat und die ersten Mädchen auf ihn aufmerksam geworden sind, hat es Jasper nie wirklich interessiert, was andere von ihm denken. Er hat schon früh das Interesse daran verloren, jemandem gefallen zu wollen. Ich glaube, so ungefähr mit vier Jahren, als er den Nikolaus im Kindergarten für die endlich freigewordenen neuen Wachsmalstifte links liegen gelassen hat. Aber so schrullig und eigenartig Jasper war, ich konnte mich immer auf ihn verlassen. Wie oft habe ich ihn angerufen und ihm panisch mein Teenager-Leid geklagt? Und wie schnell hat er dann eine Ausrede gefunden, um über die Straße zu mir nach Hause zu kommen? In den Sommerferien hat er fast bei uns gewohnt.

Plötzlich setzt sich zum ersten Mal, seit wir Hamburg verlassen haben, ein Lächeln auf meine Lippen. Jasper und ich: Wir waren unzertrennlich.

Und dann kam Ben.

»Da lief nie was?«

»Mit Jasper? Nein. Nie.«

»Echt? Geht das überhaupt? Männer und Frauen und Freundschaft und so?«

»Ja, das geht. Glaub mir.«

Jasper und ich, wir sind die Anti-Version zu »Harry und Sally«. Wir sind wirklich Freunde. Oder waren es. Damals.

»Das ist trotzdem irgendwie voll strange.«

»Ach ja? Warum?«

Kerstin antwortet nicht sofort. Sie blickt nachdenklich durch die Frontscheibe, und ich bemerke, wie wir langsamer werden. 180 Stundenkilometer statt 220.

»Also, ich habe meinen besten Freund im Vollsuff geküsst.«

»Aha.«

Die Tachonadel nähert sich inzwischen 150 Stundenkilometern, und Kerstin reiht sich in die mittlere Fahrspur ein. Natürlich ohne zu blinken, aber immerhin.

»Normal, oder?«

Hm. Meine Kopfbewegung liegt zwischen einem wohlwollenden Nicken und energischem Kopfschütteln, weil ich nicht so genau weiß, welche Antwort zu einer erneuten Beschleunigung führen könnte. Aber sie sieht mich gar nicht an, sondern sinniert weiter vor sich hin.

»Ich meine … irgendwie … schon, oder?«

Ich verhalte mich mucksmäuschenstill, denn ich werde sie bestimmt nicht bei dem, was sie gerade macht, stören. Dafür erhöhte es unsere Überlebenschancen einfach viel zu sehr. Wir sind inzwischen bei 120 Stundenkilometern angelangt!

»Also … keine Ahnung.«

Sie schüttelt leicht den Kopf und scheint jeden Moment aus ihrer Trance zu erwachen.

»Das hätte nie geklappt. Zwischen uns. Echt nicht.«

Sie wirft einen kurzen Blick auf den Tacho und scheint von sich selbst überrascht. Im nächsten Moment spüre ich, wie ich leicht in den weichen Ledersitz gedrückt werde. Nein! Ich muss etwas unternehmen. Sie darf sich jetzt nicht wieder aufs Fahren konzentrieren.

»Wirklich? Bist du dir da sicher? Wie ist es danach mit euch weitergegangen?«

Sie zögert.

»Keine Ahnung. Er ist nach München gezogen.«

Ihr Blick wird wieder leicht glasig, die Tachonadel sinkt. Sie denkt. Sehr gut.

Nach drei Minuten – das sind bei 120 Stundenkilometer die angenehmsten 6 Kilometer der bisherigen Fahrt – wendet Kerstin sich plötzlich zu mir.

»Und heute siehst du sie wieder? Alle beide?«

»Nein. Nur Ben.«

Das stimmt nicht ganz, und bei dem Gedanken spüre ich einen brennenden Stich in der Herzgegend. Ich werde nicht nur Ben wiedersehen, sondern auch seine »Plus eins« kennenlernen. Er kommt nicht alleine. Darauf hat mich Facebook nicht vorbereitet, als ich mit klopfendem Herz seinen Eintrag auf der Doodle-Liste für das Klassentreffen gesehen habe. Da stand plötzlich »Plus eins«. Auf keinem seiner geposteten Fotos war eine Frau zu sehen, und der Beziehungsstatus war immer »Single«. Zuerst wollte ich kneifen und meine Zusage zurücknehmen, aber dann ist mir bewusst geworden, dass es vielleicht die letzte Chance ist, ihn jemals wiederzusehen. Die letzte Chance, mich so von ihm zu verabschieden, wie er es verdient hat. Wenn er überhaupt noch mit mir spricht.

»Und Jasper?«

Vielleicht sollte Kerstin sich doch wieder auf das Fahren konzentrieren. Und Jasper? Eine sehr gute Frage, auf die ich leider keine Antwort habe. Früher, als wir in der gleichen Straße gewohnt haben, wusste ich immer, wo er ist. Meistens war ich nämlich dabei. Heute? Laut Facebook war er vor einer Woche zu Hause in Kapstadt.

»Der ist unterwegs.«

»Na, dann weißt du zumindest, wen du heute Abend noch küssen wirst.«

Sie kichert so, wie eine aufgeregte Studentin nach sechs Stunden Autobahnfahrt, vier Red Bull und zu viel Schokolade eben kichert. Dabei hat sie nicht die geringste Ahnung, wie schnell dieser Satz mein Herz aus der Magengegend wieder nach oben katapultiert. Es prallt in meinem Hals irgendwo ab – vermutlich an dem Kloß, der sich dort festgesetzt hat – und schlägt laut und aufmüpfig vor sich hin. Alles nur, weil ich für den Bruchteil einer Sekunde an Bens Lippen denken muss. An unseren ersten Kuss. Auf der Grillparty von Markus Vogelhauser. Kurz nach Mitternacht. Schüchtern und unsicher. Und an unseren letzten Kuss. Am Flughafen. Voller Verzweiflung und Schmerz und Liebe. Danach hat mich kein Mann mehr so geküsst. Auch nicht Karsten, mit dem ich zwei Jahre zusammen war und dessen Küsse so anders geschmeckt haben.

»Oder hast du einen Freund?«

»Nein.«

Wieder ein Seitenblick. Mitleid. Zum Glück sind es nur noch knapp 20 Kilometer bis nach Stuttgart, denn nun weiß ich nicht, wie weit ich in Kerstins Augen noch sinken kann. Und ob. Alt, ohne Freunde, spießig und Single. Wow! Ich kann förmlich sehen, wie plötzlich in ihrem Kopf eine geistige Notiz erscheint: »Bloß nicht so werden wie Ella Klippenbach!«

Als wir endlich Stuttgart erreichen, wird es für mich langsam knapp. Kerstin wird mich vor meinem Hotel in der Nähe des »Mos Eisley« rauslassen, einer Bar, in der in einer Stunde unser Abitreffen beginnen wird. Ja, ich werde in meiner Heimatstadt in einem Hotel übernachten. Meine Eltern sind vor vier Jahren in ein Kaff in die Nähe der französischen Grenze gezogen, weil es dort so viel ruhiger und schöner ist. Ich habe es ihnen nicht gesagt, aber ein bisschen habe ich ihnen das übel genommen. Sie haben meine Nabelschnur zu dieser Stadt einfach so gekappt. Ohne mich zu fragen, ob das okay ist. Seither habe ich gar keinen Grund mehr, hierherzukommen – wobei es jetzt auch nicht so ist, dass ich unbedingt einen suchen würde. Oder zwei.

»Wird sicher voll komisch nach so langer Zeit. Ich meine, ob ihr noch Gemeinsamkeiten habt? Immerhin seid ihr beide älter geworden.«

»Huh?«

»Na ja, man verändert sich, oder? Wenn man sich nicht dauernd sieht, entwickelt man sich doch auseinander und so. Vielleicht wisst ihr gar nicht, über was ihr reden sollt und schaut euch nur so voll komisch an.«

Muss Kerstin ausgerechnet jetzt philosophisch-nachdenkliche Erkenntnisse von sich geben, die mich noch mehr verunsichern? Kann sie nicht wieder über Handynetze und verkorkste Selfies schimpfen? So hat diese ganze dämliche Unterhaltung doch kurz nach Kassel überhaupt erst angefangen. Aber nein! Sie kurbelt meine Zweifel jetzt erst so richtig an, indem sie mich auf eine Reise zurück an den Ort in meinem Gehirn schickt, wo ich diese Gedanken bisher ziemlich erfolgreich unter Verschluss gehalten habe. Wie wird es sein, wenn ich Ben das erste Mal wieder gegenüberstehe?

»Wir sind im Guten auseinandergegangen. Irgendwie klappt das schon.«

Dabei weiß ich das nicht, und dieser Gedanke beschert mir Magenkrämpfe. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie es wäre, wenn ich Ben überschwänglich begrüßen will und er sich einfach wegdreht. Immerhin haben wir seit New York nicht mehr miteinander gesprochen. Kein Wort. Inzwischen ist so viel passiert, und ich kenne ihn vielleicht wirklich gar nicht mehr. Den neuen Ben mit seiner »Plus eins«.

Ich kenne nur den alten Ben. Den Ben, in den ich mich verliebt habe und den ich bis heute in meinem Herzen eingesperrt habe. Meinen Ben, für den ich alles war, bei dem ich mich immer sicher gefühlt habe und der den schönsten Liebesbrief in der Geschichte der Liebesbriefe geschrieben hat. Für mich. Kurz nachdem ich in New York angekommen bin, lag eines Morgens ein Brief in meinem Campus-Postfach. Ohne diesen Brief hätte ich die erste Zeit in New York nicht überlebt. Oder die Wochen nach seinem Besuch. Aber auch später, als alles vorbei war, war es Bens Brief, der mich davor bewahrt hat, mein Leben komplett aufzugeben.

»Na, wenn du meinst. Deswegen werde ich immer Kontakt mit meinen Freunden von damals halten. Keine Ahnung, aber sonst ist es an so Abenden wie deinem heute echt einfach nur scheiße.«

Sie mag nicht gerade Sokrates sein, ihre Worte sind deswegen aber nicht weniger wahr. Heute Abend kann es richtig bescheiden werden, weil Menschen sich aus den Augen verlieren und sich verändern. Nicht immer zum Guten. So wie ich. Andererseits hat Kerstin mir vorhin stolz erzählt, dass sie über tausend Freunde auf der ganzen Welt hat – laut Facebook. Vielleicht sollte ich ihre Vorstellung von Freundschaft doch nicht überbewerten.

»Na, viel Glück damit!«

»Danke, aber wir sind echt Freunde für immer. BFF und so.«

Best friends forever. Für immer. Das habe ich auch gedacht, als ich damals direkt nach dem Abi aufgebrochen bin, um in der Stadt, die niemals schläft, meinen Traum zu verwirklichen. So kann man sich irren.

Weil Kerstin aber gerade wieder so verträumt vor sich hin – und noch immer auf die Fahrbahn – blickt, will ich sie nicht aus ihrer perfekten Illusion reißen. Stattdessen nicke ich und wünsche ihr wirklich, dass sie bei ihrem Abitreffen nicht so viel Angstschweiß verliert wie ich. Mein Herz klopft nämlich gerade mit jedem Kilometer, den wir uns meinem Ziel nähern, panischer in meiner Brust. Bald ist es so weit. Bald sehe ich Ben wieder. Bald habe ich meine letzte Chance auf einen Abschied von ihm, mit dem ich leben kann.

Ich blicke aus dem Seitenfenster und hoffe, dass mich meine müde in der Abendsonne daliegende Heimatstadt etwas beruhigt oder wenigstens ablenkt. Jetzt ist es nicht mehr weit, nur noch an der Wilhelma vorbei und … da trifft es mich wie der Blitz. Ein heller Silberstreifen zuckt kurz durch meinen Körper.

Wäre das zu absurd? Wäre es. Natürlich. Aber auch wunderschön, oder? Ich muss es wissen.

Möglichst unauffällig drücke ich auf den Knopf, der die Fensterscheibe an meiner Seite runterlässt. Sofort erfüllt warme, frische Luft den Innenraum des kleinen Golfs.

»Musst du kotzen?«

Kerstin sieht mich ernsthaft alarmiert an und wird langsamer. 80 Stundenkilometer und damit verdammt nah an den vorgeschriebenen 70 Stundenkilometern dran. Ein Rekord.

»Vielleicht.«

Es kommt darauf an, was gleich passiert.

»Kotz ja nach draußen! Ohne Witz! Ich muss noch bis zum Bodensee.«

»Aber gerne doch. Kannst du ein bisschen langsamer fahren?«

Dann richte ich mich leicht auf, strecke meinen Kopf aus dem Fenster, und die angenehme Abendluft weht mir ins Gesicht. Mir wird beim Autofahren nie schlecht. Wenn ich mich hätte übergeben müssen, dann bestimmt viel eher bei einem ihrer waghalsigen Überholmanöver mit 220 Sachen und nicht hier auf einer zweispurigen Straße in der Tempo-70-Zone in Bad Cannstatt. Nein. Ich will einfach nur sehen, ob es noch da ist. Ich bete, dass es noch da ist.

In der Ferne sehe ich sie schließlich: die Brücke, die von der Wilhelma bis nach Bad Cannstatt reicht und die über alle vier Spuren und dem Grünstreifen in der Mitte führt. Der einzige Weg, um zu Fuß über die vielbefahrene Straße zu kommen, auf der sich niemand an das vorgeschriebene Tempolimit hält. Unsere Brücke. Sofort sausen tausend Erinnerungen wie kleine Glühwürmchen durch meinen Kopf. Jasper, der todesmutig über der Brüstung hängt, Ben, der ihn mit einem ziemlich zweifelhaft aussehenden Kletterseil sichert, und ich mit einer Taschenlampe und klopfendem Herzen. Genau wie jetzt.

Der Fahrtwind verschluckt Kerstins fragende Stimme aus dem Inneren des Autos, und ich schließe ganz kurz die Augen. Ich weiß noch zu genau, wie es ausgesehen hat. Unbewusst fahre ich mit dem Zeigefinger über die Innenseite meines linken Handgelenks – über diese eine Stelle, die sich etwas rauer anfühlt, weil eine Nadel vor Jahren dort schwarze Farbe unter die Haut geschossen hat. Inzwischen trage ich links oft breite Armreifen. Nicht, weil ich mich für das Tattoo schäme, sondern weil ich dann nicht immer die Hintergrundgeschichte erzählen muss und so viele Erinnerungen an die Oberfläche gespült werden. Erinnerungen an die Ella, die ich einmal war. Erinnerungen an die Freundschaft, die mein Leben verändert hat.

Als ich die Augen wieder öffne, spüre ich, wie sich ein Lächeln auf meine Lippen legt. Es ist noch da. Ich kann es trotz der leichten Dämmerung sehen. Da oben, an der Brücke, verblasst und nur noch für das wissende Auge erkennbar: eine umgefallene Acht in einem perfekten Dreieck. Das gleiche Symbol wie an meinem Handgelenk. So, wie wir drei immer hätten sein müssen: ewig.

Tor zur Vergangenheit

 

In meinem Kopfgibt es so viele Fassungen von dem,was ich dir sagen möchte.So viele Worte …

Noch einmal tief durchatmen. Es ist nichts Wildes, nur ein Klassentreffen. Ich werfe einen Blick auf das orangene Schild über meinem Kopf, auf dem »Mos Eisley« steht. Eine Bar mitten in der Stuttgarter Innenstadt. Hier, wo sich die Theodor-Heuss-Straße von Lounges und Clubs gesäumt bis zum »Palast der Republik« hinzieht, hier, wo die Jungen und Schönen der Stadt ein und aus gehen und wo sich die noch nicht ganz volljährigen Mädels mit einem Lächeln auf ihren rot geschminkten Lippen an den Türstehern vorbei ins Innere schleichen. Hier stehe ich – und traue mich nicht rein.

Ich trage heute Abend keinen Lippenstift und habe auch keinen Türsteher vor mir, trotzdem fühlt es sich an, als müsste ich erst jemanden überreden, mich ins Innere zu lassen. Und zwar mich selbst. Da drinnen werde ich gleich auf die Menschen treffen, die mich von früher kennen, die wissen, wer ich war und was ich werden wollte. Wenige habe ich in meiner Freundesliste bei Facebook, viele habe ich ewig nicht mehr gesehen, und alle werden sofort wissen, dass ich versagt habe. Auf ganzer Linie.

Mein innerer Türsteher will mir den Eintritt verweigern, und ganz kurz spiele ich tatsächlich mit dem Gedanken, einfach zu verschwinden. Noch hat mich niemand gesehen, noch kann ich abhauen. »Mos Eisley, Raumhafen. Nirgendwo wirst du mehr Abschaum und Verkommenheit versammelt finden.« Das sagt schon Obi-Wan Kenobi zu Luke Skywalker in »Star Wars«, und obwohl ich da drinnen keinen Abschaum finden werde, habe ich die Hosen gestrichen voll. Zur Schulzeit wäre ich einfach reinmarschiert, hätte gelacht und getanzt – mit Ben und Jasper.

Kurz muss ich lächeln.

Los! Komm schon, Ella! Du hast eine Mission. Jetzt oder nie!

Und dann nehme ich all meinen Mut zusammen und schiebe die Tür auf.

Im Innern werde ich von retro-futuristischem Design, warmen Orangetönen und unaufdringlicher Musik empfangen, die mich unwillkürlich an Fahrstühle und Einkaufszentren denken lässt. Ich sehe Männer in Jeans mit Bügelfalte, Polohemden und Jacketts, Frauen in hohen Schuhen und hübschen Kleidern, mit denen sie ohne Weiteres an jedem Türsteher vorbeikämen, um in einen Club ihrer Wahl zu gelangen. Es geht ruhig zu, gediegen, erwachsen. Niemand tanzt ausgelassen. Gut, es ist erst kurz nach acht Uhr und das »Mos Eisley« hat gar keine Tanzfläche, trotzdem erinnere ich mich an Nächte, die wir hier zwischen den Tischen und Stühlen durchgefeiert haben.

Wo bin ich hier gelandet?

Zögernd bleibe ich im Eingangsbereich stehen. Ich glaube, ich habe mich schon lange nicht mehr so unwohl in meiner Haut gefühlt. Vielleicht sollte ich wirklich die Flucht antreten, bevor mich eine dieser fremden Gestalten entdeckt – und erkennt.

»Ella?«

Ich zucke nur selten bei der Nennung meines Namens zusammen, aber noch bin ich nicht ganz bei mir – oder überhaupt hier – angekommen. Außerdem kommt mir diese helle, leicht gekünstelte Stimme nur allzu bekannt vor.

»Ella Klippenbach?«

Und das ist kein Grund zur Freude. Keine drei Sekunden und schon steht sie vor mir: Denise Falkmeier. Die Art, wie sie die Frage stellt, soll offenbar verdeutlichen, dass sie sich nicht hundertprozentig sicher ist, ob es sich wirklich um mich handelt.

Bevor ich die Frage bejahen oder verneinen kann – was ich mir kurz tatsächlich überlege –, werde ich auch schon in eine herzliche Umarmung gezogen, die das Verhältnis zwischen Denise und mir in einem völlig falschen Licht darstellt.

»Mensch, Ella! Was für eine Überraschung! Ich hätte ja nie gedacht, dass du wirklich kommst.«

Denise drückt mich so fest an sich, dass sie kurz alle Luft aus meinen Lungen presst und ich die zweite Nahtoderfahrung des heutigen Tages erleben darf.

»Fast hätte ich es auch nicht geschafft.«

Wenn ich nur an Kerstins Überholversuch kurz vor Frankfurt denke. Uff!

»Umso schöner, dass du jetzt hier bist.«

Damit lässt sie mich los, und ihre klaren, schönen und überaus kühlen hellblauen Augen mustern mich von Kopf bis Fuß. Denise hat sich nicht wahnsinnig verändert. Sie braucht zwar ein bisschen mehr Make-up als früher, um so auszusehen, als hätte der Zahn der Zeit keine Spuren an ihr hinterlassen, ansonsten hat sie aber noch immer volles langes blondes Haar, hohe Wangen, schöne Lippen und das Lächeln eines Haifischs kurz vor dem Testbiss in die Extremitäten eines nichtsahnenden Surfers.

»Echt schön, dich zu sehen, Ella.«

Waren Denise und ich etwa mal befreundet? Und habe ich das – neben so vielen anderen Dingen – einfach nur irgendwie verdrängt? Meine letzte Erinnerung an uns ist das Badminton-Match in der vorletzten Sportstunde, als sie alles darangesetzt hat, mich mit einem Schmetterball im Gesicht zu treffen. Noch blöder ist die Tatsache, dass ihr das auch gelungen ist. Nein, ich denke, Freundinnen waren wir nicht. Aber vielleicht hat sich das in den letzten Jahren ja auf magische Art und Weise verändert? Vielleicht weil wir nicht mehr zusammen durch die Gänge der Schule laufen müssen? Weil ich keine Konkurrenz mehr für sie bin? Oder weil sie weiß, dass ich hart auf dem Boden der Realität aufgeschlagen bin?

Noch immer betrachtet sie mich mit ihrem typischen Lächeln, während ihr Blick über mein Gesicht huscht, als würde sie eine Narbe oder eine rötliche Färbung an der Stelle erwarten, wo sie mich damals mit besagtem Schmetterball erwischt hat.

Ihr Lächeln, eben noch breit und übertrieben freundlich, wird jetzt kleiner. Ich weiß, was als Nächstes passieren wird. Bevor ich bis drei zählen kann, trifft mich ihr Blick mit einer großen Portion schlecht gespieltem Mitleid mitten in der Magengrube.

»Ich habe gehört, was passiert ist. Das tut mir sooo leid.«

Tut es ihr nicht. Trotzdem legt sie ihre Hand auf meinen Arm und nickt, als wüsste sie, wie es sich anfühlt, was ich durchgemacht habe, und als habe sie verstanden.

»Ja, das … ist lange her.«

»Man sieht gar nichts.«

»Ja, ich habe mich ganz gut erholt.«

Ich winde mich aus ihrem Mitleidsgriff und bin mir nicht sicher, ob ich aufs Klo zum Heulen oder an die Bar zu einem Glas Schnaps flüchten soll. Zu einem ersten von vielen.

Natürlich nutzt Denise mein Zögern aus.

»Und was machst du jetzt? Ich meine, jetzt wo du … Na, du weißt schon.«

Ah ja. Sie hat also einen genauen Plan, nach dem sie mich auseinandernehmen will. Sie arbeitet eine wunde Stelle nach der anderen ab und streut genüsslich Salz in die nicht heilenden Wunden.

»Jetzt, wo ich nicht mehr tanze?«

»Ja, irgendwelche neuen Perspektiven?«

»Nein.«

Meine Stimme klingt belegt, und ich muss mich zusammenreißen, weil das Aussprechen dieser Tatsache noch immer mein Inneres zu Eis gefrieren lässt.

»Schade. Ich habe ja immer darauf gewartet, dass du mal einen Oscar gewinnst.«

»Ähm. Für das Tanzen gibt es keinen Oscar.«

»Ach! Na ja, dann eben das, was auch immer man da so gewinnen kann.«

Sie nickt wieder und holt zum nächsten Freundlichkeitsschlag aus.

»Aber du siehst gut aus, hast dich kaum verändert.«

Das könnte ein Kompliment sein – würde es nicht von Denise »die Diva« Falkmeier kommen, die mich jetzt wieder intensiv mustert. So, als würde sie einen dritten Arm suchen, der mir in der Zwischenzeit auf dem Rücken gewachsen sein muss. Aber da wird sie nichts finden. Äußerlich bin ich tatsächlich noch immer die Ella aus der guten, alten Schulzeit. Ich habe weder zu- noch abgenommen, trage schwarze Skinnyjeans, ein dunkelrotes Top mit einem weiten U-Boot-Ausschnitt, bei dem man die grauen Träger des Tanktops darunter sehen kann, dazu schlichte schwarze Turnschuhe, und meine langen braunen Haare habe ich ohne großen Schnickschnack zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden. Wie früher.

Das heißt für Denise aber auch, dass ich noch immer wie die Ella aussehe, die sie nicht ausstehen kann, weil sie ihr die Show stiehlt. Zumindest manchmal. Auf jeden Fall bei Ben.

»Danke. Du übrigens auch.«

Meine Antwort scheint sie zu irritieren. Habe ich ihren versteckten Seitenhieb gar nicht bemerkt und ihn wirklich als Kompliment wahrgenommen? So kann sie das unmöglich stehen lassen.

»Und du bist also alleine hier, stimmt’s?«

Da. Jetzt werden die Spitzen von Denise schon etwas weniger subtil.

»Ja, ich bin alleine hier. Und du?«

Ich sehe mich übertrieben groß um und zucke dann fast enttäuscht die Schultern, als ich ihre bessere Hälfte nicht entdecken kann. Sie lacht, und ich lache mit, habe allerdings die Pointe verpasst. Schnell reckt sie ihre Hand nach oben und streckt mir einen mit einem großen Diamanten besetzten goldenen Ring entgegen.

»Mein Verlobter muss arbeiten.«

»Natürlich muss er das.«

Und natürlich ist Denise verlobt – weil sie bald heiraten muss, um genug Zeit für eine zweite Ehe zu haben. So gerne ich behaupten würde, dass es nur eine gehässige Bemerkung meinerseits ist, so wahr ist sie leider. Es war immer ihr Lebensmotto, das sie stets gepredigt hat. Egal, ob man es hören wollte oder nicht. Die erste Ehe sei ein Testlauf. Deswegen wolle sie unbedingt vor ihrem dreißigsten Geburtstag verheiratet und geschieden sein. Das nenne ich mal ein Lebensziel.

»Und dein … Freund ist verhindert?«

Mein Freund. Der hat mich vor Jahren am Flughafen in New York verlassen, weil er mit der Fernbeziehung nicht zurechtkam und ich nichts gesagt habe, weil mir die Bühnen der Welt in dem Moment wichtiger waren.

»Nein.«

Ihr Blick schnellt zu meiner Hand – eindeutig auf der Suche nach einem Indiz dafür, ob ich womöglich ebenfalls schon verlobt oder sogar verheiratet bin. Aber da ist nichts. Als ihr das klar wird, sieht sie mich wieder mit ihrem eiskalten Gewinnerlächeln an.

»Sondern?«

Viel spannender kann ich es für sie nicht machen.

»Ich bin Single.«

»Echt jetzt?«

Sie scheint mit meiner Antwort höchst zufrieden und mustert mich erneut eingehend. Bin ich zu dünn? Zu dick? Zu brünett? Zu wenig Denise? Dann lacht sie gönnerisch.

»Ach, weißt du, Ella, ich habe ja immer gedacht, du wärst inzwischen mit Ben verheiratet und von Jasper schwanger.«

Kurze Zäsur.

»Oder andersrum.«

Ihr höhnisches Gelächter erfüllt den Raum. Ihr fieses Lachen. Ihr falsches Lachen, das mich schmerzhaft durchbohrt. Ich spüre, wie die Wut in mir hochkocht, und deute auf den minimalen Bauchansatz, der sich unter ihrem engen Kleid abzeichnet.

»Jetzt sehe ich es erst. Herzlichen Glückwunsch! Gibt es schon einen Geburtstermin?«

Denise sieht mich kurz irritiert an, dann kehrt der bösartige Blick in ihre Augen zurück, während sie die Arme vor der Brust verschränkt und mich fixiert.

»Ernsthaft jetzt?«

Die Maske fällt. Denise sieht mich mit unverhohlenem Hass an, so wie damals, kurz bevor sie zum Schmetterball ausgeholt hat.

»Ella, du bist echt noch genauso ätzend und arrogant wie früher.«

»Du hast dich in der Hinsicht aber auch nicht verändert.«

»Zumindest habe ich mich nie für was Besseres gehalten, nur weil mir alle erzählt haben, ich würde es bis ganz nach oben schaffen.«

»Nein. Das stimmt. Du hast dich einfach nur so für was Besseres gehalten.«

Da verzieht Denise ihre Lippen zu einem frostigen Lächeln.

»Kein Ben, kein Tanzen, keine Karriere. Hast du richtig gut hingekriegt, Ella.«

Denise macht einen kleinen Schritt auf mich zu, und nicht nur die Zehn-Zentimeter-High-Heels geben ihr das Gefühl, mich zu überragen. Sie lächelt noch immer, was mich wohl in Sicherheit wiegen soll. In Wahrheit holt sie nur zum nächsten Schlag aus. Buchstäblich. Er trifft mich erstaunlich hart über der linken Brust, und wieder bleibt mir kurz die Luft weg.

»Damit die Leute dich auch erkennen, abseits vom Walk of Fame, so ganz ohne Stern.«

Dann dreht sie sich weg und geht, während ich verwundert an mir hinunterblicke. An der Stelle, wo sie mich eben getroffen hat, klebt jetzt ein kreisrunder Aufkleber mit meinem Namen.

Da wird es mir plötzlich klar: Denise Falkmeier ist nicht hier, um alte Freunde zu treffen. Sie will nur wissen, wen es im Vergleich zu ihr schlechter erwischt hat. Irgendwie werde ich das dumme Gefühl nicht los, dass ich ganz oben auf ihrer Liste stehe. Ella Klippenbach, die als Sternchen die Schule verlassen hat und als Nobody zum Abitreffen zurückkehrt. Das wird dank Denise sehr schnell die Runde machen. Nicht nur hier und heute Abend, sondern auch im Newsletter, der rückblickend dieses Event beleuchten soll. Für alle, die es heute nicht hierher geschafft haben. Für alle, die schlauer waren als ich, und eine plötzliche Krankheit oder einen Todesfall in der Familie vorgetäuscht haben.

Ich gehe an die Bar und beobachte, wie in einiger Entfernung ein paar meiner ehemaligen Schulkameraden mit einer Polaroidkamera Schnappschüsse machen und diese dann in ein großes Buch kleben, das mir sehr bekannt vorkommt. Unser Abibuch. Offensichtlich soll es heute Abend aktualisiert werden. Ehrlich gesagt, ist das auch bitter nötig, denn ich erkenne hier kaum jemanden wieder. Was Frisuren und Klamotten doch alles verändern können. Wer sind diese Menschen? Und warum musste sich ausgerechnet Denise kein bisschen verändern?

Langsam sehe ich mich in dem Laden um und suche nach Leuten, die mir ein freundliches Lächeln schenken könnten. Ohne großen Erfolg. Ein paar Leute schauen kurz in meine Richtung, wenden sich dann aber schnell wieder ab, um mit ihrem Gegenüber weiterzusprechen … der mir dann eigenartigerweise ebenfalls einen kurzen Blick zuwirft. Wunderbar. Ich kann mir schon vorstellen, über was sie sich jetzt gerade unterhalten. Schadenfreude ist doch die schönste Freude, sagt man. Viele Freunde, das wird mir wieder bewusst, hatte ich während der Schulzeit nicht. Auch wenige Bekannte. Nur zwei beste Freunde, aber die waren alles, was ich brauchte – und jetzt dringender denn je bräuchte.

Mein Blick scannt die breiten Rücken und kurzen Haare der Männer im Raum, immer auf der Suche nach einer bestimmten Person. Sein Profilbild bei Facebook hat er zwar seit letztem September nicht mehr aktualisiert, aber es gibt keinen Grund zur Sorge. Benedikt Handermann werde ich überall erkennen. Immer. Auch in einem Raum voll fremder Menschen werde ich seine Augen erkennen. Das strahlende Grün, wenn er aus vollem Herzen lacht, oder dieses einzigartige Funkeln, wenn er davon erzählt, dass er mal wieder »ganz oben« war. Am Gipfel.

Bei der Erinnerung huscht ein Lächeln über meine Lippen. Ben und seine Kletterei. Immer wollte er höher hinaus. Er hat hart dafür trainiert und träumte von den richtig großen Bergen, deren Namen ich nicht einmal aussprechen kann, deren Gipfel aber eines Tages sein Ziel sein würden. So wie es die großen Bühnen der Welt für mich waren. Wie um alles in der Welt konnte es passieren, dass wir uns unterwegs zu unseren Träumen verloren haben? Wo ist der Mensch, wegen dem ich eigentlich hier bin? Gibt es ihn überhaupt noch? Ist er das dort vorne? Nein. Fehlanzeige. Kein Ben. Und erst recht kein Jasper. Mein Herz zieht sich plötzlich schmerzhaft zusammen. Überall nur Fremde, die an den Tischen sitzen und sich stolz gegenseitig Fotos hin- und herreichen.

Ich brauche Alkohol, um zumindest die nächste Stunde zu überstehen. Wenn Ben bis dahin nicht aufgetaucht ist, gehe ich. Länger halte ich es hier nicht aus. Jahrgangstreffen sind idiotische Veranstaltungen, auf die man nur gehen sollte, wenn man echte Freunde von damals wiedersehen will. Oder seiner großen Liebe von damals noch etwas Wichtiges sagen muss.

Auf der ganzen Fahrt hierher habe ich mir immer wieder die vielen Dinge zurechtgelegt, die ich Ben sagen will. Dinge, die er schon viel früher hätte hören müssen. Dinge, die ich aufgeschrieben und nie abgeschickt habe. Jetzt, wo ich hier alleine stehe und nicht weiß, wie er auf mich reagieren wird, bin ich mir allerdings nicht mehr sicher, ob ich wirklich den Mut dazu finde – vor allem, wenn seine »Plus eins« danebensteht.

Bisher habe ich den Gedanken immer gut verdrängt, aber jetzt, wo ich hier bin, drängt er sich immer weiter in den Vordergrund. Wie soll ich ihm erklären, was damals war, wenn die neue Frau an seiner Seite steht und zuhört? Vielleicht kann ich Ben später kurz entführen, ihm vor der Tür alles sagen, was mir auf dem Herzen liegt, und ihn dann zurück zu ihr schicken. Zu … seiner Partnerin? Verlobten? Ehefrau? Es ist traurig, dass ich nicht einmal weiß, ob er verheiratet ist oder nicht. Immerhin ist meine einzige Quelle eine eher nachlässig gepflegte Facebookseite. Gerade was Bens Beziehungsstatus angeht, ist sie höchst verdächtig. Ben war die letzten Jahre bestimmt nicht ununterbrochen »Single«. Was ich aber mit absoluter Sicherheit sagen kann, ist, dass Ben ein toller Ehemann sein wird. Jeder, der Ben kennt, weiß, wie wunderbar er ist. Seine »Plus eins« ist sich ihres Riesenglücks hoffentlich bewusst.

Wieder zieht sich mein Herz zusammen. Es will sich wohl verkleinern, ganz nach dem Motto: Noch immer zu groß für eine Single-Frau, da genügt ein Herz mit nur einer Kammer.

Bevor Denise oder sonst jemand die Tränen in meinen Augen sehen und sich über neuen Gesprächsstoff freuen kann, drehe ich dem Raum schnell den Rücken zu, bestelle erst einmal doch lieber nur ein Wasser und starre, während ich darauf warte, auf die Zapfanlage vor mir an der Bar, als würde ich den Mechanismus dahinter genau analysieren wollen. Ganz toll, Ella. Keine fünfzehn Minuten und schon sollte man dir keinen scharfen Gegenstand in die Hand geben.

Ich blinzele die Tränen weg und denke schnell an die schönen Erinnerungen. An die Erinnerungen, die ewig bleiben. Ewig … Kann man die Zeit nicht zurückdrehen und dann von vorne anfangen? Oder wenigstens die Highlights der Schulzeit noch mal erleben? Oder wenigstens den Abschied? Wo ist unsere zweite Chance?

Wiedersehen Plus eins

 

Ich weiß ganz sicher,niemand sieht dich so,wie ich es tue.

»Ich wusste gar nicht, dass du mit der Falkmeier so ein inniges Verhältnis hast.«