Unsere Zukunft flirrt am Horizont - Adriana Popescu - E-Book
SONDERANGEBOT

Unsere Zukunft flirrt am Horizont E-Book

Adriana Popescu

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Drei Leben – drei Herausforderungen – drei Chancen auf die Zukunft

Simon, Lia und Marcin haben absolut nichts gemeinsam. Davon sind die drei überzeugt. Na ja, außer, dass sie alle in derselben Einrichtung Sozialstunden ableisten müssen. Denn jeder von ihnen hat schweren Mist gebaut. Und jeder von ihnen hat auch noch eine Menge Mist im Gepäck. Von außen sind ihre Rollen klar: das bei allen in der Schule beliebte hübsche Mädchen, der unauffällige Typ, der kein Wässerchen trübt und der ultracoole Kerl, der sicher was Heftiges verbrochen hat. Doch wenn die drei im Laufe der nächsten Monate eines von- und miteinander lernen, dann, dass keine Geschichte so einfach ist, wie sie von außen scheint. Und dass, nur wenn man sehr genau hinsieht, so etwas wie wahre Freundschaft – oder gar Liebe – entstehen kann.

Aktuell, aufrüttelnd, anrührend: Leserliebling Adriana Popescu schreibt den Soundtrack des Erwachsenwerdens wie keine andere.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 524

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

TRIGGERWARNUNG

Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deswegen findet ihr am Ende des Buchs einen Hinweis. Dieser enthält Spoiler für die gesamte Geschichte.

Erstmals als cbt Taschenbuch März 2023

© 2023 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagkonzeption: Kathrin Schüler, Berlin

unter Verwendung der Abbildungen von © Shutterstock

(TC24; Simon Dux Media) und © iStockphoto (Artem Peretiatko)

MP · Herstellung: UK

Satz und Reproduktion: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-28101-4V002

www.cbj-verlag.de

Für alle, die nicht verloren gegangen sind

1

Simon

Vier Monate zuvor

Die Flammen tanzen in der Dunkelheit mit sich selbst, als wüssten sie genau, dass wir staunend und leicht betrunken zuschauen. Der Beat aus Richards Handy treibt sie immer höher in den Nachthimmel. Unterwegs fressen sie sich durch das vergessene Holz und alles, was sich ihnen in den Weg stellt.

Richard und ich grölen, klatschen uns ab und tanzen unbeholfen zur Musik, die viel zu laut in meinen Ohren hallt. Aber hier hört uns niemand, hier könnten wir alles sagen und niemand würde sich daran erinnern.

Nicht mal wir.

»Das wird das geilste Jahr unseres Lebens, Alter!«

Richard legt seinen Arm um meine Schulter und sein Gesicht taucht näher als erwartet neben meinem auf.

»So geil! Alter, so saugeil!«

Seine Augen sind ganz glasig, der Atem riecht nach dem billigen Alkohol, den wir auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt gekippt haben. Als er ein High Five einfordert, bemerke ich, dass meine Hand zittert – mein ganzer Körper zittert –, und ich verfehle seine.

»Unser ganz eigenes Silvester-Feuer!«

Er ist aufgedreht – wie im Rausch – und tanzt um mich herum, während ich noch immer versuche, meine Nerven in den Griff zu kriegen. Mein Herz hämmert so laut, nimmt es locker mit dem Beat der Hip-Hop-Nummer aus dem Handy auf, und ich kann nichts anderes sonst hören oder fühlen. Nicht mal, als Richard mir durch die Locken fährt und laut lacht.

Aber ich stehe jetzt ganz gebannt da, starre auf das immer höher steigende Feuer, verliere mich in meiner eigenen Welt, fasziniert von den Flammen.

»Ich habe nie etwas Schöneres gesehen.«

Das Traurige ist, es ist die Wahrheit. Für mich ist dieses Feuer das Highlight unserer Abenteuer. Bis Richard den Anblick ruiniert. Mit einem weiten Wurf feuert er den Plastikbenzinkanister, den wir vor nicht mal achtzehn Minuten an der Tanke gekauft und mit Benzin gefüllt haben, gegen das alte Klettergerüst am Abenteuerspielplatz meiner Kindheit, wo ihn sich die Flammen langsam mit ihren langen, glühenden Fingern holen, und dann erfüllt der Geruch von geschmolzenem Plastik die Luft.

»Davon erzähle ich mal meinen Kindern. Das bleibt unvergessen!«

Richards versonnenes Lächeln lässt ihn so viel jünger wirken, und ich frage mich im Stillen, ob ich unsere Anekdoten später auch mal meinem Nachwuchs erzählen kann. Das aufgeregte Kribbeln in meinem Bauch wird durch ein mulmiges Gefühl vertrieben.

Irgendwas liegt in der Luft. Ein beißender Geruch. Oder ist es nur das beißende Gefühl in meinem Magen? So was wie eine Vorahnung. Ich ahne, dass dieser Abend tatsächlich für immer bleibt. Eingebrannt in mein Gehirn.

Und dann sehe ich die Bewegung. Oben, wo das alte Kindergerüst zu einer Art Aussichtsturm wird, rührt sich etwas. Ein Schatten am Boden der Plattform oder ein sackartiger Schemen.

»Scheiße …«

Richard sieht es erst, als ich mit ausgestrecktem Arm auf den brennenden Spielplatz zeige. Sofort hört er auf zu tanzen und scheint zu wissen, dass der großartige Plan, unsere Kindheit – und diesen Spielplatz – mit einem symbolischen Feuer hinter uns zu lassen, gerade mächtig schiefläuft.

»Fuck!«

Ich will einen Schritt in Richtung Feuer machen, aber Richard greift nach meinem Arm und hält mich fest.

»Bist du bescheuert? Was machst du denn?«

»Nachsehen …«

Er schüttelt den Kopf so heftig, dass es für uns beide zu gelten scheint.

»Nicht ins Feuer laufen!« Auch das ist beschlossene Sache. Er hat es entschieden und ich folge. Er will mich in Richtung der geparkten Roller ziehen, aber ich mache mich heftig los, bemerke aus dem Augenwinkel, wie dieser Sack vom Turm taumelt und auf dem Boden neben dem brennenden Gerüst landet.

»Wir müssen das löschen!«

So macht man das doch, wenn etwas brennt.

»Nein, wir müssen abhauen!« Der glasige Schimmer ist aus Richards Augen verschwunden, als wäre er nie da gewesen. Nüchtern und bei vollem Bewusstsein starrt er mir hart ins Gesicht, und ich erinnere mich daran, wieso er der Anführer unserer kleinen Clique ist. Doch ich bewege mich keinen Zentimeter, diesmal schüttele ich den Kopf.

»Nein.«

Kurz glaube ich, er wird mir eine verpassen, aber stattdessen packt er mich an den Schultern und schüttelt mich kurz.

»Das gibt Ärger, Simon. Wir müssen abhauen, solange es noch geht.«

»Wir können nicht!« Noch nie habe ich ihm so vehement widersprochen und noch nie hatte ich so große Angst. Vor ihm und vor dem, was ab jetzt passiert.

Richard aber lässt mich einfach nur los und geht langsam rückwärts, blickt mich ungläubig an.

»Wenn du bleibst, bist du ein Idiot, Simon. Ein Idiot!«

Und obwohl mein ganzer Körper nach Flucht schreit, sehe ich nur zu, wie Richard auf seinen Roller steigt, ihn anlässt, den Helm aufsetzt und ein letztes Mal durch das geschlossene Visier zu mir schaut.

Das ist meine Chance.

Abhauen.

Nicht mehr umdrehen.

Nach uns die Sintflut.

Oder eben das Feuer.

Aber ich kann nicht.

Stattdessen sehe ich zu, wie Richard auf der Straße davondüst, und auf einmal bin ich alleine mit den Flammen. Angst pumpt durch meine Adern, blockiert klare Gedanken und jede ruhige Atmung, aber ich renne in Richtung des Feuers, das immer höher schlägt, wütender und ungezügelter als zuvor. Ihm ist egal, was ihm in die Quere kommt.

Ich sehe, wie der Schlafsack dort am Boden immer heftiger brennt. Ich stürze auf ihn zu. Er windet sich wie ein Fisch an Land, kann sich alleine nicht befreien, und so werfe ich Ladungen Sand aus dem Sandkasten auf das Feuer, ziehe dann meine Jacke aus und versuche, das zu tun, was Helden in Fernsehserien eben so machen, wenn sie in Flammen stehende Menschen retten. Mir ist warm, aber ich schwitze nicht. Mir ist kalt, aber ich friere nicht. Ich will schreien, bleibe aber stumm und kämpfe inzwischen gegen die Flammen an dem Schlafsack – ohne erkennbaren Erfolg.

Das Echo meines Hilfeschreies wird von der Stille um den alten und verlassenen Abenteuerspielplatz verschluckt. Mein Kopf fühlt sich mit einem Mal so leicht an, als wäre er gar nicht mit dem Rest meines Körpers verbunden, als könne er wie ein Ballon in den Himmel steigen und mich hier mit all dem alleine lassen.

Dann verliere ich das Bewusstsein.

2

Lia

Die Lichterkette, die sie liebevoll um das metallene Kopfende ihres Bettes gewickelt hat, leuchtet etwas unscharf im Hintergrund. Bilder von ihr und all ihren Freundinnen hängen mit hölzernen Wäscheklammern an einer Girlande, Erinnerungen an ganz besondere Momente.

Ich atme tief durch, schaue mich weiter in Hannahs Zimmer um und fühle mich hier so unfassbar fremd. Es ist offensichtlich, dass sie sich weiterentwickelt und großen Wert darauf gelegt hat, dass ich kein Teil davon mehr bin.

Ein Abend hat alles verändert, eine Entscheidung, eine Dummheit. Jetzt verbringt Hannah viel Zeit ohne mich, bevorzugt außer Haus. Verwendet Insider, über die ich nicht lachen kann, weil ich die Geschichte dazu nicht kenne oder verstehen würde.

Ist es albern, dass ich sie vermisse?

Draußen auf dem Flur höre ich die Haustür, dann polternde Schritte. Hannah ist zurück.

Fuck.

Meine kleine Schwester, die mit ihren fünfzehn Jahren gerade das Best-of aller beschissenen Pubertäten aller Generationen vor ihr durchlebt, ist seit meinem kleinen Ausrutscher nicht besonders gut auf mich zu sprechen. Gut, war sie vorher schon nicht mehr so recht, aber seitdem ist es wirklich ätzend zwischen uns.

Jetzt höre ich sie lachen, ihre beste Freundin Lena ist also auch dabei. Wie schön. Die beiden kriegt man aktuell ohnehin nur im Doppelpack. Hannah wird ausrasten, wenn sie mich hier in ihrem Zimmer erwischt. In ihrer kleinen Ecke heiler Welt, wo all das Drumherum bei uns mal keine Rolle spielt. Ich schiele zur Tür, warte, ob sie sich ins Wohnzimmer verziehen, aber keine zwei Sekunden später fliegt die Tür auf und meine kleine Schwester reagiert genau so, wie ich es erwartet habe.

»Was zum Teufel machst du in meinem Zimmer?«

Synchron verschränken die beiden Mädels die Arme vor der Brust, schalten direkt auf Angriff, bevor ich was erklären kann. Vor gut einem halben Jahr haben sie angefangen, sich immer ähnlicher zu werden. Der Haarschnitt, die Klamotten, die Gesten und Sprüche. Als wären sie Schwestern und nicht wir beide.

»Sorry, wollte nur …« Unsicher zeige ich auf alles um mich herum, die paar Stofftiere, die Fotos, die Bücher im Regal, auf Hannahs Leben, zu dem ich keinen Zutritt mehr habe.

»Rumschnüffeln?« Hannah ist nur dann so, wenn Lena dabei ist, weil diese wie ein Katalysator für ihre Gemeinheiten wirkt.

»Möglich. Wollt ihr also was beichten?«

Hannah kommt weiter in ihr Zimmer, den Blick auf mich gerichtet, und ich fühle mich wie unter Beschuss.

»Finger weg von meinem Zeug und raus aus meinem Zimmer.«

»Ich wollte echt nur kurz …« Ich kann ihr nicht sagen, was ich hier kurz wollte, weil sie es missverstehen wollen würde und wir direkt den nächsten Stress miteinander vom Zaun brechen würden.

»Raus.«

Das hier hat keinen Zweck, solange ihre Freundin dabei ist, also mache ich mich auf den Weg, ihrem Wunsch nach Privatsphäre nachzugeben, als Lena sich mir in den Weg stellt.

»Meine Mama sagt, du kommst nur deswegen nicht in den Knast, weil du so hübsch bist.«

»Soso.«

»Jap. Weil, wer so was macht, gehört eigentlich in den Knast. Sagt mein Papa.«

»Soso.«

Sie will mich provozieren, aber ehrlich gesagt, lässt mich das gerade reichlich kalt. Da habe ich in der Schule schon weitaus heftigere Kommentare abbekommen. Und die üblichen Bemerkungen von Hannah sind sowieso noch eine Spur schärfer.

»Giltst du jetzt eigentlich als vorbestraft?«

Ich lege den Kopf schief, denke angestrengt über Lenas Frage nach – obwohl ich die Antwort natürlich kenne –, und zucke schließlich gespielt ahnungslos die Schultern.

»Weiß nicht so genau. Was sagen denn deine Eltern dazu? Die scheinen ja ungefragt zu allem eine Meinung zu haben.«

Lena will irgendwas erwidern, aber sie ist nicht besonders schlagfertig, wenn sie keine fünfundzwanzig Minuten Vorlauf hatte. Ich lächele noch immer so harmlos-höflich wie immer und hoffe, dass sie nun langsam verbal den Rückzug antritt.

»Wie auch immer, dein Ruf ist eh ruiniert. Und jetzt hast du auch noch Hannah alles vermasselt.« Mit diesem Spruch macht Lena mir nun Platz und deutet auf die Tür, als wäre das hier ihr Zimmer. Kaum bin ich draußen, fliegt selbige hinter mir mit einem lauten Knall ins Schloss.

Kurz lehne ich meine Stirn von außen an das Holz und schließe die Augen. Vor ein paar Wochen hatte ich noch alles unter Kontrolle, und auch wenn sie mir immer mal wieder aus den Fingern geglitten ist, habe ich das Chaos trotzdem überblicken können. Aber nun habe ich Hannahs Leben tatsächlich auf den Kopf gestellt, das muss mir nicht erst Lena sagen, das weiß ich auch so.

Jetzt bröckelt alles, gibt nicht nur den so lange verborgenen Wasserschaden in den Wänden meines Lebens preis, sondern auch gleich noch den jahrelangen Schimmel dahinter.

Langsam gehe ich zurück in mein Zimmer, wo ich mich auf mein Bett fallen lasse. Das Gelächter aus dem Zimmer nebenan ist klar und deutlich wahrzunehmen. Getrennt durch eine Wand und doch im gleichen Alltag gefangen. Ich will mich bei Hannah entschuldigen, aber ich habe nicht die richtigen Worte.

Manchmal wünschte ich mir, dass fiese Erinnerungen auf einer Speicherkarte gesichert würden. Und wenn die voll ist, dann löscht man einfach die Dinge, an die man sich gar nicht mehr erinnern will. Bei mir wäre das jener Tag vor drei Monaten, den ich einfach für immer deleten würde.

Ich werfe einen Blick auf den Kalender neben meiner Pinnwand. Der morgige Tag ist fett rot umrandet. Morgen beginnen sie also.

Meine Sozialstunden.

3

Marcin

Ein Blick auf die Uhr.

Es ist gleich zehn und noch brennt Licht in unserer Küche. Meine Knie fangen an wehzutun, aber in dieser hockenden Position neben der großen Mülltonne habe ich alles am besten im Blick. Wenn er nicht zu spät zur Arbeit kommen will, dann müsste er so langsam mal los.

Wieder sehe ich auf die Uhr. Er wird zu spät kommen.

Seinen Arbeitsplan habe ich nicht nur im Kopf, sondern auch abfotografiert in meinem Handy. Damit ich sicher sein kann. Und wenn ich morgens das Haus verlasse, checke ich immer, ob er Urlaub oder so eingetragen hat.

Hat er nicht.

Das Licht geht aus, dafür flammt das im Hausflur auf, und ich halte die Luft an. Gleich öffnet sich die Haustür, er wird erst nach links, dann nach rechts schauen. Die Zigarettenschachtel aus der Jackentasche wühlen, sich in aller Ruhe eine Kippe anzünden und dann die Straße entlang in Richtung U-Bahn-Haltestelle gehen.

Das Feuerzeug funktioniert nicht richtig, die kleinen Funken reichen nicht, um die Zigarette anzuzünden, und ich gehe noch etwas weiter im Schatten der Mülltonnen in Deckung, als das Bic-Geschoss schon wütend in meine Richtung geschleudert wird. Natürlich kann er mich nicht sehen, dafür ist es zu dunkel, und ich habe meine Kleidung gut gewählt, verschmelze fast mit dem Hintergrund.

Endlich setzt er sich in Bewegung, und ich warte, bis er auch ganz sicher weit genug weg ist. Dann erst ziehe ich die Kapuze vom Kopf, atme einmal tief durch und verlasse mein Versteck.

Kaum habe ich die Haustür aufgeschlossen, geht das Licht im Treppenhaus wieder aus, und ich bleibe einen Moment am Fuß der Treppe stehen, sehe in die Dunkelheit nach oben, wo ein Stockwerk höher unsere Wohnung liegt.

Es sind genau vierzehn Stufen. Vierzehn verdammte Stufen, die ich jeden Tag nehme, und jeden Tag hoffe ich, dass es das letzte Mal ist.

Das Kribbeln ist zurück. Nicht mehr lange. Nicht mehr lange und ich bin weg. Einfach weg. Ich werde mal wieder warten, bis er aus dem Haus ist, aber anders als sonst werde ich dann mein Zeug holen und einfach weggehen.

Ich nehme die erste Stufe.

Erst nach Holland.

Dann die zweite.

Und dann nach Belgien.

Dann die dritte.

England.

Dann die vierte.

Wales.

Dann die fünfte.

Irland.

Das Lächeln auf meinem Gesicht wächst, als ich die nächste Stufe überspringe und mit einem wuchtigen Satz oben ankomme.

»Und dann nach Schottland.«

Leise flüstere ich es in das Treppenhaus meines Lebens. Alles habe ich hier erlebt. Den ersten Streit, den ersten Kuss, die erste Zigarette und den ersten Abschied.

Der nächste Abschied wird besser.

Mit dem Schlüssel in der Hand drehe ich mich zu unserer Tür, als neben mir die zur Nachbarwohnung geöffnet wird und Frau Waibles Silhouette auftaucht. »Marcin?«

»Ja, Frau Waible, Entschuldigung, war ich mal wieder zu laut?«

Dabei halten sich hartnäckig Gerüchte, sie wäre so schwerhörig, dass sie den Fernseher auf volle Lautstärke stellen muss, wenn sie die Shows mit Semino Rossi anschaut. Aber ich weiß nur zu genau, dass sie alles mitkriegt. Manchmal sogar mehr, als mir lieb ist.

»Nein, nein, ich wollte nur fragen, ob alles okay ist.«

Langsam drehe ich mich zu ihr um, wie sie dasteht in ihrem Hausanzug und den Pantoffeln. Die Locken von früher sind inzwischen kraftlos, als hätte das Leben sie ausgelaugt.

»Klar. Wieso auch nicht?«

Sie zuckt die Schultern, und kurz befürchte ich, sie sieht auch im Dunkeln, dass ich mal wieder etwas verheimliche. »Es ist wohl wieder was zu Bruch gegangen. Da dachte ich, fragste mal nach.«

»Ach so. Ja. Mein Vater ist ein bisschen ungeschickt, Sie wissen ja …« Wem ich mit dieser Lüge was vormachen will, weiß ich selbst nicht so genau. Frau Waible jedenfalls weiß nämlich sehr genau, dass es nichts mit seiner angeblichen Ungeschicklichkeit zu tun hat.

»Jaja, ich weiß.« Jetzt macht sie einen Schritt ins Treppenhaus und streckt die Hand nach dem Lichtschalter aus. Wie das Blitzlicht eines ungebetenen Paparazzo flammt es schlagartig hell auf und ich knipse mein automatisches Lächeln an.

»Du kommst in letzter Zeit immer so spät nach Hause.« Keine Frage, eine Feststellung, und ich nicke.

»Ja, viel zu tun.«

»Wo treibst du dich nur rum?«

Lächeln, Marcin, lächeln! »Sie wissen doch …« Mir fällt keine Ausrede ein, in der ich nicht ein Stückchen Wahrheit verraten und damit meinen Plan in Gefahr bringen würde.

Aber Frau Waible weiß so viel über mich und nickt verständnisvoll. »Du hast eine Freundin.«

Nicht lachen, Marcin. »Ihnen entgeht aber auch nichts.«

»Deswegen bist du immer so gut gelaunt in letzter Zeit, nicht wahr?«

»Sie sind ganz schön auf Zack, Frau Waible.«

»Ach. Liebe ist schon was Großartiges.« Ihr Blick wandert an mir vorbei, weiter – und zwar sehr weit – zurück. »Der Ludwig und ich, wir waren auch immer bis in die Puppen unterwegs.«

Ludwig hieß ihr Mann, der vor einigen Jahren verstorben ist. Seitdem verlässt sie ihre Wohnung nur noch zum Einkaufen, wobei ich sogar das immer häufiger für sie übernehme.

»Wir haben früher viel getanzt. Kannst du tanzen?«

»Leider nein.«

»Wenn du Tanzstunden brauchst …« Sie breitet die Arme aus und nun muss ich wirklich lächeln.

»Dann wende ich mich natürlich an Sie.«

»Und wenn du mal wieder einen Tee und etwas Ruhe brauchst …«

Ruhe. Ja, die bräuchte ich.

»Dann klingelst du einfach.«

»Versprochen.«

»Oder du benutzt den Schlüssel.« Das flüstert sie, und ich weiß, wieso.

»Wird gemacht.«

»Gute Nacht, Marcin.« Sie tippt sich kurz an die Nase, während sie mir ungeschickt zuzwinkert, wie sie es in dem Film Der Clou mit Robert Redford und Paul Newman gesehen hat. Sie liebt diesen Film, wir haben ihn bestimmt schon zehn Mal zusammen geschaut.

Ich warte, bis sie in ihrer Wohnung verschwunden ist, bevor ich die Tür zu meiner endlich aufschließe und schnell ins Innere schlüpfe. Ich vermeide es gerne, dass man einen Blick darauf erhaschen kann, weil mir alles hier drinnen peinlich ist. Dabei sind die Möbel ganz okay, auch wenn sie nicht besonders modern wirken.

Schon im Flur erkenne ich die Ungeschicklichkeit meines Vaters. Ein Glas ist zu Bruch gegangen, die Scherben liegen auf dem rauen Teppichboden verteilt, und ich steige darüber hinweg, um in der Küche den Kehrbesen zu holen. Das dreckige Geschirr stapelt sich in der Spüle, die Kaffeemaschine ist übergelaufen und hat braune Spuren auf der Anrichte und dem Boden hinterlassen.

Das ist ihm alles egal. Nichts geht ihn etwas an. Nichts und niemand. Es sei denn, man steht im Weg, wenn er einen seiner Wutausbrüche hat. Dann ergeht es demjenigen wie diesem Glas hier.

Die rote Plastikschaufel hole ich aus dem Schrank unter der Spüle und den Besen finde ich neben dem Kühlschrank. Erst sammele ich die Scherben ein, dann mache ich das Geschirr und träume mich dabei nach Schottland.

4

Simon

Der Zeiger der Uhr wird jede Sekunde umspringen.

Ein kleiner Satz für den Zeiger, ein großer Sprung für die Uhrzeit. Dann wird die Schulglocke läuten, alle werden hochschnellen und fluchtartig das Klassenzimmer verlassen.

Doch der Zeiger wehrt sich so vehement gegen den letzten Sprung wie ich mich gegen das Ende dieser Physik-Schulstunde. Noch bevor die Glocke ertönt, landet ein kleiner Zettel auf meinem Tisch und ich lasse ihn dort einfach liegen. Ich weiß, von wem er ist, ich weiß, was draufsteht, und ich weiß, was ich antworten werde. Mit einer schnellen Handbewegung lasse ich ihn genau dann in meinem Mäppchen verschwinden, als das schrille Klingeln das Ende der Schulstunde einläutet und der Lärmpegel sofort schlagartig zunimmt.

Ich lasse meinen Füller auf den kleinen Zettel fallen, schlage den Ordner zu, schiebe das Buch vom Tisch in den Rucksack und bemerke, dass ich der Letzte bin, der noch an seinem Platz sitzt.

Richard wartet an der Tür, so wie immer, aber ich habe es einfach nicht eilig. Für ihn beginnt der freie Nachmittag, für mich nicht. »Kommst du?« Richard schafft es noch zu lächeln, obwohl seine scheinbar harmlose Frage wie ein Befehl auf mich wirkt. Ich schultere den Rucksack und mache mich auf, ihm und den anderen nach draußen zu folgen. »Wenn du Bock hast, kannst du heute Abend zu mir kommen. Ich habe bei FIFA alle Spieler vom VfB getuned.«

Richard tuned alles. Seinen Roller, Cola mit Rum, seine Noten und eben einfach so den VfB.

»Mal sehen.«

Er klopft mir aufmunternd auf die Schulter. »Komm halt vorbei, das wird cool. Meine Eltern fragen schon nach dir.«

Seine Eltern. Damit kriegt er mich und er weiß es. Seit der Grundschulzeit kennen Richard und ich uns jetzt schon und das bedeutet in unserem Alter quasi das ganze Leben. So viele Nachmittage, wie ich bei ihm verbracht habe, so viele Stunden vor der Playstation und so viele Abendessen, bei denen ganz selbstverständlich für mich mitgedeckt wurde. Ich bemerke, dass er noch immer darauf wartet, dass ich seine Einladung annehme. Es wäre leicht mitzugehen, so wie immer. Aber es ist nichts mehr wie immer.

»Ja, mal sehen.«

»Das Schlafsofa ist auch frisch bezogen. Wie immer, du kennst ja meine Mutter.«

Damit legt er mir den Arm um die Schulter, als wären wir einfach noch immer die besten Freunde, als wäre Richard nicht irgendwann zu cool für mich geworden. Oder ich zu uncool für ihn? So genau kann ich das gar nicht mehr sagen. Er hat früh angefangen zu rauchen, dann das erste Bier ausprobiert und komische Kumpels auch, und ich wie der Klotz am Bein war immer mit dabei.

Den richtigen Moment für den Absprung habe ich verpasst, denn wenn ich Richard je zurücklasse, dann halt auch alles andere.

Doch jetzt, wo er mich durch die Schulflure schiebt, spüre ich all die Dinge, die uns inzwischen trennen. Für Richard ist das Leben in den Monaten seit Silvester einfach so weitergegangen. Urlaub in Spanien, neue Freundin, Trennung, bisschen Party, bisschen mehr Party, überdurchschnittlich viel Party und dann eben wieder Schule. Bei mir stand derweil mal eben alles kopf, inklusive der Kontrolle über mein Leben, die ich abgeben musste, auch wenn ich darüber nicht spreche.

Doch Richards Grinsen nach zu urteilen, ist das alles nicht weiter schlimm. Im Notfall tuned man eben hier und da ein bisschen irgendwas.

»Lach mal wieder, Simon. Würde dir guttun.«

Er drückt mich an sich, und mir ist die plötzliche Nähe, diese Vertrautheit unangenehm, obwohl ich sie gewohnt bin. Eine Gruppe Neuntklässler beginnt zu tuscheln, als sie mich sehen, und ich weiß genau, worüber sie sprechen. Seit der Verurteilung weiß es jeder. Selbst die, die bisher keine Ahnung hatten, wie ich heiße oder wer ich bin.

Richard bleibt stehen, nimmt den Arm von meiner Schulter und funkelt die Kids böse an. Er kann so was gut, sieht dabei immer bedrohlich aus. »Was gibt es da zu glotzen, hm?«

Sofort löst sich die Gruppe auf, strömt in verschiedene Richtungen über den Flur, und Richard dreht sich triumphierend zu mir um.

»Immer diese kleinen Pisser.« Ich lächele, er lächelt. Damit ist alles wieder gut. Alles wie immer. »Ich sag dir, die haben Schiss vor uns.«

Darauf scheint er aus irgendeinem Grund unheimlich stolz zu sein. Er muss nur in eine bestimmte Richtung schauen, eine lässige Geste und schon teilt er die Flut an Schülern auf den Fluren wie Moses das Rote Meer. Früher, also so richtig früher, da standen wir auf der anderen Seite, haben Platz gemacht und zugesehen, wie andere sich über uns lustig gemacht haben. Bis Richard quasi über Nacht nicht nur einige Zentimeter an Körpergröße, sondern auch noch Bartwuchs – zumindest den Ansatz davon – dazugewonnen hat. Plötzlich mochten ihn die coolen Jungs und die noch cooleren Mädchen. Ein Nicken hier, ein Hallo da und irgendwann schob er mir plötzlich in Chemie die Lösungen für den nächsten Test über den Tisch zu. Er war ganz oben angekommen und hat mich mitgenommen, obwohl ich seinem Image sicher eher geschadet habe.

Jetzt, da sich aus dem Oberlippenflaum von damals echter Bartwuchs entwickelt hat und ich endlich auch gut zwanzig Zentimeter Körpergröße nachgelegt habe, sind wir wieder auf einer Ebene, auch wenn ich das insgeheim anders sehe. Richard ist nicht mehr einfach nur mein bester Freund von früher. Heute ist er für mich Richard, der Kerl, der einfach weggefahren ist.

»Also dann heute Abend bei mir!«

Jetzt klingt es nicht mehr wie eine Frage oder Einladung. Er hat das beschlossen und damit ist das Thema durch. Mein unbestimmtes Schulterzucken ignoriert er, geht in Richtung Treppe und dann nach links zum Rollerparkplatz. Dort, wo wir unsere Vespas nebeneinander abstellen. Zumindest haben wir das früher immer getan. Denn jetzt steht meine Vespa in der Garage neben dem Auto meiner Mutter, weil meine Eltern mir bis auf Weiteres den Schlüssel abgenommen haben. Also warte ich, bis Richard wirklich außer Sichtweite ist, und schlurfe erst dann die Treppen runter.

Unten angekommen, biege ich statt nach links nach rechts zum Fahrradparkplatz ab, wo mein Drahtesel treu auf mich wartet.

Weil ich degradiert wurde.

Zu einem Niemand, dessen Namen trotzdem jeder kennt.

5

Lia

Es ist schon komisch, wie schnell sich die Dinge ändern. Bis vor ein paar Monaten war ich entweder für die anderen unsichtbar oder eben Markus’ Ex-Freundin. Jetzt bin ich die mit den Sozialstunden, weil ich ein Auto geklaut und eine Art Massenkarambolage mit parkenden Autos fabriziert habe. Wenn ich also wie jetzt über den Flur gehe, höre ich sie hinter mir tuscheln oder kichern, aber sie verstummen, wenn ich mich umdrehe, und mustern mich stattdessen abschätzig von oben bis unten. Heute trifft es mich mehr, als es sollte, weil ich nervös bin. Direkt nach der Schule muss ich im Seniorenheim Schattige Pinie auftauchen, dort wird man mir alles erklären, mich rumführen und dann kann es losgehen. Doch was wie die Einarbeitungsphase für einen Ferienjob klingt, wird sich hundertpro – laut dem sich ständig in meinem Kopf wiederholenden Worst-Case-Scenario – ganz anders abspielen. Ehrlich gesagt bin ich nicht besonders gut mit so was. Senioren und Rentner auf dem letzten Zwischenstopp vor dem Abschied, das klingt nicht gerade nach der perfekten Beschäftigung für mich. Okay, vielleicht ist das gar nicht so schlimm, wie ich es mir ausmale, aber ich habe nicht mal Großeltern, ich weiß nicht, wie man mit alten Menschen umgeht.

»Ist heute der große Tag?«

Natürlich hat es sich rumgesprochen. Es würde mich nicht mal wundern, wenn Lena dafür gesorgt hätte, dass die Leute sogar wissen, wo genau ich nach der Schule hinsoll. Klar geht es eigentlich niemanden etwas an, aber irgendwie hat scheinbar jeder eine Meinung zu meiner Strafakte. Und heute ist für sie alle in dieser Hinsicht der große Tag. So in etwa wie Weihnachten und Silvester zusammen und gleichzeitig auch noch Earth Day. Markus Schumacher, mein Ex-Freund, steht vor mir, die Arme vor der Brust verschränkt, der Blick streng und ein bisschen von oben herab. Markus, in den ich sogar mal wirklich verknallt war.

»Na, stecken sie dich heute in einen roten Overall?«

»Ich hoffe doch, Rot ist schließlich voll meine Farbe.« Irgendwann habe ich es mir angewöhnt, nicht mehr ernsthaft auf solche Gemeinheiten zu antworten, sondern sie einfach zu übergehen.

Leider fühlt Markus sich davon aber nun herausgefordert, mir zu folgen. »Wie lange musst du absitzen?«

Sitzen werde ich wohl nicht sehr viel, aber das ist auch okay. »Fünfzig Stunden.« Jetzt kann von mir aus auch jeder alle Details wissen. Vielleicht hören die Gerüchte dann auf.

»Bitter.« Einen kurzen Moment sieht er mich ehrlich schockiert an, und ich erkenne den Markus, mit dem ich mal zusammen war. »Und musst du das alleine durchziehen?«

Ich bin versucht, ihm die ganze Story zu erzählen. Alles. Von dem Anruf, der Polizei, meiner riesigen Angst … aber etwas in seinem Blick verunsichert mich. Diese Neugier – oder ist es Sensationslust – dient nur dazu, es dann den anderen erzählen zu können. Ginge es dabei nur um mich, wäre mir das egal. Aber inzwischen kriegt Hannah eine ordentliche Breitseite von der Bugwelle meiner Aktion ab.

»Mal sehen.«

»Selbst wenn es der absolute Albtraum wird – wenn so was jemand rockt, dann du.«

Markus hat mir seit unserer unschönen Trennung nicht mal mehr mit einem ehrlichen Lächeln begegnen können, wieso ist er dann jetzt so nett zu mir?

»Was willst du?«

Er ringt mit sich, muss sich zwischen seinen verschiedenen Images entscheiden. Ist er heute der nette Typ, den ich abseits der Schule habe kennenlernen dürfen, oder der fiese Typ, der allen möglichen Mist über mich bei seinen Kumpels rumerzählt hat?

»Ach, weißt du, Lia, manchmal denke ich …«

Ob es clever wäre, ihm zu sagen, dass die Stelle für eine gedankenverlorene Zäsur nicht besonders gut gewählt ist?

»Du hattest mit mir echt den Jackpot. Ich hätte dafür sorgen können, dass die Leute jetzt nicht so arschig zu dir sind.«

Der Preis dafür wäre nur ziemlich hoch gewesen, wenn ich an seinen Vorschlag von damals denke.

»Ich bevorzuge arschige Kommentare, danke.«

»Weil du immer alles alleine hinkriegst und niemanden nah genug an dich ranlässt?«

Ich hasse es, dass er es so genau auf den Punkt bringt.

»Wenn du irgendwann mal von deinem hohen Ross runterkommst, merkst du vielleicht, was dir deshalb durch die Lappen gegangen ist.«

Noch bevor ich etwas sagen kann, wendet Markus sich ab und marschiert davon. Er folgt dabei dem Vorbild vieler vor ihm. Die meisten Leute verabschiedeten sich genau so aus meinem Leben, als es richtig mies wurde.

6

Simon

Der Eingangsbereich sieht ein bisschen so aus wie in einem Hotel. Wie in einem sehralten Hotel, für noch ältere Menschen. Eine Weile stehe ich nur dumm rum und hoffe, dass mich niemand anspricht, mir die Zeit hier bereits angerechnet wird und ich vielleicht einfach wieder gehen darf.

»Und du bist?« Die Frau vor mir ist entweder aus dem Nichts aufgetaucht oder sie schleicht sich gegen den Wind an.

»Simon Kampen.«

»Und du willst zu?«

Sie trägt weiße Baumwollhosen, ein weißes Poloshirt und weiße Turnschuhe. Ihre Stimme klingt ungeduldig, als hätte sie einen wichtigen Termin, als würde ich nur ihre Zeit stehlen – und ich befürchte, genau das tue ich auch.

»Zu … Ihnen?«

Mir wurde nur gesagt, ich solle mich hier melden, nicht bei wem. Der Name auf dem kleinen Schild an ihrer Brust verrät mir, dass sie Frau Schüble ist.

»Zu mir?«

Wieder nicke ich etwas benommen und klaube die korrekten Informationen in meinem Gehirn zusammen. »Ich soll hier … Sozialstunden … ableisten.«

Keine Ahnung, wieso ich flüstere, denn niemand außer uns ist hier. Und wer sollte uns schon belauschen, die schwerhörigen Senioren?

»Ach so. Hier entlang.« Sie winkt mich zu sich und geht mit schnellen Schritten einen Gang entlang, in den ich ihr folge und dabei bete, dass er mich nicht direkt in die Hölle führt.

Wir überholen einige ältere Leute, die unmotiviert auf dem Gang rumstehen, auf jemanden warten oder nicht mehr so genau wissen, wo sie eigentlich hinwollten. Ich fühle mich ihnen spontan sehr verbunden.

»Wie viele Stunden hast du abgekriegt?« Sie sieht mich nicht an, während sie die Frage stellt, weil sie ein konkretes Ziel hat und sich nicht von Blickkontakt ablenken lässt.

»Ähm. Sechzig.«

Da bleibt sie abrupt für den Bruchteil einer Sekunde stehen und mustert mich, während ich im letzten Moment bremse, bevor ich gegen sie prallen kann. Dann schüttelt sie den Kopf und murmelt: »Wow.«

Es klingt nicht so, als wäre sie wirklich beeindruckt, ganz im Gegenteil, sie sieht mich an, wie meine Mutter mich wohl hätte ansehen müssen, als sie davon erfahren hat. Frau Schüble setzt sich wieder in Bewegung und hat jetzt ein Bild von mir im Kopf, das ich nicht mehr ändern kann. Sechzig Sozialstunden, das ist Königsdisziplin, die kriegt man nicht für einen aufgebrochenen Kaugummiautomaten.

»Da drinnen kannst du dein Zeug lassen.« Sie schubst eine Tür zu einem kleinen Zimmer mit vier Schränken, einem Tisch und zwei Stühlen auf. Ein junger Mann ist gerade dabei, sich umzuziehen.

»Marcin, sei so gut und führ Simon ein bisschen rum. Er hat sechzig Sozialstunden bei uns abzuarbeiten. Du kennst das ja.«

Dann dreht sie sich zu mir, an die Strenge in ihrem Blick sollte ich mich vermutlich gewöhnen. So sehen mich einige der Lehrer auch an, weil sie sicher glauben, dadurch mein schlechtes Gewissen zu verstärken. Als müsste das noch sein.

»Das ist Marcin, er ist schon eine Weile bei uns und kann dir alles zeigen.«

Marcin, in einer dunklen Jogginghose und mit schwarzem T-Shirt, sieht genau so aus wie jemand, den meine Eltern, anders als mich, für einen klassischen Sozialstunden-Knacki halten würden. Kurz winke ich ihm zu und er nickt knapp.

»Ich warte noch auf eine junge Frau, die auch in eure Gruppe gehört. Aber ihr könnt schon mal los.«

Der Typ nickt, bevor Frau Schüble mich hier wie Ballast bei ihm zurücklässt. Etwas unsicher, wie ich mich verhalten soll, lehne ich neben der Tür und sehe mich erst mal weiter im Raum um, als gäbe es hier irgendwas zu entdecken, was man nicht schon auf den ersten Blick sehen würde.

»Willst du dich noch umziehen?« Er ist ein bisschen größer als ich, trägt seine braunen Haare so, dass sie ihm bis in die Augen hängen, und lächelt kein Stück.

»Ich habe nichts zum Umziehen dabei. Brauche ich das denn?«

»Kommt darauf an.«

»Worauf denn?« Ich wette, man kann die Unsicherheit in meiner Stimme hören.

»Ob du dich mit den Senioren anlegst oder nicht.« Ein geheimnisvolles Augenzwinkern und dann schiebt er sich an mir vorbei auf den Flur.

Ich werfe meinen Rucksack einfach auf den Tisch und laufe ihm hinterher, bevor er um die nächste Ecke biegen kann. »Was genau muss ich denn alles machen?«

So sicher, wie er sich auf den Fluren bewegt, muss er wirklich schon seit einer ganz schönen Weile seine Stunden abarbeiten. Hier und da nickt ihm eine der Pflegekräfte zu.

»Wie alt bist du eigentlich?«

Auch er bleibt so abrupt stehen wie vorhin Frau Schüble, und ich wette, man kann meinen Bremsversuch auf dem glatten Fußboden unter meinen Sneakersohlen bis in den obersten Stock hören.

»Ich bin vor zwei Monaten siebzehn geworden.« Und fühle mich gerade wie maximal zehn.

»Okay. Und sechzig Stunden hast du aufgebrummt bekommen?«

Werden sie jetzt alle darauf rumhacken?

»Ja. Sechzig.«

»Wow.«

Keine Ahnung, ob er schockiert oder beeindruckt ist, aber sein prüfender Blick mustert mich noch mal von oben bis unten, und ich frage mich, in welche Schublade er mich gerade steckt.

»Du hast also richtig Mist gebaut, ja?«

Ja. »Geht so.«

»Du kriegst keine sechzig Stunden für ’ne Lappalie.« Abwartend verschränkt er die Arme und sieht mich an.

Glaubt er wirklich, ich erzähle es ihm einfach so? »Weißt du das so genau aus Erfahrung oder …?«

»Ich kenne mich aus.«

Frau Schüble meinte, er wäre schon eine Weile hier. Sofort ist meine Neugier geweckt, und ich versuche, ihn ebenso grimmig anzustarren wie er mich. »Was hast du denn angestellt, um hier zu landen, hm?«

Marcin verzieht bei meiner Frage keine Miene, lässt seinen schweren Blick nur weiter auf mir ruhen.

»Du bist doch auch nicht hier, weil du heute Nachmittag nichts Besseres zu tun hast. Also?« Meine Stimme verrät, dass wir keine Freunde auf den ersten Blick sind. Richard würde sich garantiert ein paar dumme Sprüche über Marcins abgetragene Jogginghose nicht verkneifen können und sein anschließendes Lachen würde man auch noch auf der anderen Straßenseite hören.

»Das würdest du wohl gerne wissen, Frischling.«

»Ja. Würde ich. Will ja ’ne Ahnung haben, mit was für Schwerverbrechern ich hier meine Zeit verbringen muss.«

Dieses Stare-off könnte noch eine kleine Weile weitergehen, wenn Frau Schüble uns nicht unterbrechen würde. »Jungs. Hier ist Lia. Sie hat euch noch gefehlt.«

Wir drehen uns synchron in ihre Richtung und ich erkenne sie natürlich sofort. Vorgestellt wurde sie mir damals als die Freundin von Markus, aber mir ist sie als das Mädchen mit den krassen Augen in Erinnerung geblieben. Wenn sie einen ansieht, scheint sie irgendwie gleich alles zu wissen, anders kann ich das nicht erklären. Sie trägt eine dunkelblaue Bomberjacke, die sie fast verschluckt und gleichzeitig viel wuchtiger aussehen lässt, als sie wirklich ist. Ihre dunklen Haare sind kürzer als damals, als ich sie getroffen habe. Jetzt weiß sie nicht so recht, wohin mit ihren Händen oder ihrem Blick. Ob sie mich auch erkennt? Immerhin ist unser Treffen schon eine kleine Ecke her und sie war damals nicht besonders nüchtern.

»Hi.« Sie winkt etwas ungelenk und ich reiche ihr sofort die Hand.

»Hi. Ich bin Simon. Von der Party im Kino damals.«

Keine Ahnung, wieso ich ihr gleich die Party in Erinnerung rufen will. Etwas überrumpelt nimmt sie trotzdem meine Hand an und schüttelt sie lasch, bevor sie sich kurz an Marcin wendet, der aber noch immer in der gleichen Pose dasteht. Okay, möglich, dass da jetzt ein Lächeln auf seinen Lippen ist. Aber Typen wie er imponieren Mädchen wie Lia nicht. Kann ich mir nicht vorstellen. Will ich mir nicht vorstellen.

»Wenn das Gruppenkuscheln dann mal beendet wäre, können wir dann jetzt endlich los?« Er klingt so unfassbar genervt, dass ich mich automatisch frage, wie lange er hier schon ackert, um bereits so ausgelaugt zu sein. Und ob mir so eine Laune in ein paar Wochen nicht auch als Dauerbefinden blüht.

»Klar. Zeig uns ruhig alles. Marcin ist nämlich schon ’ne Weile hier.« Damit erhoffe ich mir, vor Lia den Eindruck zu erwecken, ich wäre irgendwie nur ein Gast, der hier eigentlich nicht wirklich hingehört und bald wieder weg ist, während Marcin den Rest seines Lebens weiter Sozialstunden ableisten muss.

»Dann mal los in den Speisesaal.«

»Speisesaal?«

»Ja. Wir kümmern uns um die Essensausgabe.«

Toll. Ausgerechnet der Speisesaal.

Direkt meinen Endgegner erwischt.

7

Marcin

Ihnen sind die Haarnetze natürlich peinlich. Simon zupft die ganze Zeit daran rum, als würde man mit so was auf dem Kopf überhaupt gut aussehen können. Nicht mal Lady Gaga würde damit was hermachen.

Wobei … Kurz sehe ich zu Lia, die sich Mühe gibt, nichts vom Pudding zu verschütten, während sie ihn aus dem großen Topf in viele Schälchen löffelt. Hoch konzentriert ist sie bei der Sache, ihre Zungenspitze zwischen den leicht geöffneten Lippen und eine kleine Falte zwischen ihren Augenbrauen. Irgendwie cute unbeholfen.

Kopfschüttelnd mache ich mich wieder daran, die Würstchen, die es mit Kartoffelbrei als Hauptspeise für die Senioren gibt, in kleine Stückchen zu schneiden.

»Ich wollte nur mal sagen, dass die Party damals echt episch war.« Das ist Simons vierter Versuch, ein bisschen Small Talk mit Lia zu betreiben, aber besonders viel Erfolg hatte er mit diesem Vorhaben bisher noch nicht, und ich verkneife mir ein Grinsen, als sie auch diesmal nur stumm nickt und ihn weiter ignoriert. »Also, ich meine, ’ne Party in einem Kino. Das bleibt halt irgendwie hängen, oder?«

»Die Location war schon cool.«

Simon nimmt ihre Antwort als Aufforderung weiterzusprechen. »Ja, also, ich fand auch die Musik und die Leute da total cool. Hat auf jeden Fall Spaß gemacht. Und war auch toll, dich da kennengelernt zu haben.«

Wenn er das Flirten nennt, müsste man ihm dringend ein bisschen Nachhilfe geben. Doch dafür ist hier definitiv nicht der richtige Ort, und so räuspere ich mich laut, erinnere ihn dadurch an die Tatsache, dass er hier nicht bei First Dates ist. »Wie weit seid ihr?«

Lia dreht sich zu mir und deutet auf die zahlreichen kleinen Schalen, die sie liebevoll gefüllt hat. »Fast fertig.«

Als müsste ich mich davon persönlich überzeugen, komme ich zu ihr rüber und sehe, dass sie mit einem Löffel Mini-Herzen in die Puddings gemalt hat.

»Ich dachte, vielleicht macht das den Senioren eine kleine Freude?«

Die Idee ist sicher süß, aber für so was haben wir hier einfach keine Zeit. »Das ist ein Seniorenheim und kein hipper Coffeeshop. Deine Barista-Künste kannst du dir sparen.« Das klingt genervter als geplant, aber die beiden sind einfach viel zu langsam. Gut, okay, ist auch ihr erster Tag, aber ich habe echt keine Lust, so kurz vor Schluss noch sogenannte Verstärkung zu bekommen, die alles nur verlangsamt und mich Nerven kostet.

»Sorry, ich dachte …«

»Nee, nicht denken. Arbeiten. Wir haben einen fixen Zeitplan.«

Hauptsächlich nervt es mich, dass sie jedes Mal mir neue Kiddie-Straftäter an die Seite stellen, die ich dann einarbeiten soll, weil ich ja ach so viel Erfahrung damit habe. Dabei will ich nur mein Zeug fertig bekommen.

»Wieso bist du eigentlich so mies gelaunt?« Simons Frage unterbricht meine Gedanken, und ich drehe mich zu ihm, beobachte, wie er in Slow Motion Besteck sortiert. »Ich meine, was hast du Schlimmes angestellt, dass du hier gelandet bist?«

Zuerst will ich es wieder mit einem dummen Spruch abtun, aber als auch Lia sich zu mir wendet und mich abwartend ansieht, spüre ich wieder diese Enge im Hals. Als wäre Atmen für alle anderen eine vorinstallierte Einstellung, um die sie sich nicht kümmern müssen, während für mich Atmen harte Arbeit ist.

»Ratet doch mal.« Die drei Worte kann ich gerade noch über die Lippen pressen, bevor meine Lunge nach mehr Sauerstoff verlangt und ich tief einatme.

Simon nimmt meine Aufforderung dankend an, tritt einen Schritt zurück und mustert mich. Wieder betrachtet er meine Hose, die ich heute Morgen in der Eile einfach aus dem Kleiderschrank gezogen habe, und dann meine Schuhe, die ausgelatscht sein mögen, aber mich noch immer von A nach B bringen.

Und im Idealfall bis nach Schottland.

»Du hast so ’ne Art an dir …« Er legt sich gespielt nachdenklich den Finger an die Lippen. »Weiß auch nicht. Körperverletzung?«

Wow. Aber ich verziehe keine Miene und drehe mich zu Lia, deren Blick ebenfalls etwas Misstrauisches angenommen hat.

»Und was denkst du?«

»Ja, Simon könnte schon recht haben. Raubüberfall vielleicht?«

»Oder Drogen!«

Simon scheint sich ja richtig Gedanken über meine kriminelle Vergangenheit zu machen. Nickend lasse ich sie weiter raten, gönne ihnen den Spaß, mich probehalber in Schubladen zu stecken.

»Bist du ein Dealer?«

»Für was?«

»Gras. Bei uns an der Schule verticken die das Zeug im Fahrradkeller. Das würde zu dir passen.«

»Gras an Typen wie dich zu verkaufen, ja?«

Simon zuckt die Schultern, plötzlich nicht mehr ganz so lässig.

Lia hingegen schüttelt entschlossen den Kopf. »Nee, dafür sind deine Augen zu ehrlich. Ich glaube, du bist auf die falsche Bahn geraten, weil du jemandem was beweisen wolltest.«

Das alles erkennen sie nach einer Prüfung meiner Klamotten, meiner Frisur, der ehrlichen Augen und nach knapp dreißig Minuten zusammen mit mir in der Küche eines Seniorenheims.

»Okay, wer liegt näher dran?«

»Ach, so funktioniert das? Das Erraten meiner Geschichte ist so was wie eure Ich-komme-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte und wer mit seiner Antwort näher dran ist, bekommt Sozialstundenabzug?«

Simon nickt. »Jetzt sag schon. Drogen oder Raubüberfall? Oder beides?« Das neugierige Leuchten in seinen Augen passt nicht so recht zu seinem sonst eher fahlen Gesicht.

»Ändern wir doch kurz die Spielregeln. Verrate doch du erst mal, wieso sie dir sechzig Stunden aufgebrummt haben?«

Die Sache ist offensichtlich nur so lange lustig, bis man Gegenfragen stellt und jetzt Simon im Fokus der Aufmerksamkeit steht. Es ist ihm peinlich, denn er sieht sofort zu Lia, will wohl wissen, ob sie ihn jetzt auch in eine Schublade steckt, und schüttelt dann nur kurz den Kopf.

»Das geht dich nichts an. Mein Anwalt hat gesagt …«

»Oh, sieh einer an, der feine Herr lässt lieber seinen Anwalt sprechen.«

Simons Gesicht nimmt nun langsam Farbe an und wirkt gleich um einiges gesünder, aber ich habe keine Lust mehr auf diese Unterhaltung und deute stattdessen wieder auf das Besteck. »Schluss jetzt mit dem Ratespaß. Weitersortieren.«

Mit einem Seitenblick zu Lia gehe ich zurück an meinen Arbeitsplatz. »Du kannst von mir aus so viele Herzen in den Pudding malen, wie du willst.«

Kinderkram. Wer sich einen Anwalt leisten kann, der hat sicher auch kein Problem, ein Flugticket nach Glasgow bezahlt zu bekommen. Direktflug. Businessclass. Ohne Übernachtungen in irgendwelchen 20-Betten-Zimmern in billigen Hostels.

»Willst du denn gar nicht wissen, wieso ich hier bin?« Lias Stimme ist sanft und ruhig, nicht so überheblich wie Simons oder so wütend wie meine.

»Nein.«

»Weil du es schon weißt?«

»Woher denn?«

Frau Schüble erzählt uns nie, was die Leute verbrochen haben. Bestimmt wegen so was wie Schweigepflicht, und meistens frage ich nicht nach, weil es mich nicht interessiert. Wir haben alle unsere Gründe – oder Ausreden –, wieso wir Dinge tun.

»Es stand ja in der Zeitung.«

»Lauter Promis hier also.«

Das ist nicht ganz die Reaktion, die sie sich erwartet hat, und so dreht sie mir wieder den Rücken zu und schaufelt weiter Pudding in die Schalen. Simon sortiert fleißig Besteck, und ich frage mich noch immer, was genau an mir einen prügelnden Dealer vermuten lässt.

8

Lia

Die älteren Herrschaften sitzen verteilt an Tischen, essen sehr langsam ihr von uns ausgeteiltes Essen und unterhalten sich mal laut, mal leise über ihren Alltag und von der Welt längst vergessene Dinge.

Simon, Marcin und ich lehnen an der Rückgabestelle für das Geschirr zur Küche und beobachten die Heimbewohner.

Das heißt, ich beobachte die Heimbewohner.

Marcin beobachtet mich.

Und Simon beobachtet Marcin.

»Was ist denn jetzt wieder?«, frage ich Marcin, der mir schon beim Austeilen des Essens komische Blicke zugeworfen hat.

»Muss ein richtiger Kulturschock für euch sein, oder?«

»Was genau?«

»Na das hier.«

»Wieso? Weil ich noch keine achtzig bin?« Erst jetzt lasse ich meinen Blick von einem älteren Herrn, der alleine sitzt und sich den Pudding bis zum Schluss aufgehoben hat, zu ihm wandern. Marcin grinst entspannt, was ihm auch noch ziemlich gut zu Gesicht steht.

»Auch. Aber ich wette, ihr seid sonst eher nicht so die Typen für solche Arbeit.«

»Korrekt.« Bullshit, wäre die bessere Antwort gewesen, aber inzwischen bin ich es leid, mich für alles rechtfertigen zu müssen. Es ist leichter, die Rolle zu spielen, für die sie mich besetzt haben. Ich kenne solche Blicke und mag sie nicht.

»Überrascht mich nicht.«

»Weil du dir schon ein Bild von mir gemacht hast, ne?«

»Ganz richtig.«

»Und verrätst du mir, welches?«

»Ihr seid alle dem Jugendknast knapp entgangen, weil Papa den Anwalt gezahlt hat, und heuchelt hier jetzt irgendwas von wegen gelobe Besserung und Fehler wiedergutmachen.«

Nichts an seinen Vorwürfen trifft mich so sehr wie das Wort Papa. Langsam, zu langsam, klatsche ich in die Hände, halte sie so davon ab zu zittern, und sehe Marcin stur ins Gesicht. »Mensch, du hast mich ja auf den ersten Blick direkt durchschaut, Marcin. Applaus.«

Es überrascht ihn, dass ich ihn nicht nur direkt ansehe, sondern auch bei seinem Namen nenne.

»Lass dir von Kollege Griesgram nicht die Laune verderben.« Simon lehnt sich an Marcin vorbei zu mir rüber und lächelt irgendwie schüchtern.

Zwar war er bei der Party im Kino damals wohl dabei, aber ehrlich gesagt kann ich mich nur noch sehr vage an alles erinnern. Nicht gerade meine Sternstunde damals. Simon passt aber nicht so recht zu Markus’ Kumpels, mit denen er sonst rumhängt.

»Hast du nachher Lust, vielleicht noch irgendwo einen Happen zu essen?«

Mit seinen blonden Locken und dem strahlenden Lächeln passt er übrigens auch nicht so recht in das vorgefertigte Bild des jugendlichen Straftäters. Nicht, dass es so was gibt, aber wir alle haben doch Klischees im Kopf, ob wir es nun zugeben wollen oder nicht.

Weswegen er wohl wirklich hier ist? »Ich muss nach der Sache hier leider direkt nach Hause. Meiner Schwester bei den Hausaufgaben helfen.« Nicht, dass Hannah so klein ist, wie ich sie gerade erscheinen lasse. Oder sie sich von mir bei irgendwas helfen ließe. Es wartet genau genommen niemand auf mich, aber mir ist es lieber, daheim zu sein, wenn Hannah nach Hause kommt.

»Ah, schade. Aber vielleicht ein anderes Mal?«

»Klar, wieso nicht.«

»Cool.« Sein Gesicht hellt sich auf, aber bevor die Situation zu entspannt werden könnte, schaltet sich Marcin dazwischen.

»Das hier ist übrigens kein Dating-Event, falls es euch noch nicht aufgefallen ist.« Sein Kommentar wird von einer Handbewegung in Richtung Speisesaal und den Senioren begleitet.

»Ist diese miese Laune bei dir eine Dauerausstellung oder kriegen wir auch mal was anderes zu Gesicht? Ich frage für eine Freundin.« Meine Retourkutsche nimmt ihm kurz den Wind aus den Segeln, und er nickt gespielt anerkennend, was mich nur noch mehr auf die Palme bringt.

»Ganz wie Ihr es wünscht, Euer Ladyschaft. Werde mal sehen, ob ich die Tage noch eine andere Präsentation für die Herrschaften aufbieten kann.« Dieser Typ trifft bei mir einen Nerv, was grade nicht so hilfreich ist.

»Okay, Marcin, du hast irgendein Problem mit mir, habe ich gecheckt. Aber es ist nicht mein Problem, dass Mama und Papa dir nicht genug Taschengeld geben und du deswegen Tankstellen oder Zigarettenautomaten ausrauben musst, okay?«

Gerade, als er Luft holt, um mir eine passende Antwort ins Gesicht zu schmettern, ruft der ältere Herr, der alleine an seinem Tisch isst, Marcins Namen und winkt ihn zu sich rüber.

»Entschuldige mich. Die Kundschaft ruft.«

Damit stößt er sich ab und geht an den Tisch hinüber, was Simon nutzt und sofort zu mir aufrückt. »Komischer Vogel, oder?«

»Wer jetzt genau? Auswahl haben wir hier genug.«

»Na Marcin.«

Dabei habe ich mir noch keine abschließende Meinung zu ihm gebildet. Er ist rau und irgendwie genervt, aber seine Augen erzählen eine ganz andere Geschichte, eine, die er nicht verraten will. Und die mich aus unerfindlichen Gründen interessiert.

»Keine Ahnung.«

»Typen wie der sorgen doch immer für Ärger.« Dabei deutet er kurz mit der Hand auf Marcin und erntet dafür von mir nur ein Kopfschütteln.

»Klar. Weil wir beide ja auch vollkommen grundlos zu Sozialstunden verdonnert wurden.«

Daraufhin sagt er nichts, sieht mich nur an, und ihn ahne, dass hinter Simons frechem Auftreten doch nur ein schüchterner Junge steckt, der eigentlich gar nicht so genau weiß, was er hier macht. Um von sich abzulenken, grinst er schief.

»Na ja, wer Autos klaut und zu Schrott fährt, der ist hier wohl schon richtig.«

Autos. Plural. Es war das Auto meiner Mutter, aber irgendwie hat das in dem Artikel niemand erwähnt, weil es so vielleicht etwas spannender klingt, wenn man behauptet, die minderjährige Straftäterin habe gleich doppelt und dreifach Mist gebaut.

»Genau. Ich bin hier richtig. Und du, Simon?«

»Das geht ja genau genommen niemanden etwas an, oder?«

»Also genießt du deinen Vorteil gegenüber uns, ja?«

»Mein Anwalt hat gesagt …« Bevor er mir den Rest dieses auswendig gelernten Spruchs reindrücken kann, kommt Marcin zu uns rüber und sieht etwas zerknirscht aus.

»Hey, Lia, Herr Kabitzke würde sich gerne mal mit dir unterhalten.« Dabei kratzt er sich unsicher am Hinterkopf und nickt zu dem älteren Herrn hin, der in seinem blütenweißen Hemd lächelnd dasitzt und mir zuwinkt.

»Hast du mir jetzt ein Date verschafft?«

Marcins Mundwinkel zucken kurz zu einem Lächeln. »Wusste gar nicht, dass du auf der Suche nach einem Date bist.«

Sofort huscht Simons Blick zu mir, aber weil ich darauf nicht antworten will, setze ich mich in Bewegung und gehe langsam auf Herrn Kabitzke zu.

»Du bist also Herzchen-Lia.«

»So nennt man mich.«

So hat man mich eigentlich noch nie genannt, aber es gefällt mir. Das freundliche Gesicht des alten Herrn und die perfekt frisierten eisgrauen Haare passen zum Rest seines Auftretens. Er strahlt Wärme aus – vielleicht auch nur deswegen, weil er nicht so recht weiß, wohin sonst damit.

»Ich wollte mich bei dir bedanken.«

»Bei mir?«

Er nickt und deutet auf die leere Schale, in der vorhin noch der Schokopudding war. »Ich bin jetzt seit knapp drei Jahren hier, aber noch nie habe ich einen so schönen Pudding gegessen.« Er zeichnet mit leicht zitternder Hand ein Herz in die Luft vor sich, bevor er sie auf Brusthöhe ablegt. »Das war eine sehr schöne Überraschung.«

»Habe ich gerne gemacht.« Kurz schieße ich einen Blick zu Marcin, der zwar noch immer etwas zerknirscht wirkt, aber dabei zumindest lächelt.

»Arbeitest du jetzt auch hier?« Herr Kabitzke mustert mich neugierig, aber nicht auf eine unangenehme Weise.

»Nur vorübergehend.«

»So wie wir alle hier.« Er macht eine allumfassende Handbewegung und ich verstehe nicht so recht. »Letzte Woche hat Ulrich noch mit mir hier gesessen. Oh, den hättest du gemocht. Ein alter Charmeur war das.«

»Wo ist Ulrich denn?«

Herr Kabitzkes Blick wird etwas leerer, seine grauen Augen wandern an mir vorbei zum Fenster, hinter dem sich die kleine Parkanlage des Seniorenheims erstreckt. »Er hat noch gesagt, dass er sich unwohl fühlt. Ein Ziehen in der Brust. Wir dachten, vielleicht hat er sich beim Boulespielen etwas überanstrengt. Er war so verbissen dabei, weißt du?«

Ich nicke.

»Und dann kam nachts der Notarzt und morgens saß ich wieder alleine beim Frühstück.«

Meine Kehle wird trocken, hektisch sehe ich zu den Tischen neben uns. Senioren, deren Gesichter ich mir noch nicht so genau angesehen habe. Manche lächeln, andere sind schon etwas starr. Vom Leben oder vom Warten. Aber auch Gelächter dringt von einem Tisch voller Frauen herüber, die sich den Pudding schmecken lassen.

»Auf jeden Fall hoffe ich, der nächste Nachtisch hält wieder eine kleine Überraschung für uns parat.«

Freundlich nicke ich und deute zu den Jungs, die noch immer darauf warten, dass der Speisesaal sich leert und wir abräumen können. »Ich muss wieder zurück.«

»Natürlich, ich wollte dich nicht aufhalten.«

»Haben Sie nicht, keine Sorge.«

Schnell gehe ich zurück zu den Jungs und lehne mich neben Simon, der mich mit einem besorgten Blick empfängt.

»Alles okay bei dir?«

Ich sehe an ihm vorbei zu Marcin, der nur schief grinsend dasteht, die Hände in den Hosentaschen.

»Er hat sich für die Überraschung im Nachtisch bedankt.«

Sofort dreht auch Simon den Kopf zu Marcin, der nur kurz die Schultern zuckt.

»Jaja, schon kapiert. Wer hat nicht gerne ein Herz im Pudding?«

9

Marcin

»Wie, heute mal nicht mit dem Ferrari unterwegs?«

Simon schließt gerade das dicke Schloss an seinem Fahrrad auf und verzieht nur kurz sein Gesicht zu einer Grimasse, die wohl Kommentar genug zu meiner Bemerkung sein soll. Lia, die ganz offensichtlich nicht mit dem Fahrrad gekommen ist, schüttelt den Kopf und motzt mich an: »Kannst du damit vielleicht mal aufhören?«

»Hm?«

»Es macht dich nicht cooler, wenn du gemein zu anderen bist.«

»Bin ich gar nicht.«

»Ach nein? Was hast du dann für ein Problem mit Simon?«

Mein Problem hat nicht mal wirklich was mit ihm zu tun, aber ein Blick auf seine neue Jeans, die teuren Turnschuhe und das schicke Fahrrad erinnert mich eben daran, dass er auch noch einen Anwalt an seiner Seite hat. Außerdem schadet es nichts, die Leute schon mal vorsorglich emotional auf eine Armlänge Abstand zu halten.

»Ehrlich gesagt …« Mit ausgebreiteten Armen drehe ich mich zu Simon und seinem Fahrrad, bei dem er gerade aufsitzt. »Bist du mir reichlich egal.«

Simon lächelt übertrieben breit und deutet eine kleine Verbeugung an. »Dann haben wir endlich eine Gemeinsamkeit gefunden. Du mir nämlich auch.« Sein Lächeln wird kleiner, dafür aber um einiges ehrlicher, als er sich zu Lia dreht und mich ausblendet. »Angebot steht. Wenn du mal was trinken willst, ich würde dich gerne einladen. Aber das weißt du ja schon.«

»Danke.«

Nur ein Danke. Kein Ich komme darauf zurück oder Sehr gerne oder Morgen vielleicht. Hart gekorbt, würde ich sagen. Nur sieht Simon das anders, winkt ihr hoffnungsvoll zu und verabschiedet sich damit. Eine kleine Weile sehen wir ihm hinterher, wie er sich in den Verkehr einfädelt und dann verschwindet.

»Du musst deiner Schwester also bei den Hausaufgaben helfen, ja?« Die Frage stelle ich in die Stille zwischen uns, während ich mein Rad aufschließe. Das Schloss hakt, und ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, dass jemand je versuchen würde, das Rad zu klauen, so verbeult, wie es aussieht.

»Schockiert dich das, weil es nicht zu meinem goldenen Löffel im Mund passt?«

»Gibt ja Nachhilfelehrer.«

»Was du nicht sagst. Von dir kann ich ja noch richtig viel lernen.«

Ich muss ein Lächeln unterdrücken und nicke deswegen nur leicht. Sie könnte einfach gehen. Nach Hause, zu ihrer Schwester. Aber sie bleibt stehen, und es macht fast den Eindruck, als würde sie auf mich warten. Langsam schiebe ich mein Rad neben mir her und Lia setzt sich ebenfalls in Bewegung. Ganz automatisch steuere ich die U-Bahn-Haltestelle auf der anderen Straßenseite an. Wenn sie nicht mit dem Rad hier ist, wird sie wohl die Öffentlichen nutzen.

»Dachte nur, das könnte dir noch etwas mehr Freizeit mit Simon verschaffen.«

»Es mag dich überraschen, aber ich kann mir meine Freizeit ganz eigenständig einplanen.«

Diese Bomberjacke ist ihr viel zu groß, und sie weiß das natürlich, aber vielleicht trägt sie die Jacke genau deswegen mit einer Portion Stolz. Alles an Lia wirkt irgendwie stolz und unnahbar. Ihre klaren Augen fixieren mich grimmig. Diesen Blick bin ich gewöhnt und schüttele ihn mit einem Schulterzucken ab.

»Wollte nur helfen.«

»Habe ich darum gebeten? Nein.«

Schmunzelnd schiebe ich mein Rad weiter neben uns her und lasse sie sich weiter in Rage reden. Manchmal brauchen wir alle einen verbalen Punchingball.

»Das ist so typisch. Du siehst eine junge Frau, die offenbar Mist gebaut hat, und schon fühlst du dich dazu berufen, sie zu retten. Klar, weil ich das alles alleine ja nicht schaffe und nur der Held in goldener Rüstung mich aus meiner Misere retten kann. Dabei kennst du mich doch gar nicht. Keine vier Worte mit mir hast du gewechselt und schon hast du diese zementierte Meinung. Dabei könntest du deine grantige Miene einfach mal wegpacken und dich tatsächlich mit mir unterhalten. Wer weiß, vielleicht würdest du dann checken, dass du mich – oh Schreck – sogar mögen könntest.«

An dieser Stelle muss ich sie unterbrechen. »Ich habe nicht gesagt, dass ich dich nicht mag.«

Ihre Schritte werden langsamer, bis sie schließlich stehen bleibt und ihr diesmal fragender Blick wieder auf mir landet. »Ach, so benimmst du dich, wenn du jemanden magst?«

»Ich habe nicht behauptet, dass ich dich mag.«

»Du hast ja richtig Humor, Marcin. Kommt das bei den Frauen für gewöhnlich an?«

»Sag du es mir.«

»Irre witzig, bist du hier der Pausenclown?« Sie zeigt hinter uns, wo das Seniorenheim friedlich auf unseren nächsten Einsatz wartet.

»Wäre doch denkbar. Stell dir vor, ich wäre nur hier, um euch zu unterhalten.«

»Euch?«

»Dich und diesen Simon.«

»Den du übrigens nur deswegen nicht magst, weil er einen Anwalt hat.«

»Möglich.«

Sie legt den Kopf etwas schief. »Macht ihn das zu einem schlechteren Menschen?«

»Habe ich das gesagt?«

»Ist das noch so eine Masche von dir? Fragen immer mit Gegenfragen beantworten?«

»Nervt dich das?«

»Du bist so ein Idiot.«

Das ist leicht dahingesagt. Bei mir muss sie sich nicht im Laufe des Tages oder der Woche entschuldigen oder morgen alles zurücknehmen. Wir sind schließlich nur Durchgangsbesucher im Leben des anderen und das ist auch gut so. Eine Ablenkung – vor allem eine wie Lia – kann ich gerade gar nicht gebrauchen.

»Du musst uns gar nicht mögen, Marcin.«

»Uns?«

»Simon und mich.«

»Was habt ihr beide denn so gemeinsam?«

»Was?«

»Na ja, du sprichst von einem Uns.«

»Wir sind eben …« Dabei deutet sie auf mich, als wäre ich die Erklärung oder auch eine Art Gegenbeispiel. »Du weißt schon …«

»Kleinkriminelle?«

»Nein.«

»Missverstandene Kleinkriminelle?«

»Nein!«

»Freunde?«

»Nein.«

Sie verliert die Geduld mit mir, und ich muss zugeben, dass mir das hier gerade wirklich Spaß macht, trotzdem will ich den Bogen nicht direkt am ersten Tag überspannen und entscheide mich für einen Waffenstillstand. »Okay. Okay. Ich werde mir keine vorschnelle Meinung über euch bilden. Wir haben ja noch einige Stunden zusammen.«

»Ist das eine Drohung?«

»Nope.«

»Gut.«

»Du bist ziemlich genervt, Lia. Hat dir das schon mal jemand gesagt?«

»Ja. Täglich.«

»Deine Schwester?«

»Genau die.« Sie atmet schwer aus, ganz so als hätte die Erinnerung an ihre Schwester unseren kleinen verbalen Schlagabtausch beendet. »Ich muss echt nach Hause.«

»Zur Schwester.«

»Sie ist fünfzehn.«

»Tolles Alter.«