Mein Sommer auf dem Mond - Adriana Popescu - E-Book
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Mein Sommer auf dem Mond E-Book

Adriana Popescu

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Beschreibung

Manchmal muss man einmal zum Mond reisen und wieder zurück, um zu erfahren, wohin man wirklich gehört

Cooler Sportler, niedliche Träumerin, lässiger Underdog und freche Sprücheklopferin – alles nur Fassade ...

… und die müssen Fritzi, Bastian, Tim und Sarah aufgeben, als sie mit ihren tiefsten Geheimnissen im Therapiezentrum auf Rügen landen. Einen lebensverändernden Sommer lang werden die vier vom Schicksal zusammengewürfelt und ordentlich durchgeschüttelt. Dabei wachsen sie über sich hinaus, finden ihr wahres Selbst, großen Mut und entdecken die erste wahre Liebe ...

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Seitenzahl: 383

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DIE AUTORIN

Foto: © Notker Mahr

Adriana Popescu, in München geboren, arbeitete als Drehbuchautorin fürs Fernsehen, schrieb für verschiedene Zeitschriften und studierte Literaturwissenschaften, bevor sie sich ausschließlich dem Schreiben von Romanen widmete. Mittlerweile harrt eine große Fangemeinde ihren nächsten Veröffentlichungen entgegen, die in mehreren großen Publikumsverlagen erscheinen. Mit »Mein Sommer auf dem Mond« legt sie nun ihren – wohl persönlichsten – dritten Jugendroman vor.

Von Adriana Popescu sind bei cbj erschienen:

Ein Sommer und vier Tage

Paris, du und ich

Mehr über cbj auf Instagram unter @hey_reader

ADRIANA POPESCU

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Für jeden einzelnen Astronauten da draußen.

Und meine 5 Punkte.

Erstmals als cbt Taschenbuch April 2018

© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München

unter Verwendung eines Fotos von

© GettyImages (Laurence Mouton)

MP · Herstellung: UK

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-19855-8V004

www.cbj-verlag.de

SAMSTAG

FRITZI – Hogwarts

»Es sieht gar nicht aus wie eine … eine …«

Meine Mutter betrachtet das große Gebäude vor uns und versucht dabei, die richtigen Worte zu finden. Schließlich zuckt sie stumm die Schultern.

»Eine Klapse?«

Mein Vorschlag bringt mir nur einen strengen Blick meines Vaters ein, der gerade meinen Koffer aus dem Auto hievt.

»Es ist keine Klapse, Fritzi. Das ist eine Einrichtung, in der Jugendliche mit psychischen Problemen Hilfe finden.«

Mama lächelt mich aufmunternd an, als wäre das nichts, wofür man sich in Grund und Boden schämen sollte, sondern ein hart erarbeiteter Erfolg: mit gerade mal sechzehn in die Therapie zu gehen.

Juhu! Wo bleibt meine Medaille?

Doch Irrtum, der Applaus bleibt aus.

Ich will nämlich gar nicht hier sein. Auch wenn Mama recht hat und das Gebäude vor uns eher an ein Internat aus einem Roman von Enid Blyton als an ein Therapiezentrum für Teenager erinnert. Die reich gegliederte hellblaue Fassade, die großen Erker und die vorgelagerten Galerien aus Holz – all das ist so typisch für die Architektur hier. Fast könnte man glauben, man wäre im englischen Brighton gelandet und nicht am letzten Ende der Insel Rügen, umgeben von Wasser und Einsamkeit. Das fünfstöckige Haus vor uns, das ach-so-romantisch anmutet, ist für mindestens die nächsten vier Wochen mein Zuhause. Man könnte glauben, ich wäre zum Urlaubmachen hier. Die Luft schmeckt salzig und frischer als bei uns im Süden.

Binz auf Rügen.

Ausgerechnet Rügen.

Auf dem Weg hierher sind wir durch dichte Kiefernwälder gefahren, vorbei am feinsandigen Strand, der auch aus der Karibik importiert sein könnte, wären da nicht die vielen Strandkörbe, die so gar nichts mit den Bahamas zu tun haben. Überall finden sich kleine Häuser mit Reetdächern, Pensionen und Hotels, die verdammt teuer aussehen. Ständig kann man das Meer hören, weil man nie weit genug davon entfernt ist. Wenn ich jetzt die Augen schließen und den Lärm in meinem Kopf ausblenden würde, könnte ich es sogar hier, versteckt hinter der riesigen Düne, hören. Doch selbst das Meeresrauschen kann die Panik in meinem Brustkorb nicht davon abhalten, sich rasend schnell auszubreiten.

Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, mich an die Atemübungen zu erinnern, die meine Therapeutin Dr. Kosska mir beigebracht hat. Aber wie immer, wenn die Panik mich überfällt, als wäre sie ein ausgezeichnet ausgebildetes Mitglied eines Navy-Seal-Teams, ist mein Kopf so leer wie eine Geisterstadt im Wilden Westen – ganz ohne Sheriff. Ich bin total wehrlos. Der Panik ausgeliefert. Genau jetzt höre ich ihr hämisches Lachen in meinem Kopf – weil sie weiß, dass sie gewinnen wird. Mal wieder.

»Vielleicht kannst du es ja so sehen, Fritzi …«

Papa tritt neben mich; das Geräusch der Rollen meines Koffers auf dem feinen Kies der Auffahrt schallt überlaut in meinen Ohren und übertönt damit die leise, beruhigende Stimme in meinem Kopf, die mich zu tiefen Atemzügen überreden will. Mir wird warm, obwohl mir die salzige Meeresbrise ins Gesicht weht. Luft bekomme ich zwar noch, aber ob das zum Überleben reicht, weiß ich nicht.

»… ein Sommer in Hogwarts.«

Würde ich nicht gerade im Nahkampf mit einer fiesen Panikattacke stecken, die alle unfairen Mittel wie Kratzen, Spucken und Beißen einsetzt und sich an keine Regeln hält, würde ich es Papa total hoch anrechnen, dass er um einen Ort namens Hogwarts weiß. Gleichzeitig müsste ich ihm erklären, dass ich unter keinen Umständen diesen Laden hier mit der Zauberschule aus Harry Potter vergleichen möchte! Doch ich tue nichts von alldem, sondern atme so tief wie möglich in meinen Bauch und versuche dabei, normal zu wirken. Wobei meine Vorstellung von »normal« nicht gerade der Definition der großen Mehrheit entspricht. Beweisstück A liegt in Form des Sonnenhofs vor uns, während Beweisstück B – also ich – darauf zugeht.

»Ist alles okay, mein Schatz?«

Die sorgenvolle Stimme meiner Mutter erreicht mich durch den dichten Gedankennebel, der mich immer komplett einhüllt, wenn ich eine Panikattacke erleide. So wie jetzt.

»Klar.«

Mein Lächeln liegt irgendwo zwischen gequält und tapfer. Die Frage ist, wird es Mama überzeugen? Sie mustert mich, nickt langsam und schluckt auch dieses Mal mein Schauspiel. Ich persönlich finde ja, Hollywood könnte sich langsam für meine Oscarnominierung bereit machen. Noch immer will ich meine Eltern nicht jedes Mal an meinen Panikattacken teilhaben lassen, weil sie mit der ganzen Situation ebenso überfordert sind wie ich.

»Schau mal, wie zauberhaft das alles aussieht.«

Tut es, keine Frage. Irgendwie ein bisschen zu schön, zu sauber und zu nett. Vermutlich soll es einfach kein Aufsehen im Urlaubsort Binz, immerhin einem der mondänsten Seebäder Deutschlands, erwecken.

»Vielleicht sollten wir am Empfang mal sagen, dass wir da sind?«

Am Empfang? Da, wo mein Gepäck von einem Pagen in Livree in Empfang genommen wird und mich ein Begrüßungscocktail erwartet?

»Geht doch schon mal vor, ich genieße noch meinen letzten Moment in Freiheit.«

»Fritzi …«

»Das hier ist ’ne Insel. Wohin soll ich schon abhauen?«

Mama und Papa sehen sich an und versuchen wohl gerade per Gedankenübertragung auszudiskutieren, wer an dem ganzen Schlamassel schuld ist. Denn darum geht es in letzter Zeit doch immer bei den beiden.

»Aber nur fünf Minuten.«

Damit gehen sie durch den Eingang ins Innere. Ich bleibe einen Moment ganz ruhig stehen, warte, bis sie verschwunden sind und die Tür mit einem leisen Ächzen zurück ins Schloss fällt. Dann atme ich tief ein, schmecke das Meer und sehe nach oben zum wolkenlosen blauen Sommerhimmel.

»Okay, keine Ahnung, ob es da oben jemanden gibt. Und falls ja, weiß ich nicht so genau, wie ich dich politisch korrekt ansprechen soll. Aber ich hätte eine kleine Bitte an dich, okay?«

Dann schließe ich schnell die Augen, weil es weniger peinlich ist, wenn ich glaube, dass niemand mich sehen kann. Jetzt nehme ich meinen ganzen Mut zusammen, denn ich verlasse mich nicht so gerne auf andere, selbst wenn es sich um eine himmlische Allmacht handelt.

»Könntest du vielleicht dafür sorgen, dass die Zeit hier rasend schnell vorbeigeht und ich dann wieder nach Hause darf?«

Keine Ahnung, warum ich nicht sofort weiterspreche. Warte ich eine Antwort oder ein Zeichen ab? Doch mich umgibt nur Stille. Als ich doch weiterrede, ist meine Stimme um einiges leiser.

»Ich habe nämlich ziemlich Angst, weißt du?«

Das sage ich nur, falls Er oder Sie oder Es diese Tatsache noch nicht erraten hat. Dann öffne ich die Augen und – nichts hat sich verändert.

Kurz sehe ich noch mal nach oben.

»Ach, und wenn du nicht zu beschäftigt bist, könntest du vielleicht dafür sorgen, dass ich nicht nach Slytherin komme?«

BASTIAN – Loki Laufeyson

Eine kleine weiße Pille, die in einem kleinen blauen Plastikgläschen liegt. Daneben steht ein Glas Wasser.

»Du kennst den Spaß ja schon, Bastian.«

Hendrik, einer der jüngeren Pfleger, grinst mich an, als wäre er der Barkeeper in einem angesagten Club und ich sein Gast, der sich gleich den besten Cocktail der Stadt schmecken lassen darf. Ich atme tief durch, greife nach dem Gläschen und spüre die Pille auf meiner Zunge. Schnell kippe ich einen großen Schluck Wasser hinterher, weil ich den Geschmack in meinem Mund loswerden will. Ich leere das Glas auf ex und stelle es geräuschvoll ab.

»Ein gutes Gesöff! Mehr davon!«

Hendrik sieht mich etwas verwirrt an und ich verdrehe die Augen.

»Das ist aus Thor mit Chris Hemsworth.«

»Habe ich nicht gesehen.«

»Solltest du dir anschauen, ein toller Film.«

Er nickt abwartend, denn jetzt kommt: DIE Erniedrigung des Tages. Ich öffne den Mund, strecke die Zunge raus und bewege sie so, dass er einen Blick in meinen leeren Mund werfen kann.

»Gut gemacht, Bastian.«

Als wäre es eine besondere Kunst, eine kleine Pille zu schlucken. Doch ich weiß, wieso Hendrik so gründlich nachschaut.

»Bis heute Abend dann.« Damit winke ich lässig und verlasse den kleinen Raum, in dem die Medikamente unter strenger Aufsicht ausgegeben werden, als wäre es nichts weiter als ein Schnellimbiss, in dem ich meine Bestellung verputzt habe.

Der Sonnenhof, mein liebstes Diner auf der Durchreise in Richtung Leben – das sich leider als 24-h-Service mit Vollpension entpuppt hat. Mit federleichten Schritten gehe ich über den Flur und nicke ein paar Mitinsassen zu, die mir entgegenkommen. Sobald ich an ihnen vorbei bin, höre ich sie tuscheln. In solchen Momenten könnte man glauben, ich wäre eine Art Berühmtheit.

Bevor mich jemand anquatschen kann, schlendere ich ganz lässig zu der großen Glasfront, durch die ich nach draußen auf die Sportanlage blicken kann. An einem sonnigen Tag wie heute ist immer viel los. Ich beobachte ein paar Jungs, die dort Frisbee spielen und lachen. Wie schräg: lachende Kids in einem Therapiezentrum für psychisch kranke Teens. Fast muss ich selber lachen, doch da sehe ich plötzlich die Gestalt neben mir in der Spiegelung. Groß, dunkel gekleidet, ein bisschen wie aus einer anderen Welt. Doch der lächerliche Helm mit den hornähnlichen Aufsätzen und die langen schwarzen Haare verraten ihn.

Loki. Thors Adoptivbruder.

Ich blinzle schnell und schüttle dabei kurz den Kopf. Loki ist nicht mit mir im Sonnenhof.

Doch, das bin ich. Genau genommen bist du meinetwegen hier.

Ich atme tief durch und schüttle erneut den Kopf, doch Loki bewegt sich nicht, sondern starrt mich noch immer aus der Scheibe heraus an – mit strahlend breitem Grinsen.

Komm, lass uns spielen gehen.

Wie immer, wenn ich mir gerade etwas Optimismus erkämpft habe, kommt mein ganz persönlicher Bösewicht zu Besuch. In meiner Vorstellung sieht er immer anders aus. Mal wie Darth Vader, wenn er Luke seinen Stammbaum erklärt, mal wie Hannibal Lecter, kurz bevor er einem die Nase abbeißt, oder wie eine Mischung aus Batmans Gegner, dem Joker und dem Clown aus Stephen Kings ES. Heute ist es Thor-Bösewicht Loki Laufeyson, Odins Adoptivsohn. Es scheint ihn wenig zu interessieren, dass wir hier nicht in Asgard, sondern im Sonnenhof sind. Stattdessen konzentriert er sich auf seine einzige Aufgabe: mich zu nerven. Außer mir kann ihn niemand sehen oder hören, sonst würde ich auf der Bühne beim Supertalent stehen und nicht in der Therapie festhängen wie ein One-Hit-Wonder in Dauerschleife.

Was haben wir heute vor?

Ist mir scheißegal, was du so planst. Ich genieße die Sonne und lasse mir die Laune nicht vermiesen.

Ob Felix wohl auch in der Sonne Frisbee spielt ...?

Wütend schlage ich mit der flachen Hand gegen die Scheibe vor mir, in der sich sein breites Grinsen spiegelt. Sofort verstummt alles um mich herum. Ich spüre die Blicke der anderen in meinem Rücken und höre das fiese Lachen in meinem Kopf.

»Hey, Bastian! Was soll das?«

Pfleger Hendrik taucht neben mir auf und sieht mich an, überrascht von meinem plötzlichen Ausbruch. Manchmal frage ich mich, ob sie bemerken, was wirklich in mir vorgeht. Doch nichts in seinem Gesicht lässt darauf schließen, also zucke ich die Schultern und setze ein breites Grinsen auf.

»Da war ’ne Fliege, der ich einen High five geben wollte.«

Hendrik kapituliert und lächelt mich kopfschüttelnd an.

»Du hast wirklich einen schrägen Humor, Bastian.«

»Ich deute das als Kompliment.«

In den Untiefen meiner Hosentasche finde ich einen dieser verdammt sauren Kaugummis, dessen neongelbe Verpackung mich davon abhalten sollte, sie zu essen. Aber auch der Titel »SHOCK« im Namen bringt mich nicht davon ab, mir das Kaugummi zwischen die Zähne zu schieben. Ganz im Gegenteil, es ist der Grund, wieso ich einen Jahresvorrat davon in meinem Zimmer horte. Der fast schon ätzend chemisch-saure Geschmack tötet für einige Sekunden meine Geschmacksnerven und beansprucht meine ganze Konzentration. Dann weiß ich wieder, was real ist.

Loki ist es nicht. Hendrik nimmt mir das zerknüllte Verpackungspapier ab und nickt in Richtung Tür.

»Übrigens, Schwester Kora braucht dich vorne am Empfang.«

»Schon wieder?«

»Du weißt doch, du bist heiß begehrt.«

»Wieder ein Neuzugang?«

»Jap.«

»Wieso kann nicht mal jemand anderes die Neuen rumführen?«

»Weil das keiner so charmant macht wie du.«

Hendrik zwinkert, klopft mir auf die Schulter und schiebt mich sanft in Richtung Tür.

FRITZI – Der sprechende Hut

»Du musst Franziska sein.«

Eine freundlich lächelnde Frau mit feuerroten Haaren steht hinter einem Tresen, an dem meine Eltern lehnen. Sie mustert mich eingehend.

»Muss ich das?«

»Franziska … Bitte.«

Es ist so offensichtlich, wie unwohl sich meine Eltern in dieser Situation fühlen, sie nennen mich sogar bei meinem vollen Namen.

»Fritzi, die bin ich.«

Hier drinnen ist alles sehr maritim eingerichtet. Wo ich den typischen Schulflurfußboden aus Linoleum erwartet habe, trete ich auf edles Parkett. An den Wänden hängen gerahmte Bilder von Segelbooten auf hoher See, mit einem Leuchtturm und Strandabschnitten inklusive der typischen Strandkörbe. Auf dem Tresen steht ein Schild, das um Diskretion und den nötigen Abstand bittet, als würde man hier Kredite für den Erwerb eines besseren Lebens abschließen.

»Ist das dein einziges Gepäck?«

Rotschopf deutet auf den Rollkoffer, der neben meinem Vater steht. Doch bevor ich antworten kann, hievt meine Mutter den Rucksack mit meinen persönlichen Schätzen – meinem Lieblingsbuch Harry Potter und der Gefangene von Askaban, meinem Kissen, dem iPod und den Kopfhörern, die mir dabei helfen, die Geräusche der Welt auszublenden – auf den Tresen.

»Das hier gehört noch dazu.«

»Das ist aber privat!«

Mein Versuch, den Rucksack zurück in meinen Besitz zu bringen, scheitert, weil ich zu langsam bin.

»Keine Sorge, du bekommst alles wieder.«

Gerade als ich heftigst rebellieren will, kommt ein Junge – vermutlich in meinem Alter – um die Ecke und schwingt sich breit grinsend mit einer lässigen Bewegung auf den Tresen. Er trägt kurze Jeans und ein graues T-Shirt mit einer halben Avocado als Brustmotiv, unter der »Holy Guacamole« geschrieben steht. Er hat dunkelblonde Locken und ein ziemlich freches Grinsen, das durch eine abgebrochene Ecke am vorderen Schneidezahn ein bisschen schräg aussieht.

»Sie haben nach mir verlangt, Schwester Kora?«

»Bastian …«

Die Frau, die mein gesamtes Intimleben in Form meines Rucksacks in der Hand hält, wirft dem Jungen einen strengen Blick zu, doch es ist offensichtlich, dass sie ihm nicht böse ist.

»Wen erwischt es heute?«

Er macht keine Anstalten, seinen Sitzplatz aufzugeben. Meine Eltern sehen sich irritiert an. Merken sie endlich, dass dies hier ein großer Fehler ist?

»Das ist Franziska.«

Alle Augenpaare richten sich wie auf Kommando wieder auf mich, und kurz balle ich die Hände zu Fäusten. Auch etwas, das ich in der Therapie gelernt habe: Muskeln anspannen, dann entspannen und sich ausschließlich auf dieses Gefühl konzentrieren. Bastians braune Augen mustern mich neugierig. Kurz fühlt es sich so an, als könnte er mich mit diesem Röntgenblick durchleuchten.

»Franziska ist neu hier.«

»Fritzi, ich heiße Fritzi.«

Bastian mustert mich noch eingehender.

»Mein Beileid. Also weil du hier bist. Nicht wegen deinem Namen. Wobei der auch nicht gerade berauschend ist.«

Noch immer auf dem Tresen sitzend, nickt er mir mitfühlend zu, während ich seinen Blick noch nicht so recht deuten kann. Macht er hier sein freiwilliges soziales Jahr oder sich nur über mich lustig?

»Sei bitte etwas netter, ja?«, weist Kora ihn zurecht.

»Sorry. Willkommen in der heilen Welt vom Sonnenhof, Fritzi. Gratuliere dir zur Wahl dieser Institution. Wir haben das beste Essen an der Ostsee und sogar echte Frotteehandtücher.«

»Bastian!«

Offensichtlich hört für Schwester Kora und ihre roten Locken der Spaß hier auf. Bastian rutscht vom Tresen, hebt entschuldigend die Hände und wird zum stummen Beobachter der Situation. Wobei er das mit dem Beobachten sehr ernst nimmt und mich keine Sekunde aus den Augen lässt.

»Entschuldige bitte, Franziska.«

Ich löse meine Hände und konzentriere mich auf das entspannende Gefühl.

»Also, wir schauen nur mal deinen Koffer und den Rucksack durch, dann kriegst du beides wieder. In der Zwischenzeit …«

Sie sagt es so, als wäre ich gerade mal zehn Jahre alt und das die normalste Sache der Welt. Aber mir passt beides nicht.

»Moment! Sie wühlen sich durch meine Unterwäsche?«

»Wir müssen nur sichergehen, dass du keine gefährlichen Gegenstände mitbringst.«

»Was heißt denn gefährlich?«

Bastian, der diese Prozedur wohl schon kennt, grinst und sieht fragend zu Kora, als wäre er sehr gespannt auf ihre Antwort. Meine Eltern hingegen beten eine Erdspalte herbei, durch die sie nach Kanada auswandern können – getrennt, wenn möglich.

»Ich kann dir versichern, dass dir niemand etwas wegnimmt. Es geht uns nicht darum, deine Privatsphäre zu verletzen, Franziska. Aber Klingen oder spitze Gegenstände behalten wir erst mal ein. Es ist nur zu deinem eigenen Schutz. Das ist der normale Ablauf hier.«

»Siehst du, Schatz, alles halb so wild.«

Papa will hip und aufgeschlossen klingen, aber ich sehe ihm an, dass dieses Spitze-Gegenstände-im-Gepäck-des-Töchterleins-Ding ein ganz schöner Brocken für ihn ist. Plötzlich ist mein Therapieaufenthalt Realität – ohne Zuckerguss und bunte Streusel.

»Wir nehmen dir auch nichts weg, versprochen.«

»Nichts außer meiner Würde.«

Als wäre mein ironischer Kommentar Bastians Stichwort, lacht er leise über meine Antwort und wirft mir einen kurzen, amüsierten Blick zu.

»Schauen wir erst mal, in welchen Stock du kommst, ja?«

Schwester Kora übergeht sowohl meinen Kommentar als auch Bastians Lachen und blickt stattdessen in die Akte. Mein Herz klopft bis zum Hals, als würde es fluchtartig meinen Körper verlassen wollen. Wer kann es ihm verübeln?

»Nicht Slytherin …«

Ich flüstere es wie ein Mantra vor mich hin, die Hände wieder fest zu Fäusten geballt. Es ist mir egal, ob alle das sehen können.

»Alles wird gut.«

Die Stimme meiner Mutter sollte mich wohl beruhigen.

»Mama, hier sind nur Verrückte!«

Dabei deute ich vage in die Richtung von Bastian, weil er sozusagen das einzige Indiz im Raum ist, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie »verrückt« er wirklich ist. Natürlich bemerkt er es und winkt uns fröhlich zu. Normal ist hier sicher nichts.

»Sag das nicht so laut, Fritzi.«

»Aber ihr habt doch mitbekommen, was hier abläuft! Ich gehöre nicht in diese Klapse!«

»Jetzt beruhige dich mal.«

Bevor ich mich weiter in mein Gefühlschaos steigern kann, sieht Schwester Kora wieder auf und lächelt zufrieden.

»Ach schau an, du kommst zu den Astronauten.«

Sie sagt auch das so, als wäre es das Normalste auf der Welt, aber ich kann sie nur anstarren. Dreht hier jetzt sogar das Personal total durch?

»Wie bitte!?«

»Dritter Stock. Bei den Astronauten.«

Merkt wirklich niemand außer mir, wie wahnsinnig das alles ist? Ich mag an Panikattacken leiden, aber krank sind definitiv die anderen.

»Ach so. Ja. Ist klar. Wann geht mein Flug?«

»Fritzi, bitte.«

»Zu welchem Planeten wollen wir denn? Mars, Mond, Pluto?«

»Pluto ist kein Planet mehr.«

Jetzt sehen alle zu Bastian, der mich mit seinem Kommentar aus dem Konzept bringt.

»Was?«

»Pluto ist nur noch ein Zwergplanet. Ihm wurde schon 2006 der Planetenstatus aberkannt.«

»Bist du von der NASA oder was?«

Er lässt eine mittelgroße Kaugummiblase zerplatzen.

»Es ist zumindest nicht mein erster Raumspaziergang hier.«

Seine Augen funkeln merkwürdig, als würde er das ernst meinen und nicht nur als frechen Spruch dahersagen.

»Astronauten an der Ostsee. Is’ klar.«

»Die Stockwerke hier haben unterschiedliche Namen. Damit wird das Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt.«

Schwester Kora lächelt dabei so stolz, als wäre diese bescheuerte Idee von ihr.

»Er ist auch ein Astronaut.«

Sie nickt zu Bastian, der sich sehr über die ganze Szene und meine Unwissenheit zu amüsieren scheint. Er hebt die Hand und spreizt die Finger, so wie der spitzohrige Mr Spock aus der Serie Raumschiff Enterprise.

»Hi.«

»Ach was. Ein Astronaut.«

Wenn das alles nur ein schlechter Scherz sein soll, in den alle außer mir eingeweiht sind, dann ist das ein ziemlich blöder Gag.

»Bastian kann dir ja schon mal alles zeigen und wir treffen uns später wieder hier, okay?«

Wie kann diese Kora so gut gelaunt sein, wenn sie den ganzen Tag hier mit psychisch labilen und kranken Jugendlichen arbeitet? Sollte dieser Umstand einen Menschen nicht unglaublich traurig machen? Meine Eltern nicken mir aufmunternd zu.

Auch sie scheinen hier irgendwelche positiven Schwingungen zu empfangen, die an mir allerdings komplett vorbeizuwabern scheinen.

»Nur zu. Wir bleiben derweil hier.«

Auch Bastian, der Lockenkopf, sieht mich an und wartet auf eine Reaktion, doch ich fühle mich noch nicht bereit für einen Spaziergang im All. Bastian ist einen Schritt auf mich zugekommen und nickt in Richtung Flur.

»Komm schon, spring ins kalte Wasser. Dann ist es vorbei und wird besser.«

Schon trabt er los und setzt wohl einfach voraus, dass ich ihm folge. Meine Eltern lächeln so verkrampft, wie ich mich fühle. Ich ertrage ihre Blicke nicht noch eine einzige weitere Minute, entscheide mich daher für Tor Nummer zwei, drehe mich um und gehe mit schnellen Schritten hinter Bastian her.

Der lehnt lässig an der nächsten Ecke, und wieder wirft er mir diesen Blick zu, den ich so nervig finde. Als würde er mich studieren.

»Also, Franziska …«

»Ich heiße Fritzi!«

»Fritzi. Ich habe gute und schlechte Nachrichten für dich.«

»Die gute zuerst.«

»Du kommst nicht nach Slytherin.«

Verdammt! Er hat mich gehört.

»Ha. Ha. Und die schlechte?«

»Du kommst auch nicht nach Gryffindor.«

»Toll.«

»Nimm es sportlich. Du bist jetzt ein Astronaut.«

BASTIAN – Huston, wir haben ein Problem

»Und dies hier ist Ihre Raumkapsel. Das Gepäck wird Ihnen gebracht. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Hotel entschieden haben.«

Dazu vollführe ich eine tiefe Verbeugung und verharre einen Moment in meiner Position. Ich habe der Neuen den Speisesaal und alle weiteren Räume im Erdgeschoss gezeigt, die wichtigsten Leute vorgestellt und sie jetzt heil und am Stück an ihrer Zimmertür abgegeben. Besonders glücklich sieht sie nicht aus, unsicher wirft sie einen Blick ins Innere.

»Einzelzimmer?«

Fast muss ich lachen. Manche Frischlinge haben wirklich so gar keine Ahnung, auf was sie sich hier einlassen. Ich richte mich wieder auf und sehe von oben auf sie herab. Das mache ich nicht absichtlich, sondern nur, weil sie ziemlich klein ist. Die kurzen braunen Haare und der sehr angriffslustige Blick passen nicht so recht zur Körpergröße. Ihr Spirit Animal ist sicher keine Schmusekatze, sondern eines dieser niedlich aussehenden Opossums, die dir sofort die Augen auskratzen, sobald sie vom Baum fallen.

»Dafür hättest du ins Slytherin-Haus ziehen müssen. Hier teilst du dir dein Zimmer mit einem anderen Mädchen.«

Als Tusch lasse ich eine Kaugummiblase im Mund platzen, was wie ein lautes Klatschen klingt und meine Spezialität ist. Sie verdreht die Augen, was ich sogar verstehen kann. Als ich zum ersten Mal hier war, hatte ich auch keine Lust, mit einem fremden Jungen einfach so in ein Zimmer gesperrt zu werden.

»Hast du sie auch rumgeführt?«

Fritzi könnte eine interessante Kandidatin werden. Sie will tough und cool wirken, aber dazwischen verliert sie immer ganz kurz die Fassung – so wie jetzt.

»Glaubst du etwa, ich mache das für jedes Mädchen?«

Sie zuckt die Schultern, was mich wissen lassen soll, dass es ihr total egal ist, was ich in meiner Freizeit so anstelle. Ihre zu Fäusten geballten Hände passen nur nicht ganz zu dem coolen Look. Okay. Cool kann ich auch.

»Wieso bist du eigentlich hier?«

Meine Frage überrollt sie wie ein ganzes Bataillon Sturmtruppen, einen Moment ist sie sprachlos, doch dann schießt sie sofort zurück.

»Wieso sollte ich dir das verraten?«

Ha, jetzt hab ich sie.

»Okay, dann muss ich halt raten …«

Ich trete einen Schritt zurück und mustere sie eingehend. Es ist deutlich zu sehen, wie sehr sie es hasst, was ich da tue. Befürchtet sie, ich könnte den Grund für ihren Aufenthalt an etwas Äußerlichem erkennen? Doch außer dem viel zu weiten T-Shirt fällt mir nichts Merkwürdiges auf.

»Du hast eine gute Figur, bist aber vermutlich total unzufrieden mit dir und empfindest dich als zu dick. Ich tippe mal auf Magersucht.«

Ein kühner Schuss ins Blaue, aber es würde dem Klischee entsprechen.

Fritzi sieht mich sprachlos und mit offenem Mund an. Ich spüre ein Grinsen auf meinen Lippen.

»Ich habe recht, oder?«

»Tickst du noch ganz richtig?«

Ihre Stimme klingt jetzt echt gereizt, deshalb lege ich schnell dramatisch die Hand auf die Brust und sehe sie gespielt schockiert an.

»Hast du mich gerade psychisch krank genannt?«

Statt sich peinlich berührt bei mir zu entschuldigen, stemmt sie die Hände in die Hüften und funkelt mich herausfordernd an.

»Hast du mich gerade fett genannt?«

Mit dieser Antwort habe ich nicht gerechnet, doch sie imponiert mir.

»Nein.«

»Falls du es auf mein Dessert abgesehen hast, muss ich dich enttäuschen. Ich esse meinen Teller leer.«

Nein, Fritzi ist sicher keine von der eingeschüchterten Sorte, die hier nur ihre Zeit absitzt und hofft, unbemerkt wieder verschwinden zu können.

»Ach, wirklich?«

»Ja, stell dir vor, solche Mädchen gibt es.«

Noch schließe ich eine Essstörung nicht aus und hake nach.

»Kotzt du es dann vielleicht aus?«

»Wieso sollte ich?«

»Bulimie.«

»Hör mal zu, Avocado, ich finde mich nicht zu dick. Egal, was Typen wie du mir erzählen wollen. Und jetzt besten Dank für die Führung. Zumindest eins hab ich dadurch schon mal kapiert.«

»Was denn?«

»Du gehörst definitiv hierher.«

Treffer und versenkt. Das muss man dem Mädel lassen. Ich schalte schnell wieder um auf professioneller Klapseführer.

»Nicht vergessen, heute um achtzehn Uhr dreißig ist Abendessen. Du solltest pünktlich sein, wenn du einen guten Platz bekommen willst.«

Meine Aufgabe ist erfüllt, ich sollte gehen. Doch ich bewege mich keinen Zentimeter und sehe sie noch immer an. Fritzi ist mir ein Rätsel. Eines, das gelöst werden will.

Sie hat ein sehr zartes Gesicht, wirkt insgesamt fast zerbrechlich, dazu die kurzen Haare – sicher kein Schnitt vom Friseur. Sie trägt ein weites T-Shirt mit einem schlafenden Panda als Brustmotiv, dazu kurze Jeans, die sie vermutlich selber und ebenso schräg wie ihre Haare abgeschnitten hat. Ihre Arme zeigen keine einzige Narbe, was Selbstverletzung zwar nicht ausschließt, es aber dennoch eher unwahrscheinlich erscheinen lässt. Sonst wäre sie wohl kaum bei den Astronauten gelandet.

Was wäre, wenn sie aus dem gleichen Grund hier ist wie ich? Ich könnte sie fragen. Stattdessen kommen andere Worte über meine Lippen.

»Also, wenn irgendwas ist, Panda, ich bin immer da.«

»Das klingt wie eine Drohung.«

»Ist es auch. Mich werden die hier so schnell nicht los.«

Sie zeigt keine Reaktion, verzieht nicht mal die Miene, sondern sieht mich nur abwartend an. Erwartet sie etwa, dass ich ihr meine Geschichte erzähle?

Verdammt. Zeit zu gehen.

»Wir sehen uns. Franziska.«

Damit zwinkere ich ihr zu und stoße mich von der Wand ab.

FRITZI – Robinson Crusoe

Das Zimmer ist, wie alles hier, hübsch. Unpersönlich, aber hübsch. Es ist für zwei Bewohner ausgelegt, das verraten nicht nur zwei Betten, zwei Schränke, zwei Tische mit bequemen Holzstühlen von Ikea und ein winziges Bad, das man allerdings nicht abschließen kann, sondern auch der Koffer, der neben dem anderen Bett steht.

Trotzdem bin ich momentan noch alleine hier. Ich hätte vielleicht ein paar Fotos von zu Hause mitbringen sollen, meine Lichterkette oder zumindest ein Poster. Irgendwas, um es ein bisschen zu meinem Zimmer zu machen.

Ein kleines rotes Notizbuch liegt auf dem Nachtkästchen neben meinem Bett, dazu ein Stundenplan auf grünem Papier, mein Name ist in einer Frauenhandschrift mit Kugelschreiber ins rechte Eck geschrieben worden. Langsam nehme ich auf dem Bett Platz und schließe einen Moment die Augen.

Mein Sommer an der Ostsee.

Als ich die Augen wieder öffne, hat sich rein gar nichts verändert. Ich bin nicht durch irgendeinen Zauber wieder zu Hause in meinem Zimmer gelandet, sondern noch immer auf Rügen. Mein Blick fällt auf das leere Bett gegenüber, das bald meiner Zimmernachbarin gehört. Kurz stelle ich mir vor, Isa wäre mit mir hier. Wir haben immer davon geträumt, eines Tages zusammen an die Ostsee zu fahren und hier die Seele baumeln zu lassen. Nur wir zwei.

Isa.

Ich muss lächeln. Isa ist meine beste Freundin. Oder sie war es. Wer kann das heute noch so genau sagen, wo man seine Seelenverwandten offensichtlich bei Facebook und die große Liebe bei Tinder findet. Was auch immer Isa sein mag, hier ist sie nicht. Und weiß nicht mal, dass ich hier bin. Wie soll man so einen Mist denn auch erklären?

»Hey Isa, ich bin’s, Fritzi, deine beste Freundin seit dem Kindergarten. Erinnerst du dich? Wir wollten zusammen die Seele baumeln lassen. Nun, meine Seele hat eine heftige Zerrung erlitten. Ich sitze jetzt im Hogwartsexpress zum Mond und wünsche mir, ich könnte dir das alles sagen.«

Klar. Hätte ich machen können. Dabei wollte ich das sogar. Doch immer kam etwas dazwischen: der Montag, die Bioarbeit, ihr erster Kuss, die bevorstehende Scheidung meiner Eltern, der Klimawandel und noch ein paar Kleinigkeiten. Irgendwie habe ich immer die Haltestelle zum Aussprechen verpasst. Und so weiß eigentlich niemand, dass ich hier bin oder wieso. Den Nachbarn hat Mama was von wegen Feriencamp erzählt. Noch mal durchatmen, bevor der Ernst des Lebens nach der Schule zuschlägt.

Newsflash: Der Ernst des Lebens hat schon längst begonnen. Wir leben während unserer gesamten Schulzeit eben in keinem Paralleluniversum, weit weg von der Realität, die wir erst nach dem Abschluss betreten dürfen. Das ist so ein Erwachsenenschwachsinn! Jeder, der nicht zur Clique der beliebten Kids gehört und Tag für Tag unsichtbar durch das Schulgebäude schleicht, wird mir recht geben.

Kurz schnaufe ich durch. Es bringt nichts, wenn ich jetzt in Selbstmitleid zerfließe, weil es a) eh niemand sieht und b) absolut keinen interessiert.

Es wird Zeit, meine sich scheidenden Eltern zu verabschieden, die noch eine lange, schweigsame Rückfahrt in einem gemeinsamen Mietwagen vor sich haben.

Und die schicken mich zur Therapie.

SONNTAG

BASTIAN – The Incredible Hulk

Die Nacht war durchwachsen, die Träume horrorfilmähnlich und der Morgen semicool. Zwar scheint die Sonne durch das Fenster auf mein Bett, aber ausgeschlafen bin ich nicht. Mit den Handballen reibe ich mir die Augen und fahre mir schließlich durch die Locken, die morgens immer nach Katastrophe aussehen. Tagsüber übrigens auch. Hat gar keinen Sinn, sie bändigen zu wollen, weil sie immer das tun, wonach ihnen die Haarspitzen stehen.

Langsam sehe ich mich um. Alles wie immer. Morgens wirkt das Blau der Wände im Zimmer übrigens heller, hoffnungsvoller. Wie ein karibisches Schnorchelgebiet. Abends sieht es eher nach Tiefsee aus. Das liegt sicher am Winkel des Lichteinfalls oder so. Angeblich hat man diese Farbe gewählt, weil sie beruhigend wirkt. Ich werfe einen Blick über die Schulter zum anderen Bett, das schon leer, aber nicht gemacht ist. Es steht in sicherem Abstand zu meinem, aber trotzdem kann man hier zwischen den beruhigenden blauen Wänden ’nen Lagerkoller bekommen.

»Ach, auch schon wach?«

Seine Stimme klingt so tief, als hätte er beim Stimmbruch ’ne Ehrenrunde gedreht. Dieses Jahr habe ich nicht so viel Glück mit meinem Mitbewohner. Er ist erst eine Woche hier, aber ich kann ihn jetzt schon nicht ausstehen. Da steckt bestimmt ein perfider Plan dahinter, dass wir uns ergänzen sollen, weil wir so unterschiedlich sind, blabla. Aber die blanke Wahrheit ist: Er ist ein arroganter Arsch. Den würde ich niemals in meiner Raumkapsel haben wollen. Ich drehe mich zu ihm um, und da steht er, wie in Marmor gemeißelt. Selbst Michelangelo wäre stolz auf diese Arbeit.

Tim.

Der Traum aller Mädchen.

Mein ätzender Mitbewohner.

Er ist noch größer als ich, dabei bin ich für mein Alter schon ziemlich hochgewachsen, hat braune Haare, die ihm immer mal wieder in die Stirn rutschen und Streich-mich-mit-einer-sexy-Handbewegung-aus-dem-Gesicht kreischen. Diese Geste sieht dann immer so aus, als würde es zur perfekten Choreografie einer Boyband gehören. Natürlich auch noch blaue Augen, in denen jedes Mädel im Universum versinken möchte. Das Meeresblau hat diesen Sommer ernsthafte Konkurrenz bekommen. Und weil die Schöpfung echt Sinn für Humor hat, ist beim Genpool-Lotto für ihn auch noch ein Adoniskörper rausgesprungen, für den jedes Calvin-Klein-Model töten würde.

Ich könnt einfach nur kotzen.

Jetzt trägt er ein ärmelloses Sportshirt – vermutlich um seine durchtrainierten Arme zu präsentieren –, dazu kurze Hosen und Laufschuhe. Entweder kommt er gerade vom Training oder ist mal wieder auf dem Weg dorthin, alles noch vor dem Frühstück, versteht sich. Atmen und essen sind nur lästige Unterbrechungen von Tims Lebensinhalt: Sport.

Aber ich, die Ruhe selbst, stehe über all dem und erwidere: »Ich brauche eben meinen Schönheitsschlaf.«

»Hoffnungsloser Fall, mein Lieber.«

»Danke für den Zuspruch.«

Ich habe mir noch nicht die Zähne geputzt und Tim fährt schon die erste Motzattacke. Oh Mann, keine Gnade, nicht mal vor dem ersten Kaffee.

»Lass mich raten, du bist schon zehnmal um die Anlage gejoggt.«

»Was soll ich auch sonst hier machen? Die Sportausstattung ist scheiße, das Essen ist scheiße und der Beschäftigungskram ist auch für den Arsch.«

Da liegt er natürlich nicht falsch – das Essen vielleicht mal ausgenommen –, das hier ist wirklich kein Urlaubsparadies, aber es passt mir trotzdem nicht, dass er so abfällig über den Laden spricht. Mich verbindet mit dem Sonnenhof eine besondere Beziehung, eine Art Hass-Liebe. Der Neuling hat noch kein Recht, so zu reden.

»Verstehe. Du vermisst deine Muckibude und den beheizbaren Pool, oder?«

»Du hast es auf den Punkt gebracht, Klugscheißer.«

»Vielleicht kannst du ja um ein Upgrade bitten. Womöglich verlegen sie dich dann in die Suite mit Meerblick.«

»Ich bin sowieso nicht mehr lange hier.«

»Ist das ein Versprechen?«

Dann hätte ich nicht nur ein Einzelzimmer, ich müsste mir auch nicht mehr diese blöden Poster ansehen, die Tim an seinem ersten Tag aufgehängt hat. Mir persönlich wäre das ja peinlich, aber alles ist erlaubt, solange man sich wohlfühlt und nicht sofort Amok laufen will. Auf meiner Seite hängt ein Star-Wars-Poster, das meine Mutter mir auf dem Herweg noch schnell gekauft hat. Ein Blick auf Tims Zimmerseite reicht aus, um zu wissen, dass er sich am wohlsten nur in der Anwesenheit aller Real-Madrid-Spieler fühlt. Alleine Cristiano Ronaldo hat es ganze vier Mal an unsere Zimmerwand geschafft.

»Ich muss nur einmal mit meinen Eltern telefonieren und ihnen erklären, dass hier nur geistesgestörte Spinner wie du rumhängen. Dann holen sie mich schon wieder ab.«

»Hat ja bisher wahnsinnig gut funktioniert …«

Ich lasse mich wieder in mein Kissen fallen und starre an die Decke. Vielleicht macht Tim seine Drohung ja endlich wahr und verschwindet.

»Das ist mein Ernst. Ich habe hier nichts zu suchen. Schau dir doch mal die ganzen Irren an. Gesprächsblabla, Yoga, Tagebücher … Das Ganze ist doch einfach nur totaler Quatsch. Ich brauch so was echt nicht. Ich muss trainieren und zu meiner Freundin zurück. Das ist die einzige Therapie, die ich brauche.«

»Trainieren? Damit man dir die Anabolika nicht ansieht?«

Mein Verdacht ist ja, dass Tim irgendwelches Dopingzeugs nimmt. Wer, bitte schön, hat denn mit siebzehn so einen Körper? Er sieht aus wie ein mutierter Hulk – und wenn ich ihn richtig schön nerve, wird er manchmal sogar ziemlich grün.

»Zum hundertsten Mal, ich nehme so einen Mist nicht. Nur weil du deinen lahmen Arsch nicht hochbekommst, muss nicht jeder gleich Anabolika nehmen, der ein bisschen auf seine Fitness achtet.«

Ich greife nach einem Kaugummi aus der Plastikschale auf meinem Nachtkästchen und rolle mich auf die Seite, damit ich ihn nicht mehr sehen muss. Okay, sein durchtrainierter Body nervt mich! Jungs in unserem Alter sollten nicht so aussehen müssen. Ich will weiterhin Mars und M&Ms essen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, nur weil mir Mr Universe himself ins Zimmer gesetzt wurde.

»Wenn du mir nicht glaubst, können wir uns draußen mal auf eine Runde Zirkeltraining treffen.«

Kurz schaue ich über die Schulter zu ihm. Wieder hat er diesen leicht irren Blick drauf, als würde er sich gleich das Hemd vom Leib reißen und seine Muskeln spielen lassen.

»Hör mal, Fury, ich habe keinen Bock auf Sport, okay?«

»Habe ich es mir doch gedacht. Du bist ein Weichei.«

Es ärgert mich nicht, dass er so was sagt, um mich zu verletzen. Es ärgert mich, dass er dabei so beknackt perfekt lächelt. Ohne auf eine Antwort zu warten, schnappt er sich seine Trinkflasche und lässt die Tür richtig schön laut ins Schloss fallen.

FRITZI – Life on Mars

»Guten Morgen, Franziska, wie war die erste Nacht?«

»Es wäre besser, wenn Sie einen Sekt zur Begrüßung anbieten würden. Und nennen Sie mich ruhig Fritzi.«

Dabei war die Nacht tatsächlich ganz gut. Meine Zimmernachbarin scheint auch ganz nett, allerdings redet sie nicht, schnarcht nicht, sieht mir nicht in die Augen und hat Brüste, in deren Anwesenheit sich meine überschaubare Oberweite beleidigt fühlt.

Schwester Kora lacht leise über meinen Witz. »Wir haben einen Getränkeautomaten neben der Kantine, wenn du vielleicht etwas trinken willst.«

Sie will helfen. Ständig. Immer. Das ist schon zwanghaft. Oder einfach nur ihr Job.

»Danke.«

»Ach, wir haben deinen Rasierer einbehalten.«

»Wieso das denn?«

»Reine Vorsichtsmaßnahme.«

»Wir haben Hochsommer. Wie stellen Sie sich das vor?«

»Wenn du ihn brauchst, sagst du einfach Bescheid und wir besorgen dir eine Aufsicht. Kein Problem.«

»Na ja, für mich aber schon.«

»Nun, wenn du das nicht möchtest, auch kein Problem.«

Ich atme erleichtert auf, Kora spricht entspannt lächelnd weiter.

»In einigen Zivilisationen gelten behaarte Damenbeine als sehr attraktiv.«

Team Sonnenhof 1 : 0. Ich nicke ergeben.

»Und du musst mir noch dein Handy geben.«

»What?«

»Wir haben gleich hier vorne Telefone, die du benutzen kannst.«

Sie nickt zu einigen Tischen, auf denen Telefone mit Wählscheibe und Kabel stehen, bei denen ich kaum weiß, wie man sie bedient. An einem der beigen Hörer erkenne ich den Lockenkopf von Bastian.

»Aber ich kann doch einfach meins benutzen.«

Sie legt den Kopf schief wie ein Welpe, aber der Blick ist eher so Dobermann-Style. Ich ahne, das 2:0 steht kurz bevor, und rudere zurück.

»Okay, okay, sonst noch irgendwelche Überraschungen, von denen ich wissen sollte?«

Meine Stimme verrät mehr über meine Unsicherheit, als ich zugeben will, während ich mein Handy ausschalte und es ihr reiche.

»Nun, kein Snapchat, kein Twitter, kein YouTube.«

»Kein Leben.«

»Das echte Leben spielt sich doch nicht online ab.«

Sie packt mein Handy in eine Beweismitteltüte, auf die sie meinen Namen und eine Nummer schreibt. Ciao, Privatleben!

»Was macht man hier denn dann so?«

»Wir haben verschiedene Aktivitäten im Angebot.«

»Töpfern und Stricken?«

»Noch nicht, aber danke für den Vorschlag. Es gibt eine Mal-, eine Theater- und eine Kochgruppe.«

»Keinen Buchclub?«

Sie schüttelt den Kopf. Wo zum Henker bin ich denn hier gelandet?

»Können Sie mir sagen, wo ich mich für ein Schweigegelübde anmelden kann?«

Sie lacht wieder über meinen Spruch, was ich gar nicht gut finde. Wieso muss sie humorvoll sein? Ich fange womöglich noch an, sie zu mögen.

»Also da musst du dich an Ole wenden. Der kennt sich damit aus.«

»Ist Ole auch so ein Freak wie Bastian?«

Kora lächelt noch immer, aber etwas in ihrem Blick verändert sich minimal. Sie bleibt freundlich, aber ihr Ton wird kühler.

»Wieso glaubst du, dass Bastian ein Freak ist?«

»Es war eine Vermutung. Warum sonst sollte er hier sein.«

»Also hältst du dich selber auch für einen Freak?«

Oh, sie ist gut. Auf jede Frage folgt eine Gegenfrage, dabei hält sie nonstop Blickkontakt.

»Klar.«

Sie mustert mich. Das scheint hier wohl zur Grundausbildung der Mitarbeiter zu gehören. 1. Stunde: Mustern im Minutentakt. Schließlich nickt sie, als hätte sie verstanden, dass ich echt keine Lust auf eine Unterhaltung habe.

»Frag einfach nach Ole.«

BASTIAN – Einer flog über das Kuckucksnest

»Wer will anfangen?«

Dr. Bellinger, wie immer das dunkle Haar mit den vereinzelten grauen Strähnen an den Schläfen ordentlich gekämmt, lächelt mit olivfarbenen Augen abwartend in die Runde, während ich mich demonstrativ in den Stuhl zurücklehne. Stuhlkreis nach dem Frühstück, na super.

Obwohl Bellinger ein Psychodoktor ist und ich denen nicht besonders traue, ist er schwer in Ordnung. Ich weiß, dass er auf meiner Seite steht und ich ihn deshalb nicht enttäuschen darf. Das ist eine Art Druck, mit dem ich nicht besonders gut umgehen kann.

»Tim, möchtest du dich vielleicht vorstellen?«

Tim, der links neben mir sitzt, wirkt angespannt und knackt nervös mit den Fingern. Er hat ungefähr so viel Lust wie ich, hier zu sein. Endlich mal eine Gemeinsamkeit.

»Wieso ich?«

»Du bist der Älteste.«

»Die beiden sind aber neuer.«

Der Feigling deutet auf die beiden Mädchen, die uns gegenübersitzen: Fritzi und ein blondes Mädel mit – nun, ähm – beeindruckender Oberweite. Sie sitzt mit hochrotem Kopf da und fixiert einen Punkt auf dem Boden, als würden sich ihr dort alle Antworten auf die Fragen des Universums offenbaren. Bisher hat sie noch nicht ein Wort gesagt und scheint einen Selbstversuch in Sachen »Unsichtbarwerden« durchzuführen.

Fritzi pariert Tims Grinsen mit einem wütenden Blick, sie kam noch nicht in den Genuss seines überschäumenden Charmes. Bellinger gibt den Schiedsrichter.

»Möchte dann vielleicht eine von den Damen anfangen?«

Stille.

Er wartet einen Moment, doch niemand sagt etwas.

»Ihr müsst nicht erzählen, wieso ihr hier seid, aber gebt euch die Chance, einander besser kennenzulernen. Immerhin werdet ihr eine Menge Zeit zusammen verbringen, denn ihr seid diesen Sommer unsere Astronauten.«

Niemand bewegt sich. Fritzi sieht zu mir, sie morst mir per Blickkontakt ein SOS.

Ich lasse meine Kaugummiblase zerplatzen und kriege Bellingers Aufmerksamkeit.

»Ja, Bastian?«

»Wenn wir das schnell hinter uns bringen, dürfen wir dann früher raus?«

»Vielleicht.«

Das – und Fritzis flehender Blick – reichen mir als Motivation.

»Ich heiße Bastian Schumacher, bin sechzehn Jahre alt, komme aus Mittelneufnach – ich weiß, kennt keiner – und bin schon zum wiederholten Mal hier.«

Dann sehe ich zu Tim, der aus dem Fenster schaut.

»Jetzt du, Sportskanone.«

Doch er starrt einfach nur weiter ins Freie, wo eine andere Gruppe gerade Fußball spielt. Man muss kein Genie sein, um zu wissen, wo er jetzt lieber wäre.

»Ich heiße Fritzi Reutberger, bin ebenfalls sechzehn und zum ersten – und hoffentlich auch zum letzten Mal – hier. Komme aus Stuttgart.«

Überrascht sehe ich zu ihr rüber. Sie fängt meinen Blick auf, als wolle sie sich bedanken, dass ich den Anfang gemacht habe. Heute trägt sie ein graues T-Shirt, auf dem verschiedene echsenartige Tiere abgebildet sind, dazu abgeschnittene Jeans und flache gelbe Chucks – ihren Kleidungsstil finde ich cool. Ihre kurzen Haare kommen mir heute strubbeliger als gestern vor.

»Fritzi?«

Tims Stimme verrät nicht nur Verwunderung, sondern auch Abneigung. »Was ist das denn für ein bescheuerter Name?«

»Ist die Kurzform von Franziska. Verrätst du mir auch, wie du heißt? Oder soll ich dich einfach weiter Klugscheißer nennen?«

Ich bin fast ein bisschen stolz auf sie, weil sie sich nicht von Tims arschiger Art einschüchtern lässt. Keine Ahnung, ob sie mein Lächeln bemerkt, aber ich würde am liebsten Konfetti für ihre Retourkutsche werfen.

»Ich heiße Tim. Tim Jäger. Siebzehn, aus Essen, Ende der Woche hier raus.«

Nun fixiert Bellinger Tim genau.

»Was lässt dich das annehmen?«

»Das wissen Sie. Meine Eltern haben überreagiert. Es war eine lange Saison und ein hartes Schuljahr. Das ist alles.«

Jetzt will ich langsam wirklich wissen, weswegen er hier ist.

»Deine Ärzte sind der Meinung …«

Tim unterbricht Bellinger wütend.

»Ich bin Fußballer. Das ist ein Männersport, da gehört sowas eben dazu.«

»Was hat das denn mit der Therapie zu tun?«

Fritzi entpuppt sich als erstaunlich gute Fragestellerin.

»Was geht dich das an?«

»Du hast doch damit angefangen.«

»Ja und? Hab ich mit dir gesprochen?«

»Dir ist aber schon klar, dass wir alle hören können, was du sagst?«

»Erzähl du doch mal, wieso du hier bist!«

Das ist wie bei einem sehr flotten Ballwechsel beim Wimbledon-Finale. Man muss schnell sein, um folgen zu können. Fritzi verschränkt die Arme vor der Brust und fixiert Tim.

»Damit du kneifen kannst?«

»Ich kneife nie. Es geht nur niemanden was an.«

Damit verschränkt Tim die Arme vor der Brust und wirft mir einen kurzen Seitenblick zu.

»Erzähl du ihnen doch von deinem Problem, Spinner.«

»Tim, das reicht!«

Bellinger macht sich eine Notiz in seinem Block, den er jede Stunde bei sich hat. Ich beuge mich etwas zu Tim rüber.

»Ich glaube, das nennt man: sich die gelbe Karte einfangen.«

»Du fängst dir gleich eine Schelle ein.«

»Okay, aufhören! Franziska, sei so gut und tausche bitte mit Tim den Platz.«

»Hi.«

Fritzi nickt kurz.

»Hi.«

Heute Morgen habe ich sie beim Frühstück gesehen, als ich Blut abgeben musste.Allerdings hat sie nur ein Müsli gegessen und gelesen. Ich glaube, es war Harry Potter. Der dritte Band, wenn ich mich nicht irre. Seite zweihundertundacht. Nicht, dass ich genau hingesehen hätte, als sie gedankenverloren mit ihren Fingern die Buchseiten gestreichelt oder bei manchen Passagen des Buches geschmunzelt hat. Auf gar keinen Fall habe ich sie so genau beobachtet. Irgendwas an ihr ist anders, spannender und aufregender als bei den anderen Mädchen hier. Ich will wissen, was es ist. Schon lehne ich mich ein bisschen zu ihr rüber und wage einen weiteren flüsternden Versuch, etwas Smalltalk zu machen.

»Wie findest du es hier bisher?«

Sie tut so, als würde sie dem Gespräch zwischen Bellinger und Tim folgen.

»Nicht so übel wie erwartet.«

»Pseudologie?«

Irritiert sieht sie zu mir, ahnt wohl, dass meine Frage mehr als nur Geplänkel ist. Ich will noch immer ihr Geheimnis erfahren.

»Was?«

»Wenn es keine Essstörung ist, tippe ich auf Pseudologie.«

Mein Grinsen passiert ganz von alleine, gibt meinen nächsten Makel preis – und natürlich lenkt sie der unperfekte Zahn auch diesmal ab.

»Hat Tim etwa recht und du bist ein Spinner?«

»Wieso beantwortest du nicht meine Frage?«