Existenzanalyse und Logotherapie - Alfried Längle - E-Book

Existenzanalyse und Logotherapie E-Book

Alfried Längle

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Beschreibung

Die Existenzanalyse, ein existentiell-humanistisches Psychotherapieverfahren, hat ihren Ursprung in der Logotherapie Viktor Frankls. Ihre Erweiterung des Existenzverständnisses führte zu vier psychologischen Dimensionen der Existenz ("Grundmotivationen") - die Sinndimension ist eine davon. Das Buch vermittelt die Grundlagen und das phänomenologisch-dialogische Vorgehen der Existenzanalyse theoretisch und an einem Fallbeispiel. Als verstehende Psychotherapie arbeitet diese nicht mit Interpretationen oder Deutungen, vielmehr wird das individuelle Leiden der Klienten aus den Mustern ihres eigenen Erlebens verstanden, um durch Anregung personaler Kräfte zu einem existentiellen Leben mit innerer Zustimmung zu kommen.

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Der Autor

PD Dr. med. Dr. phil. Alfried Längle ist Professor für praktische Psychologie an der HSE-Universität Moskau, Gastprofessor an der Sigmund-Freud-Universität Wien, Dozent an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Past-Präsident der Internationalen Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse, Wien. Er war acht Jahre Vizepräsident der International Federation of Psychotherapy (IFP – Sitz in Zürich) und besitzt zwei Ehrendoktorate und sechs Ehrenprofessuren, Goldenes Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich, über 400 Publikationen.

 

 

 

Mein besonderer Dank gilt Frau Mag. Verena Buxbaum für ihre große Hilfe bei der Erstellung des Manuskripts.

Alfried Längle

Existenzanalyse und Logotherapie

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034198-2

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-034199-9

epub:     ISBN 978-3-17-034200-2

mobi:     ISBN 978-3-17-034201-9

Geleitwort zur Reihe

 

 

Die Psychotherapie hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt: In den anerkannten Psychotherapieverfahren wurde das Spektrum an Behandlungsansätzen und -methoden extrem erweitert. Diese Methoden sind weitgehend auch empirisch abgesichert und evidenzbasiert. Dazu gibt es erkennbare Tendenzen der Integration von psychotherapeutischen Ansätzen, die sich manchmal ohnehin nicht immer eindeutig einem spezifischen Verfahren zuordnen lassen.

Konsequenz dieser Veränderungen ist, dass es kaum noch möglich ist, die Theorie eines psychotherapeutischen Verfahrens und deren Umsetzung in einem exklusiven Lehrbuch darzustellen. Vielmehr wird es auch den Bedürfnissen von Praktikern und Personen in Aus- und Weiterbildung entsprechen, sich spezifisch und komprimiert Informationen über bestimmte Ansätze und Fragestellungen in der Psychotherapie zu beschaffen. Diesen Bedürfnissen soll die Buchreihe »Psychotherapie kompakt« entgegenkommen.

Die von uns herausgegebene neue Buchreihe verfolgt den Anspruch, einen systematisch angelegten und gleichermaßen klinisch wie empirisch ausgerichteten Überblick über die manchmal kaum noch überschaubare Vielzahl aktueller psychotherapeutischer Techniken und Methoden zu geben. Die Reihe orientiert sich an den wissenschaftlich fundierten Verfahren, also der Psychodynamischen Psychotherapie, der Verhaltenstherapie, der Humanistischen und der Systemischen Therapie, wobei auch Methoden dargestellt werden, die weniger durch ihre empirische, sondern durch ihre klinische Evidenz Verbreitung gefunden haben. Die einzelnen Bände werden, soweit möglich, einer vorgegeben inneren Struktur folgen, die als zentrale Merkmale die Geschichte und Entwicklung des Ansatzes, die Verbindung zu anderen Methoden, die empirische und klinische Evidenz, die Kernelemente von Diagnostik und Therapie sowie Fallbeispiele umfasst. Darüber hinaus möchten wir uns mit verfahrensübergreifenden Querschnittsthemen befassen, die u. a. Fragestellungen der Diagnostik, der verschiedenen Rahmenbedingungen, Settings, der Psychotherapieforschung und der Supervision enthalten.

Nina Heinrichs (Bremen)

Rita Rosner (Eichstätt-Ingolstadt)

Günter H. Seidler (Dossenheim/Heidelberg)

Carsten Spitzer (Rostock)

Rolf-Dieter Stieglitz (Basel)

Bernhard Strauß (Jena)

Die Buchreihe wurde begründet von Harald J. Freyberger, Rita Rosner, Ulrich Schweiger, Günter H. Seidler, Rolf-Dieter Stieglitz und Bernhard Strauß.

Inhalt

 

 

Geleitwort zur Reihe

1   Herkunft und Entwicklung der Existenzanalyse

1.1   Viktor Frankl und die Hintergründe der Logotherapie

1.1.1   Für ein ganzheitliches Menschenbild

1.1.2   Logotherapie

1.2   Weiterentwicklung der EA als eigenständige Psychotherapierichtung

2   Verwandtschaft mit anderen Verfahren

2.1   Humanistische Psychotherapierichtungen

2.2   Tiefenpsychologisch fundierte Richtungen

2.3   Verhaltenstherapie

2.4   Systemische Psychotherapierichtungen

3   Wissenschaftliche und therapietheoretische Grundlagen

3.1   Definition: Existenz und Existenzanalyse

3.2   Anthropologie – Menschenbild

3.3   Die Person

3.4   Dialogischer Zugang

3.5   Personsein in der Welt: die »doppelte Wirklichkeit« des Menschen

3.6   Die existentielle Vorfindlichkeit als Basis menschlicher Motivation

3.7   Das Wesen der existentiellen Antwort – die innere Zustimmung

3.8   Die vier Grundmotivationen – das Strukturmodell der Existenzanalyse

3.8.1   Die 1. Grundmotivation: sein können

3.8.2   Die 2. Grundmotivation – leben mögen

3.8.3   Die 3. Grundmotivation – sich selbst sein dürfen

3.8.4   Die vierte Grundmotivation – Sinnvolles sollen

3.9   Die Personale Existenzanalyse (PEA) – das Prozessmodell der Existenzanalyse

3.10 Formen nicht-personaler Verarbeitung: die Coping-Reaktionen

4   Kernelemente der Diagnostik

4.1   Das Spannungsfeld zwischen Phänomenologie und Diagnostik

4.2   Die Grundlage der Diagnostik: Phänomenologisches Verstehen

4.3   Diagnostische Anbindung an internationale Diagnoseschemata

5   Kernelemente der Therapie

5.1   Phänomenologische Vorgangsweise

5.1.1   Ziel der Phänomenologie ist das Verstehen

5.1.2   Was ist Phänomenologie?

5.1.3   Der phänomenologische Prozess

5.1.4   Die praktische Anwendung

5.1.5   Praktische Konsequenzen der phänomenologischen Haltung

5.2   Personale Existenzanalyse (PEA) als dialogisches Prozessmodell personaler Verarbeitung

5.3   Grundmotivationen als strukturelle Kategorien

5.3.1   Therapeutischer Zugang zu den personal-existentiellen Grundmotivationen

5.3.2   Coping-Reaktionen

5.3.3   Psychische Störbilder und Krankheiten

5.4   Existenzanalytische Behandlungsmethoden

5.4.1   Existentielle Wende

5.4.2   Umgang mit Aggression

5.4.3   Einstellungsänderung

5.4.4   Paradoxe Intention

5.4.5   Personale Positionsfindung (PP)

5.4.6   Dereflexion

5.4.7   Phänomenologische Dialogübung (»Sesselmethode«)

5.4.8   Sinnerfassungsmethode (SEM)

5.4.9   Willensstärkungsmethode (WSM)

6   Klinisches Fallbeispiel

7   Anwendungsgebiete und spezifische Indikationen

8   Die therapeutische Beziehung

9   Settings

9.1   Gruppenpsychotherapie

9.2   Anwendungen der EA mit Paaren und in anderen Beziehungen

9.3   EA Psychosomatik und Körperarbeit

9.4   Weitere Settings in der Existenzanalyse

10 Wissenschaftliche und klinische Evidenz

10.1 Wissenschaftliche Evidenz und ihr existenzanalytisches Verständnis

10.1.1 Haltung zum Forschungsparadigma

10.1.2 Empirische Forschungen in der EA

10.2 Klinische Evidenz

10.2.1 Lebensqualitätsforschung

10.2.2 Klinische Studien

10.2.3 Einzelfallstudien

11 Institutionelle Verankerung

11.1 Die Gesellschaft für Logotherapie und EA (GLE)

11.2 Andere Vereinigungen

12 Informationen zu Aus-, Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten

12.1 Die Ausbildung in Existenzanalyse (GLE)

12.2 Adressen der Fachverbände

Literatur

Sachwortregister

1          Herkunft und Entwicklung der Existenzanalyse

 

 

»Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie«. Das ursprünglich auf Nietzsche (1889, § 12) zurückgehende Zitat, das Viktor Frankl in diese Form abänderte, kann als Leitsatz für Frankls Werk gelten. Schon als Gymnasiast setzte er sich mit der Sinnfrage auseinander, ein Thema, das ihn beruflich und persönlich-biografisch ein Leben lang beschäftigte.

1.1       Viktor Frankl und die Hintergründe der Logotherapie

Mit dem Namen Viktor Frankl (1905–1997) ist die Sinnthematik unzertrennlich verbunden, wie schon Yalom (2010) hervorhob. Frankl bekommt den Verdienst zugeschrieben, das Thema Sinn in die Psychotherapie eingeführt zu haben. In den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts hat er als Neurologe und Psychiater die Logotherapie begründet (Frankl 1938a; b; 2005). Sie wird oft als die »dritte Wiener Schule der Psychotherapie« nach Sigmund Freuds Psychoanalyse und Alfred Adlers Individualpsychologie bezeichnet (Soucek 1948; Hofstätter 1957). Das frühe Interesse Frankls für die Psychologie brachte ihn zunächst zur Psychoanalyse. Er stand über 2–3 Jahre in brieflichem Kontakt mit Sigmund Freud. Nachdem er sich für eine Ausbildung in der Psychoanalyse beworben und auf Anraten Freuds ein Gespräch mit Paul Federn geführt hatte (Längle 2013a), wandte sich Frankl aber von ihr ab und durchlief seine psychotherapeutische Ausbildung in der Individualpsychologie Alfred Adlers. Dort fand er auch seine eigentlichen Lehrer, Oswald Schwarz, den Begründer der Psychosomatik, und Rudolf Allers, der ihn mit der philosophischen Anthropologie von Max Scheler bekannt machte. Unter ihrem Einfluss und in Verbindung mit seinem genuinen Interesse für die Sinnthematik entwickelte sich im jungen Frankl ein Anliegen, für das er sich ein Leben lang einsetzen sollte, nämlich den Psychologismus in der Psychotherapie zu bekämpfen (Frankl 1995; Längle 2013a; Kretschmer 2000; Rattner 1991).

Für Frankl stand das »spezifisch Humane« stets im Mittelpunkt des Interesses: die Geistigkeit des Menschen, die sich in seinen Augen besonders in der Suche nach Sinn artikuliert. Sie sollte nicht einem psychischen oder methodisch-mechanistischen Reduktionismus zum Opfer fallen. Mit dieser Intention geriet Frankl bald in Konflikt mit Alfred Adler, besonders nachdem er sich öffentlich bei einem Kongressvortrag dazu geäußert hatte. Adler verzieh ihm das nicht. Nach dem Austritt von Schwarz und Allers schloss Adler den jungen Frankl 1927 aus dem Verband aus (Längle 2013a). Wohl eine Ironie des Schicksals, dass Adlers letztes größeres Werk mit dem Titel »Der Sinn des Lebens« (1933) jene Inhalte thematisiert, um die es Frankl in seinem Vorstoß gegangen ist.

Dieser Ausschluss war ein herber Schlag für Frankl und versetzte ihn in eine gewisse Orientierungslosigkeit und in eine Sinnkrise. Über viele Jahre hinweg war er wenig motiviert, sich ernsthaft weiter mit der Psychotherapie zu beschäftigen. Zwar setzte er sich mit der Existenzphilosophie und Phänomenologie Max Schelers auseinander, jedoch konnte er sich über Jahre hinweg nicht aufraffen, seine Gedanken und Entwicklungen niederzuschreiben. Erst nachdem er seine Frau kennengelernt hatte, wurde er wieder motiviert, sich neben seiner ärztlichen Karriere auch der Psychotherapie zu widmen. Inzwischen hatte Frankl als jüdischer Arzt viele Rückstellungen und Entwertungen erleben müssen, und es war bereits Krieg, bald wurde das jüdische Spital im Zuge der »Endlösung« aufgelöst und auch Frankl und seine Familie kamen in Konzentrationslager. Kurz davor hatte er 1941/42 sein grundlegendes Werk zur Logotherapie (1982a), die »Ärztliche Seelsorge«, niedergeschrieben.

Zweieinhalb Jahre verbrachte Frankl in verschiedenen Konzentrationslagern und verlor in dieser Zeit praktisch seine ganze Familie. Was ihn die Gräuel überleben ließ, waren drei Lebensinhalte: die geistigen Beziehungen zu seiner Familie, verbunden mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen; der unbedingte Wille, das verloren gegangene Grundwerk der Logotherapie noch einmal zu schreiben und der Nachwelt zu hinterlassen, und schließlich seine tiefe Religiosität, zu der er im KZ gelangte. Diese Grenzerfahrung war für ihn gewissermaßen der Prüfstein für die Richtigkeit und das helfende Potenzial, das in seiner Logotherapie steckte. In einem authentischen Bericht schildert Frankl ([1946] 2009) wie der Sinn als geistige Orientierung und als Lebensinhalt dem Menschen die Kraft zum Überleben selbst unter schwierigsten Lebensbedingungen geben kann. Sinn ist nicht nur »lebenswichtig«, sondern in Extremsituationen sogar »über-lebenswichtig«, wie er später oft sagte. Der Titel, den er bei späteren Auflagen dem Buch gab, ist paradigmatisch für Frankls Leben: »… trotzdem Ja zum Leben sagen«.

Nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager kehrte Frankl nach Wien zurück. In den 1950er Jahren begann eine rege Vortragstätigkeit, die ihn schon damals nach Nord- und Südamerika führte. Er wurde an über 200 Universitäten auf allen Kontinenten zu Gastvorlesungen eingeladen. Allein 80 Vortragsreisen führten ihn in die USA. Durch die persönliche Bekanntschaft mit praktisch allen führenden Psychotherapeuten seiner Zeit, die Übersetzungen seiner Bücher in 24 Sprachen und ihre hohen Auflagen wurde Frankl zu einem der bekanntesten Psychotherapeuten seiner Zeit bis heute. Mit seinen 28 Ehrendoktoraten, zahlreichen Orden und Ehrenmitgliedschaften gehört Frankl zu den am meisten ausgezeichneten Persönlichkeiten der Psychotherapie und Psychiatrie seines Jahrhunderts.

Frankl wollte mit der Entwicklung der Logotherapie ursprünglich eine Ergänzung zur Psychotherapie der 1930er Jahre schaffen. Obwohl er anfänglich der Psychologie Freuds und Adlers folgte, wurde ihm in der Auseinandersetzung mit beiden deutlich, dass diese Psychologie noch einer weiteren Dimension bedarf. So wollte er einen Kontrapunkt schaffen mit einer anthropologisch fundierten Psychologie, die auch das geistige Suchen und Streben des Menschen würdigt und integriert. Die Logotherapie ist daher nicht als eigenständige Methode konzipiert. Sie sollte als Korrektiv desPsychologismus in jeder Psychotherapie zur Anwendung kommen (Frankl 1982a). Er konzentrierte sich daher auf die Entwicklung einer psychotherapeutischen Anthropologie, welche die geistige Dimension des Menschen umfasst, und schaute vorwiegend auf das Leiden, das durch den Sinnverlust entsteht. Sein Anliegen war, dem Menschen einen geistigen Beistand zur Bewältigung seelischer Not, Belastungen und Krankheiten zu verschaffen. Darum sprach er auch von »ärztlicher Seelsorge«, was zum Titel seines Grundlagenwerkes wurde, welches bis heute maßgeblich für die Logotherapie ist. Damit wollte er schon in den 1940er Jahren zum Bewusstsein beitragen, dass sich jeder Arzt nicht nur um den Körper, sondern immer auch um die Seele und die geistige Bewältigung der Krankheiten der Patienten kümmern sollte (heute ein Thema der medizinischen Psychologie). Daneben entwickelte er aber auch andere Behandlungsformen, wie z. B. die sehr bekannt gewordene Paradoxe Intention ( Kap. 5.4.4).

Zentral im Leben Frankls war sein Eintreten für ein ganzheitliches Menschenbild. Darum war Frankl beseelt davon, gegen den Reduktionismus in der Psychologie anzutreten, wie gegen den eben genannten Psychologismus als eine Form des Reduktionismus. Ein Reduktionismus liegt dann vor, wenn ein komplexer Sachverhalt von seiner mehrdimensionalen Beschaffenheit auf weniger Dimensionen herunterprojiziert wird. Frankl (1990, S. 198–202) verwendete zur Veranschaulichung gerne ein geometrisches Beispiel. Wenn man die Dreidimensionalität einer Kugel auf zwei Dimensionen hinabprojiziert, sieht man eine Kreisscheibe. Wird daneben ein Zylinder in die Ebene projiziert, oder eine kreisförmige Scheibe, sind sie in der reduzierten Form nicht mehr voneinander zu unterscheiden, denn das Wesentliche ihrer Körpergestalt ging verloren. Eine zweite Verwirrung entsteht, wenn die Projektionen in unterschiedliche Ebenen erfolgen. Wenn zum Beispiel ein Wasserglas einmal auf die horizontale und einmal die vertikale Ebene projiziert wird, ergibt dies einen Kreis und ein Rechteck, die sich in ihrer Abbildung widersprechen, obwohl sie vom selben Gegenstand stammen. Unschärfen des Reduktionismus führen also notgedrungen zu Widersprüchlichkeiten und Mehrdeutigkeiten (ausführlicher in Längle 2013b, S. 177 ff.). Mit einer solchen »Dimensionalontologie«, wie er sie nannte, wollte er auf die Mehrdeutigkeit verweisen, die entsteht, wenn man aus einer Ebene (z. B. von der psychischen Ebene, von körperlichen Reaktionen oder sozialen Aktionen) auf die Dreidimensionalität des Menschen schließt.

Schon 1938 hatte Frankl (1938a; b) das Konzept der Logotherapie und der existenzanalytischen Anthropologie geschaffen, um auf die Gefahr dieser verkürzten Sichtweise des Menschen hinzuweisen, die bei aller Richtigkeit der Teilaspekte ihm in seiner Ganzheit nicht gerecht wird. Es sind in erster Linie fünf Formen des Reduktionismus gegen die sich Frankl (1982a, S. 21–38) mit der Logotherapie wendet: gegen den Psychologismus, den Pan-Determinismus, den Pathologismus, den Soziologismus und den Biologismus (ausführlicher in Längle 2013b, S. 142–148).

Einen entscheidenden Anstoß für die Entwicklung seiner Theorie erhielt Frankl aus der philosophischen Anthropologie des deutschen Philosophen Max Scheler (1980), dessen Philosophie er zur Grundlage der Logotherapie machte. Mit der Wortschöpfung Logotherapie (LT) markierte Frankl bereits das, worum es ihm vorwiegend ging. Das griechische Wort Logos heißt Wort, und es steht im philosophischen Kontext für Sinn. Logotherapie ist daher »sinnzentrierte Psychotherapie« (Frankl 1982a, S. 235). Weil der Mensch nicht durch Instinkte bestimmt ist, sondern über Freiheit verfügt, muss er mit sich und seiner Welt umgehen und sich und sie gestalten. Um dies aber konstruktiv tun zu können, braucht er ein Verstehen, worum es geht, eine Orientierung. Diese Orientierung ist der Sinn; er ist eine zukunftsorientierte, konstruktive Ausrichtung. So sieht Frankl den Menschen aufgrund seiner geistigen Veranlagung wesentlich als einen Sinnsuchenden. Natürlich ist er auch ein physisches Wesen mit psychischen Trieben. Doch diese machen ihn nicht aus, denn er ist mehr als das. Menschsein bedeutet, mit Körper und Psyche und ihren Bedürfnissen und Erfordernissen zu leben, und auf ihrer Grundlage und gemeinsam mit ihnen sich dem zu widmen, was man in dieser Situation als wichtig, wertvoll, lebensförderlich und stimmig ansieht. Diese spezifisch menschlichen Qualitäten und Fähigkeiten liegen in einer »geistigen Dimension«, die nicht den physischen oder psychischen Prozessen zugeordnet werden kann, wenngleich sie von ihnen getragen ist und sie gemeinsam die Einheit Mensch darstellen. Dank dieser spezifischen menschlichen Fähigkeiten kommt der Mensch in die Existenz. Die geistig-personale Dimension macht ihn weltoffen, sinn- und wertorientiert.

1.1.1     Für ein ganzheitliches Menschenbild

Für Frankl hatte der Reduktionismus in der Psychologie und im Lebensverständnis eine unmittelbare gravierende Folge. Er sah in dieser Versachlichung des Menschen und seines Lebens eine Hauptursache für den Sinnverlust. Sein Anliegen war daher, der »Sinnleere« eine »Sinnlehre« entgegenzustellen (Frankl 1981, S. 63; 1994), die eben diese geistige Dimension beinhalten würde.

Er vertrat die Ansicht, die Psychotherapie müsse durch die Einführung der »geistigen Dimension« ergänzt und erweitert werden, um dem Menschen in seiner Ganzheitlichkeit gerecht zu werden. Frankl (1959, S. 700) fand für die Psychologismusdebatte eine geradezu plakative Formel, mit der er das darin enthaltene Problem der fehlenden Differenzierung zwischen psychischen Vorgängen und geistigen Inhalten knapp fassen konnte: »Zwei mal zwei ist vier, auch wenn ein Paranoiker es sagt«.

Im Blick auf die verschiedenen Psychotherapierichtungen seiner Zeit sah er den Reduktionismus vor allem in der Motivationslehre. Bei Freud sei der Wille des Menschen von der Lust geprägt, und bei Adler von der Macht, und darum müsse es in der Logotherapie als Korrektiv zu diesen Motivationsverständnissen um einen »Willen zum Sinn« gehen, wie er seine Motivationstheorie bezeichnete (Frankl 1982a; 1991).

1.1.2     Logotherapie

Schon ab 1926, als er noch bei Adler war, sprach Frankl von »Logo-therapie«. 1938 publizierte er den Namen erstmals und stellte sie als eine an der Sinnsuche orientierte Anthropologie vor. Ihre theoretischen Grundlagen bezeichnete er ursprünglich als Existenzanalyse, ab den 1960er Jahren als Logo-Theorie. Da er den Begriff Existenzanalyse danach fallen gelassen hatte, wird heute der Begriff der Logotherapie meistens für jene Behandlungsform gebraucht, die von Frankl als Ergänzung der herkömmlichen Psychotherapie für sinnrelevante Themen geschaffen wurde. Dagegen wird der Begriff Existenzanalyse heute von den Mitgliedern der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse (GLE) als Bezeichnung für die umfassende existentielle1 Psychotherapierichtung verwendet (Längle 2016). Als es 1991 zur Trennung der Schulen kam, hat Frankl wider Erwarten den Begriff Existenzanalyse reaktiviert und innerhalb der logotherapeutischen Szene weltweit angeordnet, dass seine Schule hinfort nicht mehr einfach nur »Logotherapie«, wie er selbst sie jahrzehntelang bezeichnet hatte, sondern »Logotherapie und Existenzanalyse« heißen soll. In der GLE hingegen steht der Begriff »Existenzanalyse« für die Bezeichnung der Psychotherapie-Methode, und Logotherapie als Beratungs-, Begleitungs- und Behandlungsform für sinnrelevante Themen.

Als tiefstes Streben des Menschen sah Frankl den Willen zum Sinn nicht nur als Ergänzung der beiden tiefenpsychologischen (psychodynamischen) Motivationskräfte Libido und Machtstreben, sondern als die primäre Motivationskraft des Menschen. Darum solle die Psychotherapie nicht nur unbewusste Triebhaftigkeit bewusst machen, sondern es müsse vielmehr in jedem Fall (auch und in erster Linie) um die Bewusstmachung des (unbewussten) Geistigen gehen (Frankl 1982a, S. 39), um der Ganzheitlichkeit des Menschen zu entsprechen.

Frankl verwendete gerne den Begriff des »Geistigen« (wir sprechen heute in der Existenzanalyse mehr vom »Personalen«). Dieser Begriff ist in der Psychologie wenig geläufig und steht in Gefahr, mit Geistlichem oder Esoterischem (»Geister«) verwechselt zu werden. In der existenzanalytischen Anthropologie bedeutet das »Geistige« aber eine Veranlagung eines jeden Menschen, die seine personale Freiheit darstellt, und die ihn nach Sinn streben lässt, nach Werten und nach verantwortlicher Bindung, nach Gewissenhaftigkeit, Selbsttreue, Authentizität, Gerechtigkeit, Schönheit und Kunst usw. Der Begriff markiert eine Differenz zum Psychischen (zur vitalen Dynamik der Lebenserhaltung, der Triebe, Stimmungen, Persönlichkeitszüge und Schutzverhalten) und zum Körperlichen. Ein existentieller Zugang zum Menschen bedeutete daher für Frankl (1990, S. 271) das Bewusstmachen der Freiheit und des Verantwortlichseins »als Wesensgrund der menschlichen Existenz« (Frankl 1982a, S. 39).

Zwei operative Fähigkeiten stehen dem Menschen zur Verfügung, um seinem Willen zum Sinn folgen zu können. Sie sind die beiden grundlegenden Achsen der praktischen Logotherapie (Frankl 1982a, S. 160; 1990, S. 219 ff.): die Selbst-Distanzierung – die personale Fähigkeit, zu sich selbst auf Distanz zu kommen, und die Selbst-Transzendenz ( Kap. 3.9) – die personale Fähigkeit, aus sich herauszugehen und sich auf etwas oder jemand anderen einzulassen. Wenn dies auf der Basis einer Wende in der Haltung zum Leben geschieht, dann kann der Mensch zu einer sinnvoll erfüllten Existenz gelangen. Frankl bezeichnet diese grundlegende Wende als »kopernikanische Wende«. Heute wird sie »existentielle Wende« ( Kap. 5.4.1) genannt, da sie die Voraussetzung für die existentielle Gestaltung des Lebens ist. Sie beschreibt folgendes: Existentiell gesehen erhält der Mensch Erfüllung im Leben nicht dadurch, dass seine Fragen und Forderungen an das Leben befriedigt und erfüllt werden, sondern indem er sich vom Leben befragen lässt und auf die Fragen der Situation seine ganz persönlichen Antworten gibt.

»Die Frage nach dem Sinn des Lebens schlechthin ist sinnlos, denn sie ist falsch gestellt, wenn sie vage ›das‹ Leben meint und nicht konkret ›je meine‹ Existenz. Holen wir zu einer Rückbesinnung auf die ursprüngliche Struktur des Welterlebens aus, dann müssen wir der Frage nach dem Sinn des Lebens eine kopernikanische Wendung geben: Das Leben selbst ist es, das dem Menschen Fragen stellt. Er hat nicht zu fragen, er ist vielmehr der vom Leben her Befragte, der dem Leben zu antworten – das Leben zu ver-antworten hat. Die Antworten aber, die der Mensch gibt, können nur konkrete Antworten auf konkrete Lebensfragen sein. In der Verantwortung des Daseins erfolgt ihre Beantwortung, in der Existenz selbst ›vollzieht‹ der Mensch das Beantworten ihrer eigenen Fragen.« (Frankl 1982a, S. 72)

Es ist ein Spezifikum des Menschen, dass er sein Leben verstehen möchte, um nicht beliebig irgendetwas tun zu müssen, sondern konstruktiv leben zu können. Ein Leben, in dem es nicht um Werte geht, wird inhaltsleer. Das Leiden daran bezeichnete Frankl (1982a, S. 72) als »existentielles Vakuum«, ein tiefes Sinnlosigkeitsgefühl, das alsbald mit Apathie und Verlust der Interessen einhergeht. Die Frustration dieses Verlangens, sein Leben in einem größeren Zusammenhang zu verstehen, ist aber abgesehen von individuellen Ursachen auch ein Symptom unserer Zeit.

Die LT ist heute das weltweit verbreitetste Verfahren im Bereich existentieller Psychologie und Therapie (Correia et al 2014, 2016) mit drei Dachverbänden und akkreditierten Instituten in 41 Ländern2, sowie Büchern in über 50 Sprachen.

1.2       Weiterentwicklung der EA als eigenständige Psychotherapierichtung

In den letzten 35 Jahren wurde in der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse, Wien (GLE) die Existenzanalyse (EA) in theoretischer und methodischer Hinsicht weiterentwickelt, sodass sie heute als eigenständige Hauptrichtung der Psychotherapie gelten kann. Dieser Schritt von »der Logotherapie als Ergänzung herkömmlicher Psychotherapie« zur eigenständigen psychotherapeutischen Methode schlägt sich auch in der Bezeichnung nieder: als Psychotherapie heißt das Verfahren nun »Existenzanalyse« (Stumm 2011, S. 236–244). Der Anstoß zu dieser Weiterentwicklung kam aus der systematischen praktischen Anwendung und den Erfahrungen aus der Lehre in den Ausbildungen (Längle 2015).

Als eigenständige psychotherapeutische Richtung erfüllt die EA die internationalen Standards einer Psychotherapie. Dank dieser Weiterentwicklung wurde sie in einer Vielzahl von Ländern als Psychotherapieverfahren anerkannt bzw. verbreitet, wie z. B. Österreich, Schweiz, Deutschland (ohne staatliche Anerkennung), Tschechien, Rumänien, Polen, Kanada, aber auch in weiteren Ländern gelehrt wie England, Ukraine, Russland, Argentinien, Chile, Mexico etc. (www.existenzanalyse.org).

Was die EA und ihre Entwicklung kennzeichnet, ist der stringente Einsatz der Phänomenologie sowohl in Forschung als auch in der Praxis und Methodik. Dadurch ist die EA nicht primär theoriegeleitet, sondern auf das Erleben fokussiert. Damit wird der Emotionalität viel Raum gegeben, Vergangenes wie künftig Erwartetes spielen in die Aktualität der Gegenwart herein, dialogischer Weltbezug und Wechselwirkung mit anderem und anderen prägen die Existenz. Das Mit-sich-sein-Können durch ständige Wahl und Entscheidung bestimmen das Bild. Dadurch ist die Sinnthematik (im Unterschied zur LT Frankls) nicht mehr tonangebend. Motivationstheoretisch hat sich durch die phänomenologische Arbeit ergeben, dass drei weitere Dimensionen der Existenz der Sinnsuche vorgängig sind.

Diese »Grundmotivationen der Existenz« werden als eine Dynamik verstanden, die aus dem unaufhebbaren und den Menschen konstituierenden Eingebundensein in »Welt« emergieren. Das Eingebundensein des Menschen in seine Welt hat einen wechselbezüglichen Charakter, der durch die Personalität des Menschen zu einem dialogischen Austausch wird. Aus dieser Eingebundenheit entstammt das intentionale Gerichtetsein des Menschen auf Welt (auf »Alterität«, also auf etwas oder jemanden, der nicht »Ich« ist, sondern ein »anderer«) und zugleich auf sich selbst (Selbstsein). So gesehen kann man auch sagen, dass der Mensch durch seine Veranlagung einerseits (Personsein) und durch das konstitutive Eingebundensein in Welt andererseits ein lebenslanges Verlangen nach Antworten auf die Welt hat (man kann dies auch als »Ur-Intentionalität« bezeichnen). Die unaufhebbare, auf Dialog angelegte Beziehung zur Welt und zu sich selbst wird in der EA als Ursprung der Dynamik des personalen Ichs angesehen. Sie ist die zentrale theoretische Basis psychotherapeutischen Arbeitens.

In einem solchen Verständnis von Existenz ist Freiheit das zentrale Theorem, auf deren Entwicklung und deren Einsatz die ganze Arbeit in der EA ausgerichtet ist. Damit stehen die Selbstpositionierung und Entschiedenheit des Menschen im Mittelpunkt. Dank ihrer kann der Mensch sich als Gestalter seines Daseins erleben. Durch ihren stimmigen Einsatz kann er sich mit seinem Dasein identifizieren und sein Handeln verantworten. Im täglichen Lebensvollzug wird der Einsatz der Freiheit in Form der emotional empfundenen Zustimmung zu dem, was man tut oder lässt, vollzogen ( Kap. 3.7). Durch dieses Konzept wird der Existenz-Begriff gegenüber dem der LT aufgeweitet. Existenz ist nicht nur Vollzug von Sinn, sondern verlangt explizit den Einbezug der eigenen Person, um einen echten Dialog mit der Welt zu begründen. Daher geht der Sinnerfüllung die »Besorgung« von Sein-Können, Leben-Mögen und Vollzug des Selbst-Seins voran (der Begriff Besorgung spielt auf Heideggers (1979) Verständnis der Sorge für die Existenz an). Auf der Basis eines solchen personalen Dialogs mit der Welt kann der Mensch zu einer erfüllenden Existenz gelangen. Existenz wird in der EA verstanden als ein sinnvolles, in Freiheit und Verantwortung gestaltetes Leben, das der Mensch als das seinige empfindet und worin er sich als Mitgestalter erlebt.

Durch das starke Einbeziehen der Phänomenologie in die psychotherapeutische Praxis entstand eine eigenständige Vorgehensweise (Längle 2014a). Damit hat sich die EA weit entfernt von einem appellativen Prozedere, wie Frankl (1982a, S. 143) es für die LT vorgab, nämlich an die »bewusst gewordene Freiheit zu appellieren« und so den Menschen in seine Verantwortung zu führen. Die phänomenologische Haltung brachte auch eine eigenständige Emotionslehre hervor und führte zum stärkeren Einbezug der Gefühle als Drehscheibe in der Praxis. Als phänomenologische Psychotherapie setzt die EA am subjektiven Erleben der Klienten3 bzw. Patienten sowie der Therapeuten an und bringt diese Wahrnehmungsformen in einen partnerschaftlichen Dialog. Beides – die Phänomenologie und der hohe Stellenwert der Emotionalität – führte zur Entwicklung einer spezifischen Vorgehensweise, der Personalen Existenzanalyse (PEA) (Längle 2000a) und zur Implementierung biografischen Arbeitens (Kolbe 1994), was Frankl als der LT widersprechend abgelehnt hatte (Längle 1991). Um die notwendige Epoché (d. h. die »Einklammerung« des Vorwissens und der eigenen, »privaten« Interessen und Dynamiken) erreichen zu können, wurde in der Ausbildung ein erhöhtes Maß an Selbsterfahrung (die Frankl ebenso strikt abgelehnt hatte) erforderlich (Längle 1989; 1996).

Diese Entwicklungen, verbunden mit einem knappen Dutzend von methodischen Anwendungen, macht die EA bei allen psychischen, psychosomatischen und psychosozialen Erlebnis- und Verhaltensstörungen anwendbar und verleiht ihr eine empirisch überprüfbare Effizienz.

1     In der Tradition V. Frankls wird die Schreibweise »existentiell« mit t beibehalten, die früher auch als eine offizielle Schreibweise galt.

2     Vgl. https://www.univie.ac.at/logotherapy/institute_wwD.html (12.09.2019) und Bücher von Frankl: https://www.univie.ac.at/logotherapy/buecher_von_vf.html.

3     Der leichteren Lesbarkeit halber wird das generische Maskulinum für die Bezeichnung aller Geschlechter verwendet.

2          Verwandtschaft mit anderen Verfahren

 

 

2.1       Humanistische Psychotherapierichtungen

Die EA ist auf Person und Existenz fokussiert. Dies sind genuin humanistische Themen. Die EA wird daher im Allgemeinen den humanistischen Psychotherapierichtungen zugerechnet (Kriz 2014a; Bühler und Allen 1983; Hutterer 1998). Sie stellt mit ihrer existentiellen Ausrichtung aber eine eigene Strömung innerhalb des humanistischen Paradigmas dar. Die humanistischen Richtungen eint vor allem die Gemeinsamkeiten in der Anthropologie: der mündige Mensch, der frei ist im Erleben und Entscheiden und so seine Existenz aktiv gestaltet. Dabei erlebt er, dass ihn sein Handeln sowohl in die Welt einbindet als auch ihn zugleich an sich zurückbindet durch seine Urheberschaft der Wirkung auf andere. Dies stellt den Menschen in seiner Freiheit unabdingbar in eine Verantwortlichkeit für sein Handeln. Dieses Menschenbild ist ganzheitlich: »In der Humanistischen Psychotherapie wird der Mensch holistisch gesehen, also in seiner […] Ganzheit, in seiner Geschichtlichkeit, also seiner Vergangenheits- und Zukunftsorientiertheit, sowie in seiner Fähigkeit zur Introspektion und zu reflexivem Denken.« (Eberwein 2012, S. 505) Darüber hinaus sind diese Richtungen auch durch ähnliche philosophische Wurzeln verbunden, durch den gemeinsamen historischen Hintergrund und ihre Ablehnung deterministischer sowie reduktionistischer Erklärungsmodelle in der Psychotherapie (Kriz 2014a, S. 185–192; Stumm 2000). Hier finden sich große Übereinstimmungen der EA mit anderen humanistischen Verfahren wie der Gesprächspsychotherapie, der Gestalttherapie oder dem Psychodrama.

Merke

Die Existenzanalyse ist eine existentielle Richtung der humanistischen Psychotherapie.

Jedoch gibt es auch Unterschiede: Die Akzentuierung der EA liegt mehr auf dem freien Willen, der Entschiedenheit und Weltoffenheit sowie einer dialogischen Abstimmung mit der Welt (Verantwortlichkeit) als es in den humanistischen Verfahren zumeist üblich ist. Damit sieht sie den Menschen – vor dem Hintergrund der unaufhebbaren Eingebundenheit in seine Welt – stärker auf die Welt bezogen als manche andere humanistischen Verfahren. Denn das innere Wachstumspotential, das in der humanistischen Psychologie im Vordergrund steht, ist in der existentiellen Sicht im Hintergrund. Die Aufgabe des Menschen wird darin gesehen, sich für die Aufgaben und Angebote der Welt offen zu halten und auf sie einzugehen, um so zur Wirkung zu kommen – und weniger in der selbstorganisierten Entfaltung von Potentialen (Selbstverwirklichung, Aktualisierungstendenz) (Rogers 1981, S. 65; Kriz 2006a; Revenstorf 2003). Der Dialog und die Begegnung sind in der EA sowohl für das gesunde psychisch-geistige Leben als auch für die Heilung von Störungen die Grundlage. Die Durchführung des Dialogs wird in der EA als gemeinsames Suchen verstanden. Das bedeutet, dass auch die Therapeuten im Verlauf des Gesprächs ihre eigene Sicht und Stimmigkeit den Klienten mitteilen. Da dem dialogischen Basistheorem der EA ( Kap. 3.4) zufolge, der Mensch nicht aus sich heraus ganz ist, braucht er zur Entfaltung seiner selbst den anderen, Begegnung und die Erfahrung der Anderheit bzw. Bestätigung im Dialog.

2.2       Tiefenpsychologisch fundierte Richtungen

Die Tiefenpsychologie fokussiert besonders die Psychodynamik, also jene Triebkräfte und Bedürfnisse, die zum größten Teil ihre Wirkung am Bewusstsein vorbei und daher unbewusst entfalten. Der Psychodynamik wird in der EA nicht jener hohe, gerade durch die Unbewusstheit so dominierende Stellenwert für die Gestaltung der Existenz zugesprochen wie in den tiefenpsychologischen Konzeptionen. Daher wird ihr in der EA nicht systematisch nachgegangen, sondern jeweils nur, wo sie den existentiellen Vollzug behindert. Dann wird die Psychodynamik auch ein bedeutsamer Aspekt der therapeutischen Arbeit (im Unterschied zur Logotherapie, wo sie in die Behandlung nicht integriert wird). Insofern hat die EA auch Parallelen zur Tiefenpsychologie, weil sie psychisch verursachte Dynamiken, die den Menschen hindern sein Leben entsprechend der eigenen Stimmigkeit zu leben, aufgreift. Der Psyche wird ein vitaler Erkenntniswert zugeschrieben, über dessen impliziten Inhalt nicht ohne Folgen hinweggegangen werden kann (Längle 2003b; 2019b). In der Therapie wird »störende« – Leid und Probleme verursachende – Psychodynamik daher als ein Hinweis aufgegriffen, dessen existentiellen Wert es zu erkennen gilt. Ihre lebenserhaltende Kraft soll in der Therapie verstanden werden, sodass man ihrem Verweischarakter grundsätzlich vertrauen kann. Mit diesem Menschenbild ergibt sich in der EA nicht die Notwendigkeit, die Dynamik des Psychischen möglichst immer bewusst zu machen, um sie in das Leben integrieren zu können. In einer phänomenologischen Richtung ist nicht Bewusstheit die Grundlage, sondern die Personalität (Entschiedenheit und Verantwortung in der Stellungnahme auf der Basis der Akzeptanz des Gegebenen und in gespürter Resonanz mit sich).

Als phänomenologische Richtung folgt die EA nicht diesem Paradigma, das in der Nachfolge der Aufklärung dem Bewusstsein den Vorrang gegenüber anderen kognitiven und emotionalen Fähigkeiten zuschreibt (Hegel 1988; Becker 1986, S. 150 f.). Wichtig für die Arbeit in der EA ist, der Psychodynamik mit Offenheit zu begegnen. Jedes Übergehen (oder Verdrängen) wird der Ganzheitlichkeit des Menschen nicht gerecht und bedeutet ein Übergehen wichtiger Information. Psychodynamik, biografische Vergangenheit, archetypische Symbolik decken im Verständnis der EA Lebensrelevantes auf, selbst wenn sie sich in Form von Pathologie bemerkbar machen.

2.3       Verhaltenstherapie