Viktor Frankl - Alfried Längle - E-Book

Viktor Frankl E-Book

Alfried Längle

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Beschreibung

VIKTOR E. FRANKL – Sein Leben. Sein Werk. Seine Wirkung. Viktor Frankl war der Begründer der Logotherapie, der „3. Wiener Richtung der Psychotherapie“. Er überlebte den Holocaust und verneinte die These von der Kollektivschuld. Das Leiden, die Verzweiflung und die Suche nach Sinn – das vor allem waren die Themen der therapeutischen Arbeit, der Vorträge und der Bücher von Viktor Frankl. Sein enger Mitarbeiter, der Arzt, Psychologe und Psychotherapeut Alfried Längle, hat ihn viele Jahre fachlich und persönlich begleitet und hat so den Wissenschaftler, den Psychiater und den Menschen Viktor Frankl aus der Nähe kennengelernt. Er schreibt von seinen Begegnungen mit Frankl und lädt den Leser so mit ein, Viktor Frankl selbst zu begegnen.

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Alfried LängleViktor FranklEine Begegnung

Alfried Längle, geboren 1951, Studium der Medizin und Psychologie in Innsbruck, Rom, Toulouse und Wien. Arzt für Allgemeinmedizin und psychotherapeutische Medizin, klinischer Psychologe, Psychotherapeut, Professor an der Psychologischen Fakultät der HSE Moskau, Dozent an der Psychologischen Fakultät Klagenfurt, mehrere Ehrenprofessuren und Ehrendoktorate ausländischer Universitäten. Er ist Ehren-Präsident und Gründungsmitglied der Internationalen Gesellschaft für Existenzanalyse und Logotherapie (GLE-Int) und führt eine psychotherapeutische Praxis in Wien. 2006 wurde er mit dem Wissenschaftspreis des Landes Vorarlberg und 2011 mit dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich ausgezeichnet. Alfried Längle ist verheiratet und hat vier Kinder.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr,eine Haftung des Autors oder des Verlages ist ausgeschlossen.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitungsowie der Übersetzung, sind vorbehalten.

2. Auflage 2022

Copyright © 2013 Facultas Verlags- und Buchhandels AGDieses Buch erschien in einer früheren Auflage 1998 bei Piper.facultas Verlag, 1050 Wien, Österreich

Umschlagfoto: Regina LängleKorrektorat: Laura Hödl, Wien

Satz und Druck: Facultas Verlags- und Buchhandels AGPrinted in Austria

ISBN 978-3-7089-2163-1

e-ISBN 978-3-99111-470-3

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Die Lebensgeschichte

Die Mutter – Die personifizierte Güte

Der Vater – Die personifizierte Gerechtigkeit

Ein Moment des Nachdenkens

Der soziale Hintergrund

Kindheit und Jugend

Auf der geistigen Suche nach Sinn

Der Nationalsozialismus und die Deportation ins KZ

Das „Leben danach“

Der internationale Durchbruch

Die Person

Viktor Frankl als Person und Persönlichkeit

Frankls Verhältnis zur Emotionalität

Frankl und die Religion

Frankls Verhältnis zur Politik

Das Werk

Was sind Logotherapie und Existenzanalyse? Ein einführender Überblick

Das Menschenbild

Das Anliegen Frankls mit der Logotherapie

Der Einfluss der Persönlichkeitsstruktur und Biografie Frankls auf die Logotherapie

Ausblick

Zur internationalen Rezeption der Logotherapie

Einsatzgebiete und Anwendungsbereiche der Logotherapie

Welche Entwicklungen haben eingesetzt?

Viktor Frankl – Lebensdaten – Lebensereignisse

Anmerkungen

Literatur und Bibliografie Viktor Frankls

Namensregister

Sachregister

Vorwort

Dass ich über Viktor Frankl ein Buch schreibe, liegt nahe und hat eine innere Logik, ohne deshalb schon selbstverständlich zu sein. Es stellt eine natürliche Fortsetzung unserer jahrelangen Beziehung und engen Zusammenarbeit dar. Dennoch habe ich von mir aus den Plan zu einem solchen Projekt nicht mehr gehabt. Ich schrieb nach Frankls Tod im September 1997 einige Nachrufe und glaubte, es bei unserer jahrelangen, aber schließlich getrennten freundschaftlichen Beziehung bewenden lassen zu können.

Kurz darauf rief mich das wissenschaftliche Lektorat des Piper-Verlags an. Man informierte mich darüber, dass der Verlag nach Frankls Tod eine Würdigung seiner Person und seines Werkes herausgeben wollte. Ein solches Porträt fehle im deutschen Sprachraum.

Viktor Frankl als Person und als Persönlichkeit darzustellen war eine Aufgabe, die schon lange fällig war und mit der seine Leistung eine weitere Würdigung erhalten konnte. Lediglich in spanischer Sprache gab es aus dem Jahre 1984 eine Biografie von Guillermo Pareja-Herrera. Frankl selbst hat eine Autobiografie geschrieben und darin aus seinem Leben erzählt. Eine Reflexion seines Lebens und eine Zusammenschau der Biografie mit seinem Werk war schon längst fällig. Da seine Bücher weiterhin große Verbreitung finden, möchten viele auch mehr über Frankl als Person wissen, besonders jetzt, wo wir ihm nicht mehr persönlich begegnen können.

Durch Frankls Ausscheiden aus der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse (Wien) hatten wir in den letzten sechs Jahren seines Lebens kaum mehr Kontakt miteinander. Von 1982 bis 1991 verband uns eine intensive gemeinsame Arbeit und ein persönlicher, freundschaftlicher Umgang. Fast täglich haben wir einander gesprochen oder getroffen. Ich war seine „rechte Hand“, wie er zu sagen pflegte. Meine Beziehung zu ihm hatte natürlich schon viel früher begonnen. Mir war Frankl schon lange aus der Lektüre und vom Besuch seiner Vorlesungen bekannt. – 1991 beendete er diese Zusammenarbeit, weil es Weiterentwicklungen in der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse (GLE) Wien gab, mit denen er nicht einverstanden war bzw. die er nicht als „Logotherapie“ ansehen konnte. Er zog seinen Ehrenvorsitz zurück, um diese Arbeit von seinem Namen getrennt zu halten. Wir werden darauf in einem eigenen Kapitel zu sprechen kommen.

Dieser überraschende Bruch war der Grund, dass ich zunächst nicht mehr die Absicht hatte, mich noch einmal intensiv mit Frankls Persönlichkeit auseinanderzusetzen. Zwar waren mein Schmerz und meine Affekte inzwischen zur Ruhe gekommen, aber meine Enttäuschung war noch spürbar. Außerdem fragte ich mich, ob es Frankl wohl recht wäre, wenn ich ein Buch über ihn schreiben würde? Stand ich ihm nicht zu nahe, um das richtige Maß an Distanz finden zu können? Oder waren wir uns in den sechs Jahren doch zu fern geworden, um seine Person noch gut genug beschreiben zu können? Hatten sich meine Affekte, meine Wut und meine Enttäuschung ausreichend beruhigt, um mir nicht noch einen Streich zu spielen?

Vor über zehn Jahren hat mir Frankl (meines Wissens als Einzigem) ein Manuskript seiner Biografie zur posthumen Verwendung anvertraut. Am Beginn dieses Manuskripts stand, dass jemand auf der Grundlage dieser Information eine Biografie über ihn schreiben möge … – Frankl hat das Manuskript nie zurückverlangt, auch nicht nach unserer Trennung. Dieses Faktum gab mir nun zu denken. Wenngleich er selbst den größten Teil davon 1995 in seiner Autobiografie veröffentlicht hat, so sehe ich darin doch eine Geste, die ich als grundsätzliches Einverständnis von seiner Seite empfand. Als ich dann zu schreiben begann, bekam ich immer mehr das Gefühl, dass es auch in seinem Sinne wäre, wenn ich dieses Porträt versuchte. Gleichzeitig fiel mir auch wieder ein – und ich darf es hier vielleicht auch einmal wiedergeben –, wie oft er mir in den Jahren unserer Zusammenarbeit gesagt hatte, dass er sich von keinem Logotherapeuten so gut verstanden wisse wie von mir. Dies sei nicht nur im persönlichen Gespräch der Fall. Ich würde auch in den Publikationen seine Lehre genau so einbringen und zitieren, wie er selbst es täte.

Also ließ ich mich auf einen Schreibversuch ein. Dabei bemerkte ich bald, dass mir der Abstand der letzten Jahre einen ruhigen und umsichtigeren Blick gab, der dem, was ich zu sagen versuchte, sicher gut tat. Nach dieser Erfahrung und auf der Basis der wieder wach gewordenen Erinnerungen entschied ich mich, dieses Buch zu schreiben. Ich sah darin eine Gelegenheit, mich noch einmal in einer tiefen und persönlichen Form mit Viktor Frankl zu beschäftigen und unsere abgebrochene Beziehung zu Ende zu führen. In dieser Überlegungsphase spürte ich, dass ich unserer jahrelangen engen Freundschaft einen würdigen, uns beiden gemäßen Rahmen geben wollte. Beim Schreiben wurde mir unsere gemeinsame Zeit noch einmal sehr lebendig. Viele Erinnerungen tauchten auf, und die guten Gefühle jener Zeit wurden wieder wach. So ist dieses Buch für mich selbst eine wichtige Arbeit geworden. Diese intensive, monatelange Beschäftigung mit Viktor Frankls Person, seinem Leben und seinen Gedanken sollte noch einmal ein Dank für meinen wichtigsten Lehrer werden. Abgesehen von meiner persönlichen Haltung zu diesem Buch wünsche ich denen, die es lesen, dass auch sie aus Frankls bewegender Biografie viele Anregungen für ihr eigenes Leben mitnehmen können.

Zu danken habe ich vielen, die am Zustandekommen dieser Publikation mitgeholfen haben: meiner Frau Silvia für viele Gespräche und für ihre Begleitung der Niederschrift (Autoren sind „während der Geburt“ oft abwesend und, wenn sie da sind, nicht immer leicht zu haben), meinen Kollegen Lilo Tutsch und Christian Probst für ihre kritische Lektüre, meinem Freund Peter Michael Braunwarth für historische Anregungen und kritische Durchsicht, Dr. Etti Mandl für Einblicke in die jüdische Kultur und in das jüdische Wien und Mag. Karin Steinert für die unermüdliche Niederschrift.

Wien, im April 1998

Alfried Längle

Vorwort zur Neuauflage

Drei Jahre nach dem Erscheinen dieses Buches ist ein weiteres, wichtiges Buch über Frankl auf den Markt gekommen: When Life Calls Out to Us. – The Love and Lifework of Viktor and Elly Frankl (New York: Doubleday 2001). Haddon Klingberg, Jr. hat es auf Anfrage Frankls verfasst. Als Grundlage dienten ihm über 100 Stunden Tonbandaufzeichnungen, die er selbst gemacht hatte. Zu diesem Zwecke reiste Dr. Klingberg über sieben Jahre hinweg wiederholt von Chicago (wo er als Psychologieprofessor lebte) nach Wien, um Frankls Berichte und Erzählungen aufzuzeichnen, viele Orte zu besuchen, Fotos zu machen, und sich so in Frankls Leben einzuarbeiten. Aus diesen englischen Berichten Frankls stellte er sein Buch zusammen. Er verfügte damit über mehr und genuinere Informationen als ich, der ich nie Aufzeichnungen machte (dafür jedoch Frankls deutsche autobiografische Skizze zur Verfügung hatte). Dieses Buch ist daher eine Fundgrube über Details und Erlebnisse aus dem Leben Frankls, erweitert das hier gezeichnete Bild – und mehr noch: schildert auch das Leben seiner Frau Elly. Es ist 2002 im Deuticke/Zsolnay-Verlag in Wien unter dem Titel Das Leben wartet auf dich – Viktor & Elly Frankl auch auf Deutsch erschienen.

Anders das vorliegende Buch. Frankls Leben, Denken, Erinnern und Erleben dient als Anlass, sich mit ihm auseinanderzusetzen, Fragen nachzugehen, seine Antworten, wo möglich, einzuholen. Ich gebe eigene Erfahrungen, Gefühle und Gedanken dazu, Fragen, die mir kommen, Erlebnisse, die ich mit ihm haben durfte, schildere Schwierigkeiten, die ich hatte. Die Leser sind dadurch eingeladen, durch die reiche Biografie Frankls ein Stück weit mitzugehen. Das Buch ist keine Biografie – es soll eine Begegnung mit Viktor Frankl vermitteln, ihn lebendig zeichnen, um ihn als Menschen antreffen und erleben zu können.

Wien, 26. März 2013

Alfried Längle

Einleitung

Dieses Buch erzählt von Viktor Frankl – dem Menschen, dem Zeitzeugen der Geschichte, dem Arzt und dem Wissenschaftler. Es soll aus einem Leben berichten, das von Geborgenheit und Glück, über weite Strecken aber auch von Leid, Spannung und Konflikten geprägt war. Wenn wir Viktor Frankls Lebensgeschichte betrachten, begegnet uns seine Persönlichkeit unter den verschiedensten Gesichtspunkten. Es leuchten Zusammenhänge zwischen seiner Person und seinem Werk auf, und das, wofür Frankl als Mensch steht, wird lebendig. Denn besonders als Mensch und als Persönlichkeit hat Frankl Bedeutung, Popularität, vielleicht sogar Weltruhm erlangt. Er, der dem Tod im Konzentra-tionslager knapp entkommen ist und den Verlust seiner engsten Angehörigen zu betrauern hatte, war besonders legitimiert, authentischer Verkünder eines neuen Zugangs zur Psychotherapie zu sein. So versuchte er, in seinem Lebenswerk eine „Psychotherapie mit menschlichem Antlitz“ (Lukas) zu schaffen, die vor allem vom Ringen um Sinn im Leben handelt – um Hilfe also im Leiden und in der Verzweiflung.

Dieses Buch ist keine Biografie im strengen Sinn mit möglichst umfangreichem Datenmaterial. Dazu hätte es noch genauerer Recherchen und einer lückenlosen Dokumentation von Frankls Leben bedurft. Es verfolgt auch nicht die Absicht, den Einfluss einzelner Wissenschaftler auf Frankls Werk nachzuweisen oder, umgekehrt, die historische Bedeutung seines Werkes auf die Psychotherapie in den einzelnen Ländern aufzuzeigen. Ebensowenig geht es um den geistesgeschichtlichen Zusammenhang oder um jene Quellen, von denen Frankl beeinflusst worden ist, von denen er gelernt und aus denen er mehr oder weniger bewusst geschöpft hat. Dieses Buch ist ein lebendiges und persönliches Buch. Es lebt aus einer jahrelangen Zusammenarbeit und freundschaftlichen Beziehung. Es handelt vom Geist, Leben und Wirken, vom Menschen Viktor Frankl. Seinem Wunsch gemäß versucht es, ihm gerecht zu werden, ohne ihn zu „gurufizieren“ oder zu idealisieren – schätzte er doch stets den „Mut zur offenen Kritik“, wie er in einem Interview (1988) einmal sagte. Bemüht um Wahrhaftigkeit, soll Viktor Frankl als der Mensch gezeichnet werden, als den ich ihn erlebt habe.

Seiner Persönlichkeit und seinem Werk nachzugehen, ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Viktor Frankl hat dieses Jahrhundert fast in seiner ganzen Länge durchlebt. Sein Leben ist darum die Geschichte eines Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts. Sie vermag, uns menschliche und psychische Einblicke in diese bewegte Epoche zu geben. Sie bringt uns einen Menschen nahe, der im Geiste eines tief empfundenen abendländischen Humanismus die Wunden, die ihm diese Zeit geschlagen hatte, zu überwinden versuchte.

Die Geschichte Viktor Frankls steht für die Geschichte der Psychotherapie, die er miterlebt und mitgestaltet hat. Er hat sein Leben einer Disziplin gewidmet, deren Entfaltung mit diesem Jahrhundert zusammenfällt. Sie hat die vielfältigsten Einflüsse auf Geschichte, Kunst, Kultur und das Selbstverständnis des Menschen gehabt.

Dieses Buch handelt insbesondere davon, wie es Frankl gelungen ist, aus den Erfahrungen seines persönlichen Lebens und seiner Tätigkeit als Arzt und Psychiater eine Psychotherapierichtung zu schaffen, die in mancherlei Hinsicht gegen das traditionelle Bild der Psychotherapie stand und steht. Es geht der persönlichen und fachlichen Frage nach, warum Frankl diese Ergänzung zur traditionellen Psychotherapie wichtig war, die er als humanistisches Korrektiv besonders zur damaligen Tiefenpsychologie verstand. Er nahm in ihr manches vorweg, was in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts innerhalb der Tiefenpsychologie und in vielen anderen Psychotherapierichtungen (häufig auch unabhängig von ihm) Verbreitung und Anerkennung gefunden hat.

Frankl war ein Mensch, der in einer modernen, säkularen Zeit mit ihrem Traditionsverlust um sein religiöses Verständnis bemüht war. Er suchte neue Formen und seinen persönlichen Ausdruck dafür. Er versuchte immer seinen Glauben zu leben, aus einer unverbrüchlichen Beziehung zu Gott heraus – eine Beziehung, die nicht nur sein Leben geprägt, sondern auch sein Werk durchstrahlt hat. Als Angehöriger des jüdischen Volkes und der jüdischen Religi-onsgemeinschaft war Frankl während der Zeit des Nationalsozialismus einer besonderen Belastungsprobe ausgesetzt. Er war gezwungen, als Jude und als Angehöriger einer traditionell angefeindeten Minderheit ein neues Selbstverständnis zu suchen, und er fand auch hier seinen ganz persönlichen Weg.

Da diese Schrift so sehr von der Person Frankls handelt, soll es auch um den Menschen gehen, der Witze und Humor so sehr liebte. Seine geistreiche Art, seine Prägnanz und Pointiertheit, die in seinem Werk intensiv aufscheint, soll auch hier wieder auferstehen. Ein wenig kommt sein privates Leben zur Sprache, seine Familie, seine Lebensgewohnheiten, seine Vorlieben und Abneigungen, sein Temperament und seine Vergnügungen und auch seine Ängste. Wo es um psychologische Aspekte der Persönlichkeit Frankls geht, werden diese mit der Methode der Existenzanalyse und mit den Mitteln der Phänomenologie erhellt.

In einem eigenen Abschnitt werden abschließend der Stellenwert der Lehre Frankls in der Psychotherapie, ihr derzeitiger Stand und die Weiterentwicklungen beschrieben.

Dieses Buch soll ein lebendiges und lebensnahes Buch sein. Es möchte dem Leser auch Anregungen für sein eigenes Leben geben. Darum werden die Lehre und das Leben Frankls so dargestellt, dass der Geist, der Frankls Leben und Werk durchzieht, spürbar wird. – So, hoffe ich, wird dieses Buch zu einer Begegnung mit der Person Viktor Frankls führen.

Die Lebensgeschichte

Frankl liebte es, sein Leben als vielseitig verwobene Gestalt zu erzählen. Ein solches Vorgehen ist ganzheitlich angelegt und weist ihn als Existenzphilosophen und Phänomenologen aus, dem es um das Wesen der Dinge geht. Ob er eine Anekdote erzählt, einen Witz, eine Reflexion oder einen belastenden Lebensabschnitt, überall sollen die bewegenden Elemente sichtbar werden. Diese enthüllen sich am besten in der Schilderung des Verlaufs eines Lebens, besser als in der Kartografie aufgezählter historischer Einzelfakten – zeigt doch der Fluss des Lebens die Person im Umgang mit ihrer Realität und dem Schicksal, das sie zu bewältigen hat, besser, weil sich ihre Wesenszüge als durchgängiges, die einzelne Situation überdauerndes Muster vor dem wechselnden Hintergrund der Ereignisse klarer abheben. Darum stellte Frankl sein Leben am liebsten erzählerisch dar. Er hielt sich nicht unbedingt an den chronologischen Ablauf der Ereignisse. Er übersprang große Zeiträume seines Lebens und verband Kindheitserinnerungen mit Erlebnissen aus den reifen Jahren oder mit Alterserfahrungen. Ihm ging es in erster Linie um das Sichtbarmachen der Person und dessen, wie sie denkt, entscheidet, leidet, fühlt und handelt, wie sie war, wuchs, reifte und Stellung bezog.

Unser Vorgehen bewegt sich im Geiste Frankls, wenn wir sein Leben nicht nach Jahreszahlen ordnen und seinen Ablauf nicht chronologisch wiedergeben. Es soll das herausgestellt werden, was sich als Markantes und Charakteristi-sches in seiner Biografie findet. Wir werden den Ereignissen nachgehen und sehen, wie sie sich auf sein Leben, seine Umgebung und sein Werk auswirkten. Es soll nicht noch einmal nacherzählt werden, was Frankl selbst so lebendig und anschaulich in seiner Autobiographischen Skizze (Frankl, 1973/1981) und in seinem letzten Buch: Was nicht in meinen Büchern steht (1995)1 niedergeschrieben hat. Hilfreich für das Verfassen dieser Arbeit war an einigen Stellen auch die erste Biografie über Frankl, die Guillermo Pareja (1984) auf Spanisch verfasste und die viele authentische Erzählungen Frankls enthält. Einige biografische Hinweise stammen aus dem Buch Österreicher, die der Welt gehören2. Besonders hilfreich war das erste Manuskript von Was nicht in meinen Büchern steht, das mir Frankl im Oktober 19853 zur posthumen Verwendung übergeben hatte und das noch einiges unpubliziertes Material und viele nicht redigierte, spontane Gedanken enthält.

Diese Texte dienten als authentisches Datenmaterial, das aber weder biografisch noch historisch einer weiteren Überprüfung unterzogen wurde. Sie wurden ergänzt durch Informationen, Berichte und Erlebnisse, die mir aus anderen Quellen, insbesondere seinen Büchern und Vorträgen, zugänglich waren oder die ich von Frankl selbst bekommen hatte.

Zur besseren Orientierung über Frankls Lebenslauf und zum Nachschlagen ist im Anhang (S. 219–222) ein Überblick über die biografischen Daten und die wichtigsten Lebensabschnitte Frankls zusammengestellt worden.

Die Mutter – Die personifizierte Güte

Frankl beginnt seine beiden Biografien mit widmenden Worten für seine Mutter:

„Meine Mutter stammte aus einem alteingesessenen Prager Patriziergeschlecht – der Prager deutsche Dichter Oskar Wiener (dessen Gestalt in Meyrinks Roman ‚Der Golem‘ verewigt wurde) war ihr Onkel. Ich sah ihn, als er längst erblindet war, im Lager Theresienstadt zugrunde gehen. Zu ergänzen wäre, daß meine Mutter von Raschi, der im 12. Jahrhundert gelebt hat, abstammt, aber auch vom ‚Maharal‘, dem berühmten ‚Hohen Rabbi Löw‘ von Prag. Und zwar wäre ich die 12. Generation nach dem ‚Maharal‘. Das geht alles aus dem Stammbaum hervor, in den Einblick zu nehmen ich einmal Gelegenheit hatte.“ (Frankl, 1995, 1)

Frankl bezeichnete seine Mutter als „einen seelenguten und herzensfrommen Menschen“. In seinem Manuskript hatte er sie ursprünglich umgekehrt als „herzensguten“ und „seelenfrommen“ Menschen beschrieben und diese Formulierung dann handschriftlich abgeändert. Die ursprüngliche Beschreibung „herzensgut und seelenfromm“ ist persönlicher und näher verbunden. Sie nimmt Bezug zu einer Güte, die aus dem Herzen kommt („herzensgut“), das sich im direkten Kontakt mit dem Menschen berühren lässt. Und es beschreibt sie als eine Frau, deren Glaube aus einer frommen Seele strömte („seelenfromm“). So wäre ihr Glaube der „Seele“ zugeschrieben, die ja geistiger ist als das den Leib durchpulsende Herz, aus welchem ihre Güte und ihr Geben stammten.

Da dies die einzige Charakterisierung seiner Mutter ist, stellt sich doch die Frage, warum Frankl sie umgestellt hat. Hat Frankl seine Mutter doch anders erlebt, als er ursprünglich und spontan hingeschrieben hat? Wenn sie die Güte in Person war, so würde die Güte mehr ihrem Wesen entsprechen und wäre Ausdruck ihrer Seele, wie wir es etwa von der Redewendung her kennen: „Sie war eine Seele von Mensch“. Galt das Herz der Mutter doch mehr der Frömmigkeit als den Beziehungen? Oder hat es ihr Sohn in seiner Art und mit seiner Persönlichkeit nur so empfunden? – Wie immer es der kleine Viktor erlebt haben mag, sicher ist, dass Frankl sich seiner Mutter tief verbunden fühlte. Auch im hohen Alter sprach er nur mit warmen Worten von ihr. Seine Stimme wurde weich und er senkte den Kopf ein wenig, wenn er jemandem das Bild seiner Mutter zeigte. Ich habe ihn dabei nie etwas anderes sagen hören als: „Sie war die Güte in Person“. Mir ist aus den Gesprächen der Eindruck geblieben, dass sie eine verständnisvolle, nachgiebige Person gewesen sein muss, die sich der Autorität des (wesentlich älteren) Gatten – wie damals üblich – ganz unterstellt hat, aber nach innen hin der warme und ruhige Pol der Familie war.

Humorvoll meinte Frankl bisweilen, man glaube nicht, dass er als Person auch von seiner Mutter etwas geerbt hätte. Denn auf den ersten Blick würde man ihm seine tiefe Emotionalität nicht ansehen. Tatsächlich kamen seine Gefühle in den persönlichen Kontakten, wie ich sie erlebt habe, viel verhaltener zum Vorschein als etwa in den Patientengesprächen. Die Berührung mit Leid regte sein Mitfühlen an. Das war ganz im Sinne des von ihm sehr geschätzten Philosophen Schopenhauer und seiner „Ethik des Mitleids“. Natürlich gab es auch im privaten Rahmen Gelegenheiten, Situationen und Begegnungen, in denen seine Emotionalität eine Rolle spielte. Doch am liebsten hielt er seine Gefühle in der Intimität. Darum hat er sie in besonderem Maße in Verbindung mit seiner Religiosität gelebt. Sie war bei ihm von derselben Herzlichkeit geprägt wie bei der Mutter. Wenn er von seinem persönlichen Glauben sprach, was sehr selten und auch nur im kleinen, intimen Kreise oder noch eher unter vier Augen geschah, dann bekam seine Stimme dieselbe Weichheit und jenes Timbre, das sie auch hatte, wenn er von seiner Mutter sprach – ein Zeichen tiefer, innerer Berührtheit, die spürbar ängstlich den Schutz der Intimität suchte. – Hätte er diesen Zug an sich selbst auch als „seelenfrommen und herzensguten“ bezeichnet?

Diese erste Beschreibung der Emotionalität Frankls zeigt uns eine versteckte Gefühlsverwandtschaft mit seiner Mutter. Wir werden später in einem eigenen Kapitel auf die Bedeutung der Emotionalität in Frankls Leben eingehen, da diese in seiner Biografie und mehr noch in seinem Werk eine große Bedeutung hatte.

Obwohl das erste Kapitel in Frankls Autobiografie die Überschrift „Die Eltern“ trägt, schreibt er im Grunde nicht viel über seine Mutter. Eigentlich erzählt er mehr von sich, vom berühmten Stammbaum, in dem er steht, von seiner Geburt, die „beinahe im berühmten Café Siller“ (1)* (dem späteren Stammcafé von Alfred Adler) stattgefunden hätte und die mit dem Todestag Beethovens zusammenfällt. Er berichtet von sich als Kleinkind, von seiner emotionalen Verbundenheit zum Elternhaus und zur Mutter. Die Beschreibung der Beziehung zu ihr gipfelt im schmerzlichen Erlebnis ihres lange befürchteten und ängstlich geahnten Verlustes im Konzentrationslager. Nach dem Tod des Vaters, den er in Theresienstadt bis zum Sterben begleiten konnte, hat er es sich zum Prinzip gemacht, „wo immer ich ihr begegnete und wann immer sie von mir Abschied nahm, sie zu küssen, so daß eine Garantie bestand, daß, wenn uns irgendetwas trennen sollte, wir im Guten voneinander gegangen sind“ (ebd.). Aus diesen wenigen Worten spricht eine große Anhänglichkeit an die Mutter. Sie ist gepaart mit einer eigenartig anmutenden Ängstlichkeit, der Liebe der Mutter verlustig gehen zu können, weil sich unbemerkt etwas zwischen sie gestellt haben könnte.

War sich Frankl der Liebe seiner Mutter nicht sicher? – Es besteht aufgrund seiner eigenen Äußerungen kein Zweifel daran, dass die Liebe seiner Mutter dauerhaft, tief, echt und warmherzig war. Frankl hat diese Liebe als einen besonders großen Wert für sein Leben empfunden. – Warum also diese Ängstlichkeit? Warum wollte der bald 40-jährige Mann, der verheiratet war und mit seiner Frau zusammenlebte, noch mehr Sicherheit, ja eigentlich eine Garantie, die er sich durch den stets neu auszutauschenden Abschiedskuss holte? – Wir wissen es nicht. Natürlich kann man sich fragen, ob er von dieser Liebe nicht genug bekommen hatte. Hat er sie deshalb nicht als „herzensgut“, sondern als „seelengut“ bezeichnet? – Oder lag es vielleicht doch nicht so sehr an seiner Mutter als vielmehr an der „bockigen“, eher schwierigen Persönlichkeit des kleinen Viktor, die es ihm verwehrte, die Liebe der Mutter voll zu erleben? Es scheint naheliegend, dass der Sohn in seiner eigenwilligen Art sich öfter „ins Abseits“ brachte, „unnötige“ Spannungen und Konfrontationen aufbaute, denen die Mutter nicht so recht beikommen konnte und denen sie in ihrer Art hilflos gegenüberstand. Dann hätte Viktor eine (von ihm geschaffene) Distanz zu ihr erlebt und sich von ihrer Liebe und Wärme nicht umfangen gefühlt. Resultierte vielleicht daher die Ängstlichkeit, dass sich etwas unbemerkt zwischen sie stellen könnte?

In diese durch seine abwehrenden und unnahbaren Persönlichkeitszüge selbst geschaffene Einsamkeit hinein hat er die anhaltende, liebevolle Wärme seiner Mutter gespürt. Ich könnte mir vorstellen, dass Frankl ihr für die Nachhaltigkeit ihrer Liebe unendlich dankbar gewesen ist. Er war froh, dass diese Sonne einer unbedingten mütterlichen Liebe trotz der Schwierigkeiten, eben „trotzdem“ weiterschien. Hier könnte Frankl in frühesten Jahren den Wert eines Trotzdem erfahren haben, das für ihn in seinem späteren Lebenswerk als „Trotzmacht des Geistes“ und als Sinn „trotz allem“ so maßgeblich wurde.

Für Frankl bedeutete das „Trotzdem“ in erster Linie nicht Krieg, nicht Konflikt, nicht Ablehnung, sondern Schutz, Lebenserhaltung, Bewahrung der Liebe. Sein „Trotzdem“ hatte den Zuschnitt von „und trotzdem, trotz allem, ganz unbedingt und bedingungslos Ja zum Leben sagen“. Bei seiner Mutter hatte er sein solches „Trotzdem“ erfahren und in sich bewahrt – ein warmes, fast hilfloses, aber unergründlich tiefes Aufrechterhalten von Beziehung. Es fiel auf sein eigenes, persönlichkeitsbedingtes, abgrenzendes, trotziges „Trotzdem“, zu dem er anlagebedingt neigte, das aber ohne diese mütterliche Wärme zu kalt, ja unbarmherzig hätte werden können. – So wurde es zum „berühmten Frankl’schen Trotzdem“, wie es heute schon mancherorten genannt wird.

Die Beziehung Frankls zu seiner Mutter ist auch in einem religiösen Zusammenhang zu sehen. Als sich Viktor ahnungsvoll zum voraussichtlich letzten Mal in Theresienstadt von ihr verabschiedete, weil er mit seiner Frau nach Auschwitz deportiert wurde und seine Mutter in Theresienstadt zurückbleiben musste (sie wurde, was damals noch niemand wusste, eine Woche später nach Auschwitz deportiert und kam sofort in die Gaskammer), bat er sie um ihren Segen, den sie ihm auch gleich gab. Oft musste er im Lager an seine Mutter denken. Er wusste nicht, dass sie schon tot war. Aber immer, wenn er an sie dachte, drängte sich ihm „unabweislich die Vorstellung auf, das einzig Angemessene wäre, wie es immer so schön heißt, in die Knie zu sinken und den Saum ihres Kleides zu küssen“ (2). Hier bringt Frankl in bewegender Weise seine Verehrung für die Mutter zum Ausdruck. Die Geste, nämlich den Saum ihres Kleides küssen zu wollen als das einzig ihr Angemessene, überhöht die Beziehung gleichzeitig in religiös-ritueller Weise. Es ist der Ausdruck der Verehrung einer Heiligen.

Diese Aussage hat eine eigenartige Wirkung auf mich. Ich empfinde eine tiefe Berührung bei so viel Verehrung. Sie rührt an die eigene Mutterbeziehung. „Wie wäre das bei mir? Könnte ich auch so von meiner Mutter sprechen? Sollte ich nicht auch so von ihr sprechen können? Wäre ich dann ein dankbarer Sohn (oder eine dankbare Tochter)? Wäre das nicht das Ideal?“ Solche Fragen bedrängen mich und machen mir ein wenig schlechtes Gewissen. Ich bemerke, dass ich nicht so eine verehrungsvolle Beziehung zu meiner Mutter habe. Frage ich mich nun aber nach meiner eigenen Beziehung zur Mutter und danach, wie ich sie gerne hätte, so entdecke ich, dass ich eine nähere Beziehung zu meiner Mutter haben möchte, als Frankl sie hier beschreibt. Ich würde nicht den Saum ihres Kleides küssen wollen, ich würde ihre Wange küssen. Ich würde sie in den Arm nehmen, fest drücken, ihr vielleicht die Hände küssen wollen. Da hätte ich das Gefühl, dass es sich um eine ihr und mir angemessene Ausdrucksweise handelt. Mich vor ihr zu verneigen und den Saum ihres Kleides zu küssen, wäre mir zu idealistisch, zu lebensfern. Sie bekäme für mich einen wie heiligen Charakter, würde Madonna, unberührbar, unnahbar, unantastbar. Eine respektvolle Distanz täte sich zwischen uns auf. Das hieße für mich, dass ich ihrer im Grunde unwürdig bin und dass ihre Liebe zu mir allein von ihrer Gunst und Gnade abhängt.

Die Unterschiedlichkeit im Erleben von Autor und Leser drängt zu der Frage, wie Frankls Geste und Gefühl zu verstehen sind. Ohne Zweifel handelt es sich um einen Ausdruck größter Verehrung. Ist die Geste einem Mann, der „noch unter dem Kaiser“ aufgewachsen ist und der Untergebenheit als naturgegeben und daher ihm angemessen empfinden konnte, von klein auf geläufig und selbstverständlich? Ist Frankl im Sozialverhalten ein Kind des 19. Jahrhunderts, auf die Wahrung der Etikette bedacht? – Ein solcher zeitgebundener Einfluss ist mit Sicherheit gegeben. Frankl wies auch andere Elemente davon auf, z. B. die strikte Einhaltung der Höflichkeitsformen oder die Titulierung von Freunden während einer öffentlichen Diskussion. Gleichzeitig aber war er im rationalen Leben ein Aufklärer, von progressivem, jugendlichem Geist, im linken politischen Lager stehend. Seine Elternbeziehung aber stand in einem (später auch als solchem deklarierten) Traditionalismus.

Diesen wenigen Worten Frankls ist es natürlich schwer zu entnehmen, woraus seine Mutterbeziehung lebte. Ich kann auch nicht einschätzen, inwieweit die sprichwörtliche „jiddische Mame“4 als „beste aller Mütter“ bei Frankl eine Rolle gespielt hat. Die „jiddische Mame“ galt als eine Matriarchin, der der Sohn ein Leben lang untergeordnet bleibt und von der er sich eigentlich nie richtig abnabeln kann (ebd., 11). Die meisten Witze, die auf diese typische Mutter-Sohn-Beziehung anspielen, nehmen diese enge Bindung aufs Korn bzw. das Klagen der Mutter, die dem Sohn den Versuch einer Emanzipation sehr übel nimmt, wo sie doch alles für ihn tue und er mehr Selbstständigkeit nicht brauche. Auffallend bleibt bei Frankl jedenfalls eine Art Überhöhung der Mutter, die ihr den Charakter einer Heiligen zuschrieb.

Stammte diese Überhöhung vielleicht aus der Vereinsamung, der Kälte und der unbeschreiblichen Not des Konzentrationslagers, wo sich Frankl ihrer erinnerte, sich nach ihrer Wärme zurücksehnte und nun erst in der Tiefe zu ermessen vermochte, was sie ihm gegeben und bedeutet hatte? War sie somit Ausdruck einer im Nachhinein ans Schuldhafte reichenden und daher überschäumenden Dankbarkeit, die ihm damals bewusst geworden ist? – Es fällt nicht schwer, sich diese Konstellation vorzustellen, insbesondere wenn man die Umstände des Todes kennt.

Oder war das eine schon vorher gelebte Beziehung der Verehrung, in der stets eine gewisse Distanz vorherrschte, in der die kindlichen Bedürfnisse nach Nähe und Zärtlichkeit unbefriedigt blieben und der Mangel an erlebter und empfundener Nähe auf der geistigen Ebene – eben durch Verehrung, durch das „im Guten miteinander sein“, durch den mütterlichen Segen – eingeholt wurden? Auch dafür spricht einiges: Frankl beginnt über seine Mutter mehr in Form einer Genealogie ihrer Abstammung zu schreiben und bringt kein persönliches oder körperlich nahes Erleben mit ihr zum Ausdruck (außer der ergreifenden Abschiedsszene). Er beschreibt sich selbst als „sekkantes“ Kind, dem die Mutter im Wiegenlied oft vorgesungen hat: „Sei doch schon ruhig, du elendiglicher Kerl“. Im nicht redigierten Manuskript schreibt Frankl, dass die Mutter ihn sogar als „ekelhaften Kerl“ (MS, 2)** bezeichnet hätte und ihm dies später auch so erzählt habe. Hier kann man sich einige Spannungen und mütterliche Aggressionen vorstellen. Auffallend ist auch das Heimweh des erwachsenen Mannes, der schon Facharzt für Neurologie und Psychiatrie war. Wenn ich mich recht erinnere, sagte mir Frankl, dass er bis zu seiner Heirat zunächst jede Woche, dann jeden Monat und schließlich jedes Jahr an seinem Geburtstag noch einmal zu Hause übernachten wollte (1).

Wie dem auch sei, auch die Mutter hing an Frankl. Als sich Viktor in Theresienstadt von ihr verabschiedete, „bat ich sie im letzten Moment: ‚Bitte, gib mir den Segen‘. Und ich werde nie vergessen, wie sie mit einem Schrei, der ganz aus der Tiefe kam und den ich nur als inbrünstig bezeichnen kann, gesagt hat: ‚Ja, ja, ich segne dich‘ – und dann gab sie mir den Segen.“ (2) Sichtlich tief bewegt und erschüttert gab die Mutter dem Wunsch ihres Sohnes nach. Es war ein Aufschrei, ein ganz tiefer, „inbrünstiger“ Aufschrei, mit dem sie Viktor gegenüber zum letzten Mal ihr Muttersein leben konnte. Jedem Häftling in Theresienstadt war bekannt, dass der Abtransport nach Auschwitz so viel wie den Tod bedeutete, denn in Auschwitz waren die Gaskammern, die es in Theresienstadt nicht gab. Frankl wusste während seiner Lagerhaft in Theresienstadt darum. Was er hier beschreibt, ist ein Bild von der Art des „stabat mater“ – die wahr-scheinlich schrecklichste Erfahrung, die eine Mutter durchmachen kann, wenn sie ihr Kind in den Tod gehen sieht. Im ursprünglichen Textentwurf gibt Frankl seinen Eindruck von diesem Schrei der Mutter noch genauer wieder: „Inbrünstig hab ich den Schrei genannt – ich möchte weitergehen: er war tierisch, wie von einem brünstigen Tier.“ Und weiter meinte er, wenn das Wort von einer bestimmten Psychotherapiemethode nicht so strapaziert wäre, würde er sagen, dass es sich um einen „Urschrei“ gehandelt hat.

Diese Ausführungen wurden in der veröffentlichten Ausgabe der Biografie weggelassen. Sie können leicht missverstanden werden und das Bild der Mutter trüben. Es hätten Vorwürfe kommen können: Wie kann jemand den letzten Eindruck von seiner Mutter in einem quasi sakralen Moment in einen solchen Vergleich bringen – ihren Schmerz nicht mehr als menschlich, sondern als brünstig und tierisch bezeichnen? Manch einer könnte meinen, Frankl entweihe damit das Bild und die Person der Mutter. Er zeige sich als herzloser Naturforscher, der nicht einmal vor der Gnade des letzen Augenblicks und der Heiligkeit einer Mutterliebe Halt mache, sondern auch diese Beziehung respektlos wissenschaftlicher Klassifikation opfere. – Solche Kritik würde seiner Person nicht gerecht werden und den Sachverhalt nicht treffen. Es geschah daher zu Recht, dass diese Passage nicht publiziert wurde, weil sie einer Einbettung oder eines Kommentars bedarf.

Frankl hat mir diese Abschiedsszene mit seiner Mutter einmal persönlich unter vier Augen erzählt, etwa mit denselben Worten. Seine Stimme wurde dabei sehr leise, bedeckt, und sie belegte sich, als schämte er sich, es zu sagen. Und doch war eine Bestimmtheit darin, eine Entschlossenheit zur Wahrhaftigkeit, ein Wissen, sich nicht dafür schämen zu müssen. Denn wovon er sprach, das war eben keine Beurteilung, keine Klassifikation, war nicht wissenschaftlich verfremdet und in unpersönlicher Distanz gehalten, sondern ein tiefster, schmerzlich empfundener Eindruck. Die Bewegtheit seiner Mutter war eine Wahrnehmung von ihm, die trotz der verehrenden Beziehung zu ihr und trotz der Tragik der eigenen Situation vor dem Abtransport in den wahrscheinlichen Tod in Auschwitz unvoreingenommen war. So traf ihn dieser Aufschrei mit der ganzen bedrohlichen Wucht, welche die Mutter in dem Augenblick für ihren Sohn empfunden hatte. In diesem Aufschrei spürte er die unbeschreibliche und unfassbare Tiefe der Beziehung einer Mutter zu ihrem Kind, eine Tiefe, die durch das Geistige und Seelische hindurch in der Mutter geradezu verleiblicht und mit ihrem Fleisch verschmolzen war. Der Verlust eines Kindes verletzt eine Mutter in einer Schicht, die noch tiefer ist als das individuelle Unbewusste oder das archetypische gemeinsame Unbewusste, weil es eben in unserem leiblichen und damit auch in jenem physischen Dasein gründet, das wir mit den Tieren gemeinsam haben. Frankl hatte persönlich durchaus einen Sinn und auch Respekt für diese tiefe Verankerung des Menschen in der Natur, auch wenn er sie in seiner Theorie nicht ausgeführt hat (es gibt nur wenige Bemerkungen, die in diese Richtung gehen). So scheute er sich auch nicht, in Diskussionen zu sagen, dass dem Menschen nichts vom Tiere fehle (wenngleich dem Tier all das fehle, was den Menschen ausmache).

Gerade das zeichnet die Person Frankls aus, dass er einen wachen, wachsamen und offenen Geist hatte, mit dem er ungemein scharfe Beobachtungen anstellen konnte und Phänomene manchmal blitzschnell wahrnahm und verstand, die anderen in ihrer Bedeutung noch verschlossen blieben. Natürlich hielt sich auch diese Fähigkeit in menschlichen Grenzen, und es ist mir nie ganz klar geworden, wie gut er sie beispielsweise auf sich selbst anwenden konnte. Hier aber, in dieser ergreifenden Abschiedsszene mit seiner Mutter, zeigt sich die ganze Spannweite der Person Frankls: sein Abschiedsschmerz, seine vielleicht schon idealisierte, jedenfalls geistig überhöhte Mutterbeziehung, sein Versuch, ihre Liebe und seine Beziehung auf einer religiösen Ebene der Vergänglichkeit zu entreißen und ihre Kraft und Wirkung in Form eines Segens mitnehmen zu können. Dabei bewahrte er sich eine beinahe nüchterne Sachlichkeit und Offenheit in der Wahrnehmung, die keiner beschönigenden Sentimentalität zum Opfer fiel.

Ich selbst war tief bewegt, als mir Frankl diese Geschichte erzählte – bewegt von der Situation, die darin geschildert wird, bewegt von diesem Urschrei einer Mutter, bewegt von dem Mut Frankls, sich in dieser Spannweite des Erlebens offen zu zeigen. Etwas unsicher fragte mich Frankl nach der Erzählung, ob ich ihm das glauben könne mit dem Aufschrei eines brünstigen Tieres, unsicher und mit einem Anflug von Scham, nicht wissend, ob so etwas überhaupt kommunizierbar und für andere, die es nicht miterlebt haben, verstehbar ist; zweifelnd, ob diese Kluft zwischen dem tierisch Leidenschaftlichen und dem rein Geistigen durch die Sprache überbrückt werden kann. – Ich konnte es gut verstehen und mitfühlen. Ich wage daher auch, es hier wiederzugeben, zudem legitimiert durch die Absicht Frankls, es für die Publikation im geeigneten Rahmen freizugeben.

Der Vater – Die personifizierte Gerechtigkeit

Frankl glaubte zu Recht, dass er eher nach dem Vater geraten sei (4), der als Persönlichkeit das Gegenteil von seiner Mutter war. War diese die Güte in Person – weich, mitfühlend, warmherzig und herzensfromm –, so schildert er den Vater als spartanisch im Lebensstil, sparsam (aber nicht geizig), mit strengem Pflichtbewusstsein, starren Prinzipien, „ein Prinzipienreiter bis zur Pedanterie, vor allem bis zum Starrsinn“ (MS, 3). Er schätzte an seinem Vater den großen Sinn für Gerechtigkeit, obwohl dessen Gefühle einem breiten Spektrum unterworfen waren und zwischen Stoizismus und Jähzorn pendeln konnten. Einmal zerbrach der Vater einen Spazierstock oder Bergstock an Viktor, als er ihn in einem Anfall von Jähzorn verprügelte.

Am Freitagabend „zwang“ der Vater seine beiden Söhne Walter und Viktor, jeweils ein Gebet auf Hebräisch vorzulesen (3). Da die beiden nie eine Thoraschule besucht hatten und Hebräisch nur zu Hause beim Vater erlernt hatten, war es ihnen nur selten möglich, die Gebete fehlerfrei vorzulesen. Der strenge Vater legte aber großen Wert auf fehlerfreien Vortrag. Um die Söhne zu Bestleistungen zu motivieren, verteilte er klugerweise keine Strafen, sondern versagte ihnen die in Aussicht gestellte Prämie. Die zehn Heller gab es nur, „wenn wir den Text absolut perfekt herunterlesen konnten“ (ebd.). Das kam aber nur ein paarmal im Jahr vor.

Auch der Vater war, so wie die Mutter, sehr religiös. Hob Frankl bei ihr die „herzensfromme“ Haltung ihrer Religiosität hervor, so schilderte er beim Vater die strenge Art, in der sich dieser eng an die rituellen Vorschriften hielt. Er verweigerte z. B. nicht koscheres Essen (bis zum Ersten Weltkrieg) (4), hielt die jüdischen Feiertage aufs Genaueste ein und riskierte lieber eine Disziplinarstrafe, als sich dem Auftrag seines Sektionschefs im Ministerium zu beugen, am höchsten jüdischen Feiertag (Jom Kippur) im Dienst zu erscheinen und zu arbeiten (5) – trotz seines eisernen Pflichtbewusstseins! Der Glaube stand dem Vater am höchsten, gefolgt von seinen Prinzipien.

Dennoch kann die Religiosität des Vaters nicht als orthodox oder als unkritisch bezeichnet werden. Frankl beschreibt seinen Vater als einen kritischen, liberalen „Reformjuden“ (ebd.), der sich seine weltanschauliche Eigenständigkeit offensichtlich zu bewahren verstand und sich gegenüber den menschlichen Einflüssen in der Religion in überlegter Distanz hielt.

Neben seiner Prinzipientreue, seiner Verbundenheit zur religiösen Tradition und seiner intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Judentum war der Vater beseelt von einer tiefen Gottergebenheit. Diese kam in berührender Art und Weise zum Vorschein, als der 80-Jährige beim Marsch nach Theresienstadt jenen Leuten, die der Panik nahe waren, ein paarmal lächelnd sagte: „Immer nur heiter, Gott hilft schon weiter“. Gottergebenheit scheint mir auch in seinem Wahlspruch „Wie Gott will, ich halt’ still“ durchzukommen. Ein Rabbi, der den Vater gut gekannt hatte, attestierte Frankls Mutter nach seinem Tod, dass er ein Gerechter, ein Zaddik, gewesen sei (7) – wohl im Sinne eines gottgefälligen, in der jüdischen Tradition gelebten Lebens zu verstehen.

Im Kontext der Religiosität bekam die „Prinzipienreiterei“ des Vaters ein anderes Gesicht (5). Frankl meinte dann auch, er müsse dieses Urteil einschränken und es als „Prinzipientreue“ auslegen, weil der Vater später nicht mehr so starr an diesen Prinzipien festhielt, sondern offen war für liberale Denkweisen und für ein Reformjudentum. Ebenso unterzog er den am Vater beschriebenen Stoizismus einer Korrektur (ebd.). War die ruhige Gelassenheit seines Vaters durch den Jähzorn über Jahre hinweg eingeengt gewesen, so konnte sie sich dank seiner unerschütterlichen Gottergebenheit im Alter ausweiten. Die zwei markantesten Charakterzüge des Vaters, die Prinzipienstrenge und der Stoizismus, haben sich also nach Auffassung seines Sohnes durch die Religion zum Besseren gewandelt. Dank seiner religiösen Verbundenheit zu Gott konnte der Vater diese Leistung gegenüber seinem „psychischen Schicksal“ vollbringen und zu einem persönlichen „Wachstum“ finden, das ihn „reifen“ ließ. In diesem „über sich hinauswachsen reifte er zu sich heran“, um Frankls Formulierungen im Leidenden Menschen (Frankl, 1990, 326-330) zu verwenden, die an dieser Stelle wohl für seinen Vater passen würden. Dieser Wandel der Persönlichkeit des Vaters scheint mir für Frankl ein Vorbild dafür gewesen zu sein, was eine „Psychotherapie vom Geistigen her“ (Frankl, 1990, 271) – so versteht er die Logotherapie – leisten sollte.

Prinzipientreue und Stoizismus sowie ein Perfektionismus, der bis zur Pedanterie gehen konnte, beschrieb Frankl als seine „charakterologische Herkunft“ (5). Dazu gehörten die Erkenntnislust am großen Zusammenhang sowie die Freude am Detail wie auch das Leiden an den Entbehrungen und Entsagungen durch den hohen Anspruch an sich selbst. In dieser Veranlagung seiner Persönlichkeit sieht Frankl das Geheimnis seines Erfolges. Er hat seine Anlagen zu Prinzipien geistiger Haltung gemacht (13): die kleinsten Dinge mit derselben Gründlichkeit wie die größten (Perfektionismus) und dafür die größten mit derselben Ruhe wie die kleinsten zum frühest möglichen Termin zu verrichten (Stoizismus) und das Unangenehme aus Prinzip vor dem Angenehmen zu erledigen.

Die väterlichen Persönlichkeitseigenschaften Viktors wurden durch die Erziehung noch verstärkt. Wie weit er sich den Vater als Vorbild genommen oder sich von ihm etwa in der Pubertät abgegrenzt hat (soweit das kurz nach dem Ersten Weltkrieg überhaupt möglich war), geht aus den schriftlichen Unterlagen nicht hervor. Die Niederschrift, besonders die Erstfassung, hat jedenfalls einen kritischen Zug. Hier ist ein konfrontativer Geist des Sohnes spürbar, der aber nicht übertrieben wirkt und an keiner Stelle beschuldigend oder verurteilend ist. Frankl zeichnet das Bild eines strengen Mannes, der es dem Sohn nicht leicht machte und viel von ihm forderte. Dabei hat er ihn aber gerecht und anständig behandelt und sich insgeheim über die beruflichen Ambitionen seines Sohnes gefreut (weil dieser seinen eigenen Wunsch, Arzt zu werden, zu realisieren versprach). Die markantesten Konturen des Vaters wurden im Alter gütiger und weicher.

Von einer Idealisierung des Vaters, wie wir es bei der Mutter gesehen haben, kann kaum gesprochen werden, außer vielleicht in der bereits erwähnten Äußerung des Rabbiners (7), der ihn im Trostgespräch bei seiner Mutter als einen „Gerechten“ bezeichnete. Doch schon nimmt Frankl den kleinen Ansatz zur Idealisierung zurück, indem er der großen Äußerung des Rabbiners seinen eigenen kindlichen Eindruck zur Seite stellt und sich erinnert, dass er als Kind doch recht gehabt hätte, wenn er den Vater als gerecht empfunden habe.

Der Vater war für den Sohn eine Autorität, die ihren Willen bei ihm durchzusetzen vermochte (er war bei seiner Geburt auch schon 44 Jahre alt). Er gab der Familie und seiner wesentlich jüngeren Frau klare Richtlinien der Lebensführung und der religiösen Haltung vor. Ein solches väterliches Verhalten entsprach dem Weltbild des heranwachsenden Buben und jungen Mannes – kam es doch auch aus einem Zeitgeist, der von Ergebenheit gegenüber Autoritäten, von Disziplin und Selbstüberwindung, Treue bis in den Tod für Gott und Vaterland geprägt war. Das könnte verständlich machen, dass Viktor für seinen Vater trotz der Ähnlichkeit der Charaktere eine Verehrung empfand, die mehr zu einem Nachstreben als zu einem Auflehnen gegen den Vater führte. Das setzt aber voraus, dass Frankl diese „väterlichen Züge an ihm selbst“ angenommen und mit ihnen zu leben gelernt hat und sie zu seinem Vorteil fruchtbar machen konnte. So musste er sie nicht mehr am Vater bekämpfen, wenn auch manche Härte des väterlichen Verhaltens ihm bis ins Alter schmerzvoll in Erinnerung geblieben sein dürfte. Was davon geblieben ist, war eine eher konfrontative Haltung zum Vater, wie sie in der Autobiografie spürbar wird.

So wie sich mir die Vaterbeziehung darstellt, habe ich Zweifel, ob der Vater in seiner Observanz der Prinzipientreue, des Pflichtbewusstseins und der Fehlerfreiheit die Genialität seines heranwachsenden Sohnes erkannt hat und ob er ihr gewachsen war. Diese eigenständige Begabung drängte den jungen Viktor schon als Gymnasiasten außer Haus. Er besuchte Vorlesungen in der Volkshochschule und setzte sich als Funktionär der sozialistischen Gymnasiasten ein. Dieser Umstand ist für seine intellektuelle Entwicklung insofern wichtig gewesen, als er damals viele interessante Persönlichkeiten kennenlernte, die nach dem Zweiten Weltkrieg z. T. hohe politische Funktionen innehatten. Mit ihnen konnte er „über Gott und die Welt diskutieren“, wie er später sagte. Er fand Gesprächspartner für politische, gesellschaftliche, soziale, psychologische, medizinische, philosophische und theologische Fragen. Besonders viel wurde über die von der damaligen akademischen Welt verpönte Psychoanalyse diskutiert, der ein subversiver und daher für die Jugend besonders interessanter Flair anhaftete. Natürlich wurden diese „umstürzlerischen“ Denkweisen bei der linken Intelligenzija offener aufgenommen und vertreten als bei der rechten. Auf ein offenes Ohr bei seinem Vater dürfte Frankl mit diesen Ideen aber nicht gestoßen sein, falls er überhaupt davon erzählt hat. Ich weiß nicht, ob das mit dem damals vorherrschenden distanzierten Umgang zwischen Eltern und Kindern zusammenhängt (manche Kinder mussten ihre Eltern sogar noch mit „Sie“ ansprechen). Vielleicht war auch der Vater mit seinen Aufgaben und Pflichten so beschäftigt, dass er den Sohn ungestört seinen intellektuellen Werdegang nehmen ließ und sich nicht weiter darum kümmerte. Er konnte ja mit Viktors schulischem Fortgang und Erfolg (Frankl war schon in der Unterstufe Vorzugsschüler) zufrieden sein. Das könnte erklären, dass es nie zu einem Bruch oder zu berichtenswerten Spannungen zwischen den beiden brisanten Temperamenten gekommen ist. Umgekehrt interessierte sich Viktor auch nur wenig für das, womit der Vater beschäftigt war. Selbst als der Vater in der Jugendfürsorge unter Minister Josef Maria von Bärnreither tätig geworden war – ein Bereich, in dem Frankl dann einige Jahre später selbst aktiv wurde –, gab es für den Sohn „nichts Langweiligeres als diese Materie“ (50).

Woher kam also diese Achtung für den Vater? Könnte da eine gewisse Schwierigkeit Frankls eine Rolle spielen, wirkliche Nähe (auch zu engen Angehörigen?) aufzubauen und zu halten, die dann auf einer mehr geistigen Ebene als Achtung, Wertschätzung und Verehrung ihren Ausgleich fand? Ist es diese Eigenschaft der Persönlichkeit Frankls, die ihn im Gegenzug auch für sich selbst Verehrung anstreben ließ? Selbst wenn dies zutreffen sollte, reicht es schwerlich aus, um diese beiden Persönlichkeiten über ihre konfliktnahe Veranlagung hinwegzubringen. Noch viel weniger vermag es zu erklären, dass Frankl während der Nazizeit für die Eltern sein Ausreisevisum verfallen ließ oder dass er seinen Vater so sorgsam bis in den Tod begleitete. Eine solche psychologische Erklärung im Sinne einer Kompensation als alleiniger Grund für die respektvolle Beziehung zum Vater anzugeben, wäre ein Reduktionismus im Sinne des Psychologismus, gegen den Frankl ein Leben lang gekämpft hat. – Neben rein psychologischen Erklärungsversuchen finden sich auch tiefere Gründe für sein Verhalten, die mit dem realen Vater zu tun hatten und nicht Fantasien oder Projektionen einer bedürftigen Seele sind. Diese Unterscheidung zwischen psychischen Ursachen und geistigen Werten hat eine fundamentale Bedeutung für die Existenzanalyse und Logotherapie – auf sie wird in Kapitel III ausführlicher eingegangen.

Es sind mehrere Gründe, die die Beziehung zum Vater tief werden ließen. Da muss man sich an erster Stelle in Erinnerung rufen, dass der Vater ihm und der ganzen Familie „immer Geborgenheit“ gab (4). Es war der Vater, der dem Kind Viktor ein Urerlebnis von Geborgenheit vermittelte, das beispielgebend für sein ganzes Leben war:

„Ich muß fünf Jahre alt gewesen sein, als ich – und ich halte diese Kindheitserinnerung für paradigmatisch – an einem sonnigen Morgen in der Sommerfrische Hainfeld erwachte. Während ich die Augen noch geschlossen hielt, wurde ich von dem unsäglich beglückenden und beseligenden Gefühl durchflutet, geborgen, bewacht und behütet zu sein. Als ich die Augen öffnete, stand mein Vater lächelnd über mich gebeugt.“ (10)

Ein solches archaisches Erleben kann man wohl nie vergessen. Es hat den Knaben durchströmt und war dem Greis noch in lebhafter Erinnerung. Viktor blieb dem Vater darob ein Leben lang dankbar verbunden. Er hat mit seiner phänomenologischen Wachheit, die ihn kennzeichnete, gespürt, dass dieser strenge und gerechte und wahrscheinlich schwer zugängliche Mann ihm vom Herzen her Gutes wollte und Freude an seinem Dasein hatte. Hier strömte auf das Kind etwas ein, das man wahrscheinlich nur als echte väterliche Liebe bezeichnen kann. Das kleine Kind hat dieses Strömen bereits als lebenswärmende Liebe wahrgenommen und empfinden können und sich in seiner Wachheit bewusst gehalten. Immer wieder konnte Viktor sich innerlich darauf beziehen und sich so das Erlebnis lebendig halten. Einen solchen Wärmepol in sich haben und lebendig halten zu können, nimmt viel vom unmittelbaren Angewiesensein auf wärmende Beziehungen.

Eigenartigerweise hat Frankl sich aber gescheut, von „väterlicher Liebe“ zu sprechen bzw. seine Empfindung als solche zu bezeichnen. Das könnte meiner Meinung nach mit drei Gründen zu tun haben: zuerst mit dem Respekt vor dem Vater, der ihm gebot, Distanz und Zurückhaltung zu leben und die Gefühle des Vaters nicht zu beurteilen, zu benennen oder zu interpretieren. Ob dabei auch jüdische Traditionen eine Rolle spielten, weiß ich nicht. Diese Haltung kommt zweitens Frankls eigenen, man muss wohl sagen narzisstischen Zügen der Persönlichkeit entgegen: Er sprach am liebsten von sich selbst. In gewissem Sinne hängt das mit dem ersten Punkt zusammen. Das distanzierende Verhalten der Verehrung nimmt einen näheren Bezug zum anderen erst gar nicht auf; man bleibt daher alleine bei sich zurück. Schließlich findet sich die bereits erwähnte Scheu Frankls, über Gefühle zu sprechen und sie aus der Intimität preiszugeben (mehr über Frankls Verhältnis zur Emotionalität wird auf S. 112 berichtet).

Ein anderer Umstand, der die reale Beziehung zum Vater prägte, war eine tiefe Liebe und Anhänglichkeit für den Vater. Es war im Gespräch mit dem Vater, dass Frankl sich entschied, seine Eltern in der Nazizeit nicht alleine zu lassen, sondern zu ihrem Schutze in Wien zu bleiben. Wir kommen auf diese Schlüsselszene in Frankls Leben später zu sprechen.

Noch deutlicher kommt diese zwar sachlich gelebte, aber von tiefer Verbundenheit getragene Liebe zum Vater in der Szene zum Ausdruck, wo Frankl vom sterbenden Vater im Konzentrationslager in Theresienstadt Abschied nimmt. Der halb verhungerte, 81-jährige Vater hatte zwei Pneumonien durchgemacht und befand sich im terminalen Lungenödem. Im Todeskampf spritzte Frankl ihm eine Ampulle Morphium, die er ins Lager schmuggeln hatte können, um ihm seine Schmerzen und den Kampf zu erleichtern und abzukürzen. Dann fragte er ihn:

„Hast du noch Schmerzen? – Nein – Hast du noch irgendeinen Wunsch? – Nein – Willst du mir noch irgend etwas sagen? – Nein – Dann küßte ich ihn und ging. Ich wußte, daß ich ihn nicht mehr lebend wiedersehen würde. Aber ich hatte das wunderbarste Gefühl, das man sich vorstellen kann: ich hatte das Meinige getan. Ich war der Eltern wegen in Wien geblieben und jetzt hatte ich ihn in den Tod begleitet und ihm unnötige Todesqualen erspart.“ (6)

Was mich selbst in dieser Szene immer wieder berührt, ist zunächst einmal, dass Frankl uns am Abschied von seinem Vater persönlich teilnehmen lässt. Da ist die Tragik so unvermittelt spürbar, dass dieses letzte Beisammensein in der Not und im unmenschlich kalten Milieu des Konzentrationslagers stattfinden musste, wo eine adäquate Hilfe oder auch nur eine minimale medizinische Versorgung nicht möglich war. Es berührt mich, dass Frankl für seinen Vater (unter Gefahr?) eine Ampulle Morphium „organisiert“ hatte, und es berührt mich der glückliche Umstand, dass er Arzt war und es ihm auch selber verabreichen konnte. Besonders bewegt mich, dass Frankl das letzte Gespräch mit seinem Vater im Wortlaut wiedergibt. Damit lässt er uns an einem der intimsten Momente teilhaben, die man mit einem Menschen erleben kann. So nahe zu dem Ereignis zugelassen zu werden und Frankl dabei so persönlich erleben zu dürfen, ist etwas Außergewöhnliches.

Zugleich hat mich diese Szene aber auch persönlich beschäftigt. Frankl bringt sie ja als eine Illustration für etwas ganz Wesentliches, worauf es im Leben ankommt: das Seinige getan zu haben – seine Verantwortung und Verpflichtung gelebt zu haben; der eigenen Entscheidung und dem Auftrag des Lebens treu geblieben zu sein; in etwas anderem aufzugehen, über sich selbst hinauszugehen „im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einer Person“, wie es in der Selbst-Transzendenz, einem Hauptelement der Logotherapie, heißt. Diese „Mission“ erfüllt zu haben, erfüllte Frankl „mit dem wunderbarsten Gefühl, das man sich vorstellen kann“, wie er sagte. Wenn eine solche Einstellung sogar im Konzentrationslager und beim letzten Abschied vom eigenen Vater möglich ist, dann muss diese Lehre Frankls, für die das Beispiel steht, von großem Gewicht für das Leben sein. Und umso mehr kann diese Aufgabe unter gewöhnlichen Lebensumständen zur Erfüllung führen. Mit solchen Gedanken war ich jedesmal befasst, wenn ich diese Geschichte hörte. Ich war berührt von der Tragik der Situation und der persönlichen Nähe, zu der ich mich hingeführt fand. Ich fühlte mich wie ein dritter Anwesender, der dem letzten Lebewohl eines Vaters für seinen Sohn, dem letzten Hilfsdienst und Abschied eines Sohnes für seinen Vater, beiwohnen durfte. Nach ein paar Augenblicken war mir, als ob ich selbst an Frankls Stelle stünde. Wäre ich nicht unsäglich traurig gewesen, fragte ich mich? Hätte es mir nicht das Herz gebrochen, ihn, der ein so tapferes und anständiges Leben geführt hatte, so erbärmlich hier liegen zu sehen und dabei selbst so ohnmächtig zu sein? Ihm nicht einmal ein gutes Bett oder ein Glas Wasser verschaffen zu können? Hätte ich mich so losreißen können, ihn im Sterben allein lassen mögen? Ich fühlte, dass ich bei ihm hätte bleiben mögen, so lange es nur ging.

Ich merkte, wie stark ich schließlich mit mir selbst beschäftigt war, mit meiner Sicht des Lebens und meiner Beziehung zu meinem Vater und zu dessen Tod. Darin lag für mich persönlich das besonders Wertvolle, wenn Frankl sei-nen Abschied vom Vater erzählte.

Hier soll es jedoch um die Person Frankls gehen. Daher wollen wir den Blick wieder auf ihn lenken. Was kommt in dieser Szene und in der Beziehung zum Vater von seiner Person zum Vorschein? Was hat ihn zu seinem Handeln be-wegt? Was stand für ihn im Vordergrund? Wie war seine Beziehung zum Vater?

Frankl schreibt im Grunde wenig von seinem Vater, sondern wiederum mehr von sich, von seiner Aufgabe, vom „Sinnauftrag“ der Situation. „Das Seinige getan zu haben“ überstrahlt das Leid des Verlusts. Obgleich eine liebevolle, persönliche Verbundenheit als durchgängige Schwebung in der Elternbeziehung bemerkbar ist, wird diese Liebe geprägt von einem Pflichtgefühl, vielleicht auch von Anstand und Dank für die eigenen Erzeuger. Alle drei Begriffe – (moralische) Pflicht, Anstand und, seltener zwar, aber doch, Dankbarkeit – waren in Frankls Sprachschatz geläufig, und er hat sie in Gesprächen und Diskussionen gerne verwendet. Auch in der Elternbeziehung scheinen sie mir eine beträchtliche Rolle zu spielen. Dagegen ist die Nähe, die Emotionalität, die Lebendigkeit der Beziehung nicht richtig ausgesprochen, sondern scheint mehr aus dem Verborgenen durch.

Wenn man sich genau an seinen Bericht hält, so war es jedoch nicht allein die persönliche Liebe zu und Verbundenheit mit den Eltern oder speziell zum Vater, die Frankl während der Nazizeit in Wien zurückhielt. Es bedurfte eines besonderen Winks vom Himmel, wie er die Begebenheit stets nannte, der ihn auf die religiöse und menschliche Pflicht der Elternliebe aufmerksam machte. Wäre es allein die Liebe zu den Eltern gewesen, hätte es vielleicht keinen „Wink des Himmels“ für die Entscheidung gebraucht. Natürlich kann man sich sehr leicht vorstellen, wie schwer eine solche Entscheidung einem jungen Menschen fallen musste: die Heimat verlassen, in ein fremdes Land ziehen, dessen Sprache Frankl damals noch nicht einmal beherrschte, eine Primararztstelle aufgeben, als Arzt wieder bei Null anfangen, niemanden in dem fremden Land kennen. Er hätte seine wissenschaftliche Karriere (er hatte ja bereits über Logotherapie zu publizieren begonnen) auf unbestimmte Zeit nicht weiterführen können, und er hätte – wo er doch so an seinem Elternhaus hing – seiner Familie den Deportationsschutz genommen und sie dadurch in Lebensgefahr gebracht. Wenn wir Frankls Bericht genau betrachten, so besagt er, dass die Entscheidung nicht nur aus Liebe zu den Eltern, sondern eher aus einer Mahnung an seine religiösmoralische Elternpflicht gefallen sein dürfte. Dazu kam, dass er schon damals ein Auge auf die hübsche Tilly Grosser geworfen hatte, die als Krankenschwester im selben Spital auf der internen Abteilung arbeitete und die er nach dem Verfall des Visums sehr bald heiratete (63). Doch darauf kommen wir erst noch zu sprechen.

Die Abschiedsszene vom Vater gibt einen wichtigen Hinweis auf die Art der Beziehung zu ihm. Das Verabreichen der Ampulle Morphium erinnert an die Erfüllung einer Arztpflicht. Das darauffolgende Gespräch unterstreicht den Charakter einer ärztlichen Hilfeleistung und ist in der Art eines typischen Arzt-Patienten-Gesprächs gehalten. Kein Wort von einem Händehalten, von Abschiedstränen, von Verweilenwollen, von Schmerz und Trauer, weder von seiner noch von des Vaters Seite. Kein Wort des Dankes, der Liebe, der Rührung. Keine Klagen, dass er die Nacht nicht bei ihm wachen durfte, weil er vielleicht rechtzeitig an seine Schlafstelle in seinem Zimmer (19) musste. Kein Wort des Schmerzes, als er am nächsten Morgen zum Lager des Vaters kam, um nachzuschauen, und es leer vorfand. Es fühlte sich aber noch warm an, wie er mir erzählt hat. – Frankl vermutete, dass der Vater vielleicht noch nicht ganz tot gewesen oder eben erst verstorben war, als ihn das Lagerkommando abtransportieren ließ.

Die Beziehung zum Vater hat einen ähnlichen Charakter, wie wir sie bei der Mutter gefunden haben. Dort erschien ihm das Angemessenste, ihr beim Wiedersehen den Saum des Kleides zu küssen. Hier erfüllt sich die emotionale Beziehung zum Vater im Erweisen eines letzten Dienstes für ihn, wiederum ohne nur das Geringste für sich und für das eigene Gefühlsleben zu beanspruchen. Frankl verwirklicht darin ein Ideal reiner Selbstlosigkeit, die von den eigenen Bedürfnissen absieht und sich ganz „in den Dienst der Sache“, der Aufgabe, des anderen stellt. – Worum ist es Frankl in dieser Situation gegangen? Worauf können wir aus seinem Bericht schließen? (Wobei sich die Frage erhebt, ob Frankl intimste, persönliche Regungen zurückgehalten hat, um „im Dienst an der Sache“ einen allgemeingültigeren, anthropologischen Topos herauszustreichen. Das würde durchaus zu seiner Art passen. Auf der anderen Seite kamen aber auch in den persönlichen Gesprächen, die ich mit ihm hatte, keine anderen Inhalte zum Vorschein). – Der Inhalt des Berichtes zeigt einen Menschen, der in erster Linie um ein reines persönliches Gewissen bemüht ist. Das war das Einzige, was er in der Situation für sich beansprucht hat – und von sich zu verlangen hatte. Nichts forderte er daher von anderen. Als ob es nicht auch um ihn gegangen wäre, als der Vater starb! Hatte Frankl hier einen emotionalen blinden Fleck? Oder handelt es sich um die abgeklärte Größe eines Menschen, der um den letzten Sinn der Existenz in einem Maße Bescheid weiß wie wenige sonst? – Statt des zu erwartenden Leids und der Trauer eines gewöhnlichen Menschen erfüllte es ihn mit dem „wunderbarsten Gefühl, das man sich vorstellen kann“: dass er seine Pflicht erfüllt hatte, dass er alles für den Vater getan hatte, was er hatte tun können. Er musste sich keine Vorwürfe machen oder „gefallen lassen“, wie er zu sagen pflegte, brauchte keine Schuldgefühle zu bekommen, konnte seinem Vater gegenüber ganz unbelastet und guten Gewissens bleiben.5

Ich sehe darin ein traditionelles Pflichtverständnis, das die Generation Frankls bestimmt hat. Vom Einzelnen wurde verlangt, sich zurückzunehmen und sich dem hinzugeben, was die Sache und Aufgabe war, was vielfach mit einem erschwerten Zugang zu sich selbst verbunden war. Das war um die Jahrhundertwende gang und gäbe und auch in den 1920er- und 1930er-Jahren der Tenor in Ost und West, im Kommunismus ebenso wie im bürgerlichen Westen. Hätte die NS-Ideologie sich so verbreiten können, wenn der Gehorsam und das Pflichtbewusstsein nicht so tief im Menschen verankert gewesen wären? Diese Haltung ist auch von den Religionsgemeinschaften gefördert und gefordert worden. Frankl war zu dieser spartanisch-asketischen Disziplin der zu Ende gehenden K.-und-k.-Zeit erzogen worden, die durch die Hungerjahre der 20er- und 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts im verarmten Österreich als Ideal hochgehalten worden war. Der Gedanke der Pflichterfüllung war bis in die 1950er- und 1960er-Jahre hinein geläufig geblieben. Frankl hat den größten Teil seines Lebens in dieser Zeit verbracht. Solche soziokulturellen Einflüsse prägen die Denkweise und das Verhalten, stoßen mitunter auf Persönlichkeitseigenschaften und persönliche Vorlieben, die dadurch verstärkt werden. Es wäre interessant zu wissen, wie Frankl als Kind unserer Zeit zu seiner Emotionalität gestanden hätte und wie seine Elternbeziehung heute aussehen würde.