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Leiden bringt Menschen an Grenzen, bei denen es oft schwierig ist, sich innerlich aufrechthalten zu können. Deshalb steht Leiden in engem Zusammenhang mit den Themen der Lebensbewältigung und der Sinnfrage. Bei aller Unterschiedlichkeit des persönlichen Umgangs mit dem Leiden gibt es Gemeinsamkeiten: Menschen leiden, weil die Bedingungen für ein gutes Leben verloren gegangen sind und Lebensrelevantes zerstört ist – Leiden kann als gefühlter Existenzverlust verstanden werden.Das Buch beleuchtet Leiden aus einer anthropologischen Perspektive und gibt Impulse und Anleitung zur Praxis der Begleitung von Menschen in Krise, Leid und Trauer. Ziel einer existentiellen Begleitung ist das gemeinsame Aufsuchen von Entwicklungs- und Werdenspotentialen, um das Erlittene in einen lebensbejahenden Kontext einzubetten. Darum eignet sich das Buch auch als Verarbeitungshilfe für Betroffene.
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Seitenzahl: 147
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EDITION Leidfaden
Hrsg. von Monika Müller
Die Buchreihe Edition Leidfaden ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen im (semi-)professionellen Umgang mit Trauernden.
Alfried Längle / Dorothee Bürgi
Krise und Leidals existentielle Herausforderung
Mit einem Vorwort von Michael Köhlmeier
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 5 Abbildungen und 9 Tabellen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-647-99761-2
Umschlagabbildung: Armin Staudt-Berlin/photocase.de
© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,
Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/
Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.
www.v-r.de
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenenFällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
Inhalt
Der dunkle Freund – Vorwort von Michael Köhlmeier
Einleitung
Zentrale Gedanken zum Thema
Impuls zum Einstieg in das Thema
1 Grundlagen der existentiellen Begleitung
Vita bona et beata
Sinnfindung
Zustimmung zum Leben
Die Existentielle Praxis
Der Blick auf Lebensrelevantes
Die dialogische Grundhaltung
2 Warum Menschen leiden
Leiden – einen Weg gehen
Formen des Leidens
Zwei Leidensgeschichten
Das Wesen des Leidens
Die Grundbedingungen der Existenz
In der Welt sein können
Das Leben mögen
Selbst-sein-Dürfen
Sinnvoll leben
Leiden – gefühlter Existenzverlust
Leiden und Verzweiflung
3 Die personal-existentiellen Grundmotivationen in der Begleitung
Grundlagen der Leidbewältigung
Modell zur schrittweisen Leidbewältigung
Leiden heißt aushalten und annehmen können
Leiden heißt trauern können
Leiden heißt bereuen können
Leiden heißt sich abstimmen mit dem größeren Zusammenhang
Sinnsuche in der Ausweglosigkeit
4 Hoffen – eine vergessene Kunst?
Hoffnung – die Beziehung zum Leben halten
Beseelt von Hoffnung
Hoffnung nüchtern betrachtet
Hoffnung als Beziehungsthema
Hoffnung in der Untätigkeit
Hoffnung im großen Kontext
Hoffnung und Resilienz
Problem mit der »falschen« Hoffnung
Dum spiro, spero
Fazit
Innerlich bei sich ankommen
Das existentielle Menschenbild
Literatur
Literatur für die Beratungspraxis
Der dunkle Freund – Vorwort
Irgendwann wurde aus der Trauer ein dunkler Freund. Der ist immer da. Ich spüre ihn auch neben Monika, meiner Frau. Er begleitet sie, wenn sie jeden Tag auf den Schlossberg geht. Das tut sie seit fünfundzwanzig Jahren. Und als unsere Tochter Paula von diesem Berg gefallen ist, da hat Monika ihre Wanderung nicht unterbrochen. Nun geht sie jeden Tag unweit der Stelle vorbei, an der das Unglück geschah.
Irgendwann war der dunkle Freund da. Er brachte Linderung. Ich glaube, es war so um ein Jahr nach dem Unfall. Bis dahin konnten wir keine Musik hören. Wir haben immer Musik gehört. Unser Haus riecht gut und immer erklingt in unserem Haus Musik, oft waren es verschiedene Musiken, die Musik von Lorenz, von Oliver, von Undine und die Musik von Paula. Ein Jahr lang war sie uns unerträglich. Es war schwierig, im Sommer durch eine Stadt zu gehen. Da saßen Peruaner in der Fußgängerzone und spielten auf ihren Flöten – es war, als rissen mir die Töne das Herz heraus. Ich musste laufen, laufen, bis ich nichts mehr hörte. In fremden Räumen konnte ich mich nur mit strenger Disziplin aufhalten, ich fürchtete zu ersticken. Viel gehen musste ich, manchmal bis zu sechs Stunden am Tag. Anfangs ertrug ich niemanden neben mir. Monika wollte auch nicht, dass ich mit ihr über den Schlossberg ging, und ich wollte nicht, dass sie mich entlang des Alten Rheins begleitete. Erst wollten wir immer allein sein, dann wollten wir immer zusammen sein. Ich war im Zug auf dem Weg zu einer Lesung, da habe ich beim Veranstalter angerufen und ihm irgendetwas vorgelogen und bin zurück nach Hause gefahren.
Und dann ist der dunkle Freund gekommen. Man darf nicht wünschen, dass sich die Trauer aus dem Leben verflüchtigt. Das denken sich die anderen. Sie meinen es gut und denken, wir wünschen ihnen, dass die Trauer endlich vergeht. Ich wäre unglücklich, wenn mich der dunkle Freund verließe. Und ich weiß, Monika wäre auch unglücklich. Das Trauerleben ist unser Leben und es wird es bleiben bis zum Ende.
Der dunkle Freund hat mir manche Angst genommen. Dass ich sterben werde, ist kein nur theoretischer Gedanke mehr. Mit Erschütterung denke ich an »Die Buddenbrooks«, wo Thomas Mann vom Tod der Patriarchin erzählt, von ihrem letzten neidischen, beinahe bösen Blick auf die Lebenden. Da war eine scharfe Trennung: die einen und die anderen. Entweder du lebst, oder du bist tot. In ihrem letzten Blick war sie eine lebende Tote. Immer dachte ich, dieser Zustand, dieser Seinszustand, muss der entsetzlichste sein. Ich wünschte mir einen plötzlichen Tod. Schon wollte ich schreiben: einen unverhofften Tod. Schreckte zurück: als ob der Tod je ein verhoffter, ein gehoffter sein könnte. Der dunkle Freund sagt: Ja, so ein Tod ist möglich.
Der dunkle Freund nimmt mich manchmal in den Arm, wenn die Erinnerung droht. Er macht die Erinnerung an den unglücklichsten Tag in unsrem Leben nicht blasser, er sagt nur: Denk nicht daran, denke daran, aber denk jetzt nicht daran, denk morgen daran, nur jetzt denk nicht daran. Woran soll ich denken?, frage ich. Denk an deinen Tod, antwortet er. – Das ist ein guter Rat.
Michael Köhlmeier
Einleitung
Zentrale Gedanken zum Thema
Dieses Buch basiert auf den Grundlagen der Existenzanalyse, einer Psychotherapierichtung, die den Menschen in seinem geistigen und emotionalen Erleben unterstützt, zu eigenständigen, freien (authentischen) Stellungnahmen und zu einem eigenverantwortlichen Umgang mit sich und der Welt gelangen zu können (vgl. Längle, 2013b). Die Existenzanalyse hat einen Schwerpunkt in der Anthropologie und in der Frage, wie der Mensch mit seinen Möglichkeiten und Bedingungen in der Welt, in seiner Wirklichkeit, Mensch sein und sein Leben authentisch und wahrhaftig vollziehen kann. Mit diesem Anliegen hat die Existenzanalyse engen Bezug zur Philosophie, einer ihrer Quellen, aus der sie ursprünglich entstanden ist. Kommt sie in der praktischen Begleitung von Menschen in Leid und Krise zum Einsatz, ist sie geleitet von der Frage, wie Menschen (wieder) zu einem erfüllenden Leben kommen können.
Leiden entsteht, wenn der Mensch mit Zerstörung konfrontiert ist. Im Lichte einer existentiellen Erhellung findet sich, dass er dann leidet, wenn ein Wert, oder allgemeiner, wenn die Bedingungen für ein gutes Leben verloren gehen. Leiden und Schmerz stellen das Leben ganz oder teilweise in Frage; sie bedrohen die Liebe zum Leben. Dabei können Menschen nicht nur in unterschiedlicher Art, sondern auch an unzähligen Themen und Inhalten leiden. Leiden ist vielfältig im Wie und im Woran. Das Beleuchten seiner Themen macht das Leiden verständlicher und das Kennen seiner Inhalte schafft einen existentiellen Zugang zum Umgang mit Leid.
Leiden bringt Menschen in Grenzsituationen, in Bereiche des Lebens, in denen es darum geht, sich innerlich aufrecht halten zu können. Deshalb steht Leiden in engem Zusammenhang mit der Sinnfrage. Die existentielle Perspektive lässt den transzendentalen Bezug des Sinns offen und leitet die psychologische Sinnfrage (den existentiellen Sinn) aus der Anthropologie und der Struktur der Existenz ab. So werden die psychologischen Strebungen und Veranlagungen als Hintergrundfolie für die Sinnsuche angesehen: das dem Menschen zutiefst eigene Verstehenwollen seiner Situation und ihrer Entwicklung, die Suche nach den umfassenderen, größeren Zusammenhängen, in denen sein Leben steht, und die Auseinandersetzung mit dem unablässigen Werdenscharakter der Existenz.
In diesem Buch werden neben den theoretischen Grundlagen auch Impulse und Anleitungen zur Praxis der Begleitung von Menschen in Krise, Leid und Trauer vorgestellt. Ziel der existentiellen Begleitung ist das gemeinsame Aufsuchen von Entwicklungs- und Werdenspotentialen und die Einbettung in bzw. das Schaffen von lebensbejahenden Kontexten. So kann aus einem anfänglichen »Trotzdem«, das vor der unmittelbaren Bedrängnis des Leides ersten Schutz und etwas Spielraum verschafft, mitunter selbst im Leid ein »Deshalb« entstehen, ein Integrieren des Leides in den größeren Wert des Lebens. Vertrauen in das Sein, die Beziehung zum Leben, die Treue zu sich selbst und ein Gefühl für den »Sinn des Ganzen« sind die Grundlagen erfüllter Existenz – und bilden so Zugänge für Heilung in einem existentiellen Sinn.
Impuls zum Einstieg in das Thema
Jeder Mensch lebt, lebt sein Leben. Schlecht und recht. Und das hängt sehr damit zusammen, womit er befasst ist in seinem Leben. Wenn wir uns das konkret fragen, existentiell fragen, hieße das zum Beispiel: An was bin ich dran mit meinem Leben? – Aber nicht nur ich befasse mich mit meinem Leben – das Leben beschäftigt auch mich: Womit beschäftigt mich mein Leben? – Aus beidem: Aus dem, womit ich mich befasse und was mir wichtig ist, und aus dem, was mir das Leben vorgibt und mich bedrängt, beglückt, beschenkt, verletzt, ergibt sich die Summe: Was macht mein Leben derzeit aus? Habe ich dazu eine Ahnung, ein Gefühl, ein klares Wissen, eine Stellungnahme?
Michael Köhlmeier hat in seinem Vorwort zu diesem Buch diese beiden Aspekte sehr verdichtet und aus der Lebenserfahrung gezeigt, wie sie in einandergreifen, wie wir in einem ständigen Dialog stehen mit dem, was das Leben uns einerseits gibt und abverlangt, und dem inneren Mit-sich-selbst-Können andererseits, um so unser Leben in eine wirkliche Existenz zu bringen.
1 Grundlagen der existentiellen Begleitung
Vita bona et beata
Vita bona et beata1 ist seit den Anfängen der Philosophie ein Grundthema und stellt uns vor die Fragen: Was ist Leben – wer ist der Mensch – wozu sind wir da – wie soll ich leben, um zu einem guten Leben zu kommen? Selbst uns als vernunftbegabten Wesen und ausgestattet mit den Fähigkeiten, uns über den unmittelbaren Rahmen der Gegebenheiten zu erheben und uns in einen größeren Horizont zu stellen, erschließt sich die Frage nach dem guten Leben nicht von selbst. Wir müssen darüber nachdenken – und selbst wenn es uns gut geht, sind die Rahmenbedingungen für ein solches gutes Leben nicht einfach klar. Umso schwieriger kann sich dieses Nachdenken gestalten, wenn es uns nicht gut geht, wenn wir mit Leid und Verlusten konfrontiert sind, wenn Krisen und Schmerz uns diese Fragen nicht im geschützten Rahmen eines philosophischen Nachdenkens stellen, sondern in unmittelbarer Betroffenheit und im praktischen Lebensbezug: Wozu leben mit diesem Schicksal – was lohnt sich noch nach diesem Verlust – kann aus meinem Leben noch etwas Gutes werden?
In der Tradition der Existenzphilosophie2 (vgl. u. a. Scheler, Jaspers, Heidegger, Merleau-Ponty, Sartre, Arendt, Nietzsche, Kierkegaard) wird das Charakteristikum des Menschseins darin gesehen, dass er als Subjekt eingebettet ist in einer Welt, die ihm das Andere darstellt, das zu einem (zu ihm also) untrennbar gehört. Das ist der Grundgedanke des existentiellen Denkens – Dasein ist geprägt vom dialogischen Wechselverhältnis des Menschen mit »seiner Welt« (Längle, 2008). Was aber, wenn dieses Gefühl des Eingebettetseins durch ein Wegbrechen von Tragendem und Umfassenden verloren geht? Dann drängen sich ihm existentielle Fragen auf: Kann ich nach diesem Verlust überhaupt noch sein – hat mein Leben mit dieser Krankheit noch einen Wert – bin ich mit meinen Verletzungen und meiner Versehrtheit noch ich, ist das noch mein Leben – wo braucht mich dieses Leben noch – braucht es mich überhaupt noch? Mit solchen Fragen sind wir in der Begleitung von Menschen in Krise und Leid konfrontiert: Wie kann Leben wieder gelingen – wie können sich Menschen nach Schicksalsschlägen mit dem Leben wieder versöhnen – kann daraus wieder eine vita bona et beata werden?
Sinnfindung
Viktor Frankl (1905–1997), der Begründer der Logotherapie, hat die Grundlagen für das heutige Verständnis der Existenzanalyse (Längle, 2000a) geschaffen. Frankl als Pionier des existentiellen Denkens in der Psychologie war im damaligen Zeitgeist der Psychoanalyse weniger an der Analyse der Psychodynamik interessiert als mehr an der Analyse des Fluchtpunktes der Existenz – der Analyse der Sinnfindung in der Existenz. Beidem ging er nach, der Theorie, indem er den Schwerpunkt in die Anthropologie setzte, und der Praxis, indem er Wege für die Suche nach Sinn beschrieb: Was ist in diesem Leben, in diesem Kontext lebensrelevant – wie kann ein Leben auch unter leidvollen Umständen zum Gelingen und zur Entfaltung kommen? Wie lassen sich die philosophisch-theoretischen Vorüberlegungen herunterbrechen auf die konkrete Wirklichkeit eines Menschen im Hier und Heute?
Das Problem des Menschen insbesondere im Leiden ist, dass er sein Leiden verstehen will. Darum ist Leiden mit der Sinnfrage verbunden. Man will wissen, spüren, wozu das Leiden gut sein soll. Auch das Leiden ist, wie alles Leben, eingebettet in dem größeren Rahmen der Existenz. Diesen will der Mensch verstehen. Er will erkennen, worum es geht (Frankl, 1983). Frankl hatte erfahren, dass Sinn nicht nur Lebensqualität, sondern Über-Lebensqualität hat (Frankl, 1946). Er verwies gern auf Nietzsche in diesem Zusammenhang, der einmal sagte (in Frankls Formulierung, 1983): »Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie.« Nietzsche weist damit genau auf das hin, was auch für Frankl theoretisch und in der Extremsituation des Konzentrationslagers praktisch wichtig war: Ohne Sinn kann der Mensch die schwierigen Situationen des Lebens nicht aushalten. In der Tiefe geht es dabei darum, die Beziehung zum Leben in den schweren Umständen zu halten. Das ist tiefer Sinn – dem Leben treu zu bleiben, seine Tiefe zu spüren und sich selbst darin entschieden einzurichten.
Auf dieser Basis kann dann auch in der Welt »draußen« etwas möglich werden, von dem man vorher nichts geahnt hat. Der Mensch soll die leidvollen Situationen nicht einfach passiv hinnehmen, sondern sie als Gelegenheit sehen, an ihnen trotz allen Leidens zu wachsen, zu reifen und das Menschenmögliche tun. Das ist oft nicht mehr und nicht weniger, als diese Haltung zum Leben zu leben und das Schicksal zu tragen, es auf sich zu nehmen in der tiefen Verbundenheit mit dem Wert des Lebens selbst (Längle, 2007). Diese Fähigkeit des Menschen, einem Schicksal, einem Leiden, einem Schmerz haltungsmäßig etwas entgegenzustellen, ist die Grundlage für das Opponierenkönnen des Menschen, was nach Scheler (2008) das spezifisch Menschliche kennzeichnet und bei Frankl (1990) zur Formulierung der »Trotzmacht des Geistes« führt.
Zustimmung zum Leben
Auch wenn die Fähigkeit zum »Trotzdem« und Frankls Grundlagen zur Sinnfindung im psychologisch-psychotherapeutischen Kontext nach wie vor bedeutsam sind3, stehen die Inhalte dieses Buches in der Linie der Weiterentwicklung der Existenzanalyse. Die moderne Existenzanalyse geht von einem integrativen Blick auf das Leben aus. Im Vordergrund steht nicht das »Trotzdem«, die Abgrenzung, sondern das »Ja« zum Leben, die Zustimmung, das Sicheinlassen. Das hat große praktische Folgen, etwa wenn man mit einem Schicksal ringt: Wie kann es gelingen mit der Diagnose, mit dem Verlust, mit dem Defizit zu leben? Wie gelangt der Mensch unter solchen Bedingungen zu einer inneren Zustimmung zu seinem Leben? Darin besteht der Kern der heutigen Existenzanalyse: Wie kommen Menschen zu einem beziehungsvollen, die unterschiedlichen Kräfte integrierenden Zusammenleben, zu einem Umgang mit sich und den Umständen, in denen sie sich befinden? Gleichsam im Gegensatz zu Max Schelers Bezeichnung des Geistes als »Nein-Sager« wird hier der menschliche Geist, die Tiefe der Person, als Ja-Sager angesehen. Will der Mensch sein Leben »zu seinem« machen, ist eine persönliche Zustimmung, ein gefühltes inneres Ja unerlässlich (Längle, 2008).
Die Beziehung zwischen Logotherapie und Existenzanalyse
Diese paradigmatische Weiterentwicklung der Logotherapie führte zu einer anderen Bezeichnung und zum heutigen Verständnis der Existenzanalyse: Logotherapie ist weiterhin die Bezeichnung für die Sinnthematik und das »Trotzdem ja zum Leben«. Existenzanalyse fokussiert auf das »Ja zum Leben«. Wo immer es möglich ist, soll eine Zustimmung zum Leben versucht werden; manchmal ist die Distanznahme, das »Trotzdem« wichtig, weil man nur mit Abgrenzung überleben kann. Doch soll dies möglichst die Ausnahme sein und die Bejahung und Integration des Erlebten im Vordergrund stehen.
Daher kann man sagen: Das Ziel der Logotherapie ist die Sinnfindung; das Ziel der Existenzanalyse ist breiter gefasst: Es ist die Erfüllung im Leben. Bei Erfüllung spielt Sinn eine Rolle, aber nicht die einzige. Erfüllt ist der Mensch, wenn er den Bedingungen der Existenz zustimmen kann. Dieses Ja, die innere Zustimmung zum Leben, steht in der Existenzanalyse in einem vierfachen Horizont (Längle, 2008):
1.die Zustimmung zur Welt und ihren Bedingungen,
2.die Zustimmung zum Leben,
3.die Zustimmung zum eigenen So-Sein (zur Person),
4.die Zustimmung zum Werden (zu Veränderung, Tat und Sinn).
»Zustimmung ist ein Akt der Bejahung von Leben« (Längle, 2008, S. 106). Sie soll jedoch nicht verwechselt werden mit einem logisch abgeleiteten, aus Vernunftsgründen gegebenen Ja. Um zu einem empfundenen, gefühlten Ja zu gelangen, das stimmig mit der Person und der Situation ist, spielt die Emotionalität eine wichtige Rolle. Denn was existentiell bedeutsam ist, muss auch emotional erfasst und im persönlichen Lebensentwurf eingewoben sein (Längle, 2003).
In der Existenzanalyse wird vor allem phänomenologisch gearbeitet, das heißt, sein eigenes Erleben wird als Quelle der Erkenntnis genommen, ohne es mit Fremdwissen (Diagnosen, Theorien, Erfahrungen) zu vermengen. Ausgangspunkt ist der Mensch selbst und das ihn persönlich betreffende Thema – ein Leiden, eine Krise, eine Schwäche, ein belastendes Ereignis. Es interessiert, wie es ihn betrifft, wie er damit umgeht, was ihn belastet, was er kann. Der Blick wird also auf den Menschen »in seiner Welt« gelenkt: Wer ist dieser Mensch in seinen Bezügen? Wie erlebt er die Situation? Erst zu einem späteren Zeitpunkt des Gesprächs, nach der primär phänomenologischen Vorgangsweise, werden im Bedarfsfall in der existentiellen Begleitung Erklärungen versucht und angeboten oder Wissen durch den Begleiter4 vermittelt. Zunächst aber geht es nur um das Verstehen der Situation und das Erhellen des subjektiven, persönlichen Erlebens im Rahmen der Bedingungen, unter denen dieser Mensch steht. Es interessiert: Wie kann dieses Leben unter den aktuellen Umständen gelebt werden – welche Existenzmöglichkeiten stehen dem Leidenden offen, welche sind verschüttet – in welchen Lebensbereichen ist eine Zustimmung möglich – wo ist sie aktuell nicht möglich? Dieser erlebnis- und beziehungsoffene Zugang integriert – im Unterschied zu Frankls eher rationaler Betonung des Sinnverständnisses (er arbeitete vor allem mit Argumenten) – die ganze Person in all ihren Existenzbezügen.
In knapper Form könnte man sagen: Die Logotherapie ist sinnzentriert, die Existenzanalyse ist personzentriert.
Vier Leidensgeschichten