Extrameter - Thomas Fleischmann - E-Book

Extrameter E-Book

Thomas Fleischmann

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Beschreibung

Ein Sportmoderator und seine Extrameter: Nach unzähligen Fußballanalysen und Interviews mit Stars wie Beckenbauer, Hoeneß oder Matthäus bricht eThomas Fleischmann auf zu seinem größten Abenteuer - 800 Kilometer auf dem Jakobsweg! Die Erlebnisse dieser Reise bringen ihn zurück an emotionale, kuriose aber auch dramatische Stationen. Vom Solisten eines Knabenchors, der auf den großen Bühnen stand und sogar für die Queen sang, bis zu seinem Aufsehen erregenden Outing live im Fernsehen bei Sky Sport. Er gibt verborgene Geschichten und private Gedanken preis, lässt teilhaben an der Faszination Sport und Medien und zeigt, wie er auch außerhalb des TV-Studios zu dem Menschen wurde, der er heute ist. Ausbrechen aus dem Alltag, Schmerzgrenzen überwinden und ganz nebenbei entdecken, was wirklich zählt im Leben. Seine Botschaft für uns alle: mehr Mut zum Extrameter!

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Thomas Fleischmann, geboren 1981, ist seit 2011 eines der prägenden Gesichter des Sportnachrichtensenders Sky Sport News. Die große Bühne lernte er schon früh in seiner Jugend als Solist beim bekannten Windsbacher Knabenchor kennen. Nach dem Abitur gelang ihm schnell der Sprung vom Konzertsaal ins Fernsehen, wo er zunächst als Moderator und Reporter für das RTL-Lokalfenster in Nürnberg und später für Sport1 und den Telekom-Sender Liga total arbeitete. Thomas Fleischmann lebt und arbeitet in München.

Für Mama und Papa, Marion und Markus

Du großer Weg!

Tausendfach begangen,

Und so geheimnisvoll.

Eroberst mein Verlangen.

Was ich nur machen soll?

Machst dich breit,

in meinen Träumen,

Und bleibst doch verborgen.

Entdeckt, geschafft.

Denk ich an dich,

Vergess’ ich Mühen und Sorgen.

Januar 2020

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

DIE FRAGE

MEIN WEG ZUM WEG

AUFBRUCH

SAINT-JEAN-PIED-DEPORT – RONCESVALLES

RONCESVALLES – ZUBIRI

ZUBIRI – PAMPLONA

PAMPLONA – CIRAUQUI

CIRAUQUI – VILLAMAYOR DE MONJARDÍN

VILLAMAYOR DE MONJARDÍN – LOGROÑO

LOGROÑO – NÁJERA

NÁJERA – SANTO DOMINGO DE LA CALZADA

SANTO DOMINGO DE LA CALZADA – BELORADO

BELORADO – BURGOS

BURGOS – RABÉ DE LAS CALZADAS

RABÉ DE LAS CALZADAS – HONTANAS

HONTANAS – ITERO DE LA VEGA

ITERO DE LA VEGA – CARRIÓN DE LOS CONDES

CARRIÓN DE LOS CONDES – LEÓN

LEÓN – SAN MARTÍN DEL CAMINO

SAN MARTÍN DEL CAMINO – ASTORGA

ASTORGA – RABANAL

RABANAL – CRUZ DE FERRO – EL ACEBO

EL ACEBO – PONFERRADA

PONFERRADA – VILLAFRANCA DEL BIERZO

VILLAFRANCA DEL BIERZO – LAS HERRERÍAS

LAS HERRERÍAS – O CEBREIRO – FONFRÍA

FONFRÍA – TRIACASTELA – SAMOS

SAMOS – BARBADELO

BARBADELO – PORTOMARÍN

PORTOMARÍN – PALAS DE REI

PALAS DE REI – ARZÚA

ARZÚA – O PEDROUZO

O PEDROUZO – SANTIAGO DE COMPOSTELA

ANGEKOMMEN

ABSCHIED

ZURÜCK IM JETZT

PROLOG

Oha! Sagt der Bayer, wenn er überrumpelt wird von einer Situation und erstmal Zeit gewinnen möchte für weiterführende, messerscharfe Einordnungen und Analysen. Das braucht einen Moment.

Oha. Sagt auch der Franke, wie ich einer bin, wenn er kleinere Überraschungen im Alltag möglichst kurz und knapp ausdrücken und kommentieren möchte. Positiv wie negativ.

Oha. Das war also auch meine Reaktion auf diese besonderen Zeilen zum Einstieg hier vorne auf der ersten Seite.

Ein Gedicht? Im Ernst?

Ob das wirklich als Gedicht durchgeht, sollten lieber andere beurteilen. Literaturexperten vielleicht, also Menschen, die sich damit auskennen. Und damit meine ich nicht diese sogenannten »Experten«, die solche Textformen früher in der Schule schon aus großer Entfernung riechen konnten und am liebsten schon im Treppenhaus wieder umgedreht wären. Jene Experten eben, die der vom Schulsystem erzwungenen Erarbeitung dieser besonderen Kunstform, sagen wir, eher kritisch gegenüberstanden, sie vielmehr strikt ablehnten, um nicht zu sagen verabscheuten. Vom anschließenden Auswendiglernen zuhause im stillen Kämmerlein ganz zu schweigen. Im schlimmsten Fall mit dem benoteten Vortrag vor versammelter Klasse vor Augen, irgendwann am nächsten Mittwoch um acht Uhr morgens noch im Halbschlaf gleich in der ersten Stunde. So lange das bei mir auch mittlerweile in der Vergangenheit liegt, so prägend waren diese Erlebnisse. Letztendlich ist es an dieser Stelle aber auch ganz egal, ob Gedicht oder nicht. Diese Frage ist wirklich nicht wichtig. Wir könnten uns nämlich ganz einfach auf den Begriff Gedanken einigen. Gedanken eines Menschen, der – zumindest nach eigener Einschätzung – meist recht aufgeräumt und klar bei Sinnen durchs Leben geht. Und dann plötzlich diese Zeilen.

Meine Gedanken.

Fakt ist: Diese speziellen Zeilen sind mir einige Monate nach meiner Ankunft in Santiago de Compostela eingefallen. Da war nichts geplant, es kam einfach und vor allem urplötzlich. Ich saß nicht am Schreibtisch vor dem berühmten leeren Blatt Papier und wartete, dass mir hoffentlich was Spannendes über die Lippen kommen möge. Auch hatte ich nicht explizit vor, dem Land der Dichter und Denker eine weitere glanzvolle Literaturepoche hinzuzufügen: Goethe, Schiller, Fleischmann. Absurd. Ja, ich wusste schon immer, dass ich kreativ bin.

Aber gleich so kreativ?

Diese Zeilen also schossen mir einfach in den Kopf, in den Sinn, und von dort direkt in die Finger. Und spätestens als es ganz vorne in den Spitzen zu kribbeln begann, mussten sie raus.

Sofort.

Es war auch tatsächlich nicht das Blatt Papier, es war ganz zeitgemäß der Laptop, der die Buchstaben aufnehmen musste. Es ging erst wild durcheinander mit den Worten, später dann war es der Versuch, diese scheinbar willkürlichen Wortfetzen in eine ordentliche und einigermaßen sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Eine ganz neue, sehr spannende Herausforderung für mich. Das Eine kam zum Anderen, vieles passte schnell zusammen. Und es entwickelte sich ein großer Spaß, auch mal außerhalb meines Jobs im TV-Studio an Worten und Formulierungen zu feilen, mit ihnen zu spielen, zu jonglieren, an Details und Feinheiten zu arbeiten. Dieser ganze Prozess wurde auf einmal immer einfacher, verselbständigte sich.

Läuft eben manchmal.

Wie im Sport, den ich als Journalist ansonsten Tag für Tag kommentieren und analysieren darf. Auch dort läuft es manchmal genauso. Und oft sind auch hier Ergebnisse und Zusammenhänge nicht wirklich zu erklären. Wir versuchen es trotzdem jedes Mal. Das ist dieser Job, den ich mache und liebe.

Ich hoffe, dass es mir in diesem Fall einigermaßen verständlich gelungen ist, meine sehr speziellen Gedanken für den Allgemeinverzehr der breiten Öffentlichkeit zu sortieren. Wenn Ihnen das vorliegende Ergebnis nicht gefällt, seien Sie bitte nicht so streng mit mir! Vor Ihnen liegt schließlich kein Gedichtband, sondern lediglich ein Erlebnisbericht meiner vier spannenden Wochen auf dem Jakobsweg. Ein Protokoll meiner Gedanken, die dieser weltberühmte und gleichzeitig mystische Pilgerweg bei mir freigelegt hat. Gedanken, die mich überraschten, stutzig und neugierig machten, die mich wie in einer Zeitmaschine an die unterschiedlichsten Punkte meines Lebens zurückkatapultiert haben. An entscheidende und weniger entscheidende Wegmarken. An gute und weniger gute Stationen. An schöne, lustige oder teils auch dramatische Erlebnisse.

Viele Gedanken.

Gedanken, von denen ich mich von Anfang an habe treiben lassen, die sich von Zeit zu Zeit noch formen mussten, die später etwas Mut brauchten, um dann auch in die Tat umgesetzt zu werden. Ein spannender und jahrelanger Prozess. Ein Traum, der langsam und ungestört reifen konnte, wie der weltberühmte Wein an den sonnigen Hängen meiner fränkischen Heimat. Ein Traum, der immer konkreter wurde, mich irgendwann extrem faszinierte, nicht mehr losließ. Intensive Auseinandersetzung, dann Planung, innerlicher Aufbruch. Insgesamt womöglich Millionen Gedanken, die mich regelrecht dazu gezwungen haben, all das hier für mich und für andere aufzuschreiben.

Weniger über meine kreativen Zeilen eingangs, die in unaufhaltsamen Wellenbewegungen einfach so aus mir rausschwappten, als vielmehr über den Zeitpunkt, die Plötzlichkeit, war ich im Rückblick selbst am meisten überrascht. Für mich sind diese Worte, Sätze und Geschichten aber nicht nur eine Überraschung, sondern gleichzeitig der bestmögliche Beweis dafür, dass mich dieses kleine Abenteuer fernab meines gewohnten und getakteten Alltags inspiriert hat, geprägt hat und tatsächlich bis heute nicht mehr loslässt.

Du großer Weg! Wie nur hast du das geschafft?

Dieser spannenden Frage wollte ich mit diesem Buch, das Sie in den Händen halten, auf den Grund gehen. Begleiten Sie mich!

Was machst du mit mir? Frage ich, Jeden Meter mehr.

DIE FRAGE

Wie kommst du denn auf die Idee?« Betonung auf dem Wort »die« natürlich – unterstrichen, Ausrufezeichen. Damit mir vom Fragestellenden auch dessen ganz besondere Verwunderung entgegenschlug.

Berechtigte Frage.

Nicht einmal, nicht zweimal, sondern ganz oft gehört. Immer wieder.

Schwierige Frage.

Oder um es in gewiefter Fußballersprache mit dem ehemaligen Bayern- und Bundestrainer Hansi Flick zu sagen: »Nächste Frage!« Das war seine fein säuberlich zurechtgelegte, schmallippige Reaktion auf die ungeklärte Zukunft. Damals, am Höhepunkt seiner Trainerkarriere. Es war das Jahr nach dem phänomenalen und einzigartigen »Sextuple« des FC Bayern München, also den sechs gewonnenen Titeln einer einzigen Saison. Was für ein Phänomen diese Mannschaft war, was für eine Leistung sie innerhalb eines Jahres vollbracht hatte – Triumphator in allen Wettbewerben zu sein: Meisterschaft in der Bundesliga, Sieger im DFB-Pokal, in der Champions League, im deutschen und europäischen Supercup, sowie bei der FIFA-Klub-Weltmeisterschaft. Ein bemerkenswertes Novum für eine deutsche Fußballmannschaft. Doch dem Ruhm folgte schnell die Ernüchterung. In der nachfolgenden Spielzeit waren die historischen Erfolge schon fast wieder vergessen. Hausinterne Querelen wurden laut. Öffentlich ausgetragen. Immer deutlicher traten im Bayern-Kosmos Meinungsverschiedenheiten zwischen Flick und dem damaligen Sportvorstand Hasan Salihamidžić an die Öffentlichkeit, von den Medien dankend und händereibend angenommen und breit ausgeschlachtet. Nach andauernden Uneinigkeiten rund um Spielerverpflichtungen hatten sich die beiden Alphatiere in Diensten des größten deutschen Klubs offenbar immer wieder in die Haare bekommen und den Streit darüber auch mit großen Verbalgeschützen in den öffentlichen Raum verlagert und durch immer neue Statements laufend frisch befeuert. Ein Zustand, der die Zusammenarbeit vorzeitig ans Ende bringen musste. Es ging gar nicht anders. Da musste keiner von uns journalistischen Beobachtern hellseherische Fähigkeiten besitzen. Die schnelle Trennung zum Ende der Saison 2020/21 war demnach das Natürlichste der Sportwelt. Und diese Welt kenne ich mittlerweile ziemlich gut, nach über 20 Jahren, in denen ich diesen Zirkus in unterschiedlichen Positionen schon begleiten darf. Dieser Bruch war verständlich und einleuchtend für diejenigen, die sich intensiv mit der sehr speziellen Materie Profisport und insbesondere Profifußball beschäftigen. Weniger allerdings für Außenstehende, die meist auf viele Details aus dem Innenleben der Klubs verzichten müssen, weil wir Journalisten längst nicht alles, was wir wissen, auch in die Welt hinausposaunen. Weil wir es nicht können und nicht dürfen. Teils um unsere Quellen, manchmal auch um uns selbst zu schützen. Oder sogar, um die Betroffenen nicht zu verärgern, von denen wir im besten Fall mal wieder exklusive Infos erhalten möchten. Ein Geben und Nehmen, wie so oft im Leben. Und so werden vor allem viele Fans der Bayern niemals verstehen können, warum dieser sonst so souverän breitbeinig auftretende Klub mit dem satzungsmäßigen Selbstverständnis diesen großartigen Trainer damals so dermaßen vergraulen konnte.

Was Flick also in diesen Tagen besonders wortkarg antwortete, das wäre auch eine gute Reaktion für mich gewesen auf diese eine Frage. Ich wollte zwar, aber ich konnte – im Gegensatz zum erfolgreichen Coach in München – nicht glaubhaft erklären, was mich auf den Jakobsweg gebracht hatte. Ich weiß es noch heute nicht, wo es mich genau gekitzelt hatte. Und ich kann durchaus verstehen, wenn das viele, die sich vielleicht mit einem ähnlichen Vorhaben herumschlagen, erst mal enttäuscht zurücklässt. Irgendwann jedenfalls war der Gedanke da, tief in mir drin. Und aus dem Gedanken wurde Verlangen, dieses alltagsferne Projekt tatsächlich anzugehen, einfach mal loszulassen und loszulaufen, das ferne Ziel Santiago de Compostela, Galizien, Spanien ins menschliche Navigationssystem einzutippen. Von diesem Punkt an zog es mich regelrecht hin, zum sagenumwobenen Pilger-Klassiker unter den Caminos, den sogenannten Camino Frances, also den »Französischen Weg«. Wenn schon, denn schon. Was anderes reizte mich nie. Und so ist es bis heute.

Der Klassiker also.

Wie Bayern gegen Dortmund, das größte Spiel im deutschen Fußball. Oder Hamburg gegen Bremen, das Nordderby, das jämmerlich auseinandergerissen wurde, als der große HSV nach Jahren des Niedergangs in die Zweite Liga abstürzte. Mit mehrmaliger Ansage und sehenden Auges aufgrund fundamentaler Fehlentscheidungen von Management und Trainern, bei gleichzeitiger und dauerhafter Nicht-Leistung vieler hoch bezahlter Profis auf dem Platz. Zwischenzeitlich war auch Werder Zweitligist und das »Duo Infernale« des norddeutschen Fußballsports wieder in einer Liga vereint – und bereit, sich eine Etage weiter unten gegenseitig die Bälle vom Fuß zu grätschen. Sie merken, es brodelt sofort in mir, wenn ich an diese besonderen Vergleiche denke. Viele Erinnerungen daraus folgen mir durch das ganze Leben. Das geht Millionen Fans genauso wie uns Sportjournalisten. Stichworte fallen – und schon schießen die Bilder in den Kopf, sind Szenen exakt vor dem Auge, als wären sie erst gestern passiert, dabei liegen sie teils Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurück. Der Kopf eines Sportfanatikers tickt eigenartig, aber er tickt. Exakt und verlässlich. Und vielleicht war auch genau diese Tatsache der Ansatz für meine Aufbruchstimmung. Das Ziel, diesem faszinierenden, aber thematisch oft monotonen Berufsalltag für einige Zeit entfliehen zu können. Sich freischwimmen, losziehen. Am besten ganz ohne den Kopf des Journalisten! Nichts hören von all dem! Keine Vergleiche von Klubs oder Spielern, Analyse von taktischen Ausrichtungen, Tabellenständen, Diskussionen um den Zoff zwischen Trainer und Sportvorstand! Wer hat was, wann und vor allem warum gesagt? Die Welt dreht sich in diesem bestimmten Kosmos dann doch irgendwann nicht mehr so schnell weiter. Es ist zwar immer wieder faszinierend, dass nichts von dem, was uns in diesem Beruf beschäftigt, genau deckungsgleich schon einmal passiert ist. Aber auch nichts, was in diesem Beruf passiert, ist so außergewöhnlich oder kann dich noch derart überraschen, dass du komplett aus der Bahn geworfen wirst oder dein erlerntes Handwerk womöglich gar nicht mehr ausreicht, um Geschichten journalistisch sauber einzuordnen. Es ist eben diese eine Schublade, in der wir alle wühlen. Mit den unterschiedlichsten Ansätzen und Zielen. Die einen wühlen nur vorne, im eher offensichtlichen und seichten Bereich der Thematik. Die anderen greifen ganz tief nach hinten und befördern hin und wieder das eine oder andere redaktionelle Juwel ans Tageslicht, diese eine exklusive Info, den aufsehenerregenden Skandal oder die weltbewegende Enthüllungsstory. Immer ist es die eine riesige Schublade, die räumlich zwar niemals endet. Aber es ist und bleibt eben nur diese einzige.

Weg davon! Weit weg.

Der Gedanke reifte. Und schon reden wir in meinem Fall über diesen Sport: 800 Kilometer Fußmarsch von Saint-Jean-Pied-de-Port in Frankreich bis Santiago de Compostela im nordwestlichsten Teil der iberischen Halbinsel. Diese Challenge war es plötzlich, die mich faszinierte! Ein weltberühmter Weg, wie ihn Pilger schon seit dem frühen Mittelalter hinter sich gebracht hatten. Wie auch immer sie das damals schon geschafft haben konnten, ohne die heute selbstverständliche Ausrüstung und Infrastruktur.

Welche Geschichten sie wohl zu erzählen hatten?

Von Krieg und Frieden, von Hoffnung, Glaube, Sünde und Sühne, Disziplin und Mut. Vielleicht von Vertrauen und Demut in denjenigen dort oben, der einen um Himmels willen schon an die Hand nehmen wird.

Was hatten die Pilger damals wohl erlebt auf ihrem Weg?

Alle, egal woher sie kamen, hatten stets dieses eine Ziel vor Augen: Die Kathedrale von Santiago, wo der Legende nach das Grab mit den Überresten des Apostels Jakob liegen soll, dem Schutzpatron Spaniens. Für Tausende Menschen Jahr für Jahr reicht diese Legende noch heute, um sich aus ihrer noch so fernen Heimat rund um den Globus auf den Weg zu machen. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Legende oder mehr?

Es ist unmöglich, diese Frage nach all den Jahrhunderten zu beantworten. Entscheidend ist, dass dieses Santiago für die Pilger eine besondere Anziehungskraft ausübte und weiterhin ausübt. Bis heute. Und es werden jährlich mehr Menschen, die sich dieser magnetischen Kraft hingeben. Aller Strapazen zum Trotz. Auch ich fühlte mich irgendwann hingezogen. Getrieben.

»Ich wusste gar nicht, dass du so religiös bist!«

Noch so ein Satz, den ich gegenüber Neugierigen vielfach parieren musste. Für mich gab es nämlich keine religiösen Gründe. Auch wenn diese Schlussfolgerung nahelag. Zwar hatte ich mir in meinem Leben der eigenen Einschätzung nach schon die ein oder andere Sünde eingehandelt, darüber dann vielleicht an anderer Stelle ein eigenes Buch. Aber ganz so weit reichte mein Glaube dann doch nicht, für die Erlösung und Befreiung von allen Sünden eine derartige Ochsentour auf sich nehmen zu müssen – womöglich noch auf Kosten eines viel entspannteren Strandurlaubs auf Mallorca oder in Miami Beach oder sonst irgendwo auf der Welt. Ich brauchte mich nicht auf die Suche nach Gott zu begeben – ich kannte ihn schon ganz gut. Ich brauchte keine Eingebung von oben – so verzweifelt hatte ich mich wirklich nie wahrgenommen. Ich brauchte keinen neuen Wegweiser, keinen, der die Richtung vorgab – ich war mit der Richtung meines Lebens wunderbar im Reinen. Es brauchte keine Erleuchtung, kein Wunder – auch wenn mich später einige Momente auf dem Weg tatsächlich an etwas Wundersames erinnert haben. Richtig ist aber auch, dass die katholische Erziehung meines Elternhauses immer eine Rolle spielte. Sie ist unweigerlich Teil von mir und schwingt zumindest im Unterbewusstsein immer mit. Sie gehört zu den wichtigen Erfahrungen meines Lebens und bleibt stets ein innerlicher Kompass, selbst Jahrzehnte nach dem Auszug aus dem wohlgehüteten Zuhause.

Aufgewachsen bin ich in Wolframs-Eschenbach, Kern einer Gemeinde mit heute um die 3000 Einwohnern. Eine kleine Stadt im westlichen Mittelfranken, in der Nähe der Regierungshauptstadt und ehemaligen Markgrafen-Residenz Ansbach, am Rande des Fränkischen Seenlandes. Klein, aber fein. Ein echtes Juwel. Mitten im Grünen. Ein weithin sichtbarer Kirchturm mit bunt glasierten Ziegeln als Hochpunkt der ruhigen Silhouette. Ein wundervoll erhaltener Stadtkern aus dem Mittelalter mit dem kleinen Schloss, das mal Sitz des »Deutschen Ordens« war, und vielen zauberhaften Fachwerkhäusern entlang der mit Kopfstein gepflasterten Hauptstraße. Am Marktplatz seit über 100 Jahren mit dem Denkmal des berühmtesten Minnesängers der deutschen Sprache versehen: Wolfram von Eschenbach, der von hier stammte und später auch seine letzte Ruhe hier gefunden haben soll. Dieses bezaubernde Kleinod ist meine Heimat, meine Basis. Hier also ist dieser Mann aufgewachsen, der irgendwann über den Tellerrand blicken und den Rest der großen weiten Welt erobern wollte.

Ministrant gewesen, Fußballer im örtlichen Sportverein SpVgg-DJK, die Knochen hingehalten von der Jugend bis zu den Senioren. Und ab und an auch mal die Knochen der Gegenspieler leicht tuschiert, so ehrlich muss ich sein. Ich war eben Abwehrspieler. Schnell und robust, dafür technisch weniger begabt. Mit dem berühmten Windsbacher Knabenchor ganz aus der Nähe ging es später ab der vierten Klasse zehn Jahre lang rund um den Erdball. Von Brasilien über Japan bis nach Australien. Von Schottland und England über Spanien nach Israel. Vor Queen Elisabeth II. gesungen, was später noch eine Rolle spielen wird. Dem damaligen Prinzen Charles, dem heutigen König und seinen Söhnen William und Harry – als deren Welt noch in Ordnung war – ein Konzert gegeben, den Bundespräsidenten Roman Herzog auf Staatsbesuch im Ausland begleitet, das Gefühl erlebt, vor tausenden Menschen auf der großen Bühne zu stehen, donnernden Applaus entgegenzunehmen. In Tokio, Melbourne, London, Berlin oder München. Eine wundervolle Zeit, die ich für immer im Herzen trage. Viele Jahre danach sind noch Details in meinem Kopf, die ich so klar vor Augen habe, dass ich mich oft selbst darüber wundern muss. Bemerkenswert. Katholisch aufgewachsen und erzogen, mit einem protestantischen Ensemble durch die Kirchen und Konzertsäle der Welt gezogen. Natürlich prägte mich das. Und zwar intensiv.

Deswegen bin ich lange Zeit nicht, wie viele Menschen meiner frühen 80er-Generation, aus der Kirche ausgetreten. Auch wenn mir diese Kirche schon viele passende Vorlagen dafür geliefert hatte: Die Missbrauchs- und Finanzskandale zum Beispiel, heute vielfach in den Medien zu verfolgen, offenbar begleitet von Vertuschungsversuchen von oberster Stelle, weltfremde Ansichten beispielsweise beim Umgang mit Homosexualität, völlig aus der Zeit gefallen. Wer will ernsthaft Mitglied eines solchen Klubs sein? Ihn mit Steuern unterstützen und so tun, als wäre alles in Ordnung? Kirchenaustritt oder nicht? Viele Menschen ringen mit dieser sehr speziellen Frage. Und ich weiß, dass jeder Einzelne sich darüber den Kopf zerbricht. Für mich eigentlich nur Zeichen und Beweis, wie wichtig der Glaube im Leben sein kann. Jeder aber bitte soll, darf und muss diese Frage für sich selbst beantworten dürfen. Es ist und bleibt schließlich die urpersönliche Entscheidung jedes Menschen, die es ausnahmslos zu respektieren gilt. Auch bei mir machte sich im Laufe der Jahre eher Zaudern als Zuversicht breit. In meinem Job als Sportmoderator würde ich diesen Zwiespalt von damals vielleicht so ausdrücken: Der Ball lag schon oft auf dem Elfmeterpunkt. Verwandeln allerdings konnte ich ihn nie. Ich war ein miserabler Elfmeterschütze.

MEIN WEG ZUM WEG

Alleine oder gar nicht.« Nicht nur einmal habe ich mit diesen Worten für verdutzte Gesichter in meinem Umfeld gesorgt. In der Familie, bei Freunden, unter Kollegen. Denn wenn ich ehrlich bin, gab es doch einige »Angebote«, mich auf meinem kleinen Abenteuer zu begleiten. Mal mehr, mal weniger ernst gemeint. Von meinem allerersten Gedanken habe ich mich allerdings nie wieder abbringen lassen. Und das war gut so. Das Bauchgefühl zählte.

Alleine.

Dieses Wort wurde schließlich zum Motto, zur Überschrift des Aufbruchs. Oft wiederholt, nie davon abgerückt. Nicht einfach so, sondern aus tiefster Überzeugung. Und immer dem Wissen folgend, mich selbst gut genug kennengelernt zu haben.

Was will ich?

Was brauche ich?

Und vor allem: Was tut mir gut?

Fragen, denen wir im Alltag ganz gerne aus dem Weg gehen, weil sie entweder gar nicht so einfach zu beantworten sind oder wir einfach keine Zeit dafür finden. Vielleicht auch, weil sie uns als Egoismus ausgelegt werden könnten. Auch das kann passieren. In diesem Moment der Aufbruchsstimmung aber kamen die Fragen für mich gerade recht. Und es hat sich gelohnt, darüber einige Minuten meiner kostbaren Lebenszeit nachzudenken. Denn die Antworten darauf stellten sich für mich später als bestmögliche Entscheidung heraus:

Ich wollte raus!

Ich brauchte nichts als mich!

Und: Zeit nur für mich würde mir wirklich guttun!

Somit waren die Fragen irgendwann klar und deutlich beantwortet und ich konnte den Prozess der Abnabelung von dem, was ich Alltag nannte, beginnen. Alltagsgedanken weg, Alltagsgespräche gestrichen. Kein Wort mehr darüber! Nicht über die Familie, den täglichen Stau in München, die lästige Baustelle auf dem Weg zum Sender draußen in Unterföhring, den Job. Wer wirklich mal alles hinter sich und alles loslassen will, der sollte sich ganz schnell davon verabschieden, dass er es schafft, mit einer bekannten oder befreundeten Begleitung all diese Themen ausblenden zu können. Natürlich geht das nicht! Erst recht nicht über den Zeitraum von vier langen Wochen. Davon allerdings musste ich viele Menschen erst überzeugen. Unverständnis, teils sogar Empörung. Das waren die stets wiederkehrenden Reaktionen darauf. Geschuldet wohl auch der Unwissenheit, was ich da eigentlich konkret geplant hatte. Denn ohne jemandem zu nahe zu treten, wir sollten uns ja nichts vormachen: Wenigen aus meinem direkten Umfeld hätte ich zugetraut, diese Tour überhaupt durchzustehen. Physisch nicht und mental erst recht nicht. Beides alleine für sich schon eine große Herausforderung. Beides zusammen eine riesige Hürde, die viele aus Bequemlichkeit schon gar nicht starten oder ganz schnell abbrechen würden. Bereitschaft und Disziplin waren gefragt wie noch nie zuvor in meinem Leben. Auf beides konnte ich mich verlassen. Aber nur bei mir persönlich. Nicht bei anderen. Alleine eben. Ich meinte das ernst.

Alleine oder gar nicht.

Als alle Gedanken irgendwann sortiert und ausgereift waren, sich alles in meinem Kopf verfestigt hatte, habe ich gut zehn Monate vor meiner Abreise die explizite Planung in Angriff genommen. Das Wichtigste überhaupt: Die Urlaubsanfrage bei meinem Arbeitgeber Sky! Für einen Zeitraum von fünf Wochen, die ich für An- und Abreise insgesamt Zeit brauchte, gar nicht so einfach. Schließlich muss die Lücke irgendwie gefüllt werden. Moderatoren haben das Glück und gleichzeitig die Verantwortung, in den Abläufen eines großen Senders an exponierter Stelle zu stehen. Was den Nachteil hat, dass es kompliziert werden kann, wenn man einfach mal so wegwill. Eingebunden in einen festen Dienst- und Sendeplan macht das komplexe Schichtsystem eines 24-Stunden-Nachrichtensenders wie Sky Sport News ein Vorhaben dieser Größenordnung bisweilen äußerst kompliziert. Noch dazu wollte ich Ende August starten, mitten in den bayerischen Schulferien, traditionell Urlaubssaison für Familien und alle, die vielleicht mal zu einer Familie werden wollen. Deswegen: Frühes Anklopfen beim Chef, schnelle Zusage eingeholt. Dieses spannende Abenteuer wollte mir keiner verwehren.

Was für ein Segen!

Mein Plan war zwar, den Jakobsweg zu gehen, aber noch war längst nicht im Kopf, was das im Detail bedeuten würde. Und so kam ich nach und nach hinter die Faszination und tauchte tiefer ein in eine mit vielen Mythen aufgeladene Welt, die mir damals noch weitgehend unbekannt war. Nach Strandurlaub, Städtereisen, Kreuzfahrten und diversen Roadtrips war das eine komplett neue Erfahrung für mich. Und mit jedem Tag wurde sie spannender.

Ich habe viel über den Camino, wie er oft einfach nur genannt wird, gelesen. Manchmal vielleicht zu viel. Schließlich erlebt jede einzelne Person anders, hat andere Vorstellungen, Ansprüche oder Bedürfnisse. Und schnell war mir klar, dass ich vieles von dem, was in den ausführlichen Erfahrungsberichten stand oder empfohlen wurde, gar nicht brauchen werde. So gut kannte ich mich damals schon, um mit Sicherheit sagen zu können, dass ich ein sehr genügsamer, spartanisch geprägter Mensch bin und deswegen auch mit unglaublich wenig Ausrüstung auskommen würde. Eine Ausrüstung, die sich beim Abflug am 31. August 2019 am Franz-Josef-Strauß-Flughafen in München auf lächerliche sechs Kilogramm belief – vorausgesetzt, die Waage am Gepäckband der Lufthansa in Terminal 2 war funktionstüchtig und geeicht. Um dieses Gewicht sollten mich in den folgenden Wochen tatsächlich sehr viele Pilger beneiden. Und ich konnte sie durchaus verstehen. Das Übergepäck, das einige tagtäglich mit sich herumwuchteten, hätte ich nicht gerne auf meinem Rücken gespürt, keine Minute lang.

Was um Himmels willen die alle dabei hatten? Kaum möglich, dass ich in meiner Wohnung zu Hause so viel Sinnvolles zum Einpacken gefunden hätte? Niemals.

Mein Faible für das Spartanische und meine grundsätzliche Genügsamkeit im Alltag sollte sich des Öfteren positiv für mich auszahlen.

Mit sechs Kilo im Rucksack und den jahrelang bewährten Wanderschuhen an den Füßen ging also endlich dieses Abenteuer los. Und genau an diesem Punkt, direkt vor dem Abflug an die Atlantikküste im französischen Baskenland, habe ich zum ersten Mal meine Gedanken festgehalten:

31.8. Anreise

Flughafen München, Terminal 2,

Gate 24. Der erste Blick auf

die Mitwartenden verrät:

Alleine werde ich nicht sein.

Jeder Zweite hat Wanderstiefel

an – wie ich. Ab nach Biarritz.

Laut Lufthansa-Gepäckband

wiegt mein Rucksack nur

6 Kilo. Hab ich was vergessen?

Nein! Nur unnütze Dinge

weggelassen. Gute Entscheidung!

Lange Zeit konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, eine Art Tagebuch zu führen. Aber für diesen speziellen Fall, diese in allen Belangen besonderen Tage in meinem Leben, war ich glücklich, dass ich mich doch dazu entschlossen hatte. Der kurze Eintrag wurde jeden Tag zum festen Ritual. Ich habe es schnell verinnerlicht und tatsächlich bis zur letzten Etappe durchgehalten. Manchmal waren es ganz profane, oberflächliche Dinge, die ich beschreiben wollte. Manchmal wurde es auch etwas komplexer und tiefgründiger. Aber immer war es spontan, geradeheraus. Und hoffentlich ist es für alle Leser hier nachvollziehbar, was »der Weg« für einen Menschen bedeuten kann. All diese Worte sind hier in diesem Buch originalgetreu wiedergegeben. Und gerne teile ich sie mit Ihnen!

AUFBRUCH

Was für ein bezaubernder Morgen in Saint-Jean-Pied-de-Port! Voller Vorfreude, dass es nun endlich losging, fiel es mir trotz der frühen Stunde überhaupt nicht schwer, aus dem Bett zu kommen. Das kannte ich von zu Hause bisweilen anders. Die großen Ziffern auf dem Display des Smartphones zeigten irgendwas zwischen fünf und sechs Uhr, nicht so wichtig. Was für mich viel wichtiger war: Ich fühlte mich wach, frisch, fit und ziemlich ausgeschlafen. In diesem Moment konnte ich noch nicht ahnen, dass mich in den nächsten Wochen vor allem die Nächte dieser Reise schwer beschäftigen sollten.

Das kleine Hotel am Rande der historischen Altstadt dieses berühmten Ortes im französischen Baskenland war sehr hellhörig. Jeder Stuhl, der irgendwo im Haus beiseitegeschoben wurde, jeder Klogang, der mit dem Spülen beendet wurde, jede knarzende Stufe im Treppenhaus durfte ich intensiv mithören. Ein Wunder, dass ich überhaupt zur Ruhe kam. Ich war definitiv nicht alleine hier, und nicht alleine wach. So viel war klar.

Ob meine Mitbewohner alle dasselbe vorhatten wie ich?

Was ging wohl in ihren Köpfen gerade vor?

Ich konnte nur für mich sprechen. Aber selten habe ich innerlich eine derartige Aufbruchsstimmung erlebt. Ein Wort, das wir in unserer Sportberichterstattung so oft benutzen. Ein ziemlich vertrautes Wort also. Nur, dass ich diesmal selbst der Sportler war. Ich, Thomas Fleischmann, 37 Jahre alt, sollte mich auf die größte sportliche Herausforderung meines Lebens begeben. Und schon die nächsten Tage sollten zeigen, dass ich mit diesem Vergleich absolut recht hatte. Mein Sport sah bislang anders aus, als 30 Tage am Stück durch die Landschaft zu stapfen. Wandern ja, Tagestouren o. k., ansonsten viel Krafttraining im Fitnessstudio. Früher Fußball bis zur Bezirksliga im Verein, später noch ab und an mit den Kollegen, Tennis oder etwas Schwimmen. Wenn in meinem Kopf wirklich alles schieflief, sogar mal Joggen, auch wenn ich davon nie Fan geworden bin und es bis heute nicht bin.

Diese neue Disziplin in meinem Sportlerleben brauchte aber einen völlig anderen Fokus. Zum ersten Mal musste ich an jenem Morgen so packen, dass alles wirklich wandertauglich war. Jedes Teil musste also möglichst an den richtigen Fleck. Viele kleine Entscheidungen standen aus und vor allem die große Entscheidung hinsichtlich der passenden Kleidung. Den Rest gut verstaut in den Tiefen meines Rucksacks, wo alles Unwichtige später nicht stören konnte. Allein schon das Packen war plötzlich mit einer Art Spannung verbunden, dass ich es kaum aushalten konnte. Ich wollte nicht länger warten.

Ich war bereit.

Ich ging hinaus in den Flur, zog die Tür hinter mir zu und legte den Zimmerschlüssel in einen kleinen Safe an der Wand. Ein denkwürdiger Moment, denn einen Schlüssel für ein eigenes Zimmer würde ich so schnell nicht wieder in die Hände bekommen. Nach diesem exklusiven Stück Privatsphäre, dass ich hier noch genießen durfte, sollte ich mich ziemlich schnell zurücksehnen.

Jetzt aber: Nichts wie raus!

Einen dringlicheren Wunsch gab es nicht mehr im schummrigen Licht des Treppenhauses. Jetzt war ich derjenige, der die Stufen zum Knarzen brachte. Einige Schritte später stand ich vor dem Portal und blickte in den dämmrigen Himmel. Es war fast noch dunkel. Die Luft, die ich tief und intensiv aufsaugte, war angenehm frisch. Ich sah mich ziemlich staatstragend um, im Bewusstsein der Bedeutung dieses Moments. Über den sanften Hügeln, den Vorläufern der wuchtigen Pyrenäen, war lediglich ein heller Streifen zu sehen. Das Wetter war gut, es war warm, vor allem trocken. Und ich dachte für den ersten Moment richtig angezogen zu sein für meine erste Etappe.

1:0 für mich.

Eine fast heimelige Atmosphäre hatte mich in ihren Bann gezogen. Ich erinnere mich sehr genau, wie ich von meinem Hotel am Place Charles de Gaulle über die Rue de France die Altstadt von Saint-Jean-Pied-de-Port betrat. Es war ruhig hier draußen, noch kein Verkehr in den Straßen. Nur die kleinen Bars links und rechts machten sich bereit für die Frühstückszeit. Ich freute mich über die ersten ruhigen Meter, die ich noch ganz alleine unterwegs war. Aber eben nicht lange! Nahezu aus allen Häusern traten Menschen mit ihren Rucksäcken. Teils dick eingepackt, weil sie dem Wetter offenbar nicht so trauten wie ich, immerhin ging es ja direkt ins Hochgebirge. Teils locker gekleidet, als würden sie nur mal schnell zum nächsten Baggersee laufen, um den ganzen Tag in der Spätsommersonne zu liegen. Hüte, Wanderstöcke, Rucksäcke mit Trinkvorrichtung. Der erste Blick auf die hochmoderne Ausrüstung meiner Mitbewerber war irritierend und beeindruckend zugleich. Ich machte Augen wie beim Besuch der Jahresmesse der Wanderindustrie. Ich sah Dinge, von denen ich gar nicht wusste, dass es sie gibt. Aber gleichzeitig brachte mich die Materialschau zum Gedanken: »Ja, Thomas, auch du kannst es schaffen. Selbst wenn du nur jämmerliche sechs Kilo ohne jeden Schnickschnack dabeihast und statt eines Tanks im Rucksack eine billige Wasserflasche aus Plastik im Spanngurt.«

Ich hatte mir am Abend vorher eine Bäckerei ausgesucht und die Öffnungszeiten gecheckt. Sie lag strategisch gut auf der Hauptstraße der Altstadt, direkt am Camino. Dort versorgte ich mich mit einer Stange Weißbrot, wie ich ganz platt sagen würde, hier in Frankreich heißt das natürlich Baguette. Es war ein tolles Gefühl hier drin. Vermutlich kennt es jeder, diese warme und angenehme Atmosphäre frühmorgens in einer Bäckerei. Ich liebe sie! Es roch so wunderbar in diesem Laden, dass ich in jeder anderen Situation meines Lebens noch länger geblieben wäre. Sehr gerne sogar. Auf einen heißen Espresso, oder zwei. Dazu ein frisches Croissant …

Aber nicht jetzt!

Ich hatte eine Verabredung.

In spätestens acht Stunden in Roncesvalles nämlich, meinem ersten Zielort auf der anderen Seite der Berge in Spanien. Dort hatte ich mir in der Pilgerunterkunft des Klosters ein Bett reserviert. Doch zwischen diesem Bett und mir lagen noch knappe 25 Kilometer – und ein hoher Gebirgszug, der es auch schon für Napoleon und seine Truppen in sich hatte. Nach ihm war diese Route jetzt benannt. Ich spannte das frische Baguette an den letzten freien Platz meines Rucksacks, traute mich aber auch nicht, den kleinsten Krümel zu naschen, auch wenn es frisch aus dem Backofen kam und noch so gut duftete. Später würde ich womöglich jeden einzelnen Krümel noch gut gebrauchen können. Ich war jedenfalls bestens versorgt, warf mir mit einem Ruck das Gepäck auf die Schultern und trat entschlossen aus dem kleinen Laden in die heimelige Morgenszenerie der Rue d’Espagne. Mit einem Kribbeln im Bauch und einem Lächeln im Gesicht verließ ich durch das nahe Tor die Altstadt von Saint-Jean. So stapfte ich meiner ersten Pyrenäen-Überquerung entgegen, auf historischen Pfaden. 200 Jahre nach dem legendären Napoleon.

SAINT-JEAN-PIED-DEPORT – RONCESVALLES

Auf einer kleinen, kurvenreichen Straße führte der Weg aus der Stadt und wurde direkt zu einem Anstieg. Ein zarter Vorgeschmack auf das, was diese äußerst schwierige Gebirgsetappe später noch bereithielt. Durch die landwirtschaftlich geprägte Region ganz im Süden Frankreichs ging es hoch Richtung Orisson, wo für Pilger, die sich die ganze Strecke rüber nach Spanien nicht an einem Tag zutrauten, schon die erste Unterkunft stand. Immer wieder blieb ich stehen, um die fantastische Stimmung dieses Morgens zu genießen. Von meinem Schatten, den die aufgehende Sonne auf den brüchigen Asphalt der kleinen Straße warf, blickte ich auf und ließ mich einfangen von den angenehmen Strahlen, die sich über den grünen Hügeln des Baskenlandes schon behauptet hatten.

Was für eine Atmosphäre! Ein wundervoller Start! Der Anfang war gemacht.

Ich war gerade dabei, eine kleine Gruppe älterer Damen zu überholen – das »Buen Camino«, »Guten Weg«, der offizielle und obligatorische Gruß der Pilger war kaum ausgesprochen – als ich von hinten Motorengeräusche wahrnahm. Ich drehte mich um und erkannte einige Straßenkehren weiter unten einen weißen Van, der sich den Weg nach oben bahnte. Kurze Zeit später war er schon auf meiner Höhe. Verdunkelte Scheiben hinten, nur in der ersten Reihe waren beim Vorbeifahren einige Gesichter asiatischer Abstammung wahrzunehmen. Schnell war der Van hinter den nächsten Kurven verschwunden. Erst an einer Abzweigung – als der Weg die befestigte Straße verließ und es auf einer Art Trampelpfad Richtung Berge weiterging – war der Wagen wieder zusehen. Die Besatzung stellte sich schnell als Kamerateam heraus, das offenbar einige Stationen der Pilger in diesem herrlichen Licht der aufgehenden Sonne festhalten wollte. Der Wagen war hinter einer Kurve abgestellt, die Kamera war postiert, und um die aufgebaute Technik herum stand das etwas aufgeregte Team und diskutierte geschäftig miteinander – aber vor allem hatte es den Fokus auf mich und die anderen Wanderer gerichtet. Und so kann es gut sein, dass der Moderator aus Deutschland plötzlich in irgendeiner asiatischen Jakobsweg-Dokumentation auftaucht – sicherlich schon etwas angestrengt und schwitzend vom Anstieg, aber zumindest mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht. Ganz ohne TV ging es also doch noch nicht. Das »Buen Camino« beherrschten auch die Fernsehleute aus dem Fernen Osten im Vorbeigehen, war nur etwas schwieriger zu verstehen. Noch das ein oder andere Mal durfte ich sie an diesem Tag wiedersehen auf meinem Weg durch die Pyrenäen. Ich hoffe, ich konnte ihnen ein gutes Beispiel eines motivierten Pilgers liefern. Ja, das war ich. Ein Pilger vor dem Herrn. Und motiviert. Tag eins aber hatte gerade erst begonnen.

Die schön gelegene Pilgerunterkunft von Orisson, ließ ich mehr oder weniger rechts liegen. An einem Brunnen holte ich mir lediglich frisches Wasser und wollte meine starke Motivation nutzen, um schnell weiterzukommen, nach oben in die Berge. Viele meiner Mitstreiter sahen das allerdings anders. Sie genossen auf der gut besetzten Terrasse schon die Sonne und gönnten sich die ersten Kaltgetränke, einen weiteren Motivations-Espresso oder wahlweise ein zweites Frühstück. Ihre Pause machte sich für mich auf dem Weg schnell bemerkbar. Die nächsten Kilometer waren nicht mehr so bevölkert, wurden einsamer, aber nicht nur das. In erster Linie wurden sie steiler. Jede Kurve, jeder weitere Anstieg hielt jetzt neue Perspektiven bereit. Es ergaben sich mit jedem neuen Höhenmeter noch bessere Ausblicke auf die umliegende Landschaft. Und immer, wenn sich die Gedanken schon daran gewöhnt hatten, das Heftigste sicher schon geschafft zu haben, taten sich neue Passagen auf. Und immer ging es noch steiler und noch weiter nach oben. Eine Faszination, die jeder Bergwanderer der Welt kennt. Hier wurde sie mir wieder bewusst. Genauso wie die Tatsache, dass das Wetter im Gebirge unfassbar schnell kippen kann. Strahlend blauer Himmel, Wolken, Wind – all das wechselte hier oben innerhalb von gefühlten Sekunden. Mal war es warm, mal war es kalt. Und mit der ersten Müdigkeit in den Beinen wurde der Kampf in der exponierten Höhenlage intensiver, die Luft zum Atmen dünner.

Es war richtig ungemütlich geworden. Die Sonnenstrahlen, die mein Gesicht am Morgen so angenehm verwöhnt hatten, waren seit längerer Zeit verschwunden. Wolken hatten den Himmel verhangen und grau gefärbt. Kalter, schneidender Wind kam auf und wurde immer stärker. Vor mir lag eine lang gezogene Kurve, die um eine Art Krater führte. In etwas Entfernung sah ich eine Ansammlung von Wanderern um einen weißen Lieferwagen stehen. Als ich näherkam, entpuppte sich das Gefährt, das seine besten Jahre schon hinter sich hatte, tatsächlich als letzte Verpflegungsstelle vor der Grenze. Ganz so, wie ich das von den Straßen in Mitteleuropa kannte: Letzte Tankstelle vor Italien! Tanken sie also besser hier als bei der Konkurrenz! Weil bei uns ist es garantiert billiger!

Aber von einer Konkurrenzsituation war diese »Tankstelle« in den Pyrenäen sehr weit entfernt. Der sympathische ältere Herr, der Besitzer des zum Verkaufsladen umfunktionierten Wagens, hatte das handschriftlich auf eine Tafel gekritzelt – in einer kuriosen Mischung aus Französisch, Spanisch und baskischen Buchstabenfolgen, die für Menschen aus meinen Breitengraden nahezu unaussprechlich wirken konnten. Die Botschaft aber kam deutlich an: Hier bin ich! Und nach mir kommt lange nichts, Freunde!

Genau wie diese Botschaft konnte ich auch seine spottbilligen Preise für Kaffee, Brötchen, Eier, Bananen oder sein Sortiment an Schokoriegeln entziffern. Nicht zu vergleichen mit den mir bestens vertrauten Preisen einer Tankstelle entlang der deutschen Autobahn. Hier an diesem bezaubernden Ort, der sich nach den ersten Strapazen wie eine Oase in der Wüste anfühlte, gönnte selbst ich mir eine kleine Pause. Auch wenn es eigentlich lausig kalt, windig und echt ungemütlich war. Ganz anders als noch auf der Terrasse unten in Orisson, deren kulinarisches Angebot ich in meinem jugendlichen Leichtsinn vollkommen ignoriert hatte, in Tateinheit mit der Ablehnung des spätsommerlichen Sonnenbades. Hier allerdings nutzte ich die Gelegenheit, um zumindest kurz innezuhalten, die ersten Eindrücke zu verarbeiten, die Gesichter der anderen zu studieren. Hier ein sanftes Schmunzeln, dort die anfänglichen Strapazen schon rund um die Augen abgezeichnet. Es war faszinierend. Der unangenehme Wind donnerte immer wieder böig über diesen außergewöhnlichen Rastplatz. Ansonsten lag eine gespannte Stille über der Szenerie. Kaum einer traute sich laut zu reden und diese ganz eigenartige Spannung zu stören. Wenn, dann wurden nur kurz dem Sitznachbarn ein paar Wortfetzen zugeflüstert. Was genau hinter den Gesichtern dieser Menschen vorging, war sicher nicht abzulesen. Aber ich wusste, dass es in den Köpfen arbeitete. Genau wie bei mir. Ich saugte die Atmosphäre auf, bei heißem Kaffee aus der Thermoskanne und Banane in luftiger Höhe mitten in den Pyrenäen. Hier ist nach dem Pilgerbüro unten in Saint-Jean mein zweiter Stempel im Pilgerausweis dokumentiert. Ein Stempel, der für den Weg offiziell belanglos war. Und trotzdem hatte es dieser besondere Platz verdient, auf diese Weise verewigt zu werden.

Es sind spezielle Orte und Begegnungen, die im weiteren Verlauf des Weges immer wieder ihre Faszination entfalten konnten. Liebe zu diesem Abenteuer und Motivation war nicht nur auf unserer Seite zu finden, sondern auch bei vielen Menschen am Wegesrand, die es geschafft haben, den müden Körpern und Geistern der Pilger im entscheidenden Moment ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Oder eine Brotzeit zwischen die Backen. Nicht zu vergessen im richtigen Moment das richtige Getränk auf den Tisch zu stellen. Danke schön an alle. Ohne sie wäre dieser Weg wohl doppelt so schwer. Und das, bitte schön, sollten wir wirklich keinem Mitmenschen zumuten.

Was für ein ergreifender Moment, als der Pass endlich erreicht war! Wie konnte das vor hunderten Jahren nur ein ganzes Heer Napoleons mit schwerem Gerät geschafft haben? Die Kraft, Disziplin und Ausdauer dieser Menschen müssen nahezu übermenschlich gewesen sein. Nicht zu vergleichen mit den bescheidenen sportlichen Leistungen, die ich hier – noch dazu mit moderner Ausrüstung – vorzuweisen hatte.

Auf der Passhöhe pfiff der kalte Wind mittlerweile noch extremer. Kein Moment, der eine Pause unbedingt rechtfertigen konnte. Mir war trotzdem danach. Rucksack kurz absetzen, trinken. Erleichterung machte sich breit. Denn hier eröffnete sich mir erstmals der Blick ins Tal in der spanischen Provinz Navarra, deren Grenze ich kurz zuvor überschritten hatte. Und dieser Blick fiel zum ersten Mal auf das Ziel der Etappe, das Kloster Roncesvalles, französisch Roncevaux oder baskisch Orreaga. Aus einem Stück Wald ragten die wuchtigen Klostermauern mit der Basilika hervor. Dort unten wartete doch tatsächlich ein Bett auf mich, so Gott will. Und ich hatte ein Bett mittlerweile nötiger als alles andere.

Ich wählte den etwas längeren, aber nicht ganz so steilen von zwei möglichen Abstiegen und ertappte