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Vom Exzess zur Erleuchtung: Die unglaubliche Lebensgeschichte von Dario Pizzano Sex, Drogen und Rock'n'Roll bestimmen das Leben von Dario Pizzano. Als DJ, Clubchef und Eventmanager rast er auf dem Highway to Hell und ist stets auf der Suche nach dem ultimativen Kick. Doch irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem nichts mehr geht: Burnout und eine tiefe Depression sind die Folge. Doch dann passiert etwas Unglaubliches: Mitten in seiner dunkelsten Stunde hat Pizzano eine einschneidende spirituelle Erfahrung - eine Begegnung mit Gott, die sein Leben von Grund auf verändert. Plötzlich ist nichts mehr wie zuvor und er muss lernen, seinen Glauben in einer Welt voller Versuchungen zu leben. Pizzanos Geschichte ist ein bewegendes Zeugnis davon, dass man auch in den dunkelsten Momenten des Lebens Hoffnung finden kann, wenn man offen ist für die Wunder des Glaubens. Eine inspirierende Autobiografie über Sucht, Erleuchtung und den Weg zu einem erfüllten Leben.
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Seitenzahl: 364
Veröffentlichungsjahr: 2010
Dario Pizzano
eXzess
Meine zwei Leben
Knaur e-books
Sein Leben kennt nur die Extreme: Sex, Drugs und Rock’n’Roll.
Dario Pizzano, DJ, Clubchef und Eventmanager, führt ein Leben auf der Überholspur. Aber er merkt, dass er auf dem »Highway to Hell« dahinrast, immer auf der Suche nach dem nächsten Kick – bis zum völligen Burnout. Da passiert ihm in einer Phase tiefster Depression etwas Ungeheuerliches: eine Gotteserfahrung. Das stellt sein Leben auf den Kopf.
Für Anja, Daniel, Verena und Antje
Liebe Freunde,
Ihr habt ja keine Ahnung, was Euch hier blüht. Ich widme Euch dieses Buch. Und ich habe nicht danach gefragt, ob Euch das gefällt. Ob ich das darf. Wir haben so viele Abenteuer miteinander geteilt, so viele rauschende Feste miteinander gefeiert, so viele Abstürze überlebt. Da habe ich mir gesagt: Einen habe ich noch gut – oder?
Verena und Antje, wisst Ihr noch, wie das war im Ambiente, wenn in der Nacht wieder einmal ein Event steigen sollte – eine Band war gebucht, Promi-Nacht, Rosenmontag, eine Halloween-Party sollte steigen … Wisst Ihr noch, wie das immer war? Natürlich wisst Ihr es. »Du läufst mal wieder Furchen!«, habt Ihr gerufen. Und es war so: Ich tigerte wie ein Irrwisch durch den Club. Die Augen flatterten. Blutdruck auf 180. »Hoffentlich kommen die Leute! Hoffentlich kommen die Leute!« Dann habt Ihr Mädels mich eingefangen, habt mich rechts und links untergehakt und mich abgeführt: »Hey, Pizza, komm mal her hier, jetzt trinken wir erst mal einen Vino – zur Beruhigung!« Ihr wart immer ungeheuer lieb zu mir. Es war schön, Euch immer in meiner Nähe zu wissen.
Und Du, Anja – weißt Du noch? Erinnerst Du Dich an die Nacht, in der alle schon gegangen waren? Nur wir beide waren übrig geblieben. Wir saßen auf der kleinen Bank an der Theke. Ein paar Scheinwerfer waren noch an. Im Lichtkegel tanzten die Partikel. Die Luft stand vor Zigarettenrauch und Alkoholdunst. Auf dem Boden die Kippen und die heruntergebrannten Wunderkerzen. Wir saßen da auf der Bank und packten unsere Beziehungskisten aus. Ohne Filter. Ohne Scham. Ohne Angst. Weißt Du noch, wie lange das dauerte? Eine Stunde. Zwei Stunden. Drei Stunden … Um 6 Uhr am Morgen kam endlich einer von uns auf die Idee, ein Taxi zu bestellen.
Und Du, Daniel, denkst Du noch daran, wie wir gemeinsam in Frankfurt auf dem Rockkonzert waren? Ein Bier? Klar, will ich ein Bier! … Noch ’n Bier? Klar will ich noch ’n Bier! … Ich war nur am Laufen. Noch ’n Bier? Klar, will ich noch ’n Bier! Wir hauten uns das Zeug nur so rein. Bis Du sagtest: »Mann, bin ich breit!« Da zeigte ich Dir das Schild. Lesen konntest Du noch. »Alkoholfrei« stand da drauf. Danach mussten wir stocknüchtern sein. Die ganze Rückfahrt über lachten wir uns kaputt.
Nun habe ich ein Buch geschrieben. Ihr kommt auch darin vor. Denn Ihr seid ein Teil meiner Geschichte, meines Lebens. Keine Angst, Ihr müsst nicht die Nummer von Eurem Anwalt heraussuchen. Es gibt noch ein paar Dinge, die auf immer zwischen Euch und mir vergraben bleiben. Ich habe mich zwar mal für ein paar Monate ausgeklinkt aus der Gesellschaft. Aber ich war Euer Freund, und ich werde immer Euer Freund sein. Ein Freund weiß alles vom anderen. Wir hatten nahezu keine Geheimnisse voreinander. Ihr kanntet jeden meiner Abstürze. Euch blieb keine meiner erotischen Eskapaden verborgen. Ihr wusstet, auf welchen Drogen ich gerade war und welche Verwundungen ich mit Alkohol betäubte.
Meine ganzen Nachtseiten habt Ihr mitbekommen, meine innere Anarchie, meine wilde Suche nach ein bisschen Glück, Liebe und Seelenfrieden. Halt – falsch! Ich wollte nicht ein bisschen Leben. Ich war gierig. Gierig wie ein hungriges Tier auf Witterung. Ich wollte immer den vollen Schluck. Wollte das ganze Leben. Wollte alles. Wollte Grenzen überschreiten, überschritt Grenzen, exzessiv, wie im Rausch – nein, im Rausch. Lief gegen die Wand. Holte mir eine blutige Nase. Stand wieder auf. Nahm den nächsten Schluck aus der großen Pulle. Stürzte mich wieder in den Tanz. Brauchte die lauten, schmerzlich harten Beats, brauchte meine Musik, die mich in die nächste Nacht, das nächste Abenteuer trieb. Ihr wolltet mir helfen. Habt mir wie oft die Hand gereicht. Ich konnte sie jedoch nicht greifen. Mir fehlte einfach das Vertrauen. Das Vertrauen in Eure Hilfe. Damit konnte ich nicht umgehen. Drogen, Frauen, Exzesse, Depressionen – diese Dinge waren mir all die Jahre vertraut. Damit wusste ich etwas anzufangen, denn mit diesen Dingen kannte ich mich nur zu gut aus. Ich hielt meine Nase viele Jahre in den gefährlich heißen Wind. Das alles kennt Ihr. Denn es war meine Biographie – aber das alles ist nur die Hälfte meines Lebens. Die andere Hälfte – die Hälfte, die mich ein Stück weit von Euch wegtrieb in neue, innere Abenteuer – die kennt Ihr nicht. Ihr könnt sie nicht kennen, weil man das, was ich Euch mitzuteilen hätte, nicht eben mal in einer Stunde bei einem Bierchen am Tresen erzählen kann. Ich müsste Euch mein ganzes Leben »beichten«, angefangen von der Kindheit bis heute. Wir müssten Nächte beieinandersitzen. Ihr müsstet mir einmal zuhören. Ich würde auch Euch zuhören. Und wir würden unsere Leben miteinander vergleichen. Die Rätsel und die Wunder. Das Elend und die Träume. Die Schweinereien und Heldentaten. Die Highlights und die Abgründe. Ich weiß, es würden Sternstunden werden. Wir würden rote Ohren dabei bekommen. Aber ich fürchte, das Leben gibt uns dazu keine Gelegenheit. Deshalb schreibe ich dieses Buch. Ich möchte in eine stillere Art von Gespräch mit Euch kommen. Und ich weiß, dass Ihr mir die Zeit dazu schenkt, indem Ihr lest, was ich für Euch aufgeschrieben habe. Für Euch und für unsere ganze Generation, die wir gemeinsame Erfahrungen machten – mit unserer Sehnsucht nach Nähe und neuen Formen des Umgangs miteinander, mit Drogenexperimenten, mit Musik, die zu einem vollkommenen Ausdruck unseres Selbst wurde, mit wildem, wahllosem Sex und tastenden Suchereien nach Liebe und Angesehenwerden.
Wisst Ihr noch, wie wir mit über vierhundert Leuten Abschied voneinander feierten, Abschied vom Ambiente, Abschied von einem gemeinsamen Stück Jugend, Abschied von einer unwiederbringlichen Erfahrung? Waren wir in dieser Nacht nicht wie ein einziger Leib, wie eine große Gemeinschaft, verbunden durch die Wärme unserer Körper, verbunden durch Musik, die wir liebten, verbunden durch unsere Geheimnisse, verbunden durch einen Duft, der über allem lag, einen Duft, der am nächsten Morgen verflogen sein würde, nur noch eingegraben in unsere Erinnerung? In dieser Nacht sind viele, viele Tränen geflossen, vielleicht die meisten bei mir selbst. Denn hinter unserem Lachen und unseren Umarmungen lag ein tiefer Schmerz.
Es würde nie wieder so sein, wie es gewesen war. Jedes der Gespräche in dieser Nacht des Abschieds enthielt ein Wort, auf das ich nur eine stammelnde Antwort geben konnte – das Wort »Warum?«. Hast du keinen Spaß mehr am Ambiente? – wurde ich gefragt. Und es schwang darin mit: Hast du keinen Spaß mehr mit uns? Willst du keiner mehr von uns sein?
Ihr, Anja, Daniel, Verena und Antje – Ihr ahntet wohl, dass es nicht so war. Ihr werdet Euch Euren Teil dazu gedacht haben, wenn bald die tollsten Gerüchte in der Stadt kursierten: »Der Dario ist jetzt total abgedreht. Hat eine Nase vom falschen Zeug genommen. Ist in eine Sekte eingetreten. Hat Erscheinungen. Steht kurz vor der Klapsmühle.« Eine richtige Antwort auf diese Gerüchte konntet Ihr nicht geben. Ihr wisst ja nur die Hälfte.
Ehrlich gesagt, brauchte ich selbst Zeit, um zu verstehen, was mit mir geschah. Es war so ganz anders als alles zuvor. Es war viel krasser als LSD. Vor allem: Ich hatte keine Sprache dafür. An einem bestimmten Punkt – dem Punkt, an dem dieses Buch einsetzt – gab ihm jemand den Arbeitstitel Burnout. Einfach, um eine Vokabel zu haben, über die man reden konnte. Burnout – das kennt heute jeder: Zu viel gearbeitet, zu viel Stress, zu viele Probleme. Die Seele spielt nicht mehr mit. Keine Kraft. Keine Ideen. Kein Feuer. Ein Loch, wo sonst die Seele ist. Ein Krater, wo das kalte Herz pocht. Manchmal, wenn ich ganz unten war, dachte ich sogar selbst: Ja, das ist es – ein wohlverdienter Burnout. Mehr nicht. Junge, du bist total ausgebrannt. Zu viel gesoffen. Zu viel lustige Pillen. Zu viel schlaflose Nächte. Ein Wrack. Schluss mit lustig. Insolvenz total.
Aber es waren nur diese Momente äußerster Verlassenheit, in denen ich dachte, es sei einfach ein stinknormaler Burnout. In Wahrheit wusste ich in jeder Phase meiner Transformation, dass mein realer, grausamer Burnout nur die notwendige Basis einer fundamentalen persönlichen Verwandlung war, für die ich sehr spät erst das richtige Wort gefunden habe. Es lautet: Burn in. Bei mir musste nur einiges im Feuer geläutert werden, Elemente von Sucht verbrannt und Wahnsinnsängste in Flammen aufgehen – das war mein Burnout –, bevor dieses ruhige Licht kommen konnte, das heute in mir brennt. Das ist Burn in.
Ich gebe dieses Gefühl nicht mehr her. Ich habe so einen unglaublichen Preis dafür bezahlt, dass etwas Göttliches in mir brennt und ich heute nicht mehr der ausgebrannte, exzessive Strahlemann bin, der ich einmal war. Ich bin heute ein Mensch, der sich wie neugeboren fühlt, weil er ein wärmendes Licht im Herzen spürt, das still und kraftvoll brennt und mir Kraft ohne Ende gibt. Wenn Ihr dieses Licht auf die eine Seite der Waagschale legt und auf die andere Seite alle Orgasmen, alle Trips und alle euphorischen Zustände legt, die ich je in meinem Leben erfahren habe – und Ihr wisst alle: das waren eine Menge –, dann würde ich keine Sekunde zögern und nach dem Licht greifen. Für alle Freunde von Giovanni Trappatoni: Ich habe also nicht fertig. Ich bin nicht am Ende. Ich bin kein Wrack. Ich bin auch nicht verrückt geworden. Ich stehe nicht unter dem Einfluss einer heftigen, neuen Droge. Ich bin stocknüchtern, nicht besessen, nicht bei einer Hexe in Behandlung und habe auch keine Gehirnwäsche hinter mir.
Der Punkt ist: Ich bin einfach Christ geworden. (Christ, wohlgemerkt, nicht Heiliger. Bis dahin ist es noch eine lange Strecke.) Hmm. Ihr wisst selbst, wie ich früher drauf war, wie ich gerne auch mal über das lästerte, was nur nach Religion roch. Ihr habt ein Recht zu fragen: Und nun steht er gleich auf den Papst? Wäre das nicht auch mit Tantra gegangen? Oder mit tibetanischem Buddhismus? Warum gleich so etwas Abgefahrenes?
Habe ich mich auch gefragt.
Aber vielleicht interessiert Euch die Geschichte ja. Sie geht so:
Du kennst alle meine Tricks.
Du überblickst alles.
Ob ich dasitze oder irgendwo rumrenne,
Du hast ein Auge drauf.
Du weißt, was ich denke, weißt es
schon tausend Meter gegen den Wind.
Ob ich momentan abhänge oder rummache –
Du hast mich voll auf dem Monitor.
Du kennst Dich in meiner Bio aus
wie in Deiner Westentasche!
Bevor ich den Mund aufmache,
ahnst Du längst, was ich sagen will.
Du bist 360 Grad um mich herum.
Ich lebe in der Kuhle Deiner warmen Hand.
Du hast die totale Peilung von mir –
es will mir nicht in den Kopf,
ich krieg das einfach nicht gecheckt!
Ich komme Dir nicht davon.
Du schaust noch in das letzte Loch,
in dem ich mich verkrieche.
Mach ich mich mit dem Flieger
nach Westen davon – Du bist da.
Hau ich nach Osten ab –
Du bist schneller! Bist schon dort,
um mich zu führen und zu leiten.
Und gehen bei mir einmal
alle Lichter aus – ich meine wirklich alle –
und sage ich: Gute Nacht! Ende! Aus! Ciao!
Leute, lasst mich allein in meiner Nacht!
So geht bei Dir
doch kein einziges Lämpchen aus.
Dunkelheit kann Dich nicht finster machen,
Alle Nächte können Dein Licht
nicht ausmachen.
Du allein hast mich gemacht –
meinen Körper, meine Seele –
ja, Du warst beteiligt,
als ich im Bauch meiner Mutter
langsam größer wurde.
Ich danke Dir dafür,
dass Du mit mir so etwas Originelles
in die Welt gebracht hast.
Fantastisch ist alles, was von Dir kommt.
Das habe ich schon kapiert!
Als ich noch im Uterus war
und nicht einmal meine Mutter mich kannte,
da kannten wir uns schon gut.
Als sich meine Fingerchen formten,
da schautest Du zu.
Du hast meinen Kalender schon geschrieben,
bevor ich den ersten Tag mit Leben begann.
Deine Pläne kriege ich nicht gerafft,
Deine Gedanken
sind eine Nummer zu groß für mich.
Du denkst Gedanken in endloser Folge –
wie Sterne am Himmel,
wie Sandkörner am Meer.
Da kommt keiner mit!
Schau her, Gott, auf mich,
ob ich wieder drauf und dran bin,
vor Dir die Biege zu machen.
Komm, pack mich,
hol mich zurück
auf den Weg ins Paradies!
Ihr werdet Euch vielleicht wundern: Das Lied steht in der Bibel und ist ca. 3000 Jahre alt. Ich habe es nur ein klein bisschen übersetzt. Die alte Version ist nicht ganz so lässig, dafür echt besser. Schaut mal nach: Psalm 139! Warum ich dieses Lied an den Anfang dieses Buches gestellt habe? Weil es seltsamerweise mein ganzes Leben zusammenfasst. Gerade mein ewiges Abhauen – ich finde es in diesem Lied. Ab in den Flieger, ab nach Mallorca, ab nach Ibiza, ab nach Napoli! Ab auf den nächsten Trip. Alkohol. Drogen. Partys. Frauen. Immer sollte es irgendwo noch heftiger sein. Aber immer war schon jemand vor mir da. Jemand war noch schneller. Und ich war schon verdammt schnell.
Eichsfeld, Sommer 2007
Ich kann fliegen. Ich bin frei. Endlich. Frei wie ein Vogel. Das Leben hat es noch mal gut gemeint mit mir. Womit habe ich das eigentlich verdient? Ich sitze alleine im Auto und fahre auf der A 7 – Richtung Heimat. Ins Eichsfeld. Nein, ich fahre nicht, ich fliege! Das Leben ist rund und schön.
Im Autoradio läuft Lenny Kravitz zu großer Form auf: »I want to get away, get away, I wanna fly away«. Ich drehe voll auf, singe laut mit. »I wanna fly awaaaay …!« Leute, ich kann fliegen! Ich bin vor kurzem erst durch die Wolken gebrochen. Bin geflogen wie Lenny. Raus aus der ganzen völlig verdrehten Kiste, die mein Leben gewesen sein soll. Ich könnte durchdrehen vor Glück. Was mir passierte, hatte niemand auf dem Schirm. Ich selbst am wenigsten. Ich hatte Gott getroffen. Als wäre mir Lenny über den Weg gelaufen, nein krasser! Gott? Ja, Gott! Vor zwei Jahren. Mein Herz hüpft sofort wieder etwas schneller vor Freude bei der Erinnerung an die Begegnung mit IHM. Nein, ER hatte mich gefunden. Mich ausgesucht. Mich, der ich in meinem Leben nichts ausgelassen habe. Mich, der ich kein Glas habe stehen lassen und keine hübsche Frau von der Bettkante gestoßen habe. Dieser unbekannte Gott hatte einen Typ wie mich irgendwie auf dem Scanner. Gott. Wie war das nur möglich? Wie passte das zusammen? Eine Sekunde nur hatte damals gereicht. Alles wurde neu. Endlich durfte ich mein altes, abgefahrenes Leben hinter mir lassen.
Aussteigen! Weg! Weg! Weg! »I wanna fly awaaaay …!« Meine Hände trommeln auf das Lenkrad. Ich singe, nein, ich schreie den Refrain mit, aus voller Kehle. Fliegen. Ja, es ist wie Fliegen. Lenny, du hast Recht. Es ist herrlich. Mein Leben ist aufregend. Ich spreche immer wieder mit spannenden Leuten in der Kirche. Sie alle wollen meine verrückte Geschichte hören. Gerade komme ich von einem großen Kongress in Köln, bei dem ich eingeladen war zu sprechen. Sogar ein Kardinal interessiert sich für meine Geschichte. Letzte Woche war ich in Hamburg. Davor in Bonn. Berlin. Wien. München. Ich komme plötzlich richtig herum in der Welt. Verrückt. Mit meinem alten, krassen Partyleben hat das nichts mehr zu tun. Die Landschaften fliegen rechts und links an mir vorbei. Noch eine Stunde bis nach Hause. Es ist bereits dunkel auf Deutschlands Straßen. Die Lichter der entgegenkommenden Autos blenden mich heute Nacht nicht. Ich sitze scheinbar ein kleines Stück höher, auf einer neuen, anderen Ebene.
»I wanna fly away!« Ja. Es ist ein Abenteuer. So ganz anders. Ich mache seit der Begegnung mit IHM auch keine Pläne mehr für mein Leben. ER hat das jetzt für mich übernommen. Sein Geist wird mich eines Tages in das Gelobte Land führen. So wie damals das Volk Israel. ER weiß alles. Nicht mehr lange, und ich kriege die Chance meines Lebens. Bis dahin jobbe und studiere ich. Lese täglich in der Bibel. Das Wort Gottes. Das reicht. Keine großen finanziellen Verpflichtungen, keine wirklichen Sorgen plagen mich mehr. Ich bin endlich frei. Ich kann fliegen. Wie ein Vogel. Bis in den Himmel hinauf. Die Welt steht mir offen. Ich kann jetzt alles tun. Ohne Angst. Einfach so.
Ich will mit meiner Vergangenheit nichts mehr zu tun haben. Weg damit! Für immer. Ich bin endlich ein freier Mensch. Ich habe auch keine Angst mehr. Ich habe alles verstanden. Ich bin seit zwei Jahren ein Christ. Seither ist mein Leben ein Kinderspiel. Gott und ich, wir sind einfach unschlagbar. Wie die Klitschkos.
Eichsfeld, Frühling 2008
Die Magen- und Rückenschmerzen sind einfach nicht mehr auszuhalten. Ich kann mich beim Studium nicht richtig konzentrieren. Außerdem spielt mein Kreislauf seit ein paar Wochen völlig verrückt. Mir ist ständig schwindelig. In mir ist plötzlich eine furchtbare Leere; ich fühle mich richtiggehend ausgebrannt, völlig runtergekokelt …«
»Sie können sich nicht mehr motivieren?«
»Ja, es ist, als hätte jemand bei mir den Stecker rausgezogen. Den Saft abgedreht. Die inneren Lichter verglimmen, werden verschluckt. Habe überhaupt keine Kraft mehr. Gestern bin ich sogar bei meinem Kurs in der Volkshochschule zusammengebrochen. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Deshalb bin ich hier …«
Meine Hausärztin hört sich alles, was ich zu berichten habe, sehr genau an. Sie steht rechts neben mir und hält meinen Arm. Sie misst meinen Blutdruck und horcht mich am Rücken ab. Sie sagt nichts, ist voll konzentriert. »So, Sie können sich wieder anziehen.« Ich schlüpfe in mein T-Shirt und setze mich auf die Behandlungsbank. Kurze Zeit später nimmt auch sie Platz, auf ihrem Stuhl, hinter dem großen Eichenschreibtisch. Sie ist ein nüchterner Typ, kurz angebunden:
»Wenn Sie so weitermachen, gebe ich Ihnen noch fünf Jahre. Okay?« – »Fünf Jahre?« – » Maximal.«
Die Zeit scheint plötzlich stehen zu bleiben. Wie bitte? Meine Augenbrauen und mein Magen ziehen sich in einem parallelen Mechanismus zusammen: »Sagen Sie, dass ich mich verhört habe!« Meine Hausärztin unterlässt weitere Kommentare; sie sieht mich nur durch ihr rot-goldenes Brillengestell intensiv an. Ihr Blick lässt kein Missverständnis zu. Was soll das bedeuten? Nur noch fünf Jahre zu leben? Jetzt? Aber doch nicht jetzt! Wenn sie das dem Drogenwrack von vor ein paar Jahren gesagt hätte, hätte ich es abgenickt. Aber ich habe doch Gott gefunden. Die letzten Jahre waren doch prall gefüllt mit Glück. Was soll das denn jetzt? Habe ich vielleicht Krebs oder sonst eine heimtückische Krankheit? Oh Gott. Noch fünf Jahre. Mein Herz klopft schneller. Babum. Babum. Babum. »Wie meinen Sie das, Frau Doktor? Ich verstehe nicht, was genau ist denn mit mir nicht in Ordnung?«
Die Ärztin schüttelt den Kopf: »Es ist wahrscheinlich nichts Spezifisches. Das ganze System ist im Eimer. Totalkollaps. Das geht ganz schnell. Fangen Sie endlich an, an Ihrer Identität zu arbeiten, sich selbst zu finden. Lernen Sie, an sich zu denken. Ihr Rücken und Ihre Seele sind einfach nicht mehr in der Lage, die horrenden Lasten und Wunden Ihrer Vergangenheit zu tragen.« Du liebe Zeit! Die Seele! Zu mir finden! Auch das noch.
Ich bin eigentlich nicht der typische Psychotyp, der nirgendwo lieber liegt als auf der Couch. Nach wie vor kommt die Nachricht nicht wirklich bei mir an. Jemand redet wie durch einen dichten Nebel auf mich ein: »Werde Sie erst mal vier Wochen krankschreiben … ein mittleres Antidepressivum … Psychotherapie … Entscheiden Sie selbst … An Ihrer Stelle würde ich sofort anfangen … Sie leiden an einer so genannten Burnout-Depression. Ihre Seele hat einen Infarkt erlitten!«
Zack, nun ist es raus! Burnout, Depressionen, Infarkt der Seele. Was soll das bitte heißen? Was ein Herzinfarkt ist, weiß ich wohl, aber ein Seeleninfarkt? Ich knete meine Hände fest zusammen, verstehe das Ganze nicht. Ich bin doch vor kurzem erst ein religiöser Mensch geworden! Ich hatte das ganze Ding doch gedreht. Habe völlig gesund gelebt in den vergangenen Jahren. Nicht mehr geraucht. Nichts mehr gesoffen. Keine bunten Pillen. Keine durchschwoften Nächte. Nichts mehr. Nada. Niente. Habe gelebt wie ein Mönch. War das alles eine Illusion? Oh, mein Gott! Die Gerüchteküche in der Stadt – hatte sie Recht? Durchgeknallt, der Gute! Wieder spüre ich mein Herz: Babum. Babum. Babum.
Irgendwie versuche ich einen Gedanken nach oben zu senden. Hallo? Meldet sich keiner. Hallo? Hallo, Mister Gott, gibt’s Dich vielleicht doch nicht? Babum. Babum. Babum. Ich schlucke. Mein Hals ist vollkommen trocken. Ich? Ich soll depressiv sein?
Ist das nicht so eine Verlierer-Krankheit? Ich bin doch kein »Verlierer«! Dario doch nicht! Mein Herz meldet sich wieder. Babum. Babum. Babum. Die Gedanken wirbeln in meinem Kopf hin und her. Wie lose Blätter im Sturm. Die Bilder im Arztzimmer. Eine Kopie von Monet. Rosenmeer. Michelangelo. Die Erschaffung Adams. Shit. Mein Blick richtet sich auf das Fenster. Babum. Babum. Babum. Es ist ein sonniger Tag im Mai. Die Vögel auf den Bäumen und in der Luft zwitschern fröhlich. Ich höre Kinderstimmen in der Ferne, doch klingt alles nur seltsam dumpf in meinem Kopf. Gott, wo bist Du? Wo bist Du jetzt? Babum. Babum. Babum.
Plötzlich und unvorbereitet schießen Tränen ein und laufen über mein Gesicht. Ich vergrabe mich in meine Hände. Vornübergebeugt bemerke ich, wie ein Tropfen dieses Seelenwassers mir durch die Finger quillt und auf meine abgelatschten weißen Nike-Sportschuhe fällt. Ein seltsames Gefühl der Erleichterung breitet sich plötzlich in mir aus. Krass. Jemand hat hier gerade meine Fassade durchleuchtet, mich gecheckt, etwas endlich erkannt. Ich sterbe nicht. Nein. Bin nur angezählt. Passiert jedem Boxer. Bin krank. Nicht verrückt. Hey, Leute, nur krank! Nur Depressionen. Ein bisschen Schatten auf dem Gemüt, was soll’s? Sofort beginnt der Positivdenker in mir zu rotieren. Depressionen, da gibt es doch sicher Mittelchen und Wege. Ich streiche mir nervös und mit zitternden Händen durch mein Haar. Es stimmt doch. Krankheiten lassen sich heilen – oder etwa nicht? Sofort kippt alles wieder um in mir. Eine schleichende Angst breitet sich in mir aus. Mir wird mit einem Mal schrecklich heiß. Mein Kopf droht zu platzen. Poch. Poch. Poch.
»Ja, man kann diese Krankheit heilen«, sagt meine Ärztin mit bestimmtem, aber freundlichem Gesicht. Sie steht auf und gibt mir ihre Hand. »Machen Sie sich nur schnell auf den Weg. Alles Gute.«
Das ist alles: Machen Sie sich auf den Weg. Ihre Worte hallen auf der Fahrt nach Hause in mir nach: »Machen Sie sich auf den Weg!« Immer wieder höre ich diesen Satz in mir: »Machen Sie sich auf den Weg.« Den Weg nach Hause finde ich schon. Aber ich gehe wie neben mir her. Es ist, als hätte ich grad gar nichts mit mir zu tun. Schlüssel in die Wagentür. Anschnallen. Das ist ein Film, in dem einer den Ton abgestellt hat. Ich gleite mit meinem roten Golf III durch eine surreale Landschaft, schiebe mich vorbei an Bäumen, Menschen, Häusern, an lauter Dingen, die nicht zu mir gehören. Soll mich auf einen Weg machen. Welchen Weg? Zu anderen Ärzten? Zu einem bestimmten Ort? Ich kenne ihn nicht. Nicht mehr arbeiten. Nicht mehr studieren. Zu mir selbst finden. Meine Identität suchen. Frieden machen. Für einen Moment bin ich wieder klar. Zorn steigt in mir auf. Ich haue mit der Faust auf den Lenker, der nichts dafür kann. Hatte ich das nicht schon vor zwei Jahren? Ich habe doch vor kurzem erst zu mir gefunden. Zum christlichen Glauben, zu Jesus, zu Gott. Ich war Christ geworden. Das war doch so unglaublich stark gewesen! In einem unglaublichen Tempo hatte ich mein Leben in den Griff bekommen. Jahrelang war ich doch nur völlig orientierungslos, ja geradezu manisch meinen Instinkten hinterhergerannt, dem nächsten Reiz, der nächsten heftigen Nummer. Und dann hatte mich der Frieden überfallen wie ein blauer Sommertag, an dem du in der Wiese liegst, die Insekten schwirren hörst und weißt: Die Welt ist rund und alles, alles ist gut. Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben echten Sinn und innere Ruhe gefunden. Das alles war gerade wieder so weit weg, wie Hawaii vom Nordpol. War denn da überhaupt mal was?
Gerade fährt mich mein Auto durch eine schwarz verhangene Wolkenwand. Die Welt erscheint mir wie eine einzige große Leere. Nichts. Da ist nichts. Das gibt’s doch nicht. Nein. Nein. Nein. Wieder schlage ich mit meiner rechten Hand unbeherrscht auf das unschuldige Lenkrad. Nicht schon wieder ein Absturz! Nicht schon wieder!
Das kann doch einfach nicht wahr sein. Bitte nicht!
Frieden machen? Mit wem? Eine Bilanz ziehen? Wozu? Meine Vergangenheit bewältigen. Für was? Ich habe doch vor zwei Jahren erst einem Priester meine gesamte Vergangenheit gebeichtet. Zweifel packen mich: Hatte der es etwa nicht drauf? Machte der nur einen billigen Segen über mein seelisches Trümmerfeld, an das jetzt ein richtiger Fachmann, so ein Psychodoktor, ranmuss? Wie auf Wolke sieben war ich damals aus dem Beichtgespräch gesprungen, hatte mich total befreit und mutig gefühlt, dass ich so etwas Schräges hinkriegte – einem fremden Kuttenträger meine schwärzesten Nummern auf die Seele zu binden. Nein, nein, muss ich mir sagen – das alles war kein magisches Getue. Die Beichte hatte mich doch vom Kopf auf die Füße gestellt. Die Gnade war damals mit Händen zu greifen. Und jetzt war sie wie weggeblasen. Da war und ist plötzlich nichts mehr. Gar nichts mehr. Oder? Oder spielte Gott ein neues Spiel mit mir? War das nur der zweite Akt im Drama meines neuen Lebens? Mit einem Mal kriege ich einen Fetzen von Sinn zu fassen, beginne etwas zu verstehen. Gott ist doch nicht nur dazu da, dass ER dir permanent Blümchenwiesen rüberwachsen lässt. »Wer mir nachfolgen will, der nehme sein Kreuz auf sich«, sagt Jesus. Also irgendwie war bei ihm doch nicht alles Blümchenwiese. Vielleicht, sage ich mir plötzlich, ist das ja auch von Gott, diese Schatten meiner Vergangenheit, die mich mitten im schönsten Leben einholen, diese Schmerzen aus längst vernarbten Wunden, dieses alte Gift, das noch immer in mein Heute herübersickert.
»Wir leben unser Leben in Spiralen«, hatte mir mal ein Freund gesagt, »alles holt dich auf einer neuen Ebene wieder ein. Und du musst noch mal durch und noch mal durch …!« Er hatte das allerdings eher resigniert gesagt. Aber ich will ja nicht resignieren. Nein! Im Gegenteil. Ich möchte ein starkes, freies, von Liebe getriebenes Leben haben. Das Wesen einer Spirale ist doch nicht nur, dass sie sich ewig im Kreis dreht. Das kann nicht sein. Oder? Dann wären wir ja bei Nietzsche und der Ewigen Wiederkehr. Oder beim Buddhismus. Eine Spirale geht doch aber nach oben, nicht wahr?
Ja, sage ich mir, ich bin in einer Spirale, und zwar so, dass es mich fast aus der Kurve haut. Aber es könnte auch ein Weg sein, könnte Sein Weg sein. Den Weg, den ER speziell für mich entworfen hat: mein Weg. Also angenommen, diese Nummer mit dem Weg in der Spirale kommt von oben, vom großen Regisseur da oben, was wäre meine Krankheit dann? Ein Infarkt der Seele. Was bedeutet diese Diagnose? Ja, was wäre sie dann? Sie wäre vielleicht die Chance, endlich auch die tieferen Regionen meiner Seele mit Licht zu erfüllen, Wasser in das Trostlose meiner inneren Wüsten und Verwüstungen zu leiten, endlich richtig gesund zu werden und zu meinem privaten Glück und Frieden zu finden.
Ich soll mich also auf den Weg der Heilung machen. Das wird es sein. Ich soll gesund werden. Nur wie? Ich atme tief durch. Ich muss jetzt versuchen, das herauszufinden.
Ich komme zu Hause an. Wie bin ich eigentlich so schnell hierhergekommen? Mein Rücken. Die Schmerzen sind furchtbar. Brennen. Schwindelgefühle. Ich schleppe mich zur Tür rein und muss mich erst einmal hinlegen. Falle völlig erschöpft auf die Couch. Die Gedanken rasen dabei immer weiter. Mit wem kann ich darüber jetzt offen reden? Ich gehe in Gedanken meine Freunde und mir nahestehenden Menschen durch. Viele fallen mir ein. Ich bin gerade sehr froh, zu wissen, dass es echte Freunde gibt in meinem Leben. Trotzdem, werden sie mich wirklich verstehen, mich überhaupt noch ernst nehmen können? Werden sie nicht sagen: Typisch Dario. Von einem Extrem ins andere. Vorgestern der bekiffte DJ, Welt- und Weiberumarmer. Gestern der heilige Franziskus vom Eichsfeld. Heute ein Fall für die Couch. Und morgen, was wird er morgen machen? Big Brother? Vielleicht noch mal ins Dschungelcamp?
Ich weiß gar nicht, ob ich gleich mit jemandem reden sollte oder möchte. Nie in meinem bisherigen Leben habe ich andere Menschen um Hilfe für mich gebeten. Ein neues Gefühl der Ohnmacht und totalen Zerrissenheit macht sich plötzlich innerlich breit. Mir läuft der kalte Schweiß das Gesicht herunter. Ich habe das Gefühl, eine riesenhafte Welle überrollt und verschluckt mich. Ich saufe ab, versinke immer tiefer. Keine Chance auf Rettung. Gott. Wo bist Du, Gott? Verzweiflung.
Reiß dich zusammen, pocht es in meinem Kopf! Reiß dich zusammen, du bist doch noch aus jeder Schlacht als Sieger rausgekommen. Du hast doch immer die Kurve gekriegt. Wenn sie dich abgeschrieben hatten, kamst du lächelnd um die nächste Kurve. Weitermachen. Immer weiter, sagt Oliver Kahn. Oh Mann, mir ist übel. Ich muss kotzen. Renne zum Klo. Nichts. Schleppe mich zum Bett zurück. Liege nur da. Zittere. Schlafe einen Moment weg. Werde schnell wieder wach. Immer noch zittern. Greife nach der Wasserflasche. »Trinken, Dario«, hatte mir Uta gesagt, »Trinken ist gut. Trink so viel Wasser, wie du kannst!« Mach ich. Ich trinke literweise Wasser. Setze mich auf die Bettkante. Mache das Radio an. Robbie Williams.
Ich schaue raus aus dem Fenster. Es ist Frühling. Ich kann ihn nicht spüren. Nichts. Leere. Mein Mund und Hals bleiben trotz des Wassers völlig trocken. Ich stehe auf und schalte das Internet ein. Gebe meine Diagnose in die Suchmaschine ein. Depressionen, Burnout, Infarkt der Seele. Das gibt’s doch nicht! Dort steht ja alles. Ich mache das Radio aus. Will mehr von Robbie Williams hören! Verdammt, wo ist nur die CD? Ah, hier! Dieses Lied. Robbie Williams singt es voller Inbrunst. »I just wanna – feel – real loving …« Irgendwie fühle ich mich ihm gerade ganz nahe. Ein Kollege. Einer vom selben Orden. Auch depressiv. Ich lese das zumindest oft über ihn. Auf dem Bildschirm sehe ich »mich«: Innerhalb von Minuten bekomme ich einen umfassenden Einblick in mein Krankheitsbild. Es passt tatsächlich alles, wirklich alles, ins Bild. Die Symptome: Lustlosigkeit, große innere Leere, Schwindelgefühle. Die Rückenprobleme und die Magenschmerzen. Die Schlaflosigkeit. Genau so erging es mir die letzten Wochen. Ich lese auch etwas von den tiefer liegenden Ursachen einer Burnout-Depression, ich meine Ursachen jenseits von Stress und Zu-viel-um-die-Ohren: schwierige Lebensumstände, Allein-gelassen-werden, Vater-Mutter-Problematik, Liebesentzug, Einsamkeit, mangelnde Anerkennung von beruflicher Leistung. Oh ja, das alles kenne ich von ganz früher. Herzlich willkommen in meiner Welt! Und ich lese etwas von möglichen Therapieansätzen, lese von Psychotherapie, dem Einsatz von Antidepressiva; viel Erholung sei nötig, gesunde Ernährung, Meditation. Ich nehme erst mal einen tiefen Schluck aus der Mineralwasserflasche. Bloß keine Medikamente, sage ich mir! Ich habe in meinem Leben genug bunte Pillen geschluckt. Ich brauche nicht auch noch die grünen. Von der Wand über dem PC lächeln mich meine Kinder an: Giuliano und Emily. Und da ist Uta, meine wundervolle, liebe Freundin. Oh Mann, ich muss gesund werden! Für sie alle und für mich selbst möchte ich gesund werden.
Ich klicke auf »Ausschalten, Herunterfahren« und lege mich wieder auf meine Couch. Ruhe. Ich verschränke meine Arme hinter dem Kopf und schließe die Augen. Tief einatmen und wieder ausatmen! Erstens: Ich habe IHN getroffen. Ganz sicher. Es war keine Illusion. Zweitens:ER hat das hier zugelassen. ER war es. Drittens: Ich muss und soll also zu mir finden.
Zu mir finden?
Wer bin ich denn? Wer bin ich denn? Wer bin ich denn? Mein Gott, ich weiß es ja gar nicht! Habe ich das schon jemals gewusst? Ich glaubte es vor einiger Zeit einmal zu wissen.
Ich schaue mir meine zittrigen Hände an. Was ist nur mit mir los? Das habe ich noch nie gemacht. Meine Hände! Gibt’s nicht zweimal auf der Welt. Aber wer bin ich denn? Oh, mein Gott, ich weiß gar nicht, wer ich wirklich bin!
Ein neuer Tag. Ich habe richtig mies geschlafen. Ich starre hinaus aus dem Schlafzimmerfenster. Es ist schon hell, früher Morgen; die Sonne geht gerade auf. Wie viel Uhr mag es sein? Sieben, acht oder neun Uhr? Mühsam finde ich mich in die Zeit. Mühsam – denn ich bewege mich gerade in einer anderen Art von Zeit. Bei mir steht alles. Die Zeiger sind wie festgefroren. Rund um mich geht die Welt weiter. Die Uhr läuft. Aber ich liege völlig kraftlos da, ticke nicht mehr im gleichen Rhythmus wie die Außenwelt. Außerhalb meiner Wohnung geht alles gelassen seinen gewohnten Gang. Gelassen ist das falsche Wort – es geht kalt seinen Gang. Gehöre ich da eigentlich noch dazu; bin ich noch ein Rad in der Mechanik der Abläufe? Zeit heißt: dann und dann bist du da. Warum weiß ich nicht mehr, wo ich dann und dann sein werde? Warum nur habe ich keine Bilder und Ziele mehr vor meinem geistigen Auge?
Ich lebe nach dem Neuanfang meines Lebens, vor zwei Jahren, in der Woche allein und sehr ruhig auf dem Land. Ich raffe mich auf, spazieren zu gehen. Gleich hinter meiner hellen Erdgeschosswohnung bin ich in der Natur. Ein Katzensprung, und es eröffnen sich mir wundervolle Wälder, Feldfluren und Wiesen. Natur hat mir schon immer gutgetan. Die Farben, die Stille, die Schönheit, in der Bäche, Bäume und Gräser einfach da sind, reinigten mich. Auch jetzt tut mir das gut. Das zwanghafte Ein- und Ausatmen, mit dem ich mich in meiner Wohnungsgruft zu beruhigen versuchte, bekommt einen Sinn. Frische, würzige, kühle Luft weitet meine Lungen, erfrischt mich. Ich blicke in die Ferne und sehe das saftige Grün und Gelb der Felder auf mich zukommen und werde plötzlich ganz ruhig. Ich sehe schwarze und braune Pferde auf der Koppel weiden. Was für herrliche, grazile Geschöpfe! Ich liebe eigentlich alle Tiere, denke ich. Ich ziehe mir meine Schuhe aus, nehme sie in meine Hand. Ich will die Erde spüren unter meinen Sohlen. Unter der Tauschicht hat sie noch Wärme gespeichert, das fühlt sich schön an. Einatmen! Ganz tief einatmen! Ich ziehe langsam mein Hemd aus und lasse mir die Sonne auf meinen Oberkörper scheinen.
Am liebsten würde ich jetzt komplett nackt durch den Wald laufen. Aber ich will ja nicht, dass sie gleich mit der weißen Jacke kommen. Langes Ausatmen. Es tut richtig gut, die Sonne auf meinem Körper zu spüren. Ich schließe beim Gehen die Augen. Ein leichter Wind weht. Meine Gedanken kehren zu mir und meiner augenblicklichen Lage zurück. Gestern Abend hat Uta noch angerufen. »Schreib es auf!«, hatte mir meine kluge Freundin geraten. »Was?« – »Dein ganzes Leben! Von Anfang an! Schreib dir den ganzen Quatsch und Wahnsinn von der Seele! Und wenn du das Konvolut hinterher verbrennst!« – »Du willst das lesen?«, hatte ich sie gefragt. »Ich muss das nicht lesen, obwohl es mich natürlich brennend interessiert. Wenn es dich beim Schreiben blockiert, dann lass mich draußen. Wenn es dich beflügelt, zeige es mir.« – »Den ganzen Mist soll ich aufschreiben?« – »Ja.« – »Aber ich kann doch gar nicht schreiben.« – »Doch, doch, du kannst wundervoll schreiben. Ich habe alle deine Mails und Briefe aufgehoben. Außerdem ist es auch vollkommen egal. Es geht ja nicht um den Literaturnobelpreis. Es geht um dich. Hauptsache, du schaust dich einmal an in einer ruhigen, meditativen Arbeit an.« Hmm. Sie hat vielleicht recht. Aufschreiben. Anschauen.
Meinen derart schrägen und undurchsichtigen Weg des Lebens verstehen lernen. Ich glaube, ich werde das machen. Das ist jetzt meine Art der Therapie. Ich öffne meine Augen, sehe den Feldweg wieder vor mir und beginne auch in meinem Geist etwas klarer zu werden. Die Welt hinter dem dunklen Schleier, sie ist wunderschön – ich erinnere mich vage, ich möchte so gern wieder richtig an ihr teilhaben.
Von heute an beginnt also die Reise, zurück in meine Vergangenheit! Ich werde mich ab heute in die Einsamkeit begeben und mit meiner Vergangenheit ringen.
Ja, ich werde mich ihr stellen, auch wenn dabei vielleicht viele schmerzhafte und erschreckende Erinnerungen auftauchen. Aufrichtig. Schonungslos. Ehrlich.
Ja. Ich bin jetzt dazu bereit.
Die Reise kann beginnen.
Wer bin ich wirklich?
Rückblende – Eichsfeld, 1981
Womit soll ich meine Reise beginnen? Dass ich geboren bin? Dass ich Eltern habe? Jeder Mensch hat das. Ich habe Freunde, denen leuchten die Augen, wenn sie von ihrer Kindheit erzählen. Ich beginne dann gleich zu differenzieren: Schon okay, aber … Ich kriege keine leuchtenden Augen, wenn ich von den Jahren in meinem Elternhaus erzählen soll. Da ist leider kein wirklich warmes Gefühl in meiner Herzgegend. Ich kann mich nicht einfach fallen lassen in irgendeine Erinnerung von echter Geborgenheit. Kindheit, was ist Kindheit? Kindheit ist das, woran du dich am schnellsten erinnerst.
Los, erinnere dich!
Ich höre eine Stimme, die Stimme meiner Mutter: »Halt die Schnauze!« Ihre Stimme überschlägt sich fast. Ich höre Türen knallen, höre ein: »Verschwinde endlich!« Schritte. Gepolter. Klirr. Broch. Etwas fliegt an die Wand. Teller? Vasen? Immer ist es die verzweifelte Stimme meiner Mutter, an die ich mich erinnere. Merkwürdig – ich höre nicht, was die Männerstimme antwortet. »Mach dich raus hier!«, ruft sie. Das Geschrei wird immer lauter. »Du Schwein! … Verschwinde!« Worte, dachte ich früher, verdunsten, kaum dass sie den Mund verlassen haben. Stimmt nicht. Meine Mutter schreit noch immer in mir. Jetzt bin ich wieder das Kind, das sich die Ohren zuhält. Oh nein, oh nein! Aufhören, bitte aufhören! Ich wippe vor und zurück. Meine kleinen Hände zittern. Ich presse sie immer fester gegen meine Ohren. Broch. Klirr. Wieder höre ich Glas zersplittern. Irgendwas macht Bumm. Bumm. »Rauuusss hier, verschwinde, du Schwein, lass mich in Ruhe!« Mama schreit immer lauter. Dann ändert sich die Tonlage. Ich höre ihr Weinen. Warum muss meine Mami weinen? So haltlos weinen. Sie ist doch groß. Wie mich das quält, ihr Weinen! Ich will sie nicht leiden und weinen hören. Meine Mami. Nein. Das soll aufhören.
Noch heute höre ich manchmal ihr Weinen. Noch heute macht es mich frösteln.
Wo bin ich überhaupt? Ich sitze in meiner dunklen Höhle in meinem kleinen Kinderzimmer. Sie besteht aus zwei Stühlen und einer großen, grünen, dunklen Decke, die ich darübergebreitet habe. Es gibt eine kleine Taschenlampe. Ich halte das nicht aus. Ich verstecke mich immer vor diesem lauten Theater. Mami. Papi? Was ist hier los? Ich habe solche Angst. Wippe immer schneller auf meinen kleinen Knien, vor und zurück.
Es ist das Jahr 1981. Ich bin gerade sieben Jahre alt geworden. Ich lebe mit Mami und ihrem neuen Mann in einer kleinen Wohnung zusammen. Meine Eltern sind nämlich seit vier Jahren geschieden. Ich weiß nicht wirklich, was das bedeutet. Mein Papi ist weg. Mama hat mir gesagt, dass er jetzt mit einer anderen Frau zusammen ist. Das verstehe ich nicht. Liebt mein Papi mich nicht mehr? Warum ist er denn weggegangen? Sie waren gerade 20 und 21 Jahre alt, als sie sich wieder voneinander trennen. Dabei war es einmal die ganz große Liebe, hat mir Mama gesagt. Ein junger Italiener, hübsch, charmant, voller Energie. Jetzt betreibt er eine Pizzeria in der Stadt. Meine Mama hat wieder neu geheiratet. Einen Mann, den ich statt meines eigenen Vaters »Papi« nennen soll. Ich bekomme kurze Zeit danach eine kleine Halbschwester, sie heißt Nadine – hat strohblonde Haare und sieht aus wie ein kleiner Engel. Doch es ist keine richtige Familie. Nein, es ist nicht schön. Wir erleben immer öfter solche schrecklichen Stunden, wie ich sie zu Eingang des Kapitels aus meiner Erinnerung hochholte. Es gibt ständig Streit. Körperliche Gewalt liegt in der Luft. Kaskaden von Hass entladen sich über uns. Wir Kinder verstehen nicht, was da passiert. Ich habe große Angst vor dem neuen Mann meiner Mami. Wer ist das überhaupt? Warum schreit er sie immer so viel an? Er soll das lassen. Er soll sie in Ruhe lassen! Immer öfter stelle ich mich mit geballten kleinen Fäustchen zwischen die beiden, um meine Mami zu beschützen. Ich möchte so gerne zu meinem richtigen Papi. Er fehlt mir so sehr. Ich ertrage die Wirklichkeit meines Lebens zu Hause nur äußerst schwer.
Ich entdecke Bücher. Bücher sind eine Welt. Du machst eine Tür auf und bist woanders. Auf einem Schiff. Einer einsamen Insel. In den Rocky Mountains. Bist der mutige Sohn von Lederstrumpf oder der beste Freund von Winnetou. Einer von den TKKG. Bist Tarzan, der Anführer der Gang. Einer von den drei Musketieren. Ich beginne mich in meine Bücher zu vergraben, beginne mit süchtiger Energie zu lesen. Ich verschlinge alles, was mir zwischen die Finger kommt, und mache mich dadurch für eine kleine Weile aus dem Staub. Ich lasse das Horrorszenario unserer kleinen Altbauwohnung hinter mir. Dafür ziehe ich mich immer öfter in mein Zimmer und meine Höhle zurück.
Dort sieht mich niemand, wenn ich aus der Welt aussteige. Ich lese, das Buch auf meinen Knien, die kleine Stablampe in der Hand. Dazu trinke ich warme Milch und knabbere meine Lieblingskekse. Manchmal sitze ich fast den ganzen Tag da drin. Hier ist Frieden. Am liebsten möchte ich für immer in meinem Versteck bleiben. Ich mag keinen Streit. Ich will nur meine Ruhe haben. Die Bücher schenken mir dabei die Möglichkeit, meinen traurigen Alltag zu verdrängen. In der Schule bin ich, trotz aller Probleme zu Hause, sehr gut. Aber irgendwie interessiert es scheinbar niemanden richtig, welche Noten ich habe, ob ich etwas verstehe oder nicht. Ich kann zumeist mit niemandem richtig über meine Gedanken und Sorgen in der Schule reden. Warum nicht?
Ich bin vor allem sehr viel allein. Meine kleine Schwester Nadine ist noch sehr oft bei der Oma. Meine Mama hat es nämlich ganz schwer. Sie muss viel arbeiten, um Nadine und mich durchzubringen. Ihre Ausbildung zur Krankenschwester hatte sie vor meiner Geburt abgebrochen. Bis zu der Trennung hatte sie dann in dem kleinen Lokal meines Vaters gearbeitet. Sie ist eine sehr starke, wenn auch tief unglückliche Frau. Ich spüre das. Sie leidet unter der Trennung von meinem Vater, wie ich darunter leide. Sie ist wütend auf ihn. Ich höre von ihr, dass er jetzt eine andere Frau liebt. Das verletzt sie sehr. Die Tränen und die Wut meiner Mutter – ich möchte sie nicht hören und sehen. Ich weine dann auch immer viel. Er ist doch mein Vater. Sie ist meine Mutter. Warum sind sie nicht bei mir? Sie sollen sich nicht streiten. Zu wem soll ich nur halten? Wohin soll ich gehen? Warum sind wir nicht zusammen? Ich verstehe das alles nicht.