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Daniel Kehlmann

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Beschreibung

«Jahre später, sie waren längst erwachsen und ein jeder verstrickt in sein eigenes Unglück, wusste keiner von Arthur Friedlands Söhnen mehr, wessen Idee es eigentlich gewesen war, an jenem Nachmittag zum Hypnotiseur zu gehen.» Mit diesem Satz fängt er an, Daniel Kehlmanns Roman über drei Brüder, die – auf je eigene Weise – Heuchler, Betrüger, Fälscher sind. Sie haben sich eingerichtet in ihrem Leben, doch plötzlich klafft ein Abgrund auf. Ein Augenblick der Unaufmerksamkeit, ein winziger Zufall, ein falscher Schritt, und was gespenstischer Albtraum schien, wird wahr. Es ist der Sommer vor der Wirtschaftskrise. Martin, katholischer Priester ohne Glauben, übergewichtig, weil immer hungrig, trifft sich mit seinem Halbbruder Eric zum Essen. Der hochverschuldete, mit einem Bein im Gefängnis stehende Finanzberater hat unheimliche Visionen, teilt davon jedoch keinem etwas mit. Schattenhafte Männer, sogar zwei Kinder warnen ihn vor etwas, nur: Diese Warnungen gelten gar nicht ihm. Gemeint ist sein Zwillingsbruder Iwan, der ihm zum Verwechseln ähnlich sieht, und schon nimmt das Unheil seinen Lauf. Daniel Kehlmanns Roman über Lüge und Wahrheit, über Familie, Fälschung und die Kraft der Fiktion ist ein virtuoses Kunstwerk – vielschichtig, geheimnisvoll und kühn.

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Daniel Kehlmann

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Roman

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Über dieses Buch

«Jahre später, sie waren längst erwachsen und ein jeder verstrickt in sein eigenes Unglück, wusste keiner von Arthur Friedlands Söhnen mehr, wessen Idee es eigentlich gewesen war, an jenem Nachmittag zum Hypnotiseur zu gehen.»

Mit diesem Satz fängt er an, Daniel Kehlmanns Roman über drei Brüder, die – auf je eigene Weise – Heuchler, Betrüger, Fälscher sind. Sie haben sich eingerichtet in ihrem Leben, doch plötzlich klafft ein Abgrund auf. Ein Augenblick der Unaufmerksamkeit, ein winziger Zufall, ein falscher Schritt, und was gespenstischer Albtraum schien, wird wahr.

Es ist der Sommer vor der Wirtschaftskrise. Martin, katholischer Priester ohne Glauben, übergewichtig, weil immer hungrig, trifft sich mit seinem Halbbruder Eric zum Essen. Der hochverschuldete, mit einem Bein im Gefängnis stehende Finanzberater hat unheimliche Visionen, teilt davon jedoch keinem etwas mit. Schattenhafte Männer, sogar zwei Kinder warnen ihn vor etwas, nur: Diese Warnungen gelten gar nicht ihm. Gemeint ist sein Zwillingsbruder Iwan, der ihm zum Verwechseln ähnlich sieht, und schon nimmt das Unheil seinen Lauf.

Über Daniel Kehlmann

Daniel Kehlmann wurde 1975 in München geboren, lebt in Berlin und Wien. Sein Werk wurde unter anderem mit dem Candide-Preis, dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, dem WELT

Inhaltsübersicht

Der große LindemannDas Leben der HeiligenFamilieGeschäfteVon der SchönheitJahreszeiten1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel

Der große Lindemann

Jahre später, sie waren längst erwachsen und ein jeder verstrickt in sein eigenes Unglück, wusste keiner von Arthur Friedlands Söhnen mehr, wessen Idee es eigentlich gewesen war, an jenem Nachmittag zum Hypnotiseur zu gehen.

Es war das Jahr 1984, und Arthur hatte keinen Beruf. Er schrieb Romane, die kein Verlag drucken wollte, und Geschichten, die dann und wann in Zeitschriften erschienen. Etwas anderes tat er nicht, aber seine Frau war Augenärztin und verdiente Geld.

Auf der Hinfahrt sprach er mit seinen dreizehnjährigen Söhnen über Nietzsche und Kaugummimarken, sie stritten über einen Zeichentrickfilm, der gerade im Kino lief und von einem Roboter handelte, der auch der Erlöser war, sie stellten Hypothesen darüber auf, warum Yoda so seltsam sprach, und sie fragten sich, ob wohl Superman stärker war als Batman. Schließlich hielten sie vor Reihenhäusern einer Straße in der Vorstadt. Arthur drückte zweimal auf die Hupe, Sekunden später flog eine Haustür auf.

Sein ältester Sohn Martin hatte die letzten beiden Stunden am Fenster gesessen und auf sie gewartet, schwindlig vor Ungeduld und Langeweile. Die Scheibe war von seinem Atem beschlagen, er hatte mit dem Finger Gesichter gezeichnet, ernste, lachende und solche mit aufgerissenen Mäulern. Wieder und wieder hatte er das Glas blank gewischt und zugesehen, wie sein Atem es mit feinem Nebel überzog. Die Wanduhr hatte getickt und getickt, warum dauerte es so lange? Wieder ein Auto, und wieder war es ein anderes, und wieder eines, und noch immer waren es nicht sie.

Und plötzlich hielt ein Auto und hupte zweimal.

Martin rannte den Flur entlang, vorbei an dem Zimmer, in das seine Mutter sich zurückgezogen hatte, um Arthur nicht sehen zu müssen. Vierzehn Jahre war es her, dass er leichthin und schnell aus ihrem Leben verschwunden war, aber noch immer quälte es sie, dass er existieren konnte, ohne sie zu brauchen. Martin lief die Stufen hinab, den unteren Flur entlang, hinaus und über die Straße – so schnell, dass er das heranrasende Auto nicht sah. Bremsen quietschten neben ihm, aber schon saß er auf dem Beifahrersitz, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, und jetzt erst setzte sein Herz einen Augenblick aus.

«Mein Gott», sagte Arthur leise.

Der Wagen, der Martin fast getötet hätte, war ein roter VW Golf. Der Fahrer hupte sinnloserweise, vielleicht weil er spürte, dass es nicht anging, nach so einem Vorfall gar nichts zu tun. Dann gab er Gas und fuhr weiter.

«Mein Gott», sagte Arthur noch einmal.

Martin rieb sich die Stirn.

«Wie kann man so blöd sein?», fragte einer der Zwillinge auf der Rückbank.

Martin war es, als hätte sein Dasein sich gespalten. Er saß hier, aber zugleich lag er auf dem Asphalt, reglos und verdreht. Ihm schien sein Schicksal noch nicht ganz entschieden, beides war noch möglich, und für einen Moment hatte auch er einen Zwilling – einen, der dort draußen nach und nach verblasste.

«Hin könnte er sein», sagte der andere Zwilling sachlich.

Arthur nickte.

«Aber stimmt das auch? Wenn Gott noch etwas mit ihm vorhat. Was auch immer. Dann kann ihm nichts passieren.»

«Aber Gott muss gar nichts vorhaben. Es reicht, wenn er es weiß. Wenn Gott weiß, er wird überfahren, wird er überfahren. Wenn Gott weiß, ihm passiert nichts, passiert ihm nichts.»

«Aber das kann nicht stimmen. Dann wäre es egal, was man macht. Papa, wo ist der Fehler?»

«Gott gibt es nicht», sagte Arthur. «Das ist der Fehler.»

Alle schwiegen, dann ließ Arthur den Motor an und fuhr los. Martin spürte, wie sein Herzschlag sich beruhigte. Ein paar Minuten noch, und es würde ihm wieder selbstverständlich vorkommen, dass er am Leben war.

«Und in der Schule?», fragte Arthur. «Wie läuft es?»

Martin sah seinen Vater von der Seite an. Arthur hatte ein wenig zugenommen, seine Haare, damals noch nicht grau, waren wie immer so wirr, als wären sie noch nie gekämmt worden. «Mathematik fällt mir schwer, ich könnte durchfallen. Französisch ist immer noch ein Problem. Englisch nicht mehr, zum Glück.» Er sprach schnell, um möglichst viel zu sagen, bevor Arthur das Interesse verlor. «In Deutsch bin ich gut, in Physik haben wir einen neuen Lehrer, in Chemie ist es wie immer, aber bei den Experimenten –»

«Iwan», fragte Arthur, «haben wir die Eintrittskarten?»

«In deiner Tasche», antwortete einer der Zwillinge, und jetzt wusste Martin wenigstens, wer von den beiden Iwan war und wer Eric.

Er betrachtete sie im Rückspiegel. Wie jedes Mal kam etwas an ihrer Ähnlichkeit ihm falsch vor, übertrieben, wider die Natur. Und dabei sollten sie erst einige Jahre später damit beginnen, sich gleich zu kleiden. Diese Phase, in der es ihnen Spaß machte, nicht unterscheidbar zu sein, sollte erst in ihrem achtzehnten Jahr enden, als sie für kurze Zeit selbst nicht mehr sicher wussten, wer von ihnen wer war. Danach sollte sie immer wieder das Gefühl überkommen, dass sie sich einmal verloren hatten und seither jeder das Leben des anderen führte; so wie Martin nie mehr ganz den Verdacht loswerden sollte, dass er eigentlich an jenem Nachmittag auf der Straße gestorben war.

«Glotz nicht so blöd», sagte Eric.

Martin fuhr herum und griff nach Erics Ohr. Beinahe hätte er es zu fassen bekommen, aber sein Bruder wich aus, packte seinen Arm und drehte ihn mit einem Ruck nach oben. Er schrie auf.

Eric ließ los und stellte fröhlich fest: «Gleich weint er.»

«Schwein», sagte Martin mit zitternder Stimme. «Blödes Schwein.»

«Stimmt», sagte Iwan. «Gleich weint er.»

«Schwein.»

«Selber Schwein.»

«Du bist das Schwein.»

«Nein, du.»

Dann fiel ihnen nichts mehr ein. Martin starrte aus dem Fenster, bis er sicher war, dass keine Tränen mehr kommen würden. Über die Schaufenster am Straßenrand glitt das Spiegelbild des Autos: verzerrt, gestreckt, zum Halbrund gekrümmt.

«Wie geht es deiner Mutter?», fragte Arthur.

Martin zögerte. Was sollte er darauf antworten? Arthur hatte diese Frage schon ganz zu Anfang gestellt, vor sieben Jahren, bei ihrer ersten Begegnung. Sehr hochgewachsen war sein Vater ihm vorgekommen, aber müde auch und abwesend, wie umgeben von feinem Nebel. Er hatte Scheu vor diesem Mann empfunden, aber zugleich, ohne dass er hätte sagen können, warum, auch Mitleid.

«Wie geht es deiner Mutter?», hatte der Fremde gesagt, und Martin hatte sich gefragt, ob das nun tatsächlich der Mann war, den er so oft in seinen Träumen getroffen hatte, immer in dem gleichen schwarzen Regenmantel, stets ohne Gesicht. Aber erst an diesem Tag in der Eisdiele, während er in seinem Früchtebecher mit Schokoladensauce stocherte, war Martin klargeworden, wie sehr er es genossen hatte, keinen Vater zu haben. Kein Vorbild, keinen Vorgänger und keine Last, nur die vage Vorstellung von jemandem, der vielleicht eines Tages auftauchen würde. Und das sollte er nun sein? Seine Zähne waren nicht sehr gerade, seine Haare waren wirr, auf seinem Kragen war ein Fleck, und seine Hände sahen verwittert aus. Ein Mann war das, der auch ein anderer hätte sein können; ein Mann, der aussah wie irgendeiner der vielen Menschen auf der Straße, in der Bahn, irgendwo.

«Wie alt bist du genau?»

Martin hatte geschluckt und es ihm dann gesagt: sieben Jahre.

«Und das ist deine Puppe?»

Martin brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sein Vater nach Frau Müller gefragt hatte. Er hatte sie wie immer dabei, er hielt sie unter dem Arm, ohne darüber nachzudenken.

«Wie heißt sie denn?»

Martin sagte es ihm.

«Komischer Name.»

Martin wusste nichts zu antworten. Frau Müller hatte immer so geheißen, das war einfach ihr Name. Er bemerkte, dass seine Nase lief. Er blickte um sich, aber Mama war nicht mehr zu sehen. Sie hatte schweigend die Eisdiele verlassen, sobald Arthur hereingekommen war.

Wie oft Martin später auch an diesen Tag zurückdachte und wie sehr er sich bemühte, ihr Gespräch aus dem Dunkel seines Gedächtnisses zu holen, es wollte ihm nicht gelingen. Es lag wohl daran, dass er sich diese Unterhaltung vorher zu oft ausgemalt hatte und dass die Dinge, die sie tatsächlich zueinander sagten, schon kurz darauf mit jenen, die er in all den Jahren erfunden hatte, in eins geflossen waren: Hatte Arthur ihm wirklich gesagt, er habe keinen Beruf und bringe das Leben damit zu, über das Leben nachzudenken, oder war es nur so, dass Martin diese Antwort später, als er mehr über seinen Vater wusste, für die einzig passende hielt? Und konnte es sein, dass Arthur auf die Frage, warum er ihn und seine Mutter alleingelassen habe, wirklich entgegnet hatte, wer sich der Gefangenschaft, dem kleinen Leben, dem Mittelmaß und der Verzweiflung überantworte, der könne keinem anderen helfen, weil auch ihm nicht zu helfen sei, der bekomme Krebs, dessen Herz verfette, der lebe nicht lange und verwese bei noch atmendem Leib? Es war Arthur durchaus zuzutrauen, einem Siebenjährigen so eine Antwort zu geben, aber es kam Martin unwahrscheinlich vor, dass er sich wirklich getraut haben sollte, diese Frage zu stellen.

Nach drei Monaten erst war sein Vater wiedergekommen. Diesmal hatte er Martin von zu Hause abgeholt, in einem Auto mit zwei gespenstisch ähnlichen Jungen auf der Rückbank, im ersten Moment hatte Martin sie für eine optische Täuschung gehalten. Die beiden wiederum hatten ihn kurz mit großer und bald nur mehr mit mäßiger Neugier betrachtet, sie waren ganz konzentriert auf sich selbst, gefangen im Rätsel ihrer Verdoppelung.

«Wir denken ständig dasselbe.»

«Auch wenn es komplizierte Dinge sind. Ganz dasselbe.»

«Wenn man uns etwas fragt, fällt uns die gleiche Antwort ein.»

«Sogar wenn sie falsch ist.»

Dann hatten sie mit ein und derselben Stimme gelacht, und Martin war ein Schauer über den Rücken gelaufen.

Von da an hatten sein Vater und seine Brüder ihn regelmäßig abgeholt. Sie waren Achterbahn gefahren, sie hatten Aquarien mit schläfrigen Fischen besucht, sie waren durch die Wälder des Stadtrands gewandert, sie waren schwimmen gegangen in nach Chlor riechenden Becken voll Kindergeschrei und Sonnenlicht. Immer hatte man Arthur Mühe angemerkt, nie war er wirklich bei der Sache gewesen, und auch die Zwillinge hatten nicht sehr gut verborgen, dass sie nur mitkamen, weil sie es mussten. Obwohl Martin das klar erkannte, waren es die schönsten Nachmittage in seinem Leben gewesen. Beim letzten Mal hatte Arthur ihm einen bunten Würfel geschenkt, dessen Seiten man verdrehen konnte, ein neues Spielzeug, eben auf den Markt gekommen. Bald schon hatte Martin Stunden damit verbracht, er hätte Tage damit verbringen können, er war ihm völlig verfallen.

«Martin!»

Er fuhr wieder herum.

«Schläfst du?»

Er überlegte, ob er noch einmal zuschlagen sollte, aber dann ließ er es lieber sein. Es half nichts, Eric war stärker.

Schade, dachte Eric. Er hätte Martin gerne eine Ohrfeige gegeben, dabei hatte er gar nichts gegen ihn. Es machte ihn bloß wütend, dass sein Bruder so kraftlos war, so leise und furchtsam. Außerdem nahm er ihm noch immer jenen Moment vor sieben Jahren übel, als ihre Eltern sie abends ins Wohnzimmer gerufen hatten, um ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen.

«Lasst ihr euch scheiden?», hatte Iwan gefragt.

Ihre Eltern hatten erschrocken den Kopf geschüttelt und gesagt: Nein, nein, wirklich nicht, nein! Und Arthur hatte erzählt, dass es Martin gab.

Eric war so verblüfft gewesen, dass er sofort entschieden hatte, so zu tun, als fände er es komisch, aber gerade als er hatte Luft holen und lachen wollen, hatte Iwan neben ihm angefangen zu kichern. So war es eben, wenn man eins war und zugleich zwei und wenn kein Gedanke einem je ganz allein gehörte.

«Das ist kein Scherz», hatte Arthur gesagt.

Aber warum erst jetzt, hatte Eric fragen wollen. Nur war Iwan ihm schon wieder zuvorgekommen: «Warum erst jetzt?»

Die Dinge seien manchmal schwierig, hatte Arthur geantwortet.

Hilflos hatte er zu ihrer Mutter gesehen, aber die hatte mit verschränkten Armen dagesessen und gesagt, auch Erwachsene seien nicht immer klug.

Die Mutter des anderen Jungen, hatte Arthur erklärt, sei nicht gut auf ihn zu sprechen, sie habe nicht gewollt, dass er seinen Sohn sehe, und er habe sich gefügt, offen gesagt, allzu bereitwillig, es habe die Dinge einfacher gemacht, und erst vor kurzem habe er seine Meinung geändert. Und jetzt werde er gehen und Martin treffen.

Noch nie zuvor hatte Eric ihren Vater nervös gesehen. Wer brauchte diesen Martin, dachte er, und wie hatte Arthur ihnen etwas so Lächerliches antun können?

Eric hatte schon früh gewusst, dass er anders sein wollte als sein Vater. Er wollte Geld verdienen, er wollte ernst genommen werden, er wollte nicht jemand sein, den man insgeheim bedauerte. Deshalb hatte er am ersten Tag in der neuen Schule den größten Jungen der Klasse angegriffen, ohne Warnung natürlich, die Überraschung hatte ihm den nötigen Vorteil verschafft: Eric hatte ihn zu Boden gestoßen, dann hatte er sich auf ihn gekniet, ihn an den Ohren gepackt und seinen Kopf dreimal auf den Fußboden geschlagen, bis er den Widerstand erlahmen fühlte. Dann erst, um des Effektes willen, hatte er ihm einen gutgezielten Schlag auf die Nase versetzt, Nasenbluten verfehlte nie seine Wirkung. Und tatsächlich, der große Junge, der Eric jetzt schon leidgetan hatte, war in Tränen ausgebrochen. Eric hatte ihn aufstehen lassen, und der andere war schniefend davongetappt, ein sich rötendes Taschentuch vor dem Gesicht. Seither wurde Eric von der gesamten Klasse gefürchtet, und keiner merkte, wie viel Angst er hatte.

Denn es kam nur auf die Entschlossenheit an, das wusste er schon. Ob es die Lehrer waren, die anderen Schüler oder auch seine Eltern, alle waren sie uneins mit sich, alle gespalten und halbherzig, was immer sie auch taten. Einen, der wirklich auf sein Ziel losging, hielt keiner auf. Das war so sicher, wie es sicher war, dass zwei mal fünf zehn ergab oder dass man umringt war von Gespenstern, deren Schemen nur manchmal im Zwielicht sichtbar wurden.

«Ich habe mich verfahren», sagte Arthur.

«Nicht schon wieder», sagte Eric.

«Das ist doch ein Trick», sagte Iwan. «Weil du keine Lust hast.»

«Natürlich habe ich keine Lust. Aber ein Trick ist es nicht.»

Arthur fuhr an den Straßenrand und stieg aus. Warme Sommerluft strömte herein, Autos schossen vorbei, es roch nach Benzin. Draußen fragte er Leute nach dem Weg: Eine alte Frau winkte ab, ein Junge auf Rollschuhen hielt nicht einmal an, ein Mann mit großem Hut machte Handzeichen nach rechts, links, oben und unten. Eine Weile sprach Arthur mit einer jungen Frau. Sie legte den Kopf auf die Seite, Arthur lächelte, sie zeigte irgendwohin, Arthur nickte und sagte etwas, sie lachte, dann sprach sie, während er lachte, dann verabschiedeten sie sich, und sie berührte im Vorbeigehen seine Schulter. Immer noch lächelnd, stieg er ein.

«Hat sie es dir erklärt?», fragte Iwan.

«Sie war nicht von hier. Aber der Mann davor, der wusste es.»

Er bog zweimal ab, dann öffnete sich vor ihnen die Einfahrt eines Parkhauses. Besorgt starrte Eric in die Dunkelheit. Er würde nie jemandem erzählen können, wie schlimm jeder Tunnel, jede Höhle und jeder abgeschlossene Ort für ihn war. Iwan wusste es vermutlich dennoch, so wie es ja auch Eric immer wieder geschah, dass er statt eigener Gedanken die seines Zwillingsbruders dachte und Wörter in ihm auftauchten, die er nicht kannte. Auch passierte es häufig, dass er sich nach dem Aufwachen an Träume von sehr fremder Färbung erinnerte – Iwans Träume waren bunter als seine, sie waren auf eigentümliche Art weiter, die Luft schien besser darin. Und dennoch konnten sie Dinge voreinander verbergen. Eric hatte nie verstanden, weshalb Iwan sich vor Hunden fürchtete, wo doch Hunde zu den wenigen wirklich harmlosen Wesen gehörten, er begriff nicht, warum Iwan lieber mit blonden Mädchen sprach als mit dunkelhaarigen, und es war ihm ein Rätsel, wieso die alten Gemälde, die ihn im Museum bloß langweilten, in seinem Bruder so komplizierte Gefühle auslösten.

Sie stiegen aus. Leuchtröhren verbreiteten fahles Licht. Eric verschränkte die Arme und starrte auf den Boden.

«Du glaubst nicht an Hypnose?», fragte Iwan.

«Ich glaube, dass man Menschen alles einreden kann», sagte Arthur.

Sie betraten die Liftkabine, die Türen schlossen sich, Eric kämpfte gegen seine Panik an. Was, wenn das Seil riss? So etwas war schon passiert, es würde wieder passieren, irgendwann und irgendwo, also warum nicht hier? Endlich hielt der Lift, die Türen öffneten sich, sie gingen auf das Theater zu. Der große Lindemann, stand auf einem Spruchband, Meister der Hypnose. Nachmittagsvorstellung. Auf einem Plakat war ein unscheinbarer Herr mit Brille zu sehen, der sich sichtlich bemühte, düster und durchdringend zu blicken. Schatten lagen auf seinem Gesicht, die Beleuchtung war theatralisch, es war ein schlechtes Foto. Lindemann, stand daneben, lehrt Sie, Ihre Träume zu fürchten.

Ein junger Mann überprüfte gähnend ihre Eintrittskarten. Sie hatten gute Plätze, weit vorne, in der dritten Reihe. Das Parkett war fast voll, auf den Rängen saß niemand. Iwan blickte zur überladen verzierten Decke auf und fragte sich, wie man das wohl malen könnte. Geschickt hatte der Künstler das Auge getäuscht und ein Gewölbe vorgegaukelt, das nicht da war. Wie zeichnete man so etwas ab, wenn man zeigen wollte, dass da in Wirklichkeit kein zweiter Raum war, sondern bloß Vortäuschung? In den Büchern stand so etwas nicht.

Keiner konnte einem helfen. Kein Buch, kein Lehrer. Alles Entscheidende musste man aus eigener Kraft lernen, und gelang es nicht, hatte man sein Leben verfehlt. Iwan fragte sich oft, wie Leute, die nichts Besonderes konnten, das Dasein eigentlich ertrugen. Er sah, dass seine Mutter sich ein anderes Leben wünschte und dass sein Vater stets anderswo war mit den Gedanken. Er sah, dass seine Lehrer in der Schule traurige kleine Seelen waren, und natürlich wusste er von den Erscheinungen, die Eric quälten. Wann immer er in einen von Erics Träumen geriet, fand er sich an einem dunklen und stickigen Ort, an dem man nicht sein wollte. Er sah auch Martin, der zu schwach war und zu viel allein mit seiner Mutter. Iwan seufzte. Hypnose interessierte ihn nicht, er wäre gern wieder daheim gewesen, um zu zeichnen. Nur endlich besser zeichnen, das war das Einzige, was zählte, etwas anderes wollte er nicht.

Das Licht wurde schwächer, das Murmeln erstarb. Der Vorhang öffnete sich. Lindemann stand auf der Bühne.

Er war füllig und hatte eine Glatze, die durch ein paar über die Kahlheit seines Schädels gelegte Haare nur noch stärker ins Auge fiel, und er trug eine schwarze Hornbrille. Sein Anzug war grau, in der Brusttasche steckte ein grünes Tüchlein. Ohne Gruß, ohne Verbeugung begann er, mit leiser Stimme zu sprechen.

Hypnose, sagte er, sei kein Schlaf, vielmehr sei sie ein Zustand nach innen gerichteter Wachheit, nicht Willenlosigkeit, sondern Selbstermächtigung. Man werde heute Erstaunliches sehen, aber niemand brauche sich Sorgen zu machen, denn bekanntlich könne kein Mensch gegen seinen Willen hypnotisiert werden, und niemand sei je durch Hypnose dazu gebracht worden, etwas zu tun, das er im Grunde seiner Seele zu tun nicht bereit sei. Er schwieg einen Moment und lächelte, als hätte er einen schwer verständlichen Witz gemacht.

Eine schmale Treppe führte von der Bühne in den Zuschauerraum. Lindemann stieg herab, rückte an seiner Brille, sah sich um und ging durch den Mittelgang. Offensichtlich entschied er jetzt, welche Zuschauer er auf die Bühne holen würde. Iwan, Eric und Martin senkten die Köpfe.

«Keine Sorge», sagte Arthur. «Er nimmt nur Erwachsene.»

«Dann vielleicht dich.»

«Bei mir funktioniert es nicht.»

Man stehe vor großen Ereignissen, sagte Lindemann. Wer nicht mitmachen wolle, der müsse nichts befürchten, dem werde nicht zu nahe getreten, der bleibe verschont. Er erreichte die letzte Reihe, lief erstaunlich behände zurück und sprang auf die Bühne. Zu Anfang, sagte er, etwas Leichtes, ein Scherz nur, eine Kleinigkeit. Die ganze erste Reihe, bitte herauf!

Ein Murmeln ging durch den Saal.

Ganz recht, sagte Lindemann, die erste Reihe. Alle. Bitte schnell!

«Was macht er, wenn jemand sich weigert?», flüsterte Martin. «Wenn jemand einfach sitzen bleibt, was dann?»

Alle Leute in der ersten Reihe standen auf. Sie flüsterten miteinander und blickten unwillig um sich, aber sie gehorchten und stiegen auf die Bühne.

«In einer Reihe aufstellen!», kommandierte Lindemann. «An den Händen nehmen.»

Zögernd taten sie es.

Man werde einander nun nicht mehr loslassen, sagte Lindemann, während er an der Reihe entlangging, man wolle nicht, deshalb tue man es nicht, und weil man nicht wolle, könne man nicht, und da man nicht könne, sei es nicht falsch, zu behaupten, man hafte aneinander. Beim Sprechen fasste er da und dort hin und berührte Hände. Ganz fest, sagte er, die Hände ganz fest, ganz fest, niemand falle heraus, keiner könne loslassen, ganz fest, unauflöslich. Wer wolle, möge es jetzt versuchen.

Keiner ließ los. Lindemann wandte sich zum Publikum, es gab zaghaften Applaus. Iwan beugte sich vor, um die Gesichter der Leute auf der Bühne besser zu sehen. Unentschlossen sahen sie aus, geistesabwesend und wie erstarrt in einer Verkrampfung des Willens. Ein kleiner Mann presste die Kiefer aufeinander, einer Dame mit Haarknoten zitterten die Hände, als hätte sie vor, sich loszureißen, fände aber dafür sowohl den Griff ihres Nachbarn als auch den eigenen zu fest.

Er werde bis drei zählen, sagte Lindemann, dann würden alle Hände sich lösen. «Also eins. Und zwei. Und …» Er hob langsam die Hand, sagte: «Drei!», und schnippte.

Unentschieden, beinahe widerwillig, ließen sie los. Verlegen betrachteten sie ihre Hände.

«Jetzt aber schnell wieder hinsetzen», sagte Lindemann. «Schnell hinunter, schnell!» Er klatschte in die Hände.

Die Frau mit dem Haarknoten war blass und schwankte beim Gehen. Lindemann fasste sie sanft am Ellenbogen, führte sie zur Treppe und sprach leise auf sie ein. Als er sie losließ, bewegte sie sich sicherer, ging die Stufen hinab und erreichte ihren Platz.

Das sei ein kleines Experiment gewesen, sagte Lindemann, ein Scherz für den Anfang. Nun etwas Ernsthaftes. Er trat an die Rampe, nahm seine Brille ab und kniff spähend die Augen zusammen. «Der Herr da vorne im Pullover und der Herr gleich dahinter und Sie, junge Frau, bitte herauf!»

Gequält lächelnd stiegen die drei auf die Bühne. Die Frau winkte jemandem, Lindemann wiegte missbilligend den Kopf, sie ließ es sein. Er stellte sich neben den Ersten von ihnen, einen groß gewachsenen Mann mit Bart, und hielt ihm die Hand vor die Augen. Eine Weile sprach er ihm ins Ohr und rief plötzlich: «Schlaf!» Der Mann kippte um, Lindemann fing ihn auf und legte ihn auf dem Boden ab. Dann trat er zu der Frau daneben, und es geschah das Gleiche. Ebenso bei dem anderen Mann. Sie lagen reglos.

«Und nun seid glücklich!»

Er müsse das erläutern. Lindemann drehte sich zum Saal, nahm seine Hornbrille ab, zog das grüne Stecktuch aus seiner Brusttasche und begann, sie zu putzen. Man kenne ja zur Genüge die albernen Suggestionen, welche mittelmäßige Hypnotiseure – Pfuscher und Wichtigtuer ohne Talent, wie es sie in jeder Profession im Übermaß gebe – ihren Probanden gern einflößten: Eiseskälte etwa oder Hitze, körperliche Starre, Phantasien von Flug oder Fall, gar nicht zu reden vom allseits beliebten Vergessen des eigenen Namens. Er stockte und blickte nachdenklich in die Luft. Heiß sei es hier, nicht wahr? Schrecklich heiß. Was da denn wohl los sei? Er tupfte sich die Stirn ab. Solche Albernheiten, wie gesagt, habe man oft genug gesehen, die werde er kurzerhand überspringen. Mein Gott, sei das heiß!

Iwan strich sich die nassen Haare aus der Stirn. Die Wärme schien in Wellen vom Fußboden aufzusteigen, die Luft war feucht. Auch Erics Gesicht glänzte. Überall fächelten Programmzettel nach Luft.

Aber da könne man sicher etwas machen, sagte Lindemann. Keine Sorge, gewiss werde schon daran gearbeitet, das Theater habe fähige Techniker. Sogleich werde man die vorzügliche Klimaanlage aktivieren. Es sei wohl schon so weit. Hier oben höre man bereits das Summen der kühlenden Maschinen. Man spüre den Windhauch. Er schlug seinen Kragen hoch. Aber nun ziehe es doch arg. Die Anlage habe erstaunliche Kraft. Er behauchte seine Hände und trat von einem Fuß auf den anderen. Kalt sei es hier, sehr kalt, wirklich ganz schön kalt.

«Was soll das denn?», fragte Arthur.

«Merkst du es nicht?», flüsterte Iwan. Sein Atem stieg in Dampfwölkchen auf, seine Füße waren fühllos geworden, das Einatmen fiel ihm schwer. Martins Zähne klapperten. Eric schnäuzte sich.

«Nein», sagte Arthur.

«Gar nichts?»

«Ich habe doch gesagt, bei mir funktioniert es nicht.»

Aber jetzt genug, sagte Lindemann. Vorbei. Schluss. Mit derlei Scherzen wolle er, wie gesagt, niemandem Zeit stehlen. Er werde nun gleich und ohne Verzug zu etwas Interessantem kommen, nämlich der direkten Manipulation der Seelenkräfte. Die drei Herrschaften hier auf dem Boden befolgten schon eine ganze Weile seine Anweisung. Sie seien glücklich. Jetzt gerade, hier und vor allen Blicken, durchlebten sie die besten Augenblicke ihres Lebens. «Setzt euch auf!»

Ungelenk wuchteten sie sich hoch und kamen aufrecht zu sitzen.

«Jetzt schau», sagte Lindemann zu der Frau in der Mitte.

Sie öffnete ihre Augen. Ihre Brust hob und senkte sich. Es lag etwas Seltsames darin, wie sie atmete und wie ihre Augen sich bewegten. Iwan verstand es nicht recht, aber er ahnte etwas Weites und Kompliziertes. Ihm fiel auf, dass eine Frau in der Reihe vor ihnen die Augen von der Bühne wandte. Der Mann neben ihr schüttelte empört den Kopf.

«Augen zu», sagte Lindemann.

Die Augen der Frau auf der Bühne schlossen sich sofort. Ihr Mund stand offen, ein dünnes Rinnsal Speichel lief heraus, ihre Wangen glänzten im Scheinwerferlicht.

Doch leider, sagte Lindemann, sei nichts für immer, und das Schöne ende zuallererst. Gerade noch scheine das Leben groß und wundersam, aber die Wahrheit sei: Nichts bleibe, alles verrotte, alles sterbe ab, ohne Unterschied. Das verdränge man fast immer. Aber nicht jetzt, nein, nicht in diesem Augenblick. «Jetzt wisst ihr es.»

Der bärtige Mann stöhnte. Die Frau sank langsam zurück und legte sich die Hände vor die Augen. Der andere Mann schluchzte leise.

Aber man dürfe, sagte Lindemann, dennoch fröhlich sein. Ein kurzer Tag zwischen zwei endlos langen Nächten sei das Leben, umso mehr habe man sich der hellen Minuten zu erfreuen und zu tanzen, solange die Sonne noch scheine. Er klatschte in die Hände.

Folgsam standen die drei auf. Lindemann klatschte den Takt, langsam zunächst, dann schneller. Sie sprangen wie Marionetten, warfen die Glieder von sich, kreisten mit den Köpfen. Es war ganz still, niemand hustete oder räusperte sich, ein Grauen schien über die Zuschauer gekommen. Man hörte nur das Stampfen und Keuchen von der Bühne und das Knarren der Bretter.

«Jetzt wieder hinlegen», sagte Lindemann. «Und träumen!»

Zwei von ihnen sanken sofort um, der Mann ganz links blieb noch stehen und machte tastende Handbewegungen – aber dann knickten auch ihm die Knie ein, und er rührte sich nicht mehr. Lindemann beugte sich vor und musterte ihn aufmerksam. Dann wandte er sich zum Publikum.

Nun wolle er ein schwieriges Experiment durchführen. Nur wenige Operateure könnten derlei, es sei die hohe Schule. «Träumt tief. Noch tiefer und tiefer als je. Träumt ein neues Leben. Seid Kinder, lernt, werdet älter, kämpft, leidet und hofft, gewinnt und verliert, liebt und verliert wieder, werdet alt, werdet schwach, werdet hinfällig, und dann sterbt, es geht so schnell, und wenn ich es sage, schlagt ihr die Augen auf, und alles ist nie geschehen.»

Er faltete die Hände, drehte sich zum Publikum und stand einige lange Sekunden schweigend.

Dieser Versuch, sagte er dann, gelinge nicht immer. So mancher Proband erwache und habe gar nichts durchlebt. Andere wiederum hätten ihn gebeten, ihre Erinnerung an den Traum zu tilgen, da das Erlebnis zu verstörend gewesen sei, um danach Zeit und Wirklichkeit wieder trauen zu können. Er sah auf die Uhr. Einstweilen aber, um die Wartefrist zu füllen, ein paar simple Dinge. Kinder im Saal? Er stellte sich auf die Zehenspitzen. Der da aus der fünften Reihe, das kleine Mädchen dort am Rand und dieser Junge aus Reihe drei, der genauso aussehe wie der Junge neben ihm. Herauf!

Iwan blickte nach rechts, nach links, hinter sich. Dann zeigte er fragend auf seine Brust.

«Ja», sagte Lindemann. «Du.»

«Du hast doch gesagt, er holt nur Erwachsene heraus», flüsterte Iwan.

«Na, da habe ich mich geirrt.»

Iwan spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Sein Herz klopfte. Die anderen beiden Kinder waren schon auf dem Weg zur Bühne. Lindemann sah ihn unverwandt an.

«Kannst ruhig sitzen bleiben», sagte Arthur. «Er hat dir nichts zu befehlen.»

Iwan stand langsam auf. Er blickte um sich. Jeder sah ihn an, jeder im Raum, jeder Einzelne im Theater. Nein, Arthur hatte unrecht, man durfte sich nicht weigern, immerhin war es eine Hypnosevorstellung, wer hierher kam, musste mitmachen. Er hörte Arthur noch etwas sagen, aber er verstand es nicht, sein Herz klopfte zu laut, und er war auch schon auf dem Weg nach vorne. Er schob sich an den Knien der Sitzenden vorbei und ging durch den Mittelgang zur Bühne.

Wie hell es hier oben war. Die Scheinwerfer waren unerwartet stark, die Leute im Saal nur Schemen. Die drei Erwachsenen lagen reglos, keiner von ihnen rührte sich, keiner schien zu atmen. Iwan blickte in den Saal, aber er konnte Arthur und seine Brüder nicht finden. Schon trat Lindemann vor ihn hin, ging in die Knie, schob ihn vorsichtig, als wäre er ein zerbrechliches Möbelstück, einen Schritt zurück und sah ihm ins Gesicht.

«Wir machen das schon», sagte er leise.

Aus der Nähe sah Lindemann älter aus. Er hatte Falten um Mund und Augen, er war nicht sorgfältig geschminkt. Hätte man sein Porträt gezeichnet, man hätte sich auf die tief in den Höhlen liegenden Augen hinter der Hornbrille konzentrieren müssen: unruhige Augen, schwer zu erkennen, offenbar stimmte es nicht, dass Hypnotiseure einem so ins Gesicht starrten, dass man in ihrem Blick versank. Außerdem roch er nach Pfefferminz.

«Wie heißt du?», fragte er etwas lauter.

Iwan schluckte und sagte es ihm.

«Entspann dich, Iwan», sagte Lindemann nun schon so laut, dass das Publikum in den vorderen Reihen ihn verstehen konnte. «Falte die Hände, Iwan. Verschränk die Finger.»

Iwan tat es und fragte sich, wie man das wohl machen sollte, sich auf einer Bühne vor so vielen Menschen zu entspannen. Lindemann konnte es nicht ernst meinen; er sagte es wohl nur, um ihn zu verwirren.

«So ist es richtig.» Lindemann sprach jetzt zu allen drei Kindern, und zwar so laut, dass man es überall im Saal hörte. «Ganz ruhig, ganz entspannt, nur die Hände könnt ihr nicht mehr lösen, die haften aneinander, ihr könnt es nicht.»

Aber das stimmte nicht! Iwan hätte die Hände leicht auseinanderbewegen können, da war kein Widerstand und kein Hindernis. Doch ihm lag nichts daran, Lindemann zu blamieren. Er wollte nur, dass es vorbeiging.

Lindemann redete und redete. Immer wieder kam das Wort Entspannung vor, immer wieder sagte er etwas übers Zuhören und Gehorchen. Vielleicht wirkte das ja bei den beiden anderen, aber bei Iwan versagte es. Er fühlte sich nicht anders als zuvor, von Trance konnte keine Rede sein. Nur seine Nase juckte. Und er musste auf die Toilette.

«Versuch es», sagte Lindemann zu dem Jungen neben Iwan. «Du kannst sie nicht lösen, du kannst es nicht, versuch es, du kannst es nicht.»

Iwan hörte ein tiefes, grollendes Geräusch; erst nach ein paar Augenblicken wurde ihm klar, dass es Lachen war. Das Publikum lachte über sie. Aber bei mir nicht, dachte Iwan, er muss bemerkt haben, dass es bei mir nicht funktioniert, deshalb fragt er mich nicht.

«Hebt den rechten Fuß», sagte Lindemann. «Alle drei. Jetzt.»

Iwan sah die beiden anderen den Fuß heben. Er spürte alle Blicke auf sich. Er schwitzte. Was also blieb ihm übrig? Er hob den Fuß. Nun würden alle meinen, er wäre hypnotisiert.

«Vergiss deinen Namen», sagte Lindemann zu ihm.

Er spürte Ärger in sich aufsteigen. Allmählich wurde es zu dumm. Wenn der Kerl noch einmal fragte, würde er ihn vor allen Leuten bloßstellen.

«Sag ihn!»

Iwan räusperte sich.

«Du kannst es nicht, du hast ihn vergessen, du kannst es nicht. Wie heißt du?»

Es lag wohl an der Situation, an der schrecklichen Helligkeit und daran, dass es nicht leicht war, vor so vielen Menschen auf einem Bein zu stehen, man brauchte seine ganze Konzentration, um das Gleichgewicht zu halten. Es war nicht das Gedächtnis, nein, es war die Stimme, die ihm nicht gehorchte. Sie steckte in seinem Hals und kam nicht heraus. Was immer man ihn jetzt fragen würde, er musste stumm bleiben.

«Wie alt bist du?»

«Dreizehn», hörte er sich sagen. Mit etwas Willenskraft ging es also doch.

«Wie heißt deine Mutter?»

«Katharina.»

«Dein Vater?»

«Arthur.»

«Ist das der Herr dort unten?»

«Ja.»

«Und wie heißt du?»

Er schwieg.

«Du weißt es nicht?»

Natürlich wusste er es. Er spürte die Konturen seines Namens; er wusste, wo dieser Name in seinem Gedächtnis lag; er spürte ihn, aber ihm schien, als wäre der, der diesen Namen trug, ein anderer als der, den Lindemann fragte, sodass alles nicht zusammenpasste und überhaupt sehr nebensächlich war, verglichen mit dem Umstand, dass er auf einer Bühne stand, auf einem Bein, mit juckender Nase, die Hände zusammengepresst, und dass er auf die Toilette musste. Und da fiel ihm der Name ja auch schon wieder ein, Iwan natürlich, Iwan, er holte Luft und öffnete den Mund …

«Und du?», fragte Lindemann den Jungen neben ihm. «Weißt du deinen?»

Aber jetzt habe ich ihn doch, wollte Iwan rufen, jetzt kann ich ihn sagen! Doch er blieb stumm, es war eine Erleichterung, dass es nicht mehr um ihn ging. Er hörte, wie Lindemann die beiden neben ihm etwas fragte, er hörte sie antworten, er hörte die Zuschauer lachen und klatschen. Er spürte, dass ihm Schweißtropfen über die Stirn liefen, aber er konnte sie nicht wegwischen, es wäre peinlich gewesen, jetzt die Hände zu bewegen, wo der ganze Saal doch meinte, er wäre in Trance.

«Schon vorbei», sagte Lindemann. «War nicht schlimm, oder? Löst die Hände, steht auf euren zwei Beinen, eure Namen kennt ihr wieder. Vorbei. Aufwachen. Vorbei.»

Iwan senkte den Fuß. Natürlich ging das leicht, er hätte es die ganze Zeit schon tun können.

«Schon gut», sagte Lindemann leise und legte ihm die Hand auf die Schulter. «Es ist vorbei.»

Iwan stieg hinter den beiden anderen die Treppe hinunter. Er hätte sie gerne gefragt, wie es ihnen ergangen war, was sie gesehen und gedacht hatten, wie es sich anfühlte, wirklich hypnotisiert zu sein. Aber da war er schon in der dritten Reihe, die Leute machten Platz, er schob sich an ihren Knien vorbei und sank auf seinen Sitz. Er atmete auf.

«Wie war es?», flüsterte Martin.

Iwan zuckte die Achseln.

«Erinnerst du dich, oder hast du alles vergessen?»

Iwan wollte antworten, dass er natürlich nichts vergessen hatte und dass das Ganze ein alberner Trick gewesen war, aber da bemerkte er, dass die Leute in den Reihen vor ihnen sich umgedreht hatten. Sie sahen nicht auf die Bühne, sondern zu ihm. Er blickte sich um. Alle Menschen im Theater sahen ihn an. Lindemann hatte gelogen. Es war nicht vorbei.

«Ist er das?», fragte Lindemann.

Iwan starrte zur Bühne empor.

«Dein Vater. Ist er das?»

Iwan sah Arthur an, sah zu Lindemann, sah wieder zu Arthur. Dann nickte er.

«Wollen Sie zu mir kommen, Arthur?»

Arthur schüttelte den Kopf.

«Sie glauben, Sie möchten nicht. Aber Sie möchten. Glauben Sie mir.»

Arthur lachte.

«Es tut nicht weh, es ist nicht gefährlich, es könnte Ihnen sogar gefallen. Machen Sie uns die Freude.»

Arthur schüttelte den Kopf.

«Gar nicht neugierig?»

«Bei mir funktioniert es nicht!», rief Arthur.

«Vielleicht nicht. Das kann schon sein, das gibt es. Umso eher könnten Sie heraufkommen.»

«Nehmen Sie jemand anderen.»

«Aber ich will Sie.»

«Warum?»

«Weil ich es will. Weil Sie glauben, Sie wollen nicht.»

Arthur schüttelte den Kopf.

«Kommen Sie!»

«Geh schon», flüsterte Eric.

«Das ist doch interessant», flüsterte Martin.

«Alle schauen uns an», flüsterte Iwan.

«Na und!», sagte Arthur. «Sollen sie schauen. Warum ist Kindern immer alles peinlich?»

«Sagen wir es gemeinsam!», rief Lindemann. «Schicken Sie ihn mir herauf, zeigen Sie es ihm, klatschen Sie, wenn er kommen soll. Klatschen Sie laut!»

Wilder Applaus brach los, ein Trampeln und Schreien, als gäbe es plötzlich für niemanden etwas Wichtigeres als die Erfüllung von Lindemanns Wunsch, als könnte keiner sich größeres Glück vorstellen, als Arthur auf der Bühne zu sehen. Der Lärm schwoll immer weiter an, immer mehr Stimmen mischten sich hinein: Die Leute klatschten und brüllten. Arthur rührte sich nicht.

«Bitte!», rief Eric.

«Bitte, geh», sagte Martin. «Bitte!»

«Nur für euch», sagte Arthur und stand auf. Durch die johlende Menge arbeitete er sich zum Mittelgang vor, dann ging er zur Treppe und stieg empor. Lindemann machte eine schnelle Handbewegung, der Lärm erstarb.

«Bei mir haben Sie Pech», sagte Arthur.

«Kann sein.»

«Es geht wirklich nicht.»

«Dieser nette Junge. Das war Ihr Sohn?»

«Es tut mir leid, ich bin nicht der Richtige. Sie möchten jemanden, der erst einmal verlegen ist und dann mit Ihnen plaudert und etwas über sich erzählt, worüber Sie dann einen Scherz machen können, damit alle lachen. Wollen wir das nicht überspringen? Sie können mich nicht hypnotisieren. Ich weiß, wie das funktioniert. Etwas Druck, etwas Neugier, der Wunsch dazuzugehören, die Angst, etwas falsch zu machen. Und natürlich die Sehnsucht nach einem Erlebnis. Aber nicht bei mir.»

Lindemann schwieg. Seine Brillengläser glänzten im Scheinwerferlicht.

«Können die uns hören?» Arthur zeigte auf die drei reglosen Körper.

«Sie sind mit anderem beschäftigt.»

«Und das möchten Sie mit mir auch machen? Ein anderes Leben?»

Iwan fragte sich, wie sein Vater es anstellte, dass man jedes seiner Worte verstand. Er hatte kein Mikrophon, und er sprach leise; dennoch hörte man ihn deutlich. Gelassen stand er da, als wäre er allein mit dem Hypnotiseur und dürfte fragen, was immer ihm einfiel. Auch sah er nicht mehr geistesabwesend aus. Es schien ihm Spaß zu machen.

Lindemann dagegen wirkte zum ersten Mal unsicher. Er lächelte noch, aber auf seiner Stirn lagen Falten. Mit spitzen Fingern nahm er die Brille ab, setzte sie wieder auf, nahm sie von neuem ab, faltete sie und schob sie hinter das grüne Stecktuch in seine Brusttasche. Er hob die rechte Hand und hielt sie über Arthurs Stirn.

«Sehen Sie auf meine Hand.»

Arthur lächelte.

Lindemann legte seine Linke auf Arthurs Schulter. «Sehen Sie auf meine Hand, sehen Sie darauf, sehen Sie, sehen Sie auf meine Hand.»

«Mache ich doch.»

Ein Kichern ging durch den Saal. Lindemanns Miene verzog sich für einen Moment. «Sehen Sie auf meine Hand, sehen Sie, sehen Sie auf meine Hand. Nur darauf, auf nichts anderes, nur auf die Hand.»

«Ich merke nichts.»

«Das müssen Sie auch nicht.» Lindemann klang gereizt. «Nur schauen! Auf die Hand schauen, auf die Hand, sonst nichts.»

«Sie richten das Bewusstsein auf sich selbst, oder? Das ist der Trick. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Aufmerksamkeit. Darauf, wie sie sich auf sich selbst richtet. Eine Schleife, und plötzlich kann man nicht mehr –»

«Sind das da unten Ihre Söhne?»

«Ja.»

«Wie heißen sie?»

«Ist das wichtig?»

«Wie sie heißen.»

«Iwan, Eric und Martin.»

«Iwan und Eric?»

«Die Ritter der Tafelrunde.»

«Erzählen Sie über sich.»

Arthur schwieg.

«Erzählen Sie über sich», wiederholte Lindemann. «Wir sind unter Freunden.»

«Da gibt es wenig zu sagen.»

«Wie schade. Wie traurig, wenn das stimmen sollte.»

Lindemann senkte seine Hand, beugte sich vor und sah Arthur ins Gesicht. Es war ganz still, man hörte nur ein schwaches Rauschen, vielleicht die Klimaanlage, vielleicht die Elektrizität der Scheinwerfer. Lindemann trat einen Schritt zurück, ein Bühnenbrett knarrte, einer der Schlafenden stöhnte.

«Was machen Sie beruflich?»

Arthur schwieg.

«Oder haben Sie keinen Beruf?»

«Ich schreibe.»

«Bücher?»

«Würde das, was ich schreibe, gedruckt, wären es Bücher.»

«Ablehnungen?»

«Ein paar.»

«Das ist schlimm.»

«Nein, das macht nichts.»

«Stört Sie gar nicht?»

«Ich habe wenig Ehrgeiz.»

«Stimmt das denn?»

Arthur schwieg.

«Sie sehen nicht aus, als ob Sie wenig wollen. Sie möchten das von sich glauben, aber Sie glauben es nicht. Ich glaube es Ihnen auch nicht. Keiner glaubt es. Was wollen Sie wirklich? Wir sind unter Freunden. Was wollen Sie?»

«Weg.»

«Von hier?»

«Von überall.»

«Von zu Hause?»

«Von überall.»

«Weg von daheim?»

«Daheim ist man tot.»

«Das klingt nicht so, als ob Sie zufrieden sind.»

«Wer ist schon zufrieden.»

«Bitte antworten Sie.»

«Nein.»

«Nicht glücklich?»

«Nein.»

«Sagen Sie das noch einmal.»

«Ich bin nicht glücklich.»

«Warum halten Sie noch aus?»

«Was soll man denn tun!»

«Fliehen?»

«Man kann nicht dauernd fliehen.»

«Warum nicht?»

Arthur schwieg.

«Und Ihre Kinder? Lieben Sie die?»

«Das muss man.»

«Richtig. Man muss. Alle gleich?»

«Iwan mehr.»

«Warum?»

«Er ist mehr wie ich.»

«Und Ihre Frau? Wir sind unter Freunden.»

«Sie mag mich.»

«Das war nicht die Frage.»

«Sie verdient Geld für uns, sie kümmert sich um alles, wo wäre ich ohne sie?»

«Vielleicht frei.»

Arthur schwieg.