Fadenscheinig - Kerstin Dresing - E-Book

Fadenscheinig E-Book

Kerstin Dresing

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Beschreibung

Einen Narzissten verlässt Frau nicht. Nach der Trennung ist vor der Hölle, das muss Nora am eigenen Leib erfahren, als sie sich den Psychospielchen ihres Ex Robert ausgesetzt sieht. Ein Kurzurlaub mit ihrer Freundin Jil soll den bösen Bann brechen. Und manchmal schreibt das Leben die schönsten Drehbücher, denn während ihres Urlaubs in Italien lernen die beiden Frauen Ben und Patrick kennen. Dolce far niente. Nach nur wenigen Tagen muss Nora jedoch zurück in die Redaktion, und es fällt ihr schwer, sich vom süßen Nichtstun zu trennen … und von Ben. Dabei weiß sie noch nicht, was sie zu Hause erwartet: Stalking für Fortgeschrittene. Robert spinnt ein Netz über Noras Leben, in dem Unbeteiligte erst zu Mitwirkenden und dann selbst zu Opfern werden. Das Schlimmste daran ist, gegen Robert scheint einfach kein Kraut gewachsen …

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Seitenzahl: 309

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Kerstin Dresing

FADENSCHEINIG

Liebe im Fokus

© 2024 Kerstin Dresing

Kerstin Dresing

Bayernstr. 1

A-5411 Oberalm

[email protected]

Lektorat/Korrektorat: Sandra Latoscynski

Umschlaggestaltung: © Catrin Sommer, rauschgold coverdesign

Buchsatz: Sabine Abels, e-book-erstellung.de

Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Kerstin Dresing, 1958 in Deutschland geboren, lebt seit vierzig Jahren in Salzburg. Sie war als freie Mitarbeiterin bei Zeitungen tätig, leitete ein Filmprojekt und veröffentlicht seit zwanzig Jahren Kurzgeschichten in Anthologien nach dem Motto:

Wer mit Worten fesselt, macht sich nicht strafbar.

Wie schon in ihrem Romandebüt Drei in Eins – Liebe gepatcht beleuchtet sie auch im aktuellen Roman die menschliche Natur mit all ihren Licht- und Schattenseiten.

1 Salzburger Land

Nora hielt sich das Handy ein paar Rufzeichen lang ans Ohr, ehe sie wütend auf den roten Button drückte, mit dem der Anruf abgebrochen wurde. »Kein Anruf unter dieser Nummer, oder was?«, knurrte sie. Ihre dunklen Locken hüpften aufgeregt, als sie das Handy mit Schwung in ihren Shopper warf. Eine vorwitzige Strähne fiel ihr vors Gesicht und wurde unwirsch zurückgestrichen. Dann zog sie die Wohnungstür mit einem Ruck zu, der Knall hallte wie ein Schuss durch das stille Treppenhaus. Der Schlüssel steckte, sie musste die Tür nur noch verriegeln, als es in der Tasche klingelte. Verärgert stieß Nora die Luft aus, kramte im Shopper und drückte, ohne einen Blick auf das Display zu werfen, das Handy ans Ohr, während sie gleichzeitig die Tür abschloss.

»Na endlich! Wieso gehst du nicht ran? Ich muss dich sehen. Dringend!«

Es entstand eine kurze Pause, dann prustete jemand am anderen Ende der Leitung geräuschvoll.

»Jederzeit«, sagte Jil und lachte. »Ich gehe immer ran, wenn meine beste Freundin anruft. Wo brennt der Hut?«

»Ach, du bist es. Entschuldige. Ich dachte …«

»Ja, schon klar. Du hast ihn also noch immer nicht erreicht?«

»Nein, verdammt noch mal. Wie verrückt ist das, wenn man sich von seinem Freund trennen will und ihn einfach nicht zu fassen bekommt, um genau das zu tun?«

»Klingt ziemlich verrückt. Aber genau genommen ist er dein zukünftiger Ex, wenn die Trennung für dich bereits feststeht und du es ihm eigentlich nur noch sagen willst. So sehe ich das. Bist du schon in der Redaktion?«

»Nein, ich wollte das erst klären, aber das versuche ich schon das ganze Wochenende. Nur leider ist der Herr einfach nicht erreichbar. Als würde er den Braten riechen.«

»Sicher nicht. Der hat dich ein Jahr lang wie eine Marionette an Fäden nach seiner Pfeife tanzen lassen. Der lebt in seiner eigenen kleinen Blase, der riecht gar nichts.«

»Ach komm, streu nicht noch Salz in die Wunde. Ich will ihm nur nicht per SMS oder WhatsApp sagen, dass es aus ist. So tief mag ich nicht sinken.«

»Nein, aber du kannst dich auch nicht zum Affen machen oder machen lassen und deine Energie darauf verschwenden, deinem zukünftigen Ex hinterherzurennen, nur um ihm zu sagen, dass er dein Ex ist.«

»Sehe ich genauso. Hast du eine Idee?«

»Setz ihm eine Frist.«

»Was?«

»So läuft das doch auch bei einer Kündigung, egal von welcher Seite sie ausgesprochen wird. Da hilft kein Wegducken. Es wird eine Frist gesetzt und ein offizieller Termin genannt, zu dem die Kündigung wirksam wird.«

»Du spinnst. Das ist doch hier etwas ganz anderes!«

Jil lachte. »Ja, klar. Aber du kannst ihm Ort und Zeit für ein Treffen vorgeben. Du führst Regie, triffst ihn und ziehst einen Schlussstrich.«

»Und wenn er nicht kommt? Er geht einfach nicht an sein Handy.«

»Das ist sein Problem und nicht deins. Dann bekommt er eben eine Nachricht, in der die Trennung ausgesprochen wird. Das hat dann nichts mit tief sinken zu tun, sondern ist ein klarer Cut.«

Nora schwieg einen Moment. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie mitten im Treppenhaus stand, in dem es wie in einer Tropfsteinhöhle hallte, und ein privates Telefonat führte. Genau das, was sie in der Regel vermied. Wenn eine Woche schon so anfing …

»Bist du noch dran?«, fragte Jil.

»Ja, du hast recht. Das ist eine gute Idee«, sagte Nora. »Du bist ein Schatz, aber ich muss jetzt unbedingt los. Wenn ich nicht endlich durchstarte und ins Büro komme, muss Bine die Chefredaktion übernehmen.«

Sie beendete das Gespräch und lief eilig die Treppe hinunter. Als sie das Erdgeschoss erreichte, kam gerade die alte Frau Pohlmann aus ihrer Tür, um eine Tragetasche mit Papier zum Container auf der anderen Straßenseite zu bringen.

»Grüß Sie, Frau Seeleitner«, sagte sie mit ihrer dünnen Stimme und einem scheuen Lächeln.

»Hallo, Frau Pohlmann! Heute scheint endlich wieder die Sonne. Wurde Zeit, nicht wahr? Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«

Die Alte nickte und sah geistesabwesend auf die Straße. Seit vor einem Jahr ihr Mann gestorben war, schien es, als würde sie nur noch auf ihr eigenes Ende warten. Sie wirkte wie ein verletztes Reh im Wald, das sich ganz still verhält, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Normalerweise wechselte Nora immer ein paar Worte mit ihr, mehr als sie es eben getan hatte, aber heute war einfach keine Zeit. Sie entschuldigte sich mit einem herzlichen Lächeln, aber das schien die alte Frau Pohlmann gar nicht wahrzunehmen.

Das Haus, in dem sie wohnten, befand sich mitten in der Halleiner Altstadt, war uralt und hatte keinen Aufzug. Noras Wohnung lag im zweiten Stock unter dem Dach, und wenn sie im Wohnzimmer die Tür zu der kleinen Loggia öffnete, war das jedes Mal wie der Übergang in eine andere Welt. Rundherum Dächer, darüber der Himmel und gegenüber Jules dicht bepflanzter Dachgarten, der Nora im Sommer eine wunderschöne Aussicht auf eine kunterbunte Blütenpracht bot.

»Du bist wie eine Fee mit Zauberstab im Blumenparadies«, hatte Nora ihrer Nachbarin einmal zugerufen. Jule war Krankenschwester und nach ihrer Scheidung vor fünf Jahren in die Wohnung gegenüber gezogen, kurz darauf Nora in ihre. Sie hatte damals als Redakteurin bei einer regionalen Wochenzeitung angefangen und vor drei Jahren die Chefredaktion übernommen. Die Häuser mit Terrasse und Loggia befanden sich in einem Abstand von wenigen Metern einander direkt gegenüber, und irgendwann beschlossen die beiden Frauen, dass es sie an Italien erinnerte. An die schmalen Gassen in beschaulichen italienischen Städtchen, wo die Wäscheleinen von einem Haus zum gegenüberliegenden über der Straße hingen. Danach hatten sie gemeinsam einen Baumarkt aufgesucht und sich mit einfachsten Mitteln einen Seilzug gebaut. Wofür gab es schließlich das Internet? Darin fand man für so ziemlich alles eine Bauanleitung.

Seither »wanderten« gelegentlich kleine Aufmerksamkeiten am Seil entlang vom Dachgarten zur Loggia und umgekehrt. Einmal hatte Nora ein Körbchen mit selbst gepflückten Tomaten vorgefunden und sich mit einem Piccolo Frizzante bedankt. Ein anderes Mal waren es Brombeeren gewesen, für die sie im Austausch ein Buch, das ihr gefallen hatte, im Körbchen rübergeschickte. Die fünfzigjährige Krankenschwester hatte mit Nora, die fünf Jahre jünger war, keine größeren Gemeinsamkeiten, aber als Nachbarinnen hatten sie beide das große Los gezogen.

Nora ging mit schnellen Schritten durch die schmalen Straßen des mittelalterlichen Städtchens und wurde etwas langsamer, als eine Abzweigung steil bergauf führte. Die Redaktion des Tennengauer Falter befand sich in einem der alten, sorgfältig renovierten Bürgerhäuser am Oberen Markt und war von ihrer Wohnung aus in nur zehn Minuten fußläufig zu erreichen. Nora liebte ihren Job bei der Zeitung, die einmal pro Woche dem Salzburger Falter beilag und über Vorkommnisse, Veranstaltungen und Neuigkeiten im Salzburger Umland berichtete.

Es war Ende Mai und der Sommer streckte nach einer langen Regenperiode endlich seine Fühler aus. Nora spürte die warme Sonne auf ihren nackten Armen, aber auch die Anstrengung in den Beinen, weil sie so schnell gehen musste. Sie atmete tief durch. Wenn das alles vorbei und Robert nur noch ein Fragment ihrer Erinnerungen war, würde sie ihr altes Leben wiederhaben, wozu auch die Joggingtouren entlang der Salzach gehörten.

»Er hat dich wie eine Marionette an Fäden nach seiner Pfeife tanzen lassen.« Das klang nicht sehr schmeichelhaft für eine Mittvierzigerin, die mit beiden Beinen im Leben stand, aber Jil hatte recht, das wusste Nora nur zu gut. Und wer kannte sie besser als Jil?

Vor einer gefühlten Ewigkeit hatten sie sich bei einer Veranstaltung in Salzburg kennengelernt. Das war der Beginn einer intensiven Freundschaft von zwei gleichgesinnten Frauen gewesen, zwischen die heute kaum mehr ein Blatt passte. Diese Freundschaft hatte viele Jahre lang alle Lebensabschnittsgefährten der beiden überstanden, doch im letzten Jahr war sie regelrecht zähflüssig geworden.

Zwischen Robert und Jil hatte es nicht einmal den Versuch einer Annäherung gegeben. Manchmal war es Nora vorgekommen, als würden die große selbstsichere Blondine und der fünfzigjährige Frauenversteher auf verschiedenen Planeten leben. Jil hatte mit ihrer Kritik an der mangelnden Achtsamkeit und fehlenden Empathie ihres nun zukünftigen Ex nicht hinter dem Berg gehalten. Dennoch hatte sie sie bei jeder emotionalen Talfahrt verlässlich aufgefangen, wie eine gute Freundin es nun einmal tat, bis Nora schließlich den Entschluss gefasst hatte, dem bösen Spiel ein Ende zu setzen.

2 Redaktion

Als Nora mit zwanzig Minuten Verspätung die Tür der Redaktion öffnete, drehte sich Bine auf ihrem Stuhl hinter dem Empfangspult um und grinste sie an.

»Verschlafen?«

Nora schüttelte den Kopf.

»Was ist denn los? Alles in Ordnung?«

Sie verzog den Mund. »Nicht wirklich. Ich brauche jetzt erst mal einen Kaffee.«

Bine sah sie skeptisch an und nickte. »Ich hoffe, es ist nicht das, was ich denke. Aber Kaffee ist ein guter Anfang.« Sie drehte sich wieder zum Computer und Nora ging an ihren Arbeitsplatz. Der war für sie wie ein zweites Zuhause. Ihr Schreibtisch sah aus, als wäre sie noch nicht im digitalen Zeitalter angekommen, mit all den Notizblöcken, Heften, Magazinen und Post-its. Nora liebte ihren Job, der neben viel Abwechslung ein überschaubares Maß an Stress und vor allem ein tolles Arbeitsklima beinhaltete. Bine war nicht nur im Sekretariat als erste Ansprechpartnerin Dreh- und Angelpunkt, sondern im Laufe der Zeit auch eine echte Freundin geworden.

Nora kam mit einem Kaffeebecher, an dem sie vorsichtig nippte, wieder zu Bines Schreibtisch und stellte eine Tasse, aus der hauchfeiner Dampf aufstieg, neben die Tastatur ihrer liebsten Kollegin. An diesem Arbeitsplatz im Eingangsbereich kam kein Besucher ungesehen vorbei, und Bine entsprach mit ihrem strahlenden Lächeln, Organisationstalent und Sinn für Prioritäten der perfekten Empfangsdame. Sie war einen halben Kopf kleiner als Nora und hatte eine kräftige Statur. Ein dunkler Pagenkopf umrahmte ihr Gesicht, aus dem kluge Augen das Gegenüber musterten. Auf Bines untrüglichen Blick für Wahrheit oder Fake konnte man sich verlassen.

»Oh, danke, du kannst Gedanken lesen. Gerade dachte ich, dass ich mir auch einen gönnen sollte. Jetzt erzähl mal, was ist denn los?«

»An dir ist eine Therapeutin verloren gegangen. Wenn ich dich ansehe, dann verpufft mein Ärger jedes Mal sofort. Du strahlst so viel Frische und Freiheit aus.«

»So ein Quatsch. Aber jetzt erzähl mal. Dein Ärger hat nicht zufällig mit Robert zu tun?«

»Ja und nein. Ich habe es satt.«

»Das ist nichts Neues. Leider. Und das sagst du auch nicht zum ersten Mal.«

»Stimmt. Aber ich habe jetzt endlich eine Entscheidung getroffen.«

Bine schnappte nach Luft, die Tasse in ihrer Hand geriet in Bewegung und der Inhalt schwappte bedenklich am Rand hoch, als sie unvermittelt aufstand. »Du gibst ihm den Laufpass? Ehrlich? Ich bin stolz auf dich!«

»Immer langsam mit den jungen Pferden! Lass mich erst einmal ausreden.« Nora sah sie mit großen Augen an und Bine ließ sich wieder auf ihren Stuhl fallen. Dass der Kaffee in ihrer Tasse dabei nicht überschwappte, kam einem kleinen Wunder gleich.

»Dann los, erzähl.« Sie trank einen Schluck. Nora verkniff sich ein Grinsen.

»Am Freitagabend waren wir beim Italiener, im Piccolo, zum Essen verabredet. Ich war pünktlich, er nicht.«

»Und weiter?« Bine nippte an ihrem Becher.

»Nach zwanzig Minuten habe ich eine Nachricht von ihm bekommen.«

»Ich sage mal nichts dazu, dass du so lange gewartet hast.«

Nora überhörte die Bemerkung. »Darin hat er sich entschuldigt und geschrieben, es würde noch etwas dauern.«

»Was genau sollte noch etwas dauern?«

»Das wusste ich zu dem Zeitpunkt auch nicht.«

»Und später?«

»Hatte ich meine Lasagne schon gegessen und wollte gerade zahlen, als er kam.«

Bine sah auf, ihre Augen funkelten angriffslustig. »Und was hat er gesagt, warum er so spät gekommen ist?«

»Dass er Uschi geholfen hätte, ein Bücherregal aufzubauen.«

Bine hustete, weil sie sich verschluckt hatte. »Nennt man das jetzt so? Wie einfallslos! Und wer ist Uschi?«

»Die Aushilfskraft vom Jedermann.«

»Das Bistro, über das du letztes Jahr im Sommerloch den Artikel geschrieben hast? Hast du ihn da nicht kennengelernt?«

Nora nickte.

»Er hat an seinem Land Rover rumgeschraubt, als ich kam. Stand mit Hans Kolf, dem Betreiber, vor dem Bistro.«

»Ich erinnere mich.« Bine verdrehte die Augen. »Du hattest einen glasigen Blick, als du zurückkamst. Und das lag nicht am Betreiber, sondern an dem drahtigen Fünfziger mit braunen Locken und Dreitagebart. Groß und schlank«, ergänzte Bine mit spöttischem Ton und gerümpfter Nase.

»Hör schon auf.«

»Aber genauso hast du ihn beschrieben. Du warst hin und weg. Erst habe ich mich auch für dich gefreut …«

»Aber später nicht mehr …«, ergänzte Nora, denn den Rest konnte sie sich denken.

»Nein, meine Freude hat nicht besonders lange angehalten. Ich glaube, du hast das am Anfang gar nicht gecheckt mit all den rosaroten Herzchen in deinen Augen.«

Nora verzog den Mund. »Stimmt. Da muss ich dir leider recht geben. Er hatte immer irgendwelche Ausreden und Erklärungen, die ich ihm zumindest anfangs unbedingt glauben wollte.«

»Ja, so ticken diese Frauenversteher.«

»Ist ja gut«, unterbrach Nora sie.

»Okay, also weiter im Text. Du hast gerade gezahlt, als er gesagt hat, er hätte dieser Uschi geholfen.«

Nora biss die Zähne zusammen und nahm den Kaffeebecher in beide Hände, um das Zittern zu verbergen. Sie erinnerte sich nur zu gut an die Situation. Natürlich hätte sie gehen können. Arturo war schon ewig Kellner in der Pizzeria und hatte sie von der Theke aus beobachtet. Sie kannten sich schon aus der Zeit vor Robert, und sie hatte das Gefühl gehabt, dass er ihre Partnerwahl für keinen großen Wurf hielt. Aber natürlich war sein Auftritt wie immer tadellos höflich gewesen.

»Magst du etwas bestellen?« Seine Stimme hatte so fürsorglich geklungen, weil ihm wohl klar gewesen war, dass Robert sie versetzt hatte. Sie hatte genickt und sich eine Lasagne bestellt, als wäre das von Anfang an ihr Plan gewesen. Arturo hatte den Daumen gehoben und ihr zugezwinkert. Wenig später war die feuerfeste Keramikschale vor ihr gestanden. Der geschmolzene Käse am Rand hatte in der Hitze geknistert und sein köstlicher Duft war ihr in die Nase gestiegen. Arturo hatte ein Glas vom roten Hauswein vor sie hingestellt und mit einem Lächeln gemeint: »Der geht aufs Haus.«

»Nora?« Bine zog die Augenbrauen hoch und Nora schüttelte über sich selbst den Kopf.

»Entschuldige. Er hat es Bücherregal zusammenbauen genannt. Ich habe selbst schon eine Menge Bücherregale zusammengebaut, habe danach aber nie so zerzaust und erschöpft ausgesehen.« Sie trank einen Schluck Kaffee. »Und auf einmal hat es Klick gemacht. Ich wollte einfach nichts mehr hören, bin aufgestanden und gegangen.«

»Bravo, du bist meine Heldin! Schwere Maschinen kommen einfach langsamer in Fahrt!« Bine lachte und zwinkerte ihr zu. »Und weiter? Nachdem du am Freitag praktisch mit ihm abgeschlossen hast, wieso ärgert dich das noch, wenn du an einem sonnigen Montagmorgen in die Redaktion kommst?«

»Weil ich noch einmal darüber geschlafen habe und seit Samstag versuche, ihn telefonisch zu erreichen, um ihn zu treffen.«

Bine wirkte enttäuscht, als hätte sie eine andere Antwort erwartet, sagte aber nichts.

»Ich werde mich von ihm trennen. Aber das sage ich ihm ins Gesicht und nicht über WhatsApp.«

Auf Bines Gesicht breitete sich ein Strahlen aus, wie bei einer Kerze, die angezündet wurde. Sie stand wieder auf, nahm Nora vorsichtig den Becher aus der Hand, um ihn auf dem Schreibtisch abzustellen, und umarmte sie dann. »Habe ich dir schon gesagt, dass du meine Heldin bist?«

Nora genoss einen Moment lang den Lavendelduft, der von Bines Haaren ausging, ehe sie sich wieder aufrichtete. »Aber ich kann ihn nicht erreichen. Er drückt mich nicht weg, aber nimmt auch nicht ab.«

»Hm.«

»Jil meinte, ich soll ihm einen Treffpunkt und eine Zeit vorgeben, und wenn er nicht kommt, doch per WhatsApp Schluss machen.«

»Das ist eine super Idee. So machst du das!«

Nora sah sie etwas unschlüssig an.

»Gleich heute«, ergänzte Bine, als wollte sie sie anspornen. Nora nickte und ging in ihr Büro, wo sie am Fenster ihren Kaffee austrank.

Auf dem Dachfirst gegenüber saßen einige Tauben. Es war unschwer zu erkennen, wer der Täuberich war, der seine aufdringlichen Annäherungsversuche mit lautem Gurren unterstrich. Nora fühlte einen kalten Schauer über ihren Rücken laufen, und dann stieg mit einem Mal Wut in ihr auf. Die kurze Unterhaltung mit Bine hatte ihr das ganze Ausmaß dieser miesen Schmierenkomödie bewusstgemacht, in der sie seit letztem Sommer mitspielte, aber nicht Regie führte.

»Er hat dich wie eine Marionette an Fäden nach seiner Pfeife tanzen lassen.« Jils Worte hallten in ihrem Ohr wider wie ein Echo. Sie hatte nie verborgen, wie hin- und hergerissen sie zwischen der Ablehnung Roberts und der innigen Freundschaft zu Nora war. Gemeinsame Unternehmungen mit Jil hatten sich erübrigt, nachdem Robert und sie zusammengekommen waren. Auch sonst waren sie als Paar selten in größerer Runde unterwegs gewesen. Angeblich, weil Robert es so genoss, sie ganz für sich zu haben. Das hatte so schön geklungen, so verliebt, so … idiotisch. Nora biss die Zähne zusammen. Wie blöd musste man sein?

In Wahrheit hatte er sich über ihre Freunde, und das war nicht nur Jil, lustig gemacht. Er fand immer einen Grund. Der Besuch des Stadtfestes, auf den sich immer alle freuten und der fast schon Kultstatus hatte. Ein »intellektuell geframtes Saufgelage« hatte Robert es genannt, »auf dem die Leute die Sau rauslassen, die sich sonst über den Ballermann amüsieren«. Statt gemeinsam das Stadtfest zu besuchen, war er mit ihr ins Autokino gefahren, wo sie Chips geknabbert und er Bier getrunken hatte. Auf ihren Hinweis zu seiner Fahrtauglichkeit hatte er mit einem erschrocken ironischen Blick reagiert, sich theatralisch auf die Nägel gebissen und mit fipsiger Stimme gefleht, sie möge ihn nicht an die Polizei verraten.

Die Festspielnächte in Salzburg, die unter freiem Himmel auf dem Kapitelplatz stattfanden, wo auf einer riesigen Leinwand herrliche Aufführungen für das breite Publikum gezeigt wurden, fand er demaskierend. In seinen Augen war das nur eine Möglichkeit für ungebildete Proleten, die sich keine Tickets für echte Aufführungen leisten konnten oder wollten, auf kulturaffin zu machen. Er selbst besuchte allerdings keine kulturellen Veranstaltungen – welcher Art auch immer. Weil er »seine eigenen Träume hatte und sich nicht mit denen anderer bespaßen musste«, waren Roberts Worte gewesen.

Nora spürte einen kalten Schauer über ihren Rücken laufen. Was hatte sie sich wegen ihm nur angetan? Wie sehr hatte sie sich für ihn verbogen, um Konflikte zu vermeiden? Sie liebte klassische Konzerte, modernes Theater und Ballett. Das Angebot in Salzburg und Umgebung war riesig, und dennoch hatte sie es während ihrer gemeinsamen Zeit mit Robert nicht genutzt. Stattdessen war sie den Wünschen dieses Ignoranten nachgekommen, als wäre sie ein unbedarftes Schulmädchen.

Robert arbeitete als Glückscoach. Er hatte keinerlei Ausbildung, die ihn als Lebens- oder Sozialberater qualifizierte, und daher diesen unverfänglichen, aber erfolgversprechenden Titel gewählt. Seine Geschäfte liefen blendend, und seine Klientel bestand ausschließlich aus Frauen.

Nora nahm ihr Handy zur Hand und begann zu tippen. Wenig später zeigte sie Bine die Nachricht, die sie verschickt hatte: Café Klatsch, heute 16:30 Uhr. Ich warte nicht.

3 Robert

Robert hatte sich nicht zurückgemeldet, aber die Nachricht gelesen. Das erkannte Nora daran, dass die Farbe der Häkchen am Ende der Nachricht von Grau auf Blau gewechselt war. Das Café Klatsch lag in der Durchgangsstraße in Golling, wo sich ein Geschäft an das andere reihte. Der kleine Ort befand sich am Fuß des Untersbergs, nur wenige Kilometer von Salzburg entfernt, und war bei Touristen sehr beliebt, weil er abseits des hektischen Trubels Ruhe ausstrahlte und mit österreichischer Lebensart aufwartete.

Robert hatte hier vor einigen Jahren ein Mehrparteienhaus in bester Lage erworben, das aus einer Konkursmasse stammte. Das Lokal im Erdgeschoss hatten Hans Kolf und seine Frau Birgit gepachtet, zum Bistro Jedermann umgestaltet und betrieben es seitdem mit viel Herzblut und Engagement. Robert wohnte über dem Lokal. So war es nur ein kurzer Weg für jeden Aufriss, den er in seinem Stammlokal tätigte, wie Nora mittlerweile wusste.

Sie erreichte schon um kurz nach vier das Café, was eigentlich unnötig war. Als wäre Robert jemals früher gekommen. Ihre schulterlangen braunen Locken hatte sie in einem dicken Knoten im Nacken gebändigt. Dieser Look gefiel Robert nicht, er fand, dass sie damit aussah wie eine Schuldirektorin. Ihre schlanke Figur hatte sie unter einem weiten Hemd versteckt, das offen über der Jeans hing. Sie wollte alles vermeiden, was sexy rüberkommen konnte, damit er nicht auf falsche Gedanken kam.

Die Bedienung grüßte sie beim Eintreten von der Kuchentheke aus, der Gastraum war leer. Das Café hatte einen Innenhof und Nora setzte sich in den Schatten einer Platane und bestellte einen Cappuccino. Sie staunte über sich selbst. Während sie den ganzen Tag über immer wieder nervöse Blicke auf die Uhr geworfen hatte und die Zeit nur quälend langsam zu vergehen schien, war sie hier und jetzt tatsächlich entspannt, als hätte sich eine Blockade gelöst.

Zwei ältere Damen unterhielten sich mit gerümpften Nasen und hochgezogenen Brauen über etwas, das offenkundig ihren Missmut erregte. Mit beiläufiger Zärtlichkeit zerlegten sie dabei die hübschen Cremetörtchen in kleine Stücke, die sie sich zwischen den giftigen Kommentaren auf der Zunge zergehen ließen.

Nora beobachtete eine Amsel, die auf der Traufe des gegenüberliegenden Daches saß. Sie trällerte in die warme Frühlingsluft hinein, als wäre sie in ein interessantes Gespräch verwickelt. Nora genoss die eindringlichen Töne und spielte mit dem Löffel im Kakaomuster auf dem Cappuccino, das schon ganz verzerrt aussah. Nur noch ein paar Minuten, dann war es halb fünf. Die junge Dame von der Kuchentheke wischte die Tische ab und rückte die Stühle gerade. Sie hatte beide Hände voll mit Zuckerstreuern, als Nora ihr zuwinkte.

»Bin gleich bei Ihnen«, sagte sie lächelnd und ging ins Lokal. Vor der Tür blieb sie kurz stehen, um Robert vorbeizulassen. Er sagte etwas zu ihr, was Nora auf die Entfernung nicht verstand, und kam dann mit großen Schritten in den Innenhof, um sich mit Schwung auf einen der Bistrostühle ihr gegenüberzusetzen.

»Hallo, meine Süße, da bin ich«, sagte er mit einem Lachen. »Oder muss ich salutieren? Das klang schon wie ein Befehl, was du mir da geschrieben hast.«

Die Bedienung kam mit einem Bier heraus, stellte es vor Robert ab und sah Nora fragend an. »Für Sie noch etwas?«

»Nein danke.«

Robert hob sein Glas und prostete ihr zu. Nora betrachtete ihr Gegenüber, das gepflegte Gesicht mit dem markanten Kinn, die dunklen Augen, die ein so großes Repertoire an Ausdrücken beherrschten. Das dichte Haar, das in Wellen den Kopf umschmeichelte und von weißen Strähnen durchwirkt war wie Gischt im Meer. Sie wusste, wie weich es sich anfühlte, denn er pflegte es ebenso sorgfältig wie seinen grau melierten Bart, der immer millimetergenau geschnitten war und den er trug wie ein Glücksritter. Alles an ihm wirkte selbstverständlich. Sein Aussehen genauso wie sein Auftreten. Er war, wie er war und fand das großartig. Er fand sich großartig, daran ließ er keinen Zweifel.

Obwohl sie praktisch den ganzen Tag über ein nervliches Wrack gewesen war, fühlte Nora sich jetzt vollkommen entspannt. Sie stützte die Ellbogen auf und betrachtete den Mann, der sie so viele Nerven gekostet hatte. Er sah tatsächlich gut aus, das musste sie ihm lassen.

Die Bedienung kam mit einem Tablett aus dem Lokal und verteilte die frisch befüllten Zuckerstreuer auf den Tischen. Robert beobachtete sie, wie andere ein köstlich angerichtetes Dessert ansahen. Nora schwieg und betrachtete ihn eingehend, während sie geduldig darauf wartete, dass er ihr seine Aufmerksamkeit schenkte. Er trug ein dunkelgraues Leinenhemd und eine helle Hose, seine nackten Füße steckten in Ledersandalen. Wie oft hatte sie sich gewünscht, mit diesem Mann an Veranstaltungen und gemeinsamen Unternehmungen mit Freunden teilzunehmen, aber er hatte immer abgewunken. Robert war nie um eine Ausrede verlegen gewesen, warum es gerade nicht ging. Statt allein die Angebote zu nutzen und die Einladungen anzunehmen, hatte sie ihm zuliebe zurückgesteckt und in Kauf genommen, dass sich dadurch viele ihrer Kontakte von ihr zurückzogen. Ein bittersüßes Lächeln verzog ihre Lippen bei dem Gedanken daran, was sie in ihrem Leben alles verpasst hatte, nur weil sie sich für ihn verbogen hatte. Es war gut, dass das nun vorbei war.

»Was gibt es denn, was du so dringend mit mir besprechen musst?«, fragte er beiläufig, schenkte der Bedienung ein Lächeln und nahm einen kräftigen Schluck von seinem Bier.

Nora stützte das Kinn auf die Hand. »Es ist weniger, dass ich etwas mit dir besprechen muss, sondern dir etwas mitteilen will. Du bist seit Samstag nicht erreichbar.«

Er setzte an, um etwas zu sagen, aber sie hob die Hand.

»Ich will’s gar nicht wissen. Danke für die gemeinsame Zeit, die aber nun endet. Es gab viele schöne Momente, aber mehr von denen, auf die ich gut hätte verzichten können und auf die ich in Zukunft verzichten werde. Das wollte ich dir persönlich sagen.«

Er sah sie ausdruckslos an, wahrscheinlich musste er das erst einmal sacken lassen. Ihr wurde ein wenig mulmig, aber sie war froh, dass es nun endlich raus war. Vielleicht hätte sie das besser machen können, aber mit Trennungen hatte sie wenig Erfahrung.

»Hast du einen anderen? Oder hat dir deine Jil den Floh ins Ohr gesetzt? Die konnte mich doch noch nie ausstehen.«

»Was? Nein! Es ist meine Entscheidung und die muss ich nicht rechtfertigen.«

Er nahm sein Glas und trank den Rest in einem langen Zug aus. »Und das heißt jetzt was?«

Sie sah ihn verwirrt an. Konnte man ihre Ansage falsch verstehen? Er betrachtete das leere Bierglas auf dem Tisch und drehte es mit zwei Fingern am unteren Rand. Als er den Blick hob, wirkte sein Gesicht eher verwundert. Das, was sie ihm gesagt hatte, schien erst jetzt zu ihm durchgesickert zu sein. Sein Blick wanderte über sie hinweg, und ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit.

»Na, du machst mir Spaß. So was nennt man dann wohl kurzer Prozess, was?« Er schüttelte belustigt den Kopf. »Aber Freunde bleiben wir schon, oder?«

Nora sah ihn entgeistert an und nickte wie ferngesteuert.

Er winkte der Bedienung, als Zeichen, dass er zahlen wollte.

»Hast du noch Sachen bei mir?«, fragte er beiläufig, als würde ihn ihre Antwort nicht wirklich interessieren. Dann zog er seine Geldbörse aus der Tasche und wischte mit einer Hand ihren stummen Einwand weg. »Alles zusammen.«

Als er zahlte, begann sein Handy in der Tasche zu klingeln. Nach einem Blick auf das Display nahm er den Anruf grinsend an. »Alter Falter, ich dachte schon, du hast mich vergessen.« Er hörte dem Anrufer zu und nickte brummend. »Ja, kein Problem, ich bin sowieso unterwegs und kann vorbeikommen. Alles klar, dann bis gleich. Tschau mit au.«

Er stand auf und Nora ebenfalls, um den reibungslosen Abschied nicht zu unterbrechen. Das war alles, was sie gewollt hatte, als sie in das Café gekommen war.

Draußen deutete er auf einen blank geputzten schwarzen SUV mit einem glänzenden Stern auf dem Rost. Sie kannte den Wagen nicht, der offenbar eine Neuerwerbung war, und nickte nur unbestimmt.

»Na dann«, sagte er und umarmte sie kurz. »Mach es gut und lass mal wieder von dir hören.« Er ging zu seinem neuen Wagen, sah vor dem Einsteigen noch einmal kurz hoch und hob die Hand. Sie dachte tschau mit au und verabschiedete sich mit einem Nicken. Robert entfernte sich rasch mit dem schwarzen Prachtstück, und Nora stellte erleichtert fest, dass diese Trennung weit weniger schwierig vonstattengegangen war, als sie angenommen hatte.

4 Abgehakt

»Und?«, fragte Jil, mit der sich Nora am Abend im Piccolo traf. »Ich bin fast verrückt geworden vor Spannung. Du siehst ziemlich relaxed aus. Also sag schon, wie ist es gelaufen?«

»Wie geschnitten Brot.« Nora zuckte mit den Schultern.

Jil zog die Augenbrauen hoch. »Was heißt das denn? Was hat er gesagt?« Ihre grünen Augen funkelten, und sie strich mit einer schnellen Bewegung die langen blonden Haare zurück. Die perfekt geformten Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Es war kein Geheimnis, dass sie Robert für die schlechteste Wahl hielt, die Nora je getroffen hatte. Aber sie liebte ihre Freundin und stand ihr zur Seite, komme was da wolle, selbst wenn es sich dabei um einen Robert handelte.

»Er wollte wissen, ob ich einen anderen hätte, ob du mir den Floh ins Ohr gesetzt hast und ob wir Freunde bleiben«, fasste Nora kurz und knapp zusammen.

»Nicht dein Ernst!« Jil starrte sie entgeistert an. »Mehr ist ihm dazu nicht eingefallen?«

Nora zuckte noch einmal mit den Schultern und verzog den Mund. »Entweder hat er noch gar nicht kapiert, was das heißt, oder es ist ihm egal. Vor der Tür stand ein nagelneuer SUV, und er hat sich noch im Café mit jemandem verabredet, kaum dass ich ihm gesagt habe, dass es zwischen uns aus ist.«

Jil schüttelte ungläubig den Kopf und nahm sich eines der Grissini, die in einem Glas auf dem Tisch standen. »Für so blöd hätte nicht einmal ich ihn gehalten, aber bitte. Jeder, wie er will.« Sie sah Nora zufrieden strahlend an, biss von dem Grissini ab und mümmelte wie ein Kaninchen. »Damit wäre dieses Kapitel abgeschlossen. Ich gratuliere!«

Sie stießen an.

»Ganz ehrlich? Ich hatte mir vorab alle möglichen Szenarien ausgemalt und wie ich dann reagieren würde. Dass er wütend oder ganz sentimental werden könnte. Aber dass er die Trennung so gelangweilt zur Kenntnis nimmt wie den Wetterbericht, damit habe ich nicht gerechnet. Na ja, wahrscheinlich sollte ich mich glücklich schätzen, dass er keine Szene gemacht hat. Auf jeden Fall bin ich froh, dass ich das mit ihm beendet habe.«

»Und ich erst«, bestätigte Jil und hob beide Daumen.

Arturo, der beste Italiener von allen, stellte das überbackene Knoblauchbrot auf den Tisch und vor Nora einen Caesar Salad. Er strahlte sie an, offensichtlich hatte er ihren letzten Besuch nicht vergessen, zu dem Robert verspätet aufgetaucht war. Jil bekam ihre gefüllten Calamari und sog mit geschlossenen Augen den aufsteigenden Duft ein.

»Das müssen wir feiern!«, bestimmte sie.

»Die Calamari?«

Jil öffnete die Augen und zwinkerte Nora zu. »Ja, gerne mit Calamari, aber dann vor Ort.«

Nora sah sie fragend an.

»Du hast doch noch so viel Urlaub offen. Was hältst du davon, wenn du dir jetzt mal ein paar Tage freinimmst und mit mir wegfährst?«

»Wie weg?«

»Na, in den Urlaub. Ein Kurzurlaub, um genau zu sein. Einfach mal einen Tapetenwechsel. Weg von all dem hier, um den Kopf freizubekommen und Vergangenes hinter dir zu lassen.« Jil wedelte mit einer Hand in der Luft herum, als wollte sie ein lästiges Insekt vertreiben. »Was ist los? Jetzt sag nicht, es tut dir leid, dass du diesen Kerl abserviert hast?«

»Was? Nein, wirklich nicht. Aber Urlaub hatte ich gerade gar nicht auf dem Schirm. Ich habe schon noch viel offen, das stimmt, aber …«

»Nichts aber! Du bist die Chefredakteurin. Rede mit Bine. Das geht sicher. Außerdem kommt jetzt das Sommerloch. Da ist doch sowieso nichts los, und Lily kann dich problemlos ein paar Tage vertreten, hat sie doch schon öfter gemacht. Die war lange genug deine Vorgängerin. Wenn einer den Laden kennt, dann sie.«

»Wo willst du überhaupt hin?«

»Venedig!«, entschied Jil spontan und grinste Arturo an, der ihr zuzwinkerte. »Das sind nur fünf Stunden Fahrt, also nicht zu viel. Und jetzt im Mai halten sich dort die Touris noch in Grenzen, da kriegen wir leicht ein Quartier. Du lässt dir mal frischen Wind um die Nase wehen, und wenn wir wiederkommen, ist Robert vergessen.« Sie stieß ein zufriedenes Seufzen aus, das aus ihrem tiefsten Inneren zu kommen schien. »Genau so machen wir das! Bring uns bitte zwei Grappa«, rief sie Arturo zu.

»Du musst noch fahren«, ermahnte Nora sie. »Oder willst du bei mir schlafen?«

Jil seufzte und schüttelte den Kopf. »Darum trinken wir auch nur einen.«

Nora stocherte in ihrem Salat. Dieser Tag hatte es in sich. Erst die Trennung, die so ganz anders verlaufen war als die tausend Möglichkeiten, die sie sich ausgemalt hatte. Und nun ein spontaner Urlaub?

Arturo stellte die Grappa auf den Tisch und Jil hob ihr Glas. »Salute! Auf unseren Urlaub und alles Schöne, was uns dabei begegnet!«

Nora grinste und stieß mit ihr an. »Von mir aus. Auch wenn ich das Gefühl habe, das mich überhaupt keiner mehr fragt.«

»Nope, tue ich nicht«, bestätigte Jil. »Weil ich sicher bin, dass du diese Auszeit jetzt brauchst. Aber ich weiß, dass ich dich nicht heute noch ins Auto verfrachten kann. Am besten wir fahren nächsten Dienstag. Dann haben wir beide noch eine Woche Zeit und können im Büro und in der Redaktion alles vorbereiten.«

»Du hast es gut, du bist selbstständig«, sagte Nora.

»Und das heißt?«

»Du kannst dir das leichter einteilen.«

»Leicht würde ich nicht unterschreiben. Aber wenn ich mir nicht ein paar Tage freischaufeln könnte, wäre ich als Unternehmensberaterin sowieso fehl am Platz.«

Als Nora am späten Abend die Tür zu ihrer kleinen Wohnung aufsperrte, wurde sie plötzlich von einem unbeschreiblichen Glücksgefühl überrollt. Sie war frei wie ein Vogel, hatte dieses herrliche Nest, in dem sie sich wohlfühlte, und einen tollen Job, bei dem sie mit wunderbaren Menschen zusammenarbeitete. Vor allem eines hatte sie nicht mehr: Einen Klotz am Bein mit diesem selbstgerechten Schönling, der ihr das Hirn so gekonnt vernebelte, dass sie alles getan hatte, um seinen Ansprüchen gerecht zu werden.

Sie ging in den Wohnraum, legte die Tasche auf einen Stuhl an dem kleinen Tisch, der neben der offenen Küchenzeile stand, und öffnete die Tür zur Loggia. Die kühle Nachtluft strich über ihr Gesicht, das sie nach oben zum dunklen Himmel richtete, um das Sternbild des Großen Wagens zu suchen. Das einzige Sternbild, das sie kannte. Sie war endlich wieder frei und wünschte das allen Frauen, die in Roberts Visier gerieten. Sie musste schmunzeln, als sie daran dachte, wie ihr Bine sehr deutlich gesagt hatte, was sie von Männern hielt, die jeder Frau nachstiegen, die nicht bei drei auf dem Baum war … ohne Robert namentlich zu erwähnen. Dass Liebe blind macht, hatte Nora immer nur bei anderen gesehen. Wie gut, dass es Freundinnen gab, die einen klaren Blick bewahrten!

Kommt von den Bäumen runter, ihr herrlichen Amazonen, die Gefahr ist gebannt, dachte sie in einer albernen Anwandlung und sog die klare Luft tief in ihre Lungen.

5 Überraschung

Am nächsten Morgen wurde Nora von strahlendem Sonnenschein auf ihrem Weg in die Redaktion begleitet, als hätte sie ihn passend zu ihrer Laune bestellt.

Auf den letzten Metern zum Eingang entdeckte sie Bine, die gerade ihr Rad am Ständer abschloss. Die Haare wippten im Takt ihrer schnellen Schritte, mit denen sie gleich darauf auf Nora zulief.

»Morgen! Du siehst blendend aus«, rief Bine. »Alles paletti?«

Nora hob grinsend beide Daumen. Als Bine vor ihr stehen blieb, hob sie ihre Hand zu einem High Five und sie klatschten einander ab.

»Kann ein Tag besser beginnen?«, fragte Bine. Sie hielt eine Papiertüte in die Höhe. »Ich habe uns zwei Nussschnecken mitgebracht. Aber erst der Lagebericht, dann die Arbeit.«

Nora sah sie gespielt streng an. »Das bestimmst du jetzt?«

»Ja, Chef«, erwiderte Bine und schob mit der freien Hand die Haustür auf. »Dafür mache ich dir auch einen Kaffee, wie sich das für eine gute Sekretärin gehört.«

Sie erklommen die Stufen bis in den ersten Stock. Ein Messingschild mit Namen, Öffnungszeiten und Kontaktdaten der Redaktion wies Besuchern mittels Pfeils die Richtung. Der Eingang befand sich auf der linken Seite hinter einem Mauervorsprung, und beide blieben wie auf Kommando verblüfft stehen.

»Was ist das denn?« Bine bückte sich und hob den kleinen Blumenstrauß auf, der in Papier eingewickelt auf der Matte vor der Tür lag. Sie zog eine Karte heraus.

»Für Nora«, las sie laut vor, reichte beides weiter, schloss die Tür auf und ging hinein. Nora starrte auf die Blumen in ihrer Hand und bewegte sich nicht, sie fühlte sich sekundenlang wie eingefroren. Ihre gute Laune verpuffte augenblicklich, als hätte sie ein Milchpaket geöffnet und statt der erwarteten weißen Flüssigkeit würde sich eine eklig breiige Masse in ihren Kaffee ergießen. Endlich folgte sie Bine und ging in ihr Zimmer. Sie musste nicht raten, von wem die Blumen waren, warf aber dennoch einen Blick in den Umschlag. Auf einer Fotokarte konnte sie rote Rosenblüten erkennen, die um ein Herz dekoriert waren.

Für meine Schöne von ihrem Biest stand auf der Rückseite. Sie warf die Blumen in den Papierkorb und die Karte gleich hinterher. Nebenan hörte sie Bine hantieren und die Kaffeemaschine arbeiten. Sie folgte den Geräuschen und blieb einen Moment an den Türrahmen gelehnt stehen. Auf dem Klapptisch standen zwei Teller mit den Nussschnecken.

Die kleine Küche, die nur wenige Quadratmeter groß war, fungierte gleichzeitig als Kopierraum und Lager für Büromaterial. Der Raum verfügte nur über ein kleines Schwingfenster in Richtung Innenhof. Nora betätigte den Mechanismus, es öffnete sich mit leisem Quietschen nach außen und frische Luft strömte herein, die sie tief einatmete.

»Von ihm?«, fragte Bine.

Nora nickte und erzählte mit wenigen Worten, wie unberührt Robert die Trennung hingenommen hatte.

»Scheinbar unberührt«, korrigierte Bine und biss in ihre Nussschnecke. Nora lehnte sich mit dem Kaffeebecher in den Händen an einen Schrank, verzog den Mund und seufzte. »Das kann ja noch heiter werden.«