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Drei Paare um die vierzig. Mitten im Leben, etabliert, eingerichtet, alles auf Schiene. Wirklich alles? Warum ist Kira vom vertrauten Blick des Taxifahrers im Rückspiegel so angefixt? Warum wehrt sich Bernhard nie gegen die übergriffige Art seiner Mutter, wenn die ihre Schwiegertochter wie eine persönliche Assistentin behandelt? Warum wurde Julia so blutjung Mutter und von wem? Was ist passiert, wenn sie heute mit ihrem Sohn und dessen Herzpapa Sebastian zusammenlebt wie in einem wahr gewordenen Traum? Sascha beherrscht das Leben wie ein König das Schachspiel. Glaubt er. Aber das Leben spielt nach eigenen Regeln. Eine kleine Irritation reicht, um das schöne Gefüge im Kaleidoskop des Lebens für alle Beteiligten nachhaltig zu erschüttern.
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Seitenzahl: 329
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Kerstin Dresing
Liebe in Bewegung
© 2025 Kerstin Dresing
Kerstin Dresing
Bayernstr. 1
A-5411 Oberalm
Lektorat/Korrektorat: Frauke Hansen, Manuskriptliebe
Umschlaggestaltung: © Catrin Sommer, rauschgold coverdesign
Buchsatz: Sabine Abels, e-book-erstellung.de
Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Kerstin Dresing, 1958 in Deutschland geboren, lebt seit vierzig Jahren in Salzburg. Sie war als freie Mitarbeiterin bei Zeitungen tätig, leitete ein Filmprojekt und veröffentlicht seit zwanzig Jahren Kurzgeschichten in Anthologien nach dem Motto:
Wer mit Worten fesselt, macht sich nicht strafbar.
In ihren Büchern beleuchtet sie die menschliche Natur mit all ihren Licht- und Schattenseiten.
bedeutet seinem griechischen Ursprung nach: schöne Formen sehen.
Wir drehen das Kaleidoskop des Lebens so lange, bis wir jede Facette verstanden haben, die für uns wichtig ist.
Von Hamburg aus waren es keine zwei Stunden Flugdauer zurück nach Salzburg. Kira mochte die Hafenstadt im hohen Norden mit diesem besonderen Flair, die stolze Geradlinigkeit der Menschen. Sie kam mit ihnen besser zurecht als mit den lässigen Berlinern. Jede Medaille hat zwei Seiten. Dafür fand sie die Großstadtluft in Berlin so mulitkulti, immer für eine Überraschung gut. Aber sie genoss es einfach jedes Mal, wieder nach Hause zu kommen. Liebte den speziellen österreichischen Charme und den weichen Klang des vertrauten Dialektes.
Kira Wenger war als Projektleiterin und Referentin im Bereich >Sonderpädagogische Förderung< in Österreich, vorwiegend aber in ganz Deutschland, unterwegs und hauptberuflich im Reisemodus. Das gefiel ihr, war genau die richtige Mischung aus Management und kreativem Input, ohne dass sie sich im Alltagstrott mit den alten Problemen bei neuen Schülern aufreiben musste. Das hatte sie als Volksschuldirektorin in Salzburg lange genug getan. Das Leben ging weiter, hatte ihr interessante Facetten geboten.
Sascha wäre vielleicht bereit, den Schritt in eine größere Weltstadt, den Schritt ins Ausland zu wagen, wenn sie ihn lange genug bearbeiten würde. Als Immobilienanwalt und Projektentwickler mit ausgezeichneten Referenzen sollte das beruflich kein Problem sein. Sie hingen aber beide doch zu sehr an der österreichischen Heimat, um einen so entscheidenden Schritt ohne Not zu setzen. Es ging ihnen gut, wirtschaftlich und emotional. Ein Grund war vielleicht, dass sie beide, kinderlos, nicht nur miteinander, sondern vor allem mit ihrem jeweiligen Beruf >verheiratet< waren. In der Reihenfolge, um bei der Wahrheit zu bleiben.
Kira schmunzelte bei dem Gedanken, wie es zu einem running gag geworden war, sich gegenseitig spielerisch Vorwürfe zu machen.
»Du siehst mich gar nicht mehr«, schmollte Sascha dann. »Hast nur noch Augen für diese smarten Stadtteil-Politiker.« Er betonte das St, wie es die Norddeutschen aussprachen.
»Sagte der smarte Immobilienanwalt, der noch mit Anfang vierzig in einen eleganten Slim-fit-Anzug passt und ständig von zwanzigjährigen Aspirantinnen umgeben ist, die zu jeder Schandtat bereit wären.« Dann knabberte sie an seiner Unterlippe, was ihn nach wie vor noch anturnte. Tatsächlich war ihre achtjährige Ehe intakt wie am ersten Tag. Das lag nicht zuletzt daran, wie gut sie sich im Bett verstanden.
»Wozu braucht Mann eine Geliebte, wenn er so einen heißen Feger als Ehefrau hat.« In Saschas Augen war das ein Kompliment, kam aber bei Kira nicht sonderlich gut an. Sie hatten sich darauf geeinigt, die erotischen Stunden unkommentiert zu genießen.
Sie verließ das Flughafengebäude wie gewohnt, ein Schwall warmer Luft erwartete sie. Hier war es schon frühlingshaft warm, während in Hamburg immer eine steife Brise wehte, egal zu welcher Jahreszeit. Es war diesem Wind geschuldet, dass sie ihre schulterlangen Haare zusammengebunden hatte. Nun zog sie mit einem schnellen Ruck das Haargummi vom Pferdeschwanz und schüttelte die braune Mähne kurz auf. Sie öffnete die leichte Jacke und ging an den wartenden Taxis vorbei. Ein privater Shuttle-Service würde sie nach Hause bringen, es waren nur knapp zwanzig Kilometer. Sie war im üblichen Business-Modus, freute sich aber darauf, nach den drei interessanten, intensiven Tagen mit Vorträgen, Beratungen, Gesprächen und informellen Treffen, bald zu Hause die Beine ausstrecken zu können.
Der Fahrer wartete neben seinem Wagen, hatte eine beeindruckende Statur, überragte sie sicher um einen Kopf. Einen kurzen Moment schien er überrascht, sie zu sehen, nahm dann sofort das Gepäck und öffnete ihr die Tür, bevor er es im Kofferraum verstaute. Er hatte einen gepflegten Dreitagebart, was auf Kira immer schon sexy wirkte. Leider war Sascha der Meinung, nur glattrasiert sei gut rasiert. Dabei sah der Typ ausgesprochen gepflegt aus, auch von hinten, fand Kira, als sie sich auf den Rücksitz fallen ließ und die Adresse nannte. Er nickte zustimmend und warf ihr über den Rückspiegel einen Blick zu, der sich so vertraulich anfühlte, als hätte sie ein alter Bekannter abgeholt. Im Wagen war es picobello sauber. Darauf legte Kira großen Wert. Vor langer Zeit hatte sie in einem Taxi gesessen, in dem die Sitze speckig glänzten, und die Bodenmatte mit Krümeln übersät war. Als der Fahrer sich umgedreht hatte, wehte beim Sprechen eine intensive Knoblauchwolke in ihre Richtung, bevor er sich mit der Hand die öligen Haare aus dem Gesicht strich. Schauderhaft! Noch in der Erinnerung fühlte sich Kira angefasst und gönnte sich seitdem immer einen privaten Shuttle-Dienst. Dieser Fahrer war ihr allerdings unbekannt, vielleicht neu dabei.
Kaum hatten sie das Flughafengelände verlassen, reihte sich der Wagen gleich nach der Autobahnauffahrt in einen Stau ein, in dem sich nichts mehr bewegte.
»Na, toll«, stöhnte Kira. »Heute ist mein Glückstag.«
Der Fahrer kontaktierte die Zentrale und erfuhr, dass es zu einem schweren Unfall gekommen war. Die Ladung eines LKW hatte Feuer gefangen. Das war bereits gelöscht, aber beide Spuren wegen Reinigungsarbeiten vorübergehend gesperrt. Der Stau würde sich noch mindestens eine halbe Stunde hinziehen.
»Tut mir leid«, sagte der Fahrer und sah wieder in den Rückspiegel.
»Ausweichen nicht möglich, ich weiß.« Kira kannte die Strecke nur zu gut. Der Fahrer nickte, sah sie weiter an, was Kira zu der Frage veranlasste: »Sind Sie neu dabei? Ich fliege öfter und nutze den Shuttle, daher sind mir die meisten Fahrer bekannt.«
»Nicht neu, aber in der Regel in einem anderen Team für Geschäftskunden tätig, die in kleinen Gruppen reisen. Heute bin ich für einen Kollegen eingesprungen.«
Sein Blick ruhte weich und aufmerksam auf ihr und machte sie zunehmend nervös. Seine Augen waren dunkel, die Farbe nicht erkennbar. Waren sie braun oder dunkelblau? Kira stellte erschrocken fest, dass sie nach wie vor in den Rückspiegel sah, seinen Blick erwiderte. Das durfte doch nicht wahr sein! Sie war kein kleines Kind, das vor einem Teddy im Schaufenster fasziniert stehenblieb.
»Sie sollten sich einen Kaffeeautomaten zulegen«, sagte sie schnell, um die Situation aufzulösen und hätte sich für die unüberlegte Bemerkung ohrfeigen können. »Blöder Kommentar, entschuldigen Sie. Als wäre die Wartezeit Ihre Schuld.« Sie verzog den Mund und schüttelte über sich selbst den Kopf. »Mit Geduld und Spucke, fängt man eine Mucke.« Kira zuckte ergeben mit den Schultern. Sie war müde, wollte nach Hause und die Aussicht auf eine halbe Stunde oder mehr im Taxi war ein nervendes Ende der bislang pünktlichen Rückreise. Sascha war am frühen Nachmittag vielleicht noch gar nicht zu Hause und sie hätte sich in aller Ruhe entspannen können.
»Und mit Honig fängt man Fliegen«, unterbrach der Fahrer ihre Gedanken und grinste vor sich hin, ohne in den Rückspiegel zu schauen.
Kira hob den Kopf, war erstaunt über das Wortspiel und spann es weiter: »Und mit Speck fängt man Mäuse.«
Nun sah er sie wieder über den Spiegel an, und sie mussten beide lachen.
»Geduld haben müssten Sie doch gewohnt sein in Ihrem Job«, sagte der Fahrer.
Kira zog die Augenbrauen hoch. »Was wissen Sie über meinen Job? Oder gilt das einfach pauschal für jeden, Ihrer Meinung nach?«
»In gewisser Weise schon, aber in Ihrem ganz besonders, denke ich. Kinder sind wie sie sind, ohne Geduld erreicht man da gar nichts.«
Sie strich sich unwillkürlich mit der Hand über das Kinn. »Habe ich was verpasst? Kennen wir uns aus einem anderen Leben? Woher wissen Sie, dass ich mit Kindern arbeite?«
Er lachte schallend auf. »Aus einem anderen Leben … besser kann man das nicht ausdrücken. Zumindest was mich angeht. Ja, ich kenne Sie sozusagen aus einem anderen Leben. Mein Sohn Lukas war in Ihrer Klasse. Das ist eine gefühlte Ewigkeit her, aber Sie haben sich kaum verändert.«
Kiras Verwirrung steigerte sich. Fehlte nur, dass sie jetzt rot wurde, weil ihr ein sympathischer Taxifahrer ein Kompliment machte. Sie seufzte und schüttelte den Kopf.
»Tut mir ehrlich leid, aber momentan stehe ich auf der Leitung.« Wie unangenehm, nachdem er auch noch so eine nette Bemerkung gemacht und sie anscheinend gleich am Flughafen wiedererkannt hatte.
»In meiner Klasse? Das war vor einer gefühlten Ewigkeit. Im Anschluss war ich Direktorin an besagter Volksschule und das war‘s dann. Seit zwei Jahren arbeite ich zwar noch im Bildungsbereich, aber nicht mehr im Lehramt.«
Er nickte. »Lukas war damals neun und Sie waren seine Klassenlehrerin. Das ist …« Er überlegte kurz. »Das ist gut zehn Jahre her. Er ist jetzt neunzehn. Swoboda, also Lukas Swoboda. Ist doch klar, dass Sie sich nicht an jeden Schützling erinnern können. Ich hatte damals etwas ganz anderes erwartet, als ich zum Gespräch gebeten wurde. Mein lieber Sohnemann gehörte nicht eben zu den pflegeleichtesten Schülern.« Er zuckte mit den Achseln und warf ihr über die Schulter einen entschuldigenden Blick zu. »Das hat er leider von mir. Aber heute ist das kein Thema mehr. Er ist ein Prachtbursche und hat sich großartig entwickelt. Ich bin sehr stolz auf ihn.« Das hätte er nicht erwähnen müssen, das war unüberhörbar.
Kira rutschte tiefer in ihren Sitz. Ganz allmählich schärften sich die Umrisse ihrer Gedanken. Sie war damals Klassenvorstand einer vierten Klasse gewesen. Ja, der Hinweis auf das unangepasste Auftreten war eine entscheidende Hilfe, als sie gedanklich im Fotoalbum der Erinnerungen blätterte. Lukas Swoboda, ein schmaler Bursche mit gewellten braunen Haaren, die immer aussahen, als sei er gerade aus dem Bett gestiegen. Kira hatte, genau wie ihre Kollegen, den Eindruck, er wolle seine schmächtige Statur durch besonders ruppiges Verhalten gegenüber Autoritäten ausgleichen, um im Ansehen der Klassenkollegen zu steigen. Ein aussichtsloses Unterfangen, dafür gab es Jurka Syskowicz in der Klasse. Ein unangenehmes Alpha-Tierchen, das von allen Mädchen angehimmelt wurde. Lukas war so viel intelligenter, aber was zählt diese Währung im Volksschulalter.
*
Die Unterlagen unter den Arm geklemmt, hatte sie damals den Besprechungsraum mit gemischten Gefühlen betreten. Hier hielt sich niemand auf, wenn er good vibes verspüren wollte. Hier wurde Tacheles geredet. Über unangepasstes Verhalten eines Schülers, über nicht erreichte Leistungsziele. Vor allem Letzteres hatte viele Facetten. Faulheit, pädagogisch ausgedrückt fehlende Motivation, stand immer ganz oben bei der Ursachenforschung. Dabei gab es so viele andere Gründe, zu denen nicht zuletzt auch übersteigerte Ansprüche der Eltern gehörten. Kinder fördern und Kinder fordern war noch nie dasselbe. Wie viele aufgebrachte und ängstliche, selbstgerechte und weinerliche Emotionen hatte dieser Raum schon erlebt.
Er war vom Lehrerzimmer aus zu erreichen. Nur von dort, wie ein quadratisch angehängter Blinddarm.
Ein kleiner Raum mit einem Fenster. Weiße Wände, hellgraues Linoleum am Boden, eine weiße Tischplatte von einem schwarzen Stahlgerüst getragen. Zwei hellgraue Kunststoffstühle, auf der Lehrerseite mit einem schwarzen Polster belegt. Das Fenster wirkte wie ein unerwartetes Geschenk, genau wie die grüne Topfpflanze am Boden. Der Raum sollte freundlich wirken, um die Hemmschwelle für die Besucher zu senken. Eltern, deren Kinder auffällig geworden waren.
Sie hieß damals noch Kira Sommer, war Grundschullehrerin und nicht verheiratet. Ihr Traumberuf, hatte sie gedacht und freute sich auf jeden Tag, den sie vor den Kindern stand und in ihre Augen blickte. Neugierige, offene, fragende Augen. Eine gemischte Truppe aus österreichischen, türkischen und seit der Flüchtlingswelle auch afghanischen und syrischen Kinderaugen.
Sie nahm auf dem gepolsterten Sitz Platz und legte ihre Unterlagen nebeneinander auf den Tisch. Das Klassenbuch, den Notenspiegel, ihre eigenen Notizen.
Es klopfte an der Tür und sie sagte: »Ja, bitte.«
Die Tür flog auf und verursachte einen Luftzug, der die kleinen Blätter des Ficus erzittern ließ. Ein großer Mann blieb im Türrahmen stehen. Gepflegte Freizeitkleidung, helle Jeans, dunkelblaues Hemd, dunkle Sneaker, ernstes Gesicht, die Stirn leicht gerunzelt.
»Sie wollten mich sprechen?«
Kira schaute vom Ficus zurück zu dem Mann, Benno Swoboda, dem Vater von Lukas.
»Hat er wieder was angestellt?« Swoboda stützte beide Hände in seine Hüften. So würde er nie durch die Tür kommen.
»Bitte, setzen Sie sich doch«, sagte Kira.
Swoboda musste die angewinkelten Arme fallen lassen und trat ein. Bevor er zur Stuhllehne greifen konnte, ergänzte Kira: »Wären Sie so lieb, die Tür zu schließen.«
Swoboda starrte sie an, holte Luft und drehte sich dann zur Tür, um ihrem Wunsch nachzukommen.
»Bitte«, wiederholte Kira und wies mit ihrer Hand zu dem Stuhl. Schwer ließ er sich darauf fallen, lehnte sich zurück und streckte die Beine unter dem Tisch aus. Den Bruchteil einer Sekunde erwartete Kira einen Tritt gegen ihr Schienbein.
»Also was ist jetzt?«, fragte er mit einem gelangweilten Blick auf die Unterlagen, die vor ihr auf dem Tisch lagen. »Wenn er was angestellt hat, dann raus damit. Ich werde ein Wörtchen mit ihm reden.«
Kiras Blick fiel auf seine großen Hände, und sie fühlte kalten Schweiß aufsteigen. Er starrte sie fragend an und sie sah das Spiel seiner Wangenmuskeln, als er die Zähne zusammenbiss.
Sie öffnete das Klassenbuch und schob den Notenschlüssel darauf, dann verschränkte sie die Hände, um das Zittern zu verbergen.
»Nein, ganz im Gegenteil. Lukas gehört zu den Klassenbesten und sollte nächstes Jahr auf eine berufsbildende Schule wechseln. Wir haben mit der Regens-Wagner-Berufsschule ein hervorragendes Angebot. Nächsten Montag ist dort Tag der offenen Tür, an dem sich Schüler die einzelnen Klassen und Angebote ansehen können. Ein Schnuppertag, wenn Sie so wollen.« Kira lächelte und zog ein bedrucktes Blatt aus ihren Unterlagen. »Ich gehe mit interessierten Schülern hin und war so frei, die Zustimmungserklärung schon auszufüllen. Wenn Sie bitte hier noch unterschreiben.« Sie hielt ihm den Stift hin und zeigte auf die Stelle, wo sie das Kreuz gemacht hatte. Er nahm den Stift ohne sie anzusehen und unterschrieb.
»War´s das?«
Sie sah ihn sprachlos an, hatte diese widerspruchslose Reaktion nicht erwartet. Keine Frage, kein Zögern, er schien diesen Termin möglichst schnell hinter sich bringen zu wollen.
»Äh, ja.« Sie nickte, immer noch erstaunt. Es waren doch nur gute Nachrichten, die er gehört hatte. Einen winzigen Moment lang kam ihr die Idee, dass sie ihn nervös machte. Als Lehrerin? Als Frau?
»Dann noch einen schönen Tag.« Er gab ihr nicht die Hand.
*
Die Wagen standen nicht nur in Reih und Glied, sondern auch ordnungsgemäß auf dem Seitenstreifen oder neben der Leitschiene, um eine Rettungsgasse freizuhalten. Türen wurden geöffnet, Fenster heruntergekurbelt, Raucher stiegen aus und zündeten sich eine Zigarette an. Ein junger Mann hockte auf der Leitschiene und bediente sein Smartphone. Kira sträubten sich die Haare. Das war nicht ungefährlich, so nah am Gegenverkehr. Sie biss sich auf die Zähne. Einmal Lehrerin, immer Lehrerin, rügte sie sich selbst in Gedanken.
»Es ist schon so lange her, aber wenn ich nun die Gelegenheit habe, kann ich mich gleich für meinen damaligen Auftritt entschuldigen«, nahm Swoboda den Gesprächsfaden wieder auf.
»Was?« Kira war ehrlich überrascht und konnte sich auf seine Bemerkung keinen Reim machen.
»Möchten Sie vielleicht auch aussteigen und sich ein wenig die Beine vertreten? Die Rettungsgasse ist frei und hier auf dem Pannenstreifen hinter dem Wagen kann Ihnen nichts passieren. In der Sonne zu stehen ist doch angenehmer als im Auto zu sitzen.«
Dem stimmte Kira spontan zu. Vielleicht weniger wegen der Sonne als mit der Aussicht, sich dann nicht mehr über den Rückspiegel, sondern auf Augenhöhe mit dem Fahrer zu unterhalten. Das blieb angesichts Swobodas Körpergröße ein frommer Wunsch, nachdem sie ausgestiegen war. Nicht unangenehm, neben diesem stattlichen Herrn in der Sonne zu stehen, dachte Kira belustigt über sich selbst. Mit einem unauffälligen Seitenblick hatte sie sich Gewissheit verschafft. Sie waren braun, seine Augen.
»Ja, ja, ich weiß, dabei habe ich nicht einmal einen Kaffeeautomaten.« Swoboda zuckte mit den Schultern und verzog entschuldigend den Mund. »Aber ein Wasser könnte ich Ihnen anbieten.«
Kira lächelte. Der machte sich tatsächlich richtig viele Gedanken, um ihr den ungeplanten Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Sie winkte dankend ab.
»Ich habe Sie unterbrochen, Sie wollten sich entschuldigen.« Hatten ihre eigenen Worte nur in ihren Ohren so kokett geklungen? Sie beschattete die Augen mit der Hand, um nicht zu blinzeln und er änderte seine Stellung, schützte sie so vor der Sonne.
»Ja.« Er steckte eine Hand in die Hosentasche. Wollte er seine Verlegenheit überspielen?
»Sie waren so nett, eine ausgezeichnete Lehrerin. Das fand sogar mein Sohn, auch wenn er es niemals zugegeben hätte. Sie waren die Einzige, von der er sich ernst genommen fühlte. Ich machte gerade eine schwierige Zeit durch. Damals. Das Leben als Fernfahrer hatte mir gefallen, so stressig es war. Die Freiheit in Verbindung mit Reiselust, der Weg ist das Ziel, man muss von A nach B, aber dazwischen ist man frei. Ich war in ganz Europa unterwegs, da lernt man Land und Leute ganz anders kennen, als wenn man dort Urlaub macht. Aber man dreht sich um die eigene Achse, wenn man dasitzt und über Gott und die Welt nachdenkt.«
Swoboda lachte, als sein Blick aus der Ferne zu ihr zurückkehrte. Das Stauen war ihr wohl ins Gesicht geschrieben.
»Kein Schmäh! Sie glauben gar nicht, wie viele Trucker zu wahren Philosophen geworden sind.« Bei seinen Worten machte er Gänsefüßchen in die Luft, aber Kira war tatsächlich fasziniert. Wann hatte ihr schon einmal jemand eine solche Begeisterung über die berufliche Tätigkeit vermittelt?
»Und warum sind Sie nicht dabei geblieben?«, fragte sie interessiert und fand sich im selben Moment übergriffig. Wieso sollte ihr ein wildfremder Mann seinen Lebensweg schildern? Über sein Gesicht fiel ein Schatten, als hätte sich die innere Sonne hinter einer Wolke verborgen.
»Meine Frau hat sich von Anfang an beschwert, ich ließe sie mit allem allein. Mit allem hieß Lukas und da hatte sie natürlich recht. Ich konnte ihr ein sorgenfreies Leben bieten und war schon Trucker, als wir uns kennenlernten, aber das hatte sie sich eben anders vorgestellt. Als sie schwanger war, dachte ich erst, die Launen sind dadurch verstärkt, aber …« Er zuckte resigniert mit den Schultern. Kira hätte ihm fast über den Arm gestrichen, bremste sich gerade noch.
»Ich habe mich dann in den Innendienst versetzen lassen.«
Er musste ihr nicht erklären, was das für ihn bedeutet hatte, sein erloschener Gesichtsausdruck sprach Bände.
»Darüber war Ihre Frau sicher froh«, versuchte Kira einen tröstlichen Aspekt.
»Als Lukas vier war und in den Kindergarten kam, hat sie mich wegen eines Pizzabäckers verlassen. Sie lebt nun in Neapel und hat mit ihm zwei weitere Kinder. Lukas spielte keine Rolle mehr in ihrem Leben, geschweige denn ich.«
»Das tut mir leid.« Kira schluckte. Was für eine Geschichte, was für ein schmieriger Abgang. Kein Wunder, dass sich Lukas damals ein Ventil gesucht hatte.
»Seitdem sind Sie alleinerziehender Vater?« Kira schluckte wieder, diesmal weil es ihr peinlich war, so persönliche Fragen zu stellen. Wahrscheinlich war er längst wieder verheiratet und eben nur damals, wie er gesagt hatte, in einer schwierigen Phase gewesen.
»Tja«, er grinste und zuckte mit den Schultern. »Was soll man machen? Ich habe zumindest mein Bestes versucht, auch wenn Lukas sehr darunter gelitten hat. Wie das so oft vorkommt, suchte er die Schuld bei sich. Kann sich ja auch keiner vorstellen, dass eine Mutter ihr Kind abhakt, wenn sie es liebt. Wie soll man das erklären? Einem Vierjährigen. Dann kam er in die Schule. Keine Helikoptermama, die eine gesunde Jause mitgab und ständig fragte, ob alles gut war. Keine peinliche Mama, die ihn vor Schulkollegen zum Abschied küsste und überpünktlich abholte. Überhaupt keine Mama. Ich habe getan, was ich konnte. Geburtstagskuchen für die Schule, Kinderparty bei McDonalds, Ausflug in den Zoo und mit Freunden in den Zirkus. Aber die Mama konnte ich ihm trotzdem nicht ersetzen.«
»Sie sagten, er habe sich toll entwickelt. Bei seiner Intelligenz, an die ich mich gut erinnere, kein Wunder. Aber zu einer tollen Entwicklung gehört mehr und das haben Sie ihm ganz offensichtlich gegeben. Neben Ihrem Beruf, den Sie ihm zuliebe zurechtgestutzt haben. Chapeau! Das schafft nicht jeder.«
Er sah sie an, wollte sich wohl vergewissern, ob das einfach höfliche Nettigkeiten waren, die sie da abspulte. Sie hielt dem Blick stand. Sie hatte es genau so gemeint.
»Lukas war damals mit Ihnen auf diesem Tag der offenen Tür in der Regens-Wagner-Schule. Ich sage nur: getroffen, versenkt!« Er nickte zur Bestätigung. »Er hat dort die Lehre zum Metallbautechniker mit Matura gemacht.«
Kira freute sich so, als hätte ihr jemand für die gute Beratung auf die Schulter geklopft. Nur mit einem Auge nahm sie wahr, dass die Umstehenden wieder in ihre Autos stiegen. Wie eine Welle im Stadion setzte sich die Bewegung vom Stauanfang nach hinten durch. Swoboda deutete ihr mit einer Handbewegung, wieder Platz zu nehmen und öffnete für sie die rückwärtige Tür, bevor er selbst wieder einstieg.
»Was macht er denn heute, der Lukas?«, fragte Kira. Noch stand die Kolonne bewegungslos und fast bedauerte sie, dass sich das bald ändern würde.
»Er hatte Jobangebote von drei Firmen«, sagte Swoboda und der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Aber …« Er unterbrach sich, weil sich die Wagen vor ihm in Bewegung setzten und er sich kurz darauf konzentrierte.
»Aber?«, erinnerte Kira.
»Er wollte erst ein Jahr mit Work and Travel nach Australien. Das war schon immer sein Traum. Das Fernweh hat er von mir.«
Kira holte kurz Luft. »Wow! Da können Sie aber wirklich stolz auf Ihren Filius sein.« Sie suchte seine Augen vergeblich im Rückspiegel, sah nur, dass er geschmeichelt lächelte.
Kurz darauf floss der Verkehr wieder problemlos und sie passierten den LKW, der auf dem Pannenstreifen stand und aussah, als sei er gerade aus einem üppigen weißen Schaumbad auf die Straße gestellt worden, ohne ihn vorher abzuspülen.
»Mein Gott«, entfuhr es Kira. »Hoffentlich ist dem Fahrer nichts passiert.«
»Nein, bestimmt nicht.« Swobodas Stimme klang sicher, hatte eine melodisch sonore Stimmlage, wie Kira jetzt erst auffiel.
»Es hieß, die Ladung habe gebrannt. Vermutlich hat er das bemerkt, darum steht der Wagen auch auf dem Pannenstreifen. Das Führerhaus ist unversehrt, der Löschschaum verteilt sich natürlich überall.«
Kira war beruhigt, Swoboda wusste, was Sache war. Der Gesprächsfluss versiegte, als sei nun alles gesagt.
»Haben Sie Kinder?«
Sie zögerte, und Swoboda sah sie erschrocken im Rückspiegel an. »Bitte entschuldigen Sie, das ist, das geht mich überhaupt nichts an«, sagte er schnell, als habe er sich gerade an seine Rolle als Taxifahrer erinnert.
»Nein, kein Problem.« Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. »Also auch nein, keine Kinder. Leider«, sagte Kira.
»Alles gut«, beendete Swoboda das Thema und konzentrierte sich nun ganz auf den Stadtverkehr.
Keineswegs, dachte Kira. Sie hatte mit niemandem je über das Problem gesprochen, zumindest mit keinem Fremden. Schon lange nicht mehr mit Sascha.
»Haus bauen, Baum pflanzen, Sohn zeugen«, hatte sie noch vor der Eheschließung einmal Scherzes halber gesagt, und vermutet: »Du willst doch sicher einen Sohn.«
Sascha war richtig steif geworden, daran erinnerte sie sich noch gut.
»Willst du mich deshalb heiraten?«, war seine Entgegnung wie ein Pfeil zurückgeflogen und hatte zu einem veritablen Streit geführt. Lange, auch lange nach der Hochzeit, war das Thema damit gegessen gewesen. Sie war gerade Schuldirektorin geworden und er Juniorpartner in der Kanzlei. Nach einem gewonnenen Prozess hatte er sie zu einem Dinner for Two eingeladen, war bestens gelaunt und fabulierte wie üblich den ganzen Abend über seinen Erfolg. Sie wurde nicht jünger. Mit Blick auf den Dreier vor der Null, hatte sie seine Stimmung genutzt, um ganz leise ihren Wunsch nach Nachwuchs zu äußern. Seine Reaktion war so überraschend wie begeisternd gewesen. Er war ganz bei ihr und gemeinsam hatten sie die restlichen Antibabypillen ins Klo gespült. Das war seine Idee gewesen und dafür hatte sie ihn gleich umso mehr geliebt.
Trotzdem wollte und wollte es nicht klappen. Es lag nicht an ihrem ausgeprägten Sexualleben, ganz sicher nicht. Er forderte den Sex geradezu ein und wurde nicht müde, ihr zu versichern, dass seine kleinen Jäger, wie er das nannte, über kurz oder lang eines ihrer Zwutschgerl erwischen würden. Seine Sprache bei Intimitäten blieb für sie immer gewöhnungsbedürftig. Aber sie ertrug seine Ergüsse, wollte nicht den leisesten Schatten auf eine mögliche Befruchtung werfen. Die Frauenärztin hatte ihr die bestmöglichen Konditionen in Bezug auf ihren Körper attestiert, aber es sollte wohl nicht sein. Den Vorschlag der Gynäkologin, dass sich Sascha diesbezüglich auch einmal untersuchen lassen sollte, weil die Beweglichkeit seines Spermas die Befruchtung vielleicht erschwerte, nahm Kira zur Kenntnis, aber nicht zum Anlass für ein Gespräch. Sascha hielt seinen Testosteronspiegel für grenzwertig hoch und verwies Kira gegenüber - sie hoffte, nur ihr gegenüber - nicht nur einmal darauf, wie schnell seine Wünschelrute wieder einsatzbereit war. Die Kinderlosigkeit schien ihn nicht weiter zu belasten, bescherte sie ihnen doch ein freies und ungebundenes Leben, wie er seine Frau gern erinnerte. Nur kurz hatte sie einmal nach Jahren an eine In-vitro-Fertilisation gedacht. Sie malte sich das Bild aus: Sascha mit Plastikbecher auf einem sterilen Stuhl in einem klinisch sauberen Raum, ein abgegriffenes Porno-Heft in der Hand, um sich in Stimmung zu bringen. Im Hintergrund leise Musik in Dauerschleife, um seine Wünschelrute zu einem Erguss zu bewegen. Sie hatte die Vorstellung schnell verdrängt, um sich nicht bei unpassender Gelegenheit belustigt daran zu erinnern. Ebenso wie sie die Sehnsucht verdrängt hatte, ein kleines Geschöpf ins Leben zu begleiten. Das Leben ist kein Wunschkonzert. Ein alberner Glaubenssatz, der immer passte. Sie hatte sich daran gewöhnt, ihre unerfüllte Hoffnung darin einzuwickeln.
»Jetzt haben wir es dann gleich geschafft«, sagte Swoboda. Sie sah in den Rückspiegel und in seine Augen. Seine braunen Augen, wie sie nun wusste. Hatte er sie beobachtet? Es klang, wie man ein ungeduldiges Kind tröstet, aber darauf wies sie nun ganz sicher nicht hin, sondern lächelte nur. Auch sie hatte braune Augen. Wie albern, jetzt an so etwas zu denken.
Mit einer knappen Stunde Verspätung setzte Benno Swoboda Kira zu Hause ab. Sie verabschiedeten sich mit den üblichen Worten, während er ihr Gepäck aus dem Kofferraum hob. Es gab keinen Grund für ein Wiedersehen.
»War ein schöner Zufall, heute. Machen Sie´s gut«, sagte Swoboda, hob die Hand und wollte gerade einsteigen, als Kira einen Schritt auf ihn zumachte. Er hielt inne und sah sie fragend an.
»Ich muss mich auch entschuldigen«, sagte sie. »Ich habe Ihnen Unrecht getan. Damals.«
Er zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Womit?«
»Mit meiner Einschätzung.« Nun hob auch sie die Hand, nahm ihren Koffer und ging über die schnurgerade gesetzten Betonplatten zum Eingang des modernen Einfamilienhauses.
Man sieht sich immer zweimal, dachte Kira beim Gedanken an Benno Swoboda, als sie hinter sich hörte, wie er das Taxi startete. Die Räder ihres Rollkoffers ratterten auf dem harten Boden. Im selben Moment traf sie die Erkenntnis, dass es das schon gewesen war. Das zweite Mal. Sie würden sich aller Wahrscheinlichkeit nach in diesem Leben nicht wiedersehen. Diese Wahrheit überraschte sie unerwartet schmerzhaft, während sie die Haustür aufsperrte.
Sascha kam aus dem Wohnzimmer und breitete strahlend die Arme aus.
»Endlich! Ich hatte dich schon viel früher erwartet. Wo bleibst du denn?« Er war noch im Business-Look mit dunkelgrauer Hose und weißem Hemd, nur das Sakko hing auf einem Bügel an der Garderobe.
»Im Stau, wegen eines Unfalls. Den mussten wir abwarten, es gab keine Ausweichmöglichkeit.«
Er stutzte kurz. »Wir?«
»Der Taxifahrer und ich«, sagte Kira ohne ihn anzusehen, während sie die Jacke auszog. »Ich bringe schnell den Koffer rauf.«
»Jetzt kommst du erstmal an und lässt dich ein bisschen verwöhnen. Du bist sicher müde.«
Das spürte sie nun auch wieder, war im Taxi ganz vergessen gewesen.
Der Tisch in der Essecke war gedeckt, ein Brotkorb mit knusprigem Inhalt stand dort und neben einer Platte mit belegten Sandwich-Brötchen eine andere mit Antipasti. Beide waren vorsorglich mit Frischhaltefolie bedeckt, die Sascha nun entfernte.
»Ich dachte, ich lasse es drauf, bis du kommst, damit alles frisch bleibt.«
Am Tischende stand die gläserne Vase, die sie aus dem Schweden-Urlaub vor Jahren mitgebracht hatten, gefüllt mit einem hübschen Frühlingsstrauß.
»Hast du ein schlechtes Gewissen?«, versuchte Kira ihre Überraschung zu überspielen. Sie waren beide oft beruflich unterwegs und es war nicht üblich, sich bei der Rückkehr zu begrüßen, als sei man ewig lange getrennt gewesen.
Sascha verzog schmollend den Mund.
»Ich wollte dir einfach zeigen, wie ich mich auf dich gefreut habe, wie wichtig du mir bist. Und dann werden einem gleich unlautere Absichten unterstellt.«
Der Vorwurf wirkte. Kira hatte sich eben noch unverschämt wohl gefühlt in einem Taxi mit einem nicht ganz fremden Mann. Ihre Ehe war längst zu einer gut organisierten Kosten-Nutzen-Gemeinschaft mutiert, die wenig Überraschungen bot, egal wie oft sie miteinander schliefen. Was immer der Grund für Saschas unerwartete Darbietung war, sie wollte nicht undankbar sein, umarmte ihn von hinten und drückte sich an ihn.
»Entschuldige, die lange Warterei im Stau hat mich so genervt. Ich freue mich sehr! Du bist ein Schatz und das vergesse ich keine Sekunde.«
Er nickte zufrieden, drehte sich in ihren Armen und küsste sie so lange und intensiv, dass sie für den Bruchteil einer Sekunde fürchtete, er hätte noch eine andere Art von Vorspeise im Sinn. Sie löste sich sanft und warf einen Blick zum Tisch.
»Dann sollten wir das reichhaltige Angebot jetzt auch nutzen, sonst war die ganze Frischhalte-Aktion umsonst.«
Wenn er enttäuscht war, konnte er das gut verbergen und ging zu der offenen Küchenzeile, um den Wein zu holen. Den gab es immer, wenn Sascha beim Caterer bestellt hatte.
»Ich brauche erstmal ein Wasser«, sagte Kira. »Wenn ich jetzt Alkoholisches trinke, schlafe ich noch am Tisch ein.«
Bevor Sascha etwas sagen konnte, deutete sie schnell an, dass sie sich die Hände waschen würde und verschwand im Bad.
»Ich dachte schon, du hättest diesen Konsel im Schlepptau«, sagte Sascha mit vollem Mund, als Kira wenig später am Tisch Platz nahm. Konsel war ein attraktiver Kollege, der nie die leiseste Andeutung gemacht hatte, in Kira mehr als eine nette Kollegin zu sehen. Das galt auch umgekehrt. Sascha hatte ihn einmal bei einer Präsentation kennengelernt. Die wurden Förderern zuliebe veranstaltet, um ihre Spendenfreudigkeit zu erhöhen. Dabei hatte er sich ohne den geringsten Anlass mit Konsel ein Feindbild geschaffen. So, als erhöhe es Kiras Wert, wenn ein fremdes Männchen seine Fühler nach ihr ausstreckte.
»Was? Wie kommst du darauf?« Markus Konsel war auf der Reise gar nicht dabei gewesen, und die blöde Eifersüchtelei kostete Kira umgehend Nerven.
»Na, als du sagtest wir.«
Sie sah ihn fragend an.
»Na, wir standen im Stau«, ergänzte Sascha.
Kira sah aus dem Fenster, Swobodas Augen suchten ihren Blick im Rückspiegel. Ein warmer Schauer lief über ihren Rücken und das verwirrte sie.
»Ach so, nein, also wirklich.« Sie studierte aufmerksam das Angebot auf dem Tisch, nahm dann eine getrocknete Tomate, gegrillte Zucchini und von den gemischten Oliven, dazu kam eine Brötchenhälfte mit Käse, auf der eine Weintraube thronte.
»Was gibt es Neues?«, fragte sie wie immer. Ein bewährtes Mittel, um seinen Redefluss zu starten, wie optimal er eine Lösung gefunden hatte und wie suboptimal ein Kollege daran gescheitert war. Es funktionierte auch diesmal und Kira konnte sich auf gelegentliches Nicken und kurze >ach was< und >wirklich, kaum zu glauben< beschränken. Die Qualität der Sandwiches und Antipasti war hervorragend, darauf legte Sascha großen Wert und sie genoss das. Ob der LKW wohl schon abgeschleppt war? Swoboda kam auf dem Rückweg auf der Gegenfahrbahn wieder an der Stelle vorbei. Sein Dienst ging sicher noch länger und er würde sich wieder in eine der Parkbuchten am Flughafen stellen. Bislang war keine weitere Reise ins Ausland geplant und in Österreich nutzte Kira in der Regel den eigenen Wagen. Selbst wenn Kommissar Zufall alle Register zog, könnten sie sich gar nicht wieder begegnen.
Nach dem Essen ordnete Sascha die Reste in einer verschließbaren Glasbox und schob sie in den Kühlschrank.
»Falls wir nachher Hunger haben.« Er grinste vielsagend, ohne sie anzusehen. Kira stellte das gebrauchte Geschirr in die Spülmaschine, was er geduldig beobachtete. Als sie die Klappe schloss, kam er mit einem Gesichtsausdruck auf sie zu, den sie nur zu gut kannte. Sie trat einen Schritt auf ihn zu und strich ihm über die Wange. Angriff ist die beste Verteidigung.
»Du, ich bin so platt, ich brauche jetzt erstmal einen Power Nap.«
Sein Grinsen wurde breiter, und er zog sie an sich.
»Das geht mir ganz genauso.« Die Hand in ihrem Nacken führte ihren Kopf zu seinem Mund, die Zunge kam schnell und fordernd. Sie nutzte den Moment, als seine Hand vom Nacken aus zu wandern begann, um sich sanft zu entwinden, vergaß dabei nicht, liebevoll zu lächeln.
»Nein, echt, ich muss mich erst ein bisschen ausruhen. Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben.«
Seine Enttäuschung entging ihr nicht, als sie an ihm vorbei zur Tür ging. Er sagte nichts, schlenderte zum Tisch und schenkte sich noch einmal Wein ein.
Das Wochenende stand nicht nur kalendarisch vor der Tür, sondern brachte auch noch schlechtes Wetter mit.
»Richtiges Kuschelwetter«, meinte Sascha vielsagend, als er beim Frühstück aus dem Fenster in den nassen Garten sah, über dem ein trostlos grauer Himmel hing. Kira fand den Ausdruck dämlich. Er klang, als wäre er bei pubertierenden Teenagern ausgeliehen. Sie sparte sich einen Kommentar. Aus unerklärlichen Gründen ging ihr Sascha diesmal mit seinen pausenlosen Annäherungsversuchen auf die Nerven. Er erinnerte sie an einen aufdringlichen Täuberich, wie er auf dem Dachfirst jeder Taube laut gurrend nachstieg und wenn sie wegflog, die Verfolgung aufnahm. Sie täuschte vor, die Hamburger Tage nachbereiten zu müssen, weil das am besten ging, wenn noch alles frisch in Erinnerung war. Dabei gab es das ungeschriebene Gesetz zwischen ihnen, die Arbeit nicht mit nach Hause zu bringen.
»Was ist denn los mit dir?«, beschwerte sich Sascha dann auch genervt. »War irgendwas in Hamburg? Gibt es irgendein Problem? Du bist doch sonst nicht so.«
Sie hatte sich gerade einen Caffè Latte zubereitet, um damit wieder an ihren Laptop zurückzukehren, der auf dem Esstisch wartete.
»Wie bin ich denn? Sonst. Du kennst mich doch gar nicht. Wir leben nebeneinander her, jeder in seiner Welt. Das kann doch nicht alles gewesen sein.« Sie war selbst erstaunt über ihre Worte, die sie mit kühler sachlicher Stimme ausgestoßen hatte, als würde sie einen Schüler maßregeln. Sascha sah sie fassungslos an.
»Sag mal, tickst du noch richtig? Wir haben bis jetzt alles erreicht, was wir uns vorgenommen haben. Jeder in seiner Welt, wenn du es beruflich meinst und das hier zusammen.«
Er zog großzügig den ausgestreckten Arm durch die Luft. Das Haus lag nicht nur in einer angesagten Gegend, sondern war auch schuldenfrei. Sie wusste, was er meinte.
»Jedes Jahr ein gepflegter Urlaub: Malediven, Helicopter Skiing in Kanada, Kreuzfahrt entlang der Arabischen Emirate oder durch die Fjorde Norwegens.« Er zählte an den Fingern auf.
»Es gibt so viel anderes im Leben«, sagte sie störrisch und nippte am Caffè.
»Na, da bin ich aber gespannt, dann lass mal hören.« Er stemmte die Arme in die Hüften. Das hatte Swoboda damals auch getan, und musste sie dann fallen lassen, um durch die Tür zu passen. Sie schluckte das Lachen hinunter und nippte noch einmal am Kaffeebecher, der schon leer war.
»Ich weiß auch nicht.« Sie zuckte mit den Schultern, hatte keine Lust auf eine Diskussion über den Sinn des Lebens, hatte keine Lust auf ihren Mann. Der kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu.
»Mensch, Süße. Wir beide, das passt doch wie Arsch auf Eimer.« Er wollte sie umarmen, aber sie wich zurück.
»Das ist genau das, was ich hören wollte. Denkst du vorher nach, wenn du was Nettes sagen willst?«
Er verzog den Mund. »Schuldig, Euer Ehren. Ich gelobe heilige Besserung, okay?«
Sie nickte und strich ihm versöhnlich über den Arm, bevor sie an ihm vorbei zu ihrem Laptop ging und damit in den Wintergarten übersiedelte.
Die Stimmung im Haus erholte sich an diesem Wochenende nicht mehr und schien auch danach auf Eis gelegt. Kira fühlte sich wie in einer exquisiten Wohngemeinschaft und fand den Zustand nicht unangenehm. Was war denn eigentlich anders als sonst? Sascha behandelte sie wie eine geschätzte Kollegin und vermied alles, was als Annäherung hätte ausgelegt werden können. Sie war sicher, das fiel ihm schwerer als ihr.
Montag kam Kira am frühen Nachmittag nach Hause und parkte den Wagen in der Einfahrt. Mittags war sie mit Anna beim Chinesen gewesen und hatte wegen des würzigen Essens so viel Mineralwasser getrunken, dass ihre Blase schon die längste Zeit drückte. Sie zog ihre Tasche vom Beifahrersitz, stieg aus und bediente beim Weggehen die Fernbedienung, um den Wagen zu verschließen. Eine hohe Hecke Kirschlorbeer trennte die Einfahrt vom Vorgarten und so bemerkte sie erst beim Betreten des Zugangs zum Haus, dass Benno Swoboda gerade vor der Haustür umdrehte. Er hielt etwas in der Hand. Sie sahen sich praktisch im selben Moment, und auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln, das wie ein Aufleuchten wirkte und eine innere Kerze in Kira anzündete.
»Hallo, ich dachte schon, ich hätte Sie verpasst.« Er hob seine Hand. »Sie haben Ihren Schal im Wagen vergessen. Das habe ich erst gesehen, als ich wieder zurück war.«
»Herr Swoboda, das ist … also danke. Dafür sind Sie extra noch einmal hergekommen?« Blöde Frage, das war offensichtlich, er zuckte nur mit den Schultern.
»Na ja, sonst hätte ich ihn schicken müssen, aber ich wusste Ihren Namen gar nicht.«
»Kira«, sagte sie spontan.
Er lachte auf, hob dabei den Kopf und sein Gesicht wurde noch etwas strahlender.
»Kira Sommer, ein Name wie ein Frühlingserwachen.«
Sie schluckte. »Ach so, nein, jetzt Wenger. Sommer ist mein Mädchenname.«
Das Lächeln brach ein, er leckte sich kurz über die Lippen.
»Ja, klar. Ich kannte Sie eben nur als Sommer, also Frau Sommer, von damals.« Er drückte ihr endlich den Schal in die Hand, sie verfluchte ihre Blase. Das dritte Mal, mehr konnte der beste Kommissar Zufall nicht bieten. Was sollte sie tun? Ihn hereinbitten oder draußen stehenlassen, um erstmal pinkeln zu gehen?
»Ja dann«, sagte er, drehte sich etwas zögerlich in Richtung Straße. »Dann will ich mal wieder. Einen schönen Tag noch.«
»Moment.« Kira hob die Hand, und er blieb sofort stehen.
»Das trifft sich gut.« Was denn? In ihrem Kopf tanzten die Gedanken Quickstep: slow quick quick slow, slow quick quick slow, slow.
»Ich muss einen Kollegen vom Flughafen abholen. Morgen. Also da brauche ich ein Taxi, wenn Sie … ich weiß nicht, Sie haben vielleicht keine Zeit.« War sie das, die da solchen Unsinn redete? Sie hatte einen eigenen Wagen, warum fuhr sie nicht selbst zum Flughafen, musste er sich denken. Würde er sie fragen und an das Auto erinnern, das sie gerade in der Einfahrt geparkt hatte. Und woher sollte sie einen anfliegenden Kollegen nehmen?
»Aber natürlich, sehr gern«, sagte Swoboda. »Wann soll ich Sie abholen?«
»Äh, Sie, ich … die genaue Ankunft muss ich nochmal checken, holen Sie mich doch um neun ab, das reicht in jedem Fall. Sogar im Frühverkehr.«
Er schenkte ihr einen Blick wie aus dem Rückspiegel. Sie hatten ein gemeinsames Erlebnis.
»Morgen um neun. Sehr gern.« Er nickte und ging zur Straße. Kira bemerkte erst jetzt, wie krampfhaft sie den Schlüsselbund umklammert hielt. Verdammte Blase!
Zum dritten Mal. Das ist ein Zeichen. Und morgen wieder. Um neun, da war Sascha längst aus dem Haus. Kira stand im Wintergarten, einen Kaffeebecher mit Cappuccino in der Hand. Sie schluckte. Schlaflos in Seattle, wie oft hatte sie den Film gesehen? Das ist ein Zeichen!
Sag mal, wie nennt man das noch, wenn alles zusammenkommt? Haben Sie Kinder? – Nein. – Wollen Sie meines?