Fakten sind auch nur Meinungen - Jens Foell - E-Book

Fakten sind auch nur Meinungen E-Book

Jens Foell

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Beschreibung

Was ist Fakt, was ist Fiktion? Ein Fakt ist eine wissenschaftlich überprüfbare Tatsache. Eine Meinung hingegen ist das Ergebnis persönlicher Überzeugungen und Ansichten. Aber welche Rolle spielen dann subjektive Deutungen in der Wissenschaft? Und wann wird aus einer Einzelmeinung wissenschaftlicher Konsens? Neurowissenschaftler und Bestsellerautor Jens Foell widmet sich in seinem neuen Buch dem Spannungsfeld von Fakten und Fiktionen in der Naturwissenschaft: Er folgt dem Gang wissenschaftlicher Erkenntnis in Psychologie, Physik, Chemie und Medizin von der Beobachtung über die Hypothesenbildung bis zur Kommunikation. Anhand zahlreicher Beispiele zeigt er so, warum auch in der Wissenschaft Fakten oft eher Meinungen sind – und warum es doch unumstößliche Tatsachen gibt. Die Geschichte der Naturwissenschaft, wie wir sie heute kennen, begann damit, dass sich Leute im antiken Griechenland den Verlauf von Sternen und Planeten notierten. Jahrhunderte später brachten Aufzeichnungen Newton auf seine Gravitationstheorie. Noch später gab es einen Arzt, der sich genaue Notizen darüber machte, wo in London die Cholera ausbrach. All diese Beobachtungen führten zu konkreten, testbaren Vermutungen. Aber der Weg von der Vermutung zur Tatsache ist noch weit. Und nicht selten biegen wir auf der Suche nach der Wahrheit falsch ab. Denn selbst bei uns, die wir uns gerne, oft, und informiert auf die Wissenschaft berufen, ist die Grenze zwischen Fakt und Meinung oft unklar oder wird deutlich überschritten. Den Unterschied zwischen Fakten und Meinungen zu erkennen ist nicht immer möglich – aber immer kompliziert. Um darin besser zu werden, müssen wir genau verstehen - wie man beobachtet, - wie man aus diesen Beobachtungen Vermutungen ziehen kann - und wie man diese anschließend prüft, interpretiert, und an andere weitergibt.Ein Buch, mit dem sich Denkfehler vermeiden lassen – und das genau recht kommt in Zeiten aufgeheizter Debatten.

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Seitenzahl: 304

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Jens Foell

Fakten sind auch nur Meinungen

Wie wir wissenschaftlich zwischen Wahrheit und Wahrnehmung unterscheiden

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Ein Fakt ist eine wissenschaftlich überprüfbare Tatsache, eine Meinung hingegen das Ergebnis persönlicher Überzeugungen und Ansichten. Aber welche Rolle spielen dann subjektive Deutungen in der Wissenschaft? Und wann wird aus einer Einzelmeinung wissenschaftlicher Konsens? Neurowissenschaftler und Bestsellerautor Jens Foell widmet sich in seinem neuen Buch dem Spannungsfeld von Fakten und Fiktionen in der Naturwissenschaft: Er folgt dem Gang wissenschaftlicher Erkenntnis in Psychologie, Physik, Chemie und Medizin von der Beobachtung über die Hypothesenbildung bis zur Kommunikation. Anhand zahlreicher Beispiele zeigt er so, warum auch in der Wissenschaft Fakten oft eher Meinungen sind – und warum es doch unumstößliche Tatsachen gibt. Ein Buch, mit dem sich Denkfehler vermeiden lassen und das genau recht kommt in Zeiten aufgeheizter Debatten.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Vorwort

Meinungen, Fakten und Gesellschaft

Wozu dieses Buch gut sein soll

Hinschauen

Problem 1. Zwei Embryos, oder: Wir übersehen Dinge

Problem 2. Spaghetti bolognese, oder: Wir beobachten und erinnern schlecht

Beobachtung und Messung

Problem 3. Die Straßenlaterne, oder: Wir können nur messen, was wir haben

Sex im Magnetfeld

Problem 4. Das Phantom, oder: Wir hinterfragen unsere Methoden nicht

Lügendetektoren

Hypothesen testen

Problem 5. Die Truman Show, oder: Wir mögen unwiderlegbare Annahmen

Best-Practice-Beispiel einer wissenschaftlichen Hypothese

Problem 6. Böser Honig, oder: Wir können nicht alles sicher wissen

Was ein Experiment ausmacht

Die Cholera-Karte

Die Fermi-Schätzung

Problem 7. Die Macht der Magie, oder: Wir beobachten manchmal Unerklärliches

Erklärungen generieren

Problem 8. Überlichtschnelle Teilchen, oder: Wir halten zu sehr an einer Annahme fest

Interpretieren

Problem 9. Marshmallows, oder: Wir messen nicht das, was wir denken

Problem 10. Denkende Bienen, oder: Wir wissen nicht, welche Erklärung stimmt

Das ECREE-Prinzip

Problem 11. Der Fußballtrainer, oder: Wir sortieren nach Erwartung vor

Problem 12. Gonzo, oder: Wir können nicht ganz ohne Erwartung beobachten

Modellabhängiger Realismus

Weitererzählen

Problem 13. Der kleine Lastwagen, oder: Wir verstehen einander nicht

Problem 14. Von Mäusen und Menschen, oder: Wir wissen nicht, wie man Studien liest

Problem 15. Pokémon mit Covid, oder: Wir fallen auf Fake-Studien rein

Problem 16. Die Vertrauenspyramide, oder: Wir halten alle für gleich glaubwürdig

Besser urteilen: Eine Anleitung

Schlusswort

Literaturverzeichnis

Dank

Für meine Kinder

I will love you always, and that’s a fact

Vorwort

»Wer niemals seine Meinung ändert, ist wie ein stehendes Gewässer, er brütet geistige Reptilien aus.«

William Blake, The Marriage of Heaven and Hell

»Red keinen Scheiß, Jens. Fakten sind keine Meinungen. Du hast doch ’nen Kolbenfresser im Hirn.«

Das kam von meinem alten Freund Freddy, der eigentlich Frederik heißt. Er besteht darauf, dass »Frederik« der beste aller Vornamen sei, weil er fünf andere Vornamen enthält. (Ich bin nicht ganz sicher, ob das wirklich stimmt.) Freddy hat seine kritischen Anmerkungen noch nie lange zurückhalten können. Und so auch heute nicht.

»Alter, du bist doch Wissenschaftler! Und jetzt sitzt du hier und klingst wie einer von der AfD.«

Wir saßen in einem Thai-Restaurant, in dem wir uns über alte Zeiten austauschten, bis ich eben den Titel meines geplanten neuen Buchs erwähnte. Für mich klang er wie eine ganz tolle Idee. Ich wollte auf keinen Fall, dass er zu stark polarisiert, denn damit ist niemandem geholfen. Aber ich kam auch auf keinen Titel, der allen gefällt. Die Lösung war ganz leicht logisch abzuleiten: Ich brauchte einen Titel, den alle gleichermaßen nicht leiden können. Und so war »Fakten sind auch nur Meinungen« geboren. Denn selbst die, die auf Wissenschaftlichkeit pfeifen, schreiben sich auf ihre Fahnen, nur an Fakten interessiert zu sein und ohne Ideologie zu handeln. Daher können die sich genauso über den Titel aufregen wie Menschen aus der Wissenschafts-Community. Wenn ich schon nicht alle glücklich machen kann, dann zumindest alle gleichermaßen unglücklich.

Dabei kennen wir doch die Unterschiede zwischen Fakten und Meinungen: Fakten lassen sich objektiv nachweisen; sie anzuzweifeln ist im besten Fall Zeitverschwendung, im schlimmsten Fall eine gezielte Strategie zur Verunsicherung. Und dann gibt es Meinungen, die zwar auf Fakten basieren können, aber nicht selbst nachprüfbaren Kriterien der Objektivität unterliegen. Meinungen kann man infrage stellen, aber man muss sie den Leuten auch einfach lassen, wodurch meist unsinnig wird, sie anzugreifen. Fakten und Meinungen haben also zumindest schon mal gemeinsam, dass es keinen Sinn hat, über ihre Richtigkeit zu streiten.

Der Unterschied zwischen Fakten und Meinungen ist der Unterschied zwischen »Die Temperatur in diesem Raum beträgt 23 Grad Celsius« und »Heute ist T-Shirt-Wetter«. Temperatur messen ist Wissenschaft, eine persönliche Ansicht über angemessene Kleidung ist es nicht. So weit alles klar. Deswegen heißt es auch so schön: Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten.

Nur ist es damit eben nicht ganz so einfach. Wie wir im Verlauf dieses Buchs sehen werden, ist die Grenze zwischen Fakten, Meinungen und Interpretationen oft schwer zu ziehen, und das ist ein Kernelement unserer Psychologie, unserer Naturwissenschaft und unserer Welt.

»Gut, ja, in der Psychologie ist das vielleicht schon so«, meinte Freddy, »aber zum Beispiel in der Physik ja wohl nicht. Ein Atom ist ein Atom, und ein Planet ist ein Planet. Das ist so, ohne Meinung und ohne Ideologie.«

Ich weiß nicht, wieso Freddy ausgerechnet auf Planeten gekommen ist, weil in der Physik dazu sehr wohl unterschiedliche Meinungen herrschen. Denn wenn ein Planet einfach ein Planet ist, dann hätte man den Status von Pluto als Zwergplanet ja wohl kaum über eine Wahl festlegen können. Und auch bei kleinen Teilchen sind die Grenzen zwischen Meinungen und Fakten nicht immer so klar, wie Freddy das vielleicht denkt. Auch die Existenz des Atoms war zunächst mal eine Meinung, bevor sie ein Fakt wurde. Daher antwortete ich: »Gerade in der Physik ist das auch so«, wenngleich der Satz nicht so richtig treffend war. Aber ich stehe hinter dem, was ich in dem Moment damit sagen wollte: Ganz unabhängig von der wissenschaftlichen Disziplin haben wir Missverständnisse über die Grenze zwischen Fakten und Meinungen. Wenn wir die aus der Welt räumen wollen, müssen wir uns genauer darüber unterhalten, wo Fakten enden und Meinungen beginnen und an welchen Stellen sie auch in der Naturwissenschaft nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind.

Generell hatte Freddy ja nicht unrecht damit, seinen Ärger über die Vermischung von Fakten und Meinungen vor allem an der AfD festzumachen. Die bewusste Aufweichung des Unterschieds beider Konzepte ist sozusagen die Allzweckfernbedienung im Wohnzimmer der Populisten. Das muss man mir nicht erzählen: Ich habe in den USA gelebt, während der Trumpismus aufkeimte und erblühte, ausgerechnet in Florida, wo diese Bewegung mit einem besonders ausgeprägten Rechtsruck einherging. Ich wohnte in der Hauptstadt Tallahassee, und das State Capitol, also das Zentrum der Macht des drittbevölkerungsreichsten Staates der USA, lag auf meinem Weg zur Arbeit. Nicht selten sah ich morgens den einen oder anderen Reporter, der das Gebäude als passenden Hintergrund verwendete, nachdem Trump mal wieder irgendetwas Empörendes vom Stapel gelassen hatte, das sich nicht mit der Wirklichkeit – also mit den Fakten – vereinbaren ließ, wie zum Beispiel, dass Covid-19 innerhalb kürzester Zeit von allein wieder verschwinden würde.

Trumps Ideen zur Realitätsverdrehung kamen dabei nicht aus einem Vakuum, es gab sie alle schon vorher, aber manche explodierten förmlich in dieser Zeit. So wie das Konzept der »Fake News«, mit dem unbequeme Fakten zu bestreitbaren und angreifbaren Meinungen herabgesetzt werden sollen. Fakten für »fake« zu erklären, nahm zu der Zeit ein solches Ausmaß an, dass Trump selbst mehrfach behauptete, dieses Konzept erfunden zu haben. »Die Medien sind wirklich, das Wort, einer der besten aller Begriffe, die ich erfunden habe, ist ›fake‹. Vielleicht haben ihn andere Leute über die Jahre hinweg benutzt, aber ich habe es vorher nie wahrgenommen.« Abseits des Populismus wurde der Begriff aber auch auf wahrhaftige Art benutzt, um die Flut an Fehlinformation zu benennen, die sich während des Wahlkampfs 2016 im Internet fand.

Das Anzweifeln bestätigter Fakten schreiben sich vor allem Populisten und Demokratiefeinde auf die Fahne, gar keine Frage. Zum Teil liegt das daran, dass die Wissenschaft, ähnlich wie die Politik, aus populistischer Sicht als ein elitäres Gebilde angesehen wird, das Dinge für sich in Anspruch nimmt, die dem Volk nicht zustehen, nämlich die Hoheits- und Entscheidungsmacht über die Wahrheit. Besonders deutlich wurde das bei einem Interview des damaligen britischen Justizministers Michael Gove. Damit konfrontiert, dass viele Expert:innen den damals geplanten Brexit eine sehr schlechte Idee fanden, meinte er: »Ich glaube, die Menschen in diesem Land haben genug von Experten.« Als ihn der Interviewer daraufhin als »Oxbridge Trump« bezeichnete (also wie Trump, aber aus den britischen Eliteschmieden gewachsen), begründete Gove seine Aussage mit einem »Glauben an das britische Volk«. Wenn die populistische Ablehnung wissenschaftlicher Fakten (auch) von einer generellen Ablehnung der Wissenschaft als Autorität herrührt, wird es nicht helfen, Dinge einfach basta-mäßig als faktisch korrekt hinzustellen und sie dann nicht weiter zu diskutieren.

Ein Beispiel: Mit Freddy hatte ich mal darüber geredet, ob Kaffeetrinken gut oder schlecht ist. Zur Klärung der Frage gibt es einen schönen Artikel in der Apotheken Umschau, geschrieben von einer Biochemikerin und mit über einem Dutzend Quellenangaben, die meisten davon wissenschaftliche Studien. Das Ergebnis: »in der Regel unbedenklich«. Juhu! Allerdings natürlich mit Ausnahmen, etwa: »Koffein fördert die Ausscheidung von Kalzium und so den Knochenabbau. Wer an Osteoporose leidet, sollte daher nicht mehr als drei Tassen Kaffee pro Tag trinken, am besten mit Milch.«

Okay, das schränkt mich nicht nennenswert ein. Zum einen leide ich meines Wissens nicht an Osteoporose und zum anderen sind meine Kaffeetassen zu Hause riesig (ein Überbleibsel aus meiner Zeit in den USA), sodass mir diese Maßregel recht viel Spielraum lässt. Allerdings habe ich dann noch weiter geschaut und das hier entdeckt, von einem Ernährungsexperten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk: »In kleinen Studien konnte nachgewiesen werden, dass Kaffee die Knochengesundheit positiv beeinflusst.« Eine gegenteilige Aussage also, ebenfalls durch Studien belegt, ebenfalls von jemandem mit relevanter Expertise. Was ist dabei Fakt, was ist Meinung? Oder bedeutet dieser Widerspruch, dass die Wissenschaft einfach noch nicht ausreichend Bescheid weiß? Und vor allem: Wie viel Fakt muss sein, bevor ich mir meine Meinung bilden kann? Schließlich will ich auf keinen Fall das Risiko eingehen, auch als ignoranter Trump bezeichnet zu werden, wenn ich eine dieser wissenschaftlichen Aussagen ablehne oder meine eigene Meinung als wichtiger empfinde.

Ein dringlicheres Beispiel, das uns allen in der Coronapandemie begegnete, ist der Satz: Masken schützen vor Krankheit. Anders als beim Kaffee war die Sachlage von vornherein relativ eindeutig. Der Satz »Verdachtsfälle sollten Masken tragen, bis es zu einer sicheren Diagnose kommt«, findet sich bereits in einem Paper1, das vor mehr als hundert Jahren effektive Maßnahmen zur Eindämmung der Spanischen Grippe beschrieben hat. Moderne Analysen zur Bewegung der Luft beim Husten oder Sprechen lassen keinen Zweifel daran, dass eine Maske die Transportwege der Viren stark eingrenzen kann. Und eine Studie, die sich bereits vor der Pandemie andere, möglichst verlässliche Studien zu dem Thema anschaute und zusammen auswertete (mehr zu diesem Konzept später), sprach sich klar für das Tragen von Masken aus, wie auch fürs Händewaschen.

Andererseits gab es zu Beginn der Coronapandemie anderslautende Aussagen, die zumindest von der Quelle her nicht direkt unplausibler waren. Führende Stimmen in der WHO und bei den US-Gesundheitsbehörden sprachen sich zunächst gegen das Tragen von Masken aus, sofern man nicht bereits erkennbar erkrankt war. Unter ihren Argumenten befand sich zum einen der Gedanke, die Masken könnten keinen ausreichenden Nutzen haben, aber zum anderen auch die Sorge, dass sie sogar schaden könnten: in dem Fall etwa, dass man sich mit Maske sicher fühlt (selbst wenn sie schlecht sitzt) und daher größere Risiken eingeht.

Wer hier zur Wahrheit gelangen wollte oder zumindest zur plausibelsten faktenbasierten Empfehlung, wie man sich am besten schützen kann, musste sich mit dem Finden und Lesen von Originalstudien auskennen. Allerdings bringt uns das in aller Regel niemand bei. Entsprechend war der Diskurs übers Maskentragen sehr viel mehr von Meinungen geprägt als von Fakten. Eine Auswertung relevanter Tweets aus der Zeit ergab, dass Pro-Masken-Tweets häufiger auf Quellen verwiesen als Anti-Masken-Tweets. Das ist zunächst nicht überraschend, wenn man im Kopf behält, dass die zugrunde liegenden Quellen von vornherein eher für das Tragen von Masken gesprochen haben. Etwas beunruhigender wird es, wenn man sich die Zahlen genauer anschaut: Ja, die Pro-Masken-Tweets gaben zu 19 Prozent eine Quelle an, und die Anti-Masken-Tweets nur zu 6 Prozent. Aber in den allermeisten Fällen verwiesen diese Quellenangaben nur auf andere Tweets, gefolgt von Links zu Instagram oder YouTube. Auf verlässliche Quellen wie unabhängige Berichterstattung oder Informationen von Behörden entfiel in beiden Gruppen weniger als ein halbes Prozent der Tweets. Sowohl Pro- wie auch Anti-Masken-Content war also zu mehr als 99 Prozent Meinung, auch wenn die Fakten eine der beiden Seiten eher unterstützten als die andere.

Meinungen, Fakten und Gesellschaft

Wir werden noch genauer über solche Schwierigkeiten bei Gesundheitsfragen sprechen und darüber, wie man die Studienlage nach ihrer Verlässlichkeit bewerten kann. Für den Moment ist wichtig zu erkennen, dass man vor diesen Situationen nie wirklich fliehen kann. Ein Grund dafür ist, dass es häufig eine Lücke gibt zwischen dem, was die Wissenschaft überhaupt sagen kann, und dem, was politisch oder gesellschaftlich gerade benötigt wird. Ich sage gern überspitzt, dass uns die Naturwissenschaft noch nicht einmal sagen kann, ob Mord legal sein sollte oder nicht. Sie könnte im besten Fall vielleicht modellieren, wie wir uns eine Welt vorzustellen haben, in der Mord legal ist, sodass wir dann eine bessere Entscheidungsgrundlage haben. Dennoch ist die Entscheidung selbst eine ethisch-gesellschaftliche, und damit liegt sie eher im Bereich der Meinungen als in dem der Fakten. Das bedeutet, dass wir bei gesellschaftlichen Fragen mit wissenschaftlichen Fakten allein nicht ausreichend bedient sind – auch wenn es immer wieder mal prominente Forschende gibt, die das anders sehen.

Im Idealfall wäre es stattdessen so, dass es harte Fakten gibt, auf die wir uns alle einigen können und auf deren Basis wir uns eine Meinung bilden können. Unsere Meinung, und damit auch unsere Politik, soll so stark wie möglich auf empirischer Evidenz basieren – also auf dem, was mit naturwissenschaftlichen Mitteln gezeigt und nachgewiesen werden kann – und so wenig wie möglich auf faktenunabhängiger oder willkürlicher Überzeugung.

Dieses Konzept stellt man sich wie eine Einbahnstraße vor, von Fakten zu Meinungen, aber leider ist das in Wirklichkeit nicht so. Ein offensichtliches Problem ist, dass wir den uns vorgelegten Fakten eher Glauben schenken, wenn sie unsere bereits bestehende Meinung stützen. So wissen wir aus Studien, dass der wissenschaftliche Konsens zu Dingen wie Klimawandel und Evolution weniger geglaubt oder sogar komplett abgelehnt wird, wenn er gegen die eigene politische oder religiöse Überzeugung geht. Aber es gibt noch subtilere Wege, wie die Meinung auf wissenschaftliche Fakten einwirkt, und die haben wir meistens nicht auf dem Schirm.

Beim Finden, Bewerten, Verstehen und Weitergeben von Fakten legt uns die Welt jeweils Hürden oder Probleme in den Weg. Und zwar selbst dann, wenn wir es ernst meinen, also nicht irgendwie ideologisch oder emotional geblendet sind oder jemanden anlügen wollen (einschließlich uns selbst). Manche dieser Hürden entstammen unserer eigenen Psyche, andere liegen einfach in der Natur der Dinge. Und wenn wir dem vermeintlichen Siegeszug des Populismus wirklich einen Riegel vorschieben wollen, dann müssen wir diese Probleme besser verstehen.

Wozu dieses Buch gut sein soll

Ich habe Angst um das Vertrauen, das die Gesellschaft der Naturwissenschaft entgegenbringt. Diese Angst mag irrational wirken, denn gerade in Deutschland genießt die Wissenschaft ein verhältnismäßig hohes Level an Vertrauen in der Bevölkerung. Aber meine Befürchtung ist, dass dieses Vertrauen auf einem porösen Fundament steht und dass das vor allem auch mit der Unterscheidung zwischen Fakten und Meinungen zu tun hat. Ein Beispiel dazu: Die Zeit, als Donald Trump die oben beschriebenen Aussagen fallen ließ, war gerade für Forschende in den USA eine schwierige Phase, da der Präsident seine negativen Ansichten zum wissenschaftlichen Konsens offen zur Schau trug. Entsprechend gab es in führenden naturwissenschaftlichen Fachzeitschriften Meinungskolumnen.

Diese Entwicklung gipfelte darin, dass sich die Zeitschriften Nature, Lancet und Scientific American, mit die allerwichtigsten Stimmen, wenn es darum geht, den naturwissenschaftlichen Konsens abzubilden, explizit dafür aussprachen, bei der Präsidentschaftswahl 2020 für den Herausforderer Joe Biden zu stimmen. Für die beiden letztgenannten Zeitschriften war es das erste Mal, dass eine so starke politische Präferenz ausgesprochen wurde. Im Grunde war das aber nur konsequent: Wenn eine bestimmte politische Entwicklung als Bedrohung für die Forschung angesehen wird, kann man es durchaus als Pflicht der wissenschaftlichen Journals sehen, die Bevölkerung darüber in Kenntnis zu setzen und einen Lösungsvorschlag anzubieten. Gleichzeitig löste diese Stellungnahme genau den negativen Effekt aus, den man erwarten würde: In einer nachfolgenden Studie zeigte sich, dass Trump-Wähler:innen, denen der Artikel aus der Zeitschrift Nature gezeigt wurde, diese Zeitschrift hinterher für weniger vertrauenswürdig hielten. Dieser Vertrauensverlust hatte zwei Facetten: Zum einen glaubten die Trump-Wähler:innen weniger daran, dass die von der Redaktion ausgewählten Artikel deren ehrliche, unvoreingenommene Meinung präsentierten. Zum anderen gingen sie auch weniger stark davon aus, dass die Menschen hinter der Zeitschrift überhaupt das notwendige Wissen hätten, um die Gesellschaft in wissenschaftlichen Dingen zu beraten.

Das ist natürlich sehr schlecht. Ich selbst habe nie eine eigene Forschungsarbeit in Nature oder Lancet veröffentlicht (das ist nur wenigen vergönnt), aber ich würde mich ärgern, wenn die Redaktion etwas veröffentlicht, das dazu führt, dass meinen Artikeln weniger Vertrauen entgegengebracht wird, wenn auch nur von einem Teil der Bevölkerung. Was wäre hierfür die Lösung? Sollen sich die Fachzeitschriften und die Forschenden einfach komplett aus der politischen Sphäre heraushalten, also nur die reinen Fakten präsentieren, ohne jede Einordnung?

Dazu sage ich Nein, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Sofern sie gesellschaftlich relevant sind, werden Fakten zwangsläufig ohnehin politisiert, wie wir am Beispiel des Maskentragens gesehen haben. Je nach Forschungsfeld gibt es häufig Studienergebnisse, die eine bestimmte Handlungsweise implizieren oder bevorzugen (wie bei Masken schützen vor Krankheit). Dieses Ergebnis, dieser Fakt wird dann ganz natürlich von den Unterstützer:innen der entsprechenden Maßnahme zitiert und von der Gegenseite infrage gestellt. Eine Wissenschaft, die sich in dieser Situation komplett aus der Politik heraushält, hat keine Möglichkeit, sich gegen Kritik zu wehren oder klärend einzugreifen, wenn der Fakt falsch wiedergegeben wird (was nicht unbedingt immer nur bei der Gegenseite passiert). Das erscheint mir nicht sinnvoll. Ganz abgesehen davon wird Wissenschaft von Menschen gemacht, und es wäre töricht bis unmoralisch zu verlangen, dass sich diese Menschen komplett aus dem politischen Prozess zurückziehen sollen.

Und wenn das alles so ist, also wenn Fakten die Basis für Meinungen bilden sollen, aber Meinungen auch wieder den Umgang mit Fakten bestimmen und eine vollständige Trennung der beiden ohnehin nicht möglich ist, dann hilft aus meiner Sicht nur die Flucht nach vorn: Wir brauchen ein ehrliches Gespräch darüber, warum es so schwierig, teils gar unmöglich ist, naturwissenschaftliche Fakten und Meinungen auseinanderzuhalten. Anders gesagt: Bevor wir uns auf gemeinsam akzeptierte Fakten einigen können, müssen wir uns zuerst darüber einig werden, wie man überhaupt an möglichst vertrauenswürdige Fakten herankommt.

 

Mit Freddy im Thai-Restaurant konnte ich so spontan nicht zielführend auf seine Skepsis eingehen, stattdessen habe ich mehrere Punkte durcheinandergeworfen und musste insgesamt sehr konfus gewirkt haben. Erst hinterher, in einem ruhigen Moment, kam ich auf insgesamt sechzehn Probleme, mit denen wir zu kämpfen haben, wenn wir die Grenzbereiche zwischen naturwissenschaftlichen Fakten und bestreitbaren Meinungen ergründen wollen. Manche haben mit Denkfehlern zu tun, auf die wir ständig reinfallen. In anderen Fällen liegt das Problem in der Wissenschaft selbst oder zumindest darin, dass uns nie jemand erklärt hat, wie in der Forschung eigentlich gearbeitet und kommuniziert wird.

Vermutlich hätten sich noch hundert weitere Probleme finden lassen, die uns die Unterscheidung zwischen Fakten und Meinungen schwer machen. Aber in einem Punkt bin ich genau wie Freddy: Wir haben beide nicht genügend Geduld für langes Schwafeln und Philosophieren. Die sechzehn Probleme, die ich mir in diesem Buch vornehme, sind praxisorientiert gedacht: Was müssen wir wissen, um die Graubereiche zwischen Fakten und Meinungen zu verstehen, und wie finden wir hin zu vertrauenswürdigen Informationen?

Die Probleme teilen sich auf ganz natürliche Weise in vier große Themenbereiche auf, die dem Ablauf wissenschaftlicher Faktenfindung entsprechen: Hinschauen, Hypothesen testen, Interpretieren und Weitererzählen. Daher soll auch dieses Buch so aufgebaut sein. Am Ende wird das dabei Erfahrene zu einer Art Leitfaden zusammengefasst, einer Anleitung zum besseren Urteilen.

Wir haben eine ungewöhnliche Reise vor uns, gefüllt mit schönen Dingen wie Spaghetti bolognese, Marshmallows und Honig, aber auch vorbei an schlimmen Dingen wie Cholera, Atombomben und Alkohol während der Schwangerschaft. Eine Grundeigenschaft der Naturwissenschaft ist nun mal: Sie macht vor keinem Thema halt. Also schnallt euch an, denn Gurte retten Leben (das ist übrigens keine Meinung, sondern ein nachgewiesener Fakt). Wir beginnen am Anfang. Nicht bei der Geburt, sondern noch davor.

Hinschauen

»Ein Mensch wurde durch die Litanei unentwegter Verneinung in die Verzweiflung getrieben und es platzte aus ihm heraus: ›Glauben Sie denn an gar nichts?‹ – ›Doch‹, sagte ich. ›Ich glaube an Nachweise. Ich glaube an Beobachtung, Messung und logisches Denken, bestätigt durch unabhängige Beobachter. Ich würde an alles glauben, ganz egal wie wild und lächerlich es ist, wenn es Nachweise dafür gibt.‹«

Isaac Asimov, The Roving Mind

Problem 1. Zwei Embryos, oder: Wir übersehen Dinge

Stellt euch zwei Embryos vor, Zwillingsbrüder, während einer friedlichen Unterhaltung im Mutterleib. »Schon toll«, sagt der eine, »dass wir nach unserer Zeit hier drin irgendwann ins Licht wandern und singen, tanzen und essen werden.«

»So ein Quatsch«, sagt der andere, »wer glaubt denn schon an ein Leben nach der Geburt. Essen und tanzen, dass ich nicht lache – unser Essen kommt aus der Nabelschnur, und die ist viel zu kurz zum Wandern oder Tanzen.«

»Gut, über die Details kann man sich streiten«, sagt der gläubige Bruder (also gewissermaßen der Glaubensbruder?), »aber woher willst du wissen, dass es kein Leben nach der Geburt gibt?«

»Ganz einfach«, so der Uterus-Atheist, »weil noch nie jemand von dort wieder zurückgekommen ist. Alle erzählen sich Geschichten über die Mutter, aber niemand hat sie je gesehen. Wissenschaftlich gesehen ist das alles Unsinn.«

Er bezieht sich also auf die Naturwissenschaft – und ganz ehrlich: Tun wir das nicht alle gern? Selbst jemand, der sich in diesem Moment bereit macht für eine Anti-Wissenschafts-Demo, der gerade noch ein Schild gemalt hat mit der Aufschrift »Die Wissenschaft lügt!«, selbst der schaut noch mal kurz auf die Wetter-App, bevor er sich auf den Weg zur Demo macht, damit er nicht unerwartet in einen Regen gerät.

Die Message dieser vorgeburtlichen Geschichte, die man immer mal wieder im Internet findet, ist klar: Wir alle wissen mehr als die ungeborenen Diskutanten; wir wissen, dass es die Mutter wirklich gibt. Unsere Existenz endet nicht mit der Geburt, sondern geht dann überhaupt erst richtig los. Manche, die an Gott glauben, verwenden diese Metapher, um zu sagen: Gott ist wie die Mutter in der Geschichte, er umgibt uns und wartet gleichzeitig auf uns. Soll heißen: Der Atheist liegt falsch, so wie der ungläubige Embryo falschliegt, indem er die Existenz der Außenwelt verneint. Indem er auf dem besteht, was naturwissenschaftlich unmittelbar für ihn nachweisbar ist, lehnt er die tatsächliche Wahrheit ab. (Übrigens scheint es immer okay zu sein, dass Gott hier eine Frau ist – manche Leute haben damit ja sonst so ihre Schwierigkeiten.)

Wie alle Vergleiche hinkt auch dieses Gleichnis an einer wichtigen Stelle: Es geht davon aus, dass die Embryonen überhaupt nichts von der Außenwelt mitbekommen, so wie wir üblicherweise vergeblich auf Nachrichten aus anderen Sphären der Existenz warten. Aber das ist nicht der Fall. Denkt man einen Moment länger über das Beispiel nach, dann fällt einem ein ganzes Füllhorn an Informationen auf, die sich naturwissenschaftlich auswerten lassen:

Nehmen wir an, dass die zwei ungeborenen Streithähne nur sehr wenig von dem mitbekommen, was sich außerhalb des Mutterleibs abspielt. Aber zumindest werden sie Bewegungen und Erschütterungen wahrnehmen sowie manche Berührungen des Bauchs. Vielleicht hören sie sogar Geräusche von außen, wenn auch dumpf. Wenn wir weiter spekulieren, können sie vielleicht Unterschiede in der Helligkeit mitbekommen oder sogar in den Nährstoffen, die sie durch die Nabelschnur erhalten. Wir wissen aus Studien, dass die Gehirne ungeborener Kinder zumindest gegen Ende der Schwangerschaft in der Lage sind, Geräusche wahrzunehmen und zu unterscheiden.

Völlig gleichgültig, wie viele dieser Kennwerte sie tatsächlich spüren und verfolgen können, eines werden sie sofort dabei feststellen: Sie verändern sich über die Zeit. Und das nicht zufällig, sondern in klaren Rhythmen. Jeden Tag gibt es eine Phase, in der all diese Dinge – Bewegung, Geräusche, Licht, Nahrungsaufnahme – für einige Stunden heruntergefahren werden, und zwar wenn die werdende Mutter schläft. Das ist eine wichtige Beobachtung, für die die zwei Brüder zunächst keine Erklärung haben werden.

Und es geht noch weiter: Die beiden werden vermutlich keine Möglichkeit haben, den Inhalt gesprochener Sprache zu verstehen – zum einen müssen sie das erst lernen, zum anderen hört man vermutlich im Uterus nicht klar genug, was gesagt wurde. Aber selbst ohne inhaltliche Information lässt sich einiges feststellen: Es gibt unterschiedliche Stimmen zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlicher Lautstärke. Eine davon ist lauter und deutlicher als die anderen – handelt es sich dabei etwa um die Stimme der unsichtbaren Mutter?

Damit wurden ausreichend Beobachtungen gesammelt, um eine Vermutung aufstellen zu können: Es gibt Eindrücke von außen, und die folgen einem regelmäßigen Rhythmus. Die Mutter gibt Laute von sich, und manchmal scheinen andere, vergleichbare Stimmen darauf zu antworten. Eine fundierte Erklärung dafür wäre: Es gibt eine Welt da draußen.

Welches ungeborene Kind hat also recht, das gläubige oder das ungläubige? Als Wissenschaftler sollte ich sagen, dass der ungläubige Embryo ein besseres Verständnis hat, da er die Geschichten des anderen nicht einfach so übernimmt, sondern kritisch hinterfragt und sich vermutlich erst von Fakten überzeugen lassen würde. Aber tatsächlich sage ich hier: Beide hätten es besser machen können. Anstatt nur Meinungen auszutauschen, hätten sie Fakten sammeln können. In diesem Fall hätte schon eine ganz simple Beobachtung genügt, um den Dialog zumindest viel konstruktiver zu machen. Die zwei Embryos leiden daher unter dem, was wir hier als Problem 1 benennen wollen: Sie übersehen Dinge, die beobachtbar wären. Es gibt Muster in ihrer Welt, die sie bräuchten, um Fakten von Meinungen abzugrenzen, aber diese Muster werden von ihnen ignoriert.

In der Tat wird das Beobachten, dieser simple Prozess des Hinschauens oder -hörens, üblicherweise als der Ursprung der gesamten heutigen Naturwissenschaft angesehen. Zumindest in der westlichen Welt erzählt man sich von den Philosophen im alten Griechenland, die an den Nachthimmel schauten und sich daran erfreuten, dass alle Sterne wie eine gleichförmige Decke über das Firmament wandern – alle bis auf ein paar Ausreißer, deren Bahnen zwar ebenfalls einen gleichmäßigen Ablauf haben, aber denen der anderen Himmelskörper widersprechen. Daher nannten sie sie Planeten, nach dem griechischen Wort für »Wanderer«.

Der Grund, warum diese Beobachtung als Fundament der modernen Wissenschaft angesehen wird, ist, dass sie das Bedürfnis darstellt, die beobachtbaren Muster in der natürlichen Welt um uns herum festzuhalten, um daraus zu lernen. Und da wir noch heute manche Aufzeichnung und Schlussfolgerung aus jener Zeit schriftlich vorliegen haben, bilden wir uns ein, es sei das erste Mal gewesen, dass Menschen auf die Idee gekommen sind, die Regelmäßigkeiten der Natur zu notieren und zu interpretieren.

Aber natürlich gab es das schon vorher: Bereits einige Tausend Jahre vor den Marktplätzen und Akademien Griechenlands gab es an verschiedenen Orten der Welt Menschen, die Tag für Tag auf ihre Kenntnis von Mustern angewiesen waren. Vielleicht nicht auf die der Planeten am Himmel, doch der jungsteinzeitliche Bauer, der die Regelmäßigkeiten der Jahreszeiten in seiner Region nicht hinreichend verstand, wird nur wenig Erfolg gehabt haben. Und auch schon lange davor musste die altsteinzeitliche Jägerin/Sammlerin die Zeichen der Natur lesen und deuten lernen, um Muster im Verhalten der Tier- und Pflanzenwelt zu erkennen und auszunutzen. Anders gesagt: Die Menschheit verwendete Prinzipien der Wissenschaft schon lange bevor uns zeitgenössische Aufzeichnungen davon überliefert wurden. Bei allem Respekt für Aristoteles wüsste ich einfach gern den Namen der Person, die zum ersten Mal Kerben in ein Stück Holz geritzt hat, um eine Anzahl darzustellen, oder zum ersten Mal einen Lageplan in den Sand gezeichnet hat, um eine wichtige Situation abzubilden.

Dass diese Beobachtungen elementar wichtig sind, wissen wir als Menschheit also schon sehr lange. Aber auch nach all dieser Zeit sind wir immer noch sehr schlecht darin, es wirklich richtig zu machen, also unsere Umgebung und die Welt an sich so wahrzunehmen, wie sie sind. Ein Grund dafür ist, dass eine wissenschaftlich gültige Beobachtung nicht in unserer Natur liegt, sondern wir müssen sie uns hart erarbeiten. Ich gebe euch nun ein Beispiel, an dem ihr das selbst ausprobieren könnt.

Problem 2. Spaghetti bolognese, oder: Wir beobachten und erinnern schlecht

Zur Erläuterung dieses Problems, also unserer grundlegend fehlerbehafteten Wahrnehmung der Welt, habe ich Freddy eine kleine Aufgabe gestellt, die ich wie folgt wiedergeben will:

Stellt euch vor, ich erzähle euch, was ich letzte Woche am Dienstagabend getan habe. Es ist eine recht langweilige Geschichte. Spannend wird sie nur dadurch, dass euch die Polizei später fragt, ob ihr wisst, womit ich zu dieser Zeit beschäftigt war, weil zur gleichen Zeit ein Verbrechen geschehen ist. Was für ein Verbrechen das war, oder ob ich es begangen habe, ist hierfür irrelevant. Ihr sollt nur genau zuhören, was ich erzähle, damit ihr einige Wochen später im Gericht darüber aussagen könnt. Fertig? Und los geht’s:

»Am Dienstag war ich in einem italienischen Restaurant, nicht weit von mir. Um Punkt neunzehn Uhr kam ich dort an. Ein schöner Laden, nur etwas teuer. Ich bestellte das Tagesgericht, das waren die Spaghetti bolognese, und trank zwei Cola Zero. So etwa um einundzwanzig Uhr dreißig bezahlte ich, gab ein sehr großzügiges Trinkgeld und ging von da aus direkt nach Hause.«

So weit alles klar? Lest den Abschnitt ruhig noch einmal. Merkt euch alles möglichst genau, gleich nachher werde ich euch eine Detailfrage dazu stellen.

Bei dem Punkt, den ich hier machen möchte (und den Freddy nach diesem Beispiel auch eingesehen hat), geht es um Augenzeugenberichte. Und wenn wir über die Psychologie von Augenzeugenberichten sprechen, dann müssen wir bei Elizabeth Loftus anfangen. Die US-Psychologin, deren Untersuchungen zum Thema Gedächtnis schon seit Jahrzehnten legendär sind, unterrichtet noch immer in Kalifornien. Und wie so viele Legenden ist sie irgendwann übers Ziel hinausgeschossen. Aber fangen wir vorn an.

Nach eigenen Angaben ließ sich Loftus von einem Konzept Immanuel Kants inspirieren: Seine Ideen zur Wahrnehmung brachten sie dazu, sich zu überlegen, ob unsere Erinnerung an Ereignisse nicht durch Dinge geändert werden könnte, die wir erst nach dem eigentlichen Ereignis erfahren. (Zwanzig Jahre später wäre sie vielleicht eher von einem Zitat aus dem David-Lynch-Film Lost Highway darauf gekommen, wo der Hauptcharakter Fred Madison den Einsatz einer Überwachungskamera ablehnt: »Ich erinnere mich lieber auf meine Art an Dinge. So, wie ich mich an sie erinnere, nicht unbedingt so, wie sie passiert sind.«)

Um das empirisch zu testen, zeigte Loftus ihren Versuchspersonen zum Beispiel eine Reihe von Fotos, die in ihrer Abfolge einen Autounfall darstellen: Einmal stand ein roter Datsun an einem Stoppschild und überfuhr kurz darauf einen Fußgänger. Später sollten die Teilnehmenden einen Fragebogen zu den Vorgängen beantworten. So weit, so gut. Allerdings war eine Frage in dem Fragebogen: »Fuhr ein anderes Auto an dem roten Datsun vorbei, als er am ›Vorfahrt gewähren‹-Schild stand?« Es wurde also nach dem falschen Schild gefragt. Wissenschaftlich korrekt wurde das dann auch variiert, also dass für andere Proband:innen auf dem Bild ein ›Vorfahrt gewähren‹-Schild zu sehen war, aber im Fragebogen nach einem Stoppschild gefragt wurde. Anschließend wurden weitere Fragen gestellt; unter anderem sollten die Leute auswählen, ob sie auf dem Foto ein Stoppschild oder ein ›Vorfahrt gewähren‹-Schild gesehen hatten. Das Ergebnis passt zu dem, was auch Immanuel Kant oder David Lynch erwartet hätten: Über die Hälfte der Leute ließ sich dazu verleiten, sich an das falsche Schild zu erinnern.

Das ist natürlich erst mal sehr schlecht: Man stelle sich vor, jemand macht im Gerichtssaal eine Aussage, und die Staatsanwältin oder der Verteidiger, der die Fragen stellt, lässt in die Frage selbst eine falsche Information einfließen, egal ob aus Versehen oder absichtlich. Könnte das dann verändern, woran sich die befragte Person erinnert? Die Antwort lautet: Ja, je nach genauer Situation. Eine bombenfeste, zentrale Erinnerung wird sich dadurch nicht umschubsen lassen, vielleicht aber ein Detail, das der beobachteten Person unwichtig vorkam, für den Fall dennoch eine große Rolle spielt.

Und auch die Zeit, die seit dem Ereignis vergangen ist, spielt eine Rolle: Im Versuch von Loftus wurde stark variiert, wie lange sich die Leute das Beobachtete merken mussten, von null Minuten (also direkte Befragung hinterher) zu zwanzig Minuten, einen Tag, zwei Tage oder eine Woche. Die fehlerhafte Information kam dabei entweder direkt nach der Beobachtung oder kurz vor der letzten Befragung. Am schlechtesten schnitten die Leute ab, wenn sie sich über längere Zeit erinnern mussten und erst kurz vor der Befragung durcheinandergebracht wurden. Also genau so, wie es bei einem Gerichtsfall wäre: Man muss sich über lange Zeit an etwas erinnern und ist dann von der Art der Befragung abhängig.

In der Praxis ist dieses Ergebnis besorgniserregend, aber psychologisch überrascht es zunächst überhaupt nicht, denn: Unser Gedächtnis funktioniert nicht wie der Abruf von einer Festplatte, wo man die gesuchten Daten entweder in ihrer Gesamtheit findet oder nicht und die Informationen, die man sucht, beim Abruf unverändert bleiben. So kommt es uns zwar vor, aber ich würde den Abruf aus dem Gedächtnis eher mit dem Bauen eines Lego-Modells vergleichen. Sich zu erinnern ist ein aktiver Prozess, an dem mehrere Teile des Gehirns beteiligt sind. Werden wir gefragt, wie ein roter Datsun eigentlich aussieht oder wie der oben erwähnte David-Lynch-Film noch mal hieß, dann sucht unser Gehirn zunächst die relevanten Teile zusammen und vielleicht sogar ein paar irrelevante (zum Beispiel ein rotes Auto einer anderen Marke oder den Titel eines anderen Films des Regisseurs). Die letztendliche Erinnerung ist dann wie das Lego-Set: aus Einzelteilen zusammengesetzt und hoffentlich möglichst vollständig. Wenn uns dabei aber jemand einen falschen Stein unterjubelt, dann besteht die Gefahr, dass er trotzdem ins Modell eingebaut wird – und wir uns falsch erinnern. Oft spielt das keine Rolle, aber im Gerichtssaal eben schon.

Das ganze Ausmaß dieses Problems wird deutlich, wenn man sich die Zahlen anschaut, die das US-amerikanische Innocence Project gesammelt hat. Diese Non-Profit-Organisation hat das Ziel, zu Unrecht Verurteilte zu unterstützen. Dabei zweifelt niemand an, dass die allermeisten Verurteilten auch schuldig sind. Und natürlich haben manche Verurteilten etwas davon, so zu tun, als seien sie zu Unrecht inhaftiert. Dennoch gibt es eine schockierend hohe Zahl an Fällen, bei denen das Innocence Project jemandem erfolgreich zur Freiheit verholfen hat, indem es nachweisen konnte, dass ein juristisches Fehlurteil stattgefunden hatte. Und da wir von einem Land sprechen, in dem es die Todesstrafe gibt, gibt es auch manche, die zu dem Zeitpunkt auf ihre Exekution warteten. Eine gruselige Vorstellung, unschuldig in der Death Row zu landen.

Ein riesiger Faktor für die Arbeit des Innocence Project war der Fortschritt bei DNA-Analysen in den letzten Jahrzehnten. Oft lagen (und liegen) DNA-Spuren jahrelang herum, ohne ausgewertet zu werden. Denn DNA-Spuren – zum Beispiel in Form von Haaren oder Körperflüssigkeiten, die an einem Tatort gefunden werden – sind schnell gesammelt und gespeichert, aber das Auswerten kostet Zeit und Geld. Für den sogenannten genetischen Fingerabdruck, mit dem eine Gewebeprobe einer bestimmten Person zugeordnet werden soll, verwendet man einen PCR-Test. Wer sich noch an die genauen Umstände während der Pandemie erinnert, weiß, dass das kein Verfahren für einen Schnelltest ist, sondern man braucht dafür einen Moment im Labor. Aber in der letzten Zeit wurde die Technik schneller und günstiger, sodass es sich lohnen kann, eine alte Probe abzustauben und endlich zu analysieren.

Dabei zeigen sich Überraschungen: Bereits 1989 wurde jemand mithilfe eines DNA-Tests freigesprochen. Seither ist das nach Angaben des Innocence Projects allein in den USA noch weitere 374 Mal vorgekommen. In all diesen Fällen konnte mithilfe von Gewebeproben gezeigt werden, dass die verurteilte Person nicht an dem Verbrechen beteiligt war, oder es konnte damit sogar ein anderer Täter identifiziert werden. DNA-Analysen haben ihre eigenen Tücken (dazu später mehr), aber zumindest in diesen mehreren Hundert Fällen waren sie offenbar notwendig, um schwammigen Augenzeugenberichten einen harten Datenpunkt entgegenzusetzen.