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„Süßes, sonst gibt’s Saures!“ Manchmal schätzen wir unsere eigene kleine Welt erst, wenn sie uns abhandenzukommen droht. Halloween 1996. In der Ära der Garagenbands und Skateboards weiß die Filmnärrin Bailey Wood nach dem Schulabschluss nicht wohin mit sich. Als plötzlich ein mysteriöser Junge in der Videothek auftaucht, geraten Zukunftssorgen in Vergessenheit. Die kurze Begegnung wirft Fragen auf: Wer ist er und woher kommt er? Getrieben von Neugier begibt sich Bailey auf die Suche nach ihm – selbst wenn das bedeutet, die Party im unheimlichen Maisfeld zu besuchen und unerforschte Winkel der sonst so vorhersehbaren Kleinstadt Falling zu ergründen. Bailey verliert sich in der Faszination des Unbekannten, nicht ahnend, dass in laubbedeckten Gassen und hinter maskierten Kindern etwas lauert, das ihren dunkelsten Albträumen entsprungen ist. In einer Halloween-Nacht voller Rätsel und Gefahren muss Bailey sich ihren Ängsten stellen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.
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Falling
for
Halloween
Sybille Statz
Sybille Statz, geboren 1989 in Köln, studierte – nachdem sie den Film „Natürlich blond“ sah – Jura zunächst in Bonn und beendete das Studium dann in Köln. Im August 2021 erschien ihr erster Roman „Nachbeben“ beim Franzius Verlag. Sie veröffentlicht außerdem Kurzprosa in Literaturzeitschriften und Anthologien. Hierunter erschienen u. a. zwei Kurzgeschichten im österreichischen Magazin „Schreib Was“ und im Story-One-Band „Erzähl mal Berlin“. Weitere Veröffentlichungen im Story-One-Band „Love is Love“ mit der Geschichte „Oh, Lisbeth“ und im Kölner-Stadtanzeiger-Magazin mit der Geschichte „Jura oder Zirkus“. Die Liebe zum Schreiben begleitete sie immer wieder seit ihrer Schulzeit. Am liebsten schreibt sie Liebesgeschichten, während parallel ein Horrorfilm läuft. Ein Leben ohne Katzen und 90er-Serien ist für sie nicht vorgesehen.
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Für mein liebstes Sahnehäubchen Judith.
Danke, dass du dieses wundervolle Cover gezaubert hast und mich zum Lachen bringst, noch bevor mein Tag anfängt.
Kapitel 1
Videothek, 20:48 Uhr
»Hey, Woody! Wo gehört Species hin? Horror oder Science-Fiction?«
Kyle war der Einzige, der mich so nennen durfte. Manch einer könnte auf die Idee kommen, der Name Bailey Wood würde zu cooleren Spitznamen einladen, wie B-Dog oder Ley-Town.
Wortlos sortierte ich Species in das Science-Fiction-Regal ein und stellte den Sinn unserer aushängenden Genreliste infrage, die so wenig Augenmerk auf sich zog wie die brünetten Darstellerinnen aus Baywatch. Ich glättete mit dem Daumen den Klebefalz, dessen äußere Ränder sich lösten und aufrollten, sodass das dunkle Holz des Regalbodens nur noch für IENCE-FI einstand. Ein Genre, das sich selbst den größten Filmnerds nicht erschloss.
»Ay, caramba! Die Kleine aus E.T. sieht heute ganz schön caliente aus!« Kyle saß im Schneidersitz auf dem roten Teppichboden und starrte gebannt auf das Stück Plastik in seiner Hand. Wir nannten ihn »unseren roten Teppich für Arme«, weil er mehr Flecken als Fasern besaß. Wir sollten wohl aufhören, Slushies an Kunden auf Rollschuhen zu verkaufen.
»Drew Barrymore?«, fragte ich, während ich mit einem Blatt Küchenrolle jene Regalböden von ihrem Staubmantel befreite, auf denen keine Videokassetten thronten.
»Exakt.« Kyle streckte den Arm durch und hielt die Videohülle wie ein Stoppschild hoch.
Scream.
Mich durchflutete ein schlechtes Gewissen, denn ich hatte unseren Eid, neue Filme nur gemeinsam anzuschauen, zwei Abende zuvor gebrochen. Ich war damit dran gewesen, den Laden abzuschließen, und das filmhungrige Tier in mir hatte die Gunst der Stunde genutzt. Nie hatte sich Verrat mehr gelohnt. Woodsboros Ghostface-Killer hatte mir den Atem verschlagen.
»Geben wir uns den diese Woche?«, wollte Kyle wissen, immer noch von Casey Beckers Lippen auf seinen träumend.
»Sicher, der ist bestimmt gut«, mimte ich die Unwissende und füllte rot-weiß gestreifte Papiertüten mit Popcorn auf. Jedes Mal, wenn ich das tat, glühten meine Wangen vor Verlegenheit. Wir zwackten unserer Kundschaft den achtfachen Einkaufspreis ab. »Businessregel Nummer eins: Die Leutchen müssen nicht alles wissen«, hatte mich mein Chef, Mr McKibben, der akkurate Seitenscheitel auf zwei Beinen, in die Gesetze der Profitgier eingeweiht. Der Typ führte selbst an Sonntagen seine kackhässliche Klippkrawatte aus. Also ließ ich als jemand, der auf den Mindestlohn angewiesen war, nach jedem Feierabend die leeren Discountertüten verschwinden.
Beim Gedanken an unseren Müllcontainer schauderte ich. Dieses Rattenhotel schlummerte im unbeleuchteten Hinterhof, nichts als die Schwärze der Nacht auf seiner Seite. Es machte mir keine Angst, die Klappe aufzuziehen und sie mit aller Kraft so weit nach oben zu drücken, bis sie endlich nicht mehr von allein zufiel. Was mir Unbehagen bereitete, war das Hineinfassen mit meinem sommersprossenbleichen Arm, wenn ich den Müllbeutel in seinen Schlund fallen ließ. Jedes Mal, wenn auch nur dieser kleine Teil meines Körpers schutzlos in die dumpfe Kälte des Containers abtauchte, dachte ich: Was wäre, wenn? Was wäre, wenn der abgeranzte Kunststoff plötzlich zuschnappte wie ein hungriges Krokodil? Und meine Hand, mein Arm, mein gesamter Körper zu einer Handvoll belangloser Erinnerungen derer verpuffen würde, die mich kannten? Verschluckt von der Dunkelheit, treibend im ungewissen Nichts. Wo niemand meine Schreie hörte.
Was wäre, wenn …
Meine Fantasie war in Momenten, in denen sie meinen tiefsten Ängsten wich, grenzenlos. Natürlich war es albern, sich an einem Ort wie diesem zu fürchten.
Falling.
In Falling passierte nie etwas.
Ganz ehrlich. Nie.
Wenn ich nur über dieses Kaff nachdachte, spürte ich, wie meine Nägel wuchsen. Manchmal war die Langeweile so unerträglich, so gnadenlos penetrant, dass sie in mir den Wunsch nach einem Unglück weckte. Nichts Schlimmes natürlich. Nur eine gesunde Prise Chaos gegen die Müdigkeit. Ein Spritzer Bratfett im Gesicht einer Schönheitskönigin, ein Auffahrunfall mit Bagatellschaden, irgendetwas in der Art. Erstaunlicherweise hatte Falling – Heimat für welke Seelen – eine interessante Geschichte.
Der Legende nach war die leiseste Kleinstadt einem Fluch entsprungen.
Ein Prinz verguckte sich in eine Zofe. Küsse hinter verschlossenen Türen, unsittliche Berührungen im Mondschein, eine heimliche Liebe, die ein jähes Ende finden sollte. Es war nämlich nicht nur diese eine Zofe, die dem Prinzen den Kopf verdrehte. Unzählige Versprechungen gebend, keine Verwendung für die Gefühle anderer, zelebrierte der Prinz das frivole Leben. Eben diese Sorglosigkeit sollte ihm zum Verhängnis werden, denn hatte uns die Menschheitsgeschichte eines gelehrt, dann das: Jede Frau war nur ein gebrochenes Herz davon entfernt, ihren Verstand zu verlieren.
Die gekränkte Zofe wusste sich zu helfen. Um sich seiner Treue von nun an sicher zu sein, verwandelte sie alle Frauen im Dorf in schwarze Katzen und belegte den Prinzen mit einer tödlichen Katzenhaarallergie. Umwoben von seinem eigenen Grab, erwischte den Prinzen ein hartnäckiger Husten, der noch zwei Orte weiter Vögel aus Baumkronen vertrieb. Er war der festen Überzeugung, seine Lider bestünden aus Brennnesseln, so sehr brannten seine Augen. Seine Zunge schwoll auf die Größe eines Barsches an. Der Prinz versank in Selbstmitleid, keine Frau mehr da, in dessen Arme er hätte fliehen können. Das Gesicht ein gemeiner Scherz, der keine Ähnlichkeit mehr besaß mit dem Bild von einem Mann, der einst so viele Herzen gebrochen hatte. Weder Essen noch Sprechen war in seinem Bereich des Möglichen. Schließlich stand es so ernst um die Gesundheit des Prinzen, dass er nicht anders konnte, als sich seinem Schicksal zu beugen.Er stellte sich auf dem Marktplatz vor den einzigen Ortsbrunnen, breitete die Arme aus und wartete auf das, was er verdiente.Ein Ozean aus schwarzen Katzen näherte sich ihm, teilte sich und ebnete der Zofe ihren Genugtuungspfad.Sie stolzierte in einem wallenden schwarzen Kleid auf den Prinzen zu, legte ihre Hand auf seine Wange und gab ihm einen letzten Kuss.Die Augen des Prinzen füllten sich mit Hoffnung. Er erkannte seinen Fehler und wollte nichts mehr als eine zweite Chance. Eine zweite Chance, der Mann zu sein, den die Zofe an ihrer Seite verdiente. Die Zofe wiegte den Prinzen mit ihrem bezauberndsten Lächeln in Sicherheit. Er hatte so viele Qualen durchgestanden. Und sehnte sich nach … Frieden.
Die Zofe stellte sich vor den Prinzen. Zwischen den beiden Körpern eine zur Faust geballte Hand. Der Prinz atmete schwer und wartete, übte sich in Geduld, eine Tugend, die er sonst stets den Frauen abverlangte. Wenige Zentimeter vor seinem Gesicht öffnete die Zofe ihre Faust, die Finger ausgestreckt zur flachen Hand. Etwas Eigenartiges bäumte sich auf, rekelte sich in der Abendsonne, der Prinz konnte nicht erkennen, was es war, das die Zofe ihm präsentierte. Er blinzelte und erkannte jetzt ganz deutlich: ein dunkles Haarknäuel. Die Zofe holte tief Luft. Alle schossen sie unaufhaltsam auf ihn ein. Katzenhaare, wie schwarze Speere befeuerten sie das Gesicht des Prinzen. Er wich zurück, es waren nur zwei kleine Schritte, mit denen er auf so unbedachte Weise sein Schicksal besiegelte. Seine Beine, wackelig vor Entsetzen, stießen gegen hartes Gestein. Mit einem stummen Schrei stürzte er in den Brunnen. Er fiel und fiel und fiel … und es ward der Ortsname Falling geboren.
So angeblich geschehen am einunddreißigsten Oktober 1896. Auf den Tag genau vor einhundert Jahren. Der sagenumwobene Brunnen stand heute noch mitten im Zentrum von Falling. Ich konnte nicht begreifen, warum er abergläubischen Einwohnern solch eine Heidenangst einjagte, ihren sensationslüsternen Lippen eine Faszination entlockte, die mich völlig kaltließ. Ich verdrehte die Augen, wenn ich in einer Supermarktschlange stand und die Gerüchte über altes Gestein und seine »Kraft« über mich ergehen ließ.
»Sie konnten die Leiche des Prinzen nirgends finden! Das Brunnenwasser soll ihn unsterblich gemacht haben und an Halloween zieht er umher, um uns alle heimzusuchen.«
»Ich habe gehört, dass der Geist der betrogenen Zofe nachts sein Unwesen treibt. Er saugt den Kindern die Lebensfreude aus, wenn sie von Tür zu Tür stiefeln und ›Süßes oder Saures‹ rufen.«
»Wenn du zu lange in den Brunnen blickst, stiehlt er deine Seele!«
Ja, die Leute redeten viel, wenn der Tag lang war und der Ort klein. Ganz besonders an Halloween. Dieser Feiertag löste Zungen wie ein starker Drink.
Ich hatte den Spuk, der wie ein Damoklesschwert über Falling hing, nie geglaubt, obschon sich die seltsam hohe Zahl herumstreunender schwarzer Katzen nicht leugnen ließ. Doch nichts war seltsam genug, um diesem Loch Charakter zu verleihen.
Falling hatte nichts zu bieten, außer einer lumpigen Tankstelle, einem stillgelegten Friseur, einem Aerobicstudio für Senioren, einem Autokino mit dem Umfang einer Dose Thunfisch und einer winzigen Milchshake-Bar namens Trudy’s, dem heißesten Shit unter den Kids. Und dann war da noch mein kleines Reich: »Fallings Videothek«. Oase, Zuflucht, zweites Zuhause. Ich arbeitete hier seit meinem fünfzehnten Lebensjahr zusammen mit meinem Kumpel Kyle. Vier Wände, die mich am Leben hielten.
Videotheken bargen etwas Magisches.Sie ließen Menschen durch die unterschiedlichsten Genres reisen und zeigten anhand ihrer Filmauswahl, in welcher Stimmung sie sich befanden oder in welchem Gemütszustand sie sich befinden wollten. Steuerte eine verheulte Sechzehnjährige im Stechschritt die »John Hughes«-Reihe an, wusste ich, was Sache war. Ihr Freund (alias Schulschwarm und Jahrgangskönig) hatte ihre beste Freundin geküsst, deshalb sehnte sie sich nach Molly Ringwald in einer Welt voller Chaos und Teenagerhormonen, denn geteiltes Leid war halbes Leid.
Ich. Liebte. Filme. Einzig durch sie glaubten wir daran, dass Menschen sich ändern konnten. Sie belogen uns, wenn wir die Wahrheit nicht ertrugen, sie erschreckten uns, weil wir es hassten, sie faszinierten uns, wenn unser Leben klein erschien, sie richteten uns auf, wenn wir zu müde dazu waren, sie ernüchterten uns, wenn sie uns nicht gerade in Watte packten. Ob Nichtigkeiten oder schwere Kost, Filme nahmen uns mit auf eine unvergessliche Reise.
Aussteigen. Eintauchen. Abschalten.
DRRRING!
Das Geräusch der Ladenklingel war mir vertrauter als meine eigene Stimme. Drei Chipmunks schoben sich in mein Sichtfeld. Ehe ich reagieren konnte, legten sie los. »Hier habt ihr Saures, ihr Arschgesichter!«
PATSCH!
PATSCH!
PATSCH!
Drei Wasserbomben landeten auf dem roten Teppich und zerplatzten. Hinreißend, dachte ich und seufzte. Neue Flecken, die sich wunderbar neben den anderen machten.
»Na, wartet, ihr kleinen Maden! Das zahle ich euch heim! Ihr habt euch mit dem Falschen angelegt.«
»Lass gut sein, Kyle, es war doch nur Cola in den Ballons. Außerdem … es ist Halloween. Da gibt es keine Regeln für unter ein Meter fünfzig große Nervensägen. Sie brechen sich später an den uralten Karamellbonbons von Mrs Sutherfield einen Zahn ab und die kosmische Ordnung ist wiederhergestellt.« Meine Worte verhallten ungehört, denn Kyle hechtete bereits in seinem Superman-Kostüm hinter den drei Chipmunks her. Ich schüttelte den Kopf und sammelte die bunten Ballonfetzen ein. Inzwischen hatten sich die hellbraunen Cola-Pfützen auf dem Teppich ausgebreitet und verliehen dem schmutzigen Rot einen rostfarbenen Touch.
DRRRING!
Die Tür schwang auf und die Videothek empfing einen Kyle zurück, der gekrümmt hereinhechelte wie ein Hund im zweistelligen Alter. Der hyperventilierende Superman. Ein Bild für die Götter.
»Ich … hatte … sie … fast!«, japste er und schleppte sich mit schweißbedeckter Stirn an der »Stirb langsam«-Reihe entlang bis zu Karatekid 4, wo er einen langen Zug von seinem Lieblingsplacebo, seinem Asthmaspray, nahm. Dieses Stück Plastik war Kyles Talisman. Er hatte ihn immer bei sich und mit Bandstickern verziert, die zum Raten einluden. Ein abgeknibbeltes Zeppelin hier, ein verblichenes and the Blowfish da, zumindest die Ramones konnten vollends identifiziert werden.
»Diese Scheißer waren schneller, als ich gedacht habe.« Kyle kam langsam wieder zu Atem.
»Kyle! Du armer Irrer. Du brauchst das Zeug doch gar nicht. Du bist kein Asthmatiker.«
Zufrieden schenkte er seinem Asthmaspray ein Lächeln, bevor er es in seiner Bauchtasche verschwinden ließ, von der immer noch der Reißverschluss klemmte. Dann zeigte Kyle mit einem breiten Grinsen auf seinen frisch erworbenen Bizeps. »Was soll ich sagen? Es macht mich stark.« Seine Selbstzufriedenheit verfiel plötzlich in eine traurige Miene. Seine Mundwinkel liefen herunter wie Eiscreme an einer Waffel an einem heißen Sommertag. Ich folgte Kyles Blick und erkannte das Dilemma. Schaumstoff platzte aus zwei gerissenen Nähten heraus.
»Shit!«, stieß Kyle aus. Seine Wangen liefen rot an, er schämte sich für seine entblößten Hühnerärmchen.
»Da hast du ja wieder ordentlich was springen lassen für dein Kostüm. Lass mich raten. Zwölf Kröten?« Ich versteckte mein Kichern hinter meiner flachen Hand.
»Du kannst mich mal!« Kyle mopste den Tacker vom Tresen und raste zu unserer Mitarbeitertoilette, als hätte ihn die plötzliche Wirkung von Abführtropfen ereilt.
Ich musterte die Uhr, die den Tresen hütete. Sie erfüllte mich mit Stolz. Unser kleines Kunstwerk. Kyle und ich hatten an einem Sonntag im Sommer auf einem Flohmarkt diese zerbeulte Filmrolle erstanden. Wir hatten keine Idee gehabt, was wir mit ihr anstellen sollten, doch was wir gewusst hatten, war: Sie gehörte in die Videothek. Am Abend hatte ich Kyle angerufen und ihm von meiner Idee, aus blecherner Nostalgie eine Uhr zu basteln, erzählt. Und hier stand ich. Unter einer tickenden Filmrolle, die mir die Zeit anzeigte: einundzwanzig Uhr vierzig.Noch zwanzig Minuten bis zum Feierabend. Genug Zeit, um noch ein oder zwei Lakritzstangen aus der Geheimschublade zu stibitzen. Wir öffneten sie nur für Stammkunden oder Leute, die wir scharf fanden. Genussvoll verschlang ich die ebenholzfarbene Köstlichkeit, inhalierte die salzigen Aromen und schloss dabei seufzend die Augen.
Da Kyle nach weiteren fünf Minuten immer noch nicht von seiner Mission »Bizeps flicken« zurückgekehrt war, beschloss ich, mich nützlich zu machen. Ich holte Schrubber und Eimer aus dem kleinen Abstellraum. Den Eimer befüllte ich bis zur Hälfte mit lauwarmem Wasser, gab etwas Spülmittel hinzu und beobachtete, wie es langsam aufschäumte. Der Schrubber sah noch gut aus für sein Alter, was wohl daran lag, dass er die meiste Zeit nur als Türstopper diente, nachdem der Stiel abgebrochen war – Folge eines After-Work-Schwertkampfs. Kyle und ich hatten Star Wars nachstellen wollen. Kyles Schrubber hatte den Kopf verloren; Spiel, Satz und Sieg für meinen Staubsaugerstab. Jetzt versuchte ich, mit dem Bürstenkopf die Cola-Flecken aus dem Teppich zu scheuern. Sinnlos. Diese alte Bestie war ein gieriger Schwamm für Softgetränke. Diese kleinen Arschlöcher!, dachte ich.
DRRRING!
Die Ladenklingel! Wie nervig, so kurz vor Feierabend!
»Wir schließen gleich«, rief ich und sah auf. »Sie müssen sich also ein bisschen …« Meine Stimme versagte, denn da stand er. Der schönste Junge, den ich je gesehen hatte. Abgesehen von Jordan Catalano. Er war unheimlich groß, das fiel mir als Erstes auf. Seine Stirn ragte über die Videoregale, ohne dass er sich auf die Zehen stellen musste. Er war schmal gebaut, doch seine breiten Schultern strahlten Stärke aus und weckten in mir das Verlangen, auf ihn zuzurennen und Teil einer Hebefigur zu werden. Seine braunen, welligen Haare umrahmten ein blaues Augenpaar. Mit jedem Schritt, den er auf mich zuging, pochte mein Herz schneller.
»… sputen«, beendete ich den Satz, als ich meine Stimme wiederfand.
»Keine Sorge, ich brauch nicht lange«, brandete es warm aus seinem Mund. Für einen Moment vergaß ich, dass ich wie Aschenputtel auf dem Fußboden kniete. Ich sprang auf und pfefferte den Schrubber in die Disney-Abteilung, als hätte ihn mir jemand untergejubelt.
Wer war dieser Junge? Und was suchte er in unserem deprimierenden Falling, wo es mehr Mücken als Einwohner gab?
Er trug kein Kostüm. Ich war also nicht die Einzige, die an Halloween als sie selbst ging.
»Kannst du was empfehlen?« Er deutete hinter mich. »Es sollte gruselig, aber nicht zu blutig sein.«
Deine Meinung ist gefragt, blitzte es mir durch den Kopf. Doch meine Freude währte kurz. Jungs, die gewissenhaft etwas aussuchten, taten das in der Regel bloß, um jemanden zu beeindrucken – hieß: Er hatte ein Date. Hieß: Ich war am Boden zerstört.
»Si…cher«, stammelte ich. »The Fog solltest du versuchen. Die Rache untoter Matrosen im Gewand des Nebels ist ein einmaliges Filmerlebnis! Nur wenige schaffen diesen Spagat zwischen Gänsehaut und Spannung wie John Carpenter. Für Polański brauchst du Geduld, für David Lynch dicke Nerven und für David Cronenberg die richtige Einstellung. Hitchcock wird überbewertet. Geklaute Buchvorlagen untermalt mit Hollywoodschönheiten. Wie der chauvinistische Fettsack es so weit bringen konnte, ist mir ein Rätsel. Vertrau mir, mit Carpenter fährst du am besten. Seine Filme sind vielleicht nicht so unterhaltsam wie die von Wes Craven, aber dafür subtiler. Sagen wir so: Wenn Wes Craven Chili wäre, dann wäre John Carpenter Wasabi. Du siehst es nicht kommen, doch ehe du dich …«
Sein Lächeln entblößte perlweiße Perfektion.
Ich biss mir verlegen auf die Lippe. »Bitte entschuldige. Ich fange an zu faseln, wenn es um Filme geht.«
Er strich sich eine Locke aus der Stirn. Ich wollte im Blau seiner Augen ertrinken.
»Entschuldige dich nie für deine Leidenschaft.«
Seine Worte schmolzen wie salziges Karamell auf meiner Zunge. Vielleicht irrte ich mich und er wollte den Film doch nur für sich allein ausleihen. Vielleicht konnten wir ihn zusammen ansehen? Vielleicht …
»Booyah! Frisch zusammengetackert und bereit, abzurocken, Woody.