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Lebensentwurf passé – Neuanfang in der Warteschleife!
Leila Sternenberg, 32, befindet sich in einer Lebenskrise: Ihr Freund hat eine Affäre – von Rückeroberung keine Spur. Ist das das Ende? Nein. Es ist der Anfang einer Gefühlsachterbahn mit unendlichen Loopings.
Rausgeworfen in die Unabhängigkeit ohne Sicherheitsgurt: Eine neue Frisur, die dazu befähigt Traumata auszulösen, ein Beinahe-One-Night-Stand mit dem schönsten Messi Berlins, eine überflutete Wohnung und eine altbewährte Affäre, die es zu reanimieren lohnt. Aber was wäre eine geballte Ladung Herausforderungen ohne richtigen Beistand? Ihre beste Freundin Maja ist ehrlicher als gesund für jede Freundschaft, Toni ist zuverlässig, wenn es darum geht sich selbst zuzuhören, und eine verschrobene Kollegin schüttet so viel Bewunderung aus, dass man ihr fast glauben muss. Und als würde das nicht reichen, gibt es da noch Jonas, den attraktiven Neuzugang in der Nachbarschaft. Jetzt heißt es Prioritäten setzen! Verdruss oder Wagemut? Wann muss Frau sich ändern und wann bloß in Geduld üben? Und am wichtigsten: Wann an sich selbst denken? Alledem stellt sich Leila, bis es sie erschüttert: das Nachbeben.
„Nachbeben“ beschreibt das Gefühl, das einen eiskalt erwischt, wenn man das Bild seiner Liebe auf dem Handy einer anderen findet. Das Buch erzählt von dem zeitlosen Konflikt des Überwindens emotionaler Abhängigkeit, dem tagtäglich viele Menschen ausgesetzt sind.
Als überaus humorvoller und emotionaler Roman ist der Titel in dem Genre „Liebesroman / Frauenroman“ angesiedelt. Die Geschichte spielt in der aktuellen Zeit in Berlin und richtet sich hauptsächlich an heranwachsende und erwachsene Leserinnen.
Die Autorin Sybille Statz ist in Köln aufgewachsen und studierte Rechtswissenschaften mit dem Schwerpunkt Kriminologie an der Universität Bonn, später an der Universität zu Köln.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 295
SYBILLE STATZ
NACH
BEBEN
ODER GEHÖRT DAS GANZE LEBEN
IN DIE ÄNDERUNGSSCHNEIDEREI?
Roman
Cover: Perry Perry Payne
Buchumschlag: Simone C. Franzius
Bildlizenzen: Pixabay
Korrektorat/Lektorat: Dr. Michael Kracht
Verantwortlich für den Inhalt des Textes
ist die Autorin Sybille Statz
Satz, Herstellung und Verlag: Franzius Verlag GmbH
ISBN 978-3-96050200-5 (E-Book)
Alle Rechte liegen bei der Franzius Verlag GmbH
Hollerallee 8, 28209 Bremen
Copyright © 2021 Franzius Verlag GmbH, Bremen
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INHALT
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
Danksagung
Novitäten 2020 / 2021 im Franzius Verlag
Für meine zauberhafte Schwester Eva.
Bleib wie du bist, dann bleib ich es auch.
»Wahrheit ist unser kostbarster Besitz.
Lasst uns sparsam mit ihr umgehen.«
(Mark Twain)
Dieser Tag gehört in die Änderungsschneiderei!
Womöglich mein ganzes Leben.
Aber eins nach dem anderen.
Eine Stunde und dreizehn Minuten. So lange ist es jetzt her, dass sich in meinem Browserverlauf Eingaben wie »Sextoys für sie & ihn« verirrt hatten, dass ich das offene Ohr für meine Freundinnen war, die sich über schief gelaufene Dates ausweinten und dass ich mir für spießige Partys nicht umsonst die Beine rasiert hatte, weil ich unter simulierten Kopfschmerzen abhauen konnte, zurück in ein angewärmtes Bett.
Eine Stunde und inzwischen fünfzehn Minuten sind vergangen, seit ich eine gesunde, geradezu besorgniserregend durchschnittliche Beziehung mit einem Mann hatte, den ich liebte.
Und immer noch liebe.
Genau das ist mein Dilemma.
Es fing alles in dieser Straßenbahn an.
Genau genommen mit einer Zitrone – nein, einer Biozitrone.
Lassen Sie mich noch mal von vorne anfangen.
Ich, Leila Sternenberg, neunundzwanzig Jahre und eintausendeinhundertsechzehn Tage alt, war auf dem Weg besagte Biozitrone zu kaufen, um einen Kuchen zu backen.
Meine Freundin Christin feiert heute ihren zweiten Geburtstag bei den Anonymen Alkoholikern. Dem Anlass gebührend musste mein berühmt-berüchtigter (Rezept 1:1 von »Chefkoch.de« übernommen) New York Cheesecake herhalten.
Ich spreche normalerweise kein Bio, aber ich beschloss, ausnahmsweise auf die Ökowarnungen aus den Gesundheitsblättchen zu hören, die ich sonst nur als Ausgleich für wackelnde Tischbeine benutze.
Drei Stationen, bevor ich aus der Tram Linie 12 Richtung Berlin Mitte, wo ich mir unter Ellbogeneinsatz einen Fensterplatz ergattert hatte, aussteigen musste, traktierte eine Hunkemöller-Einkaufstasche meine Wade.
Einverstanden, dachte ich, wenigstens häutet dich eine Frau annehmbaren Geschmacks.
Geblendet von Sonnenstrahlen, schloss ich meine Augen.
Neben einer Geräuschkulisse aus Plastiknägeln, die auf ein Display prasselten, fiel Abschalten allerdings nicht leicht.
Ich hätte es ignorieren sollen. Einfach ignorieren.
Wir Grundschullehrerinnen sind schließlich einiges gewohnt.
Schnalzende Kaugummiblasen, Geodreiecke, die Enthüllungen wie »Anni ist ein Furz« in Tische verewigen; da ist auf Durchzug schalten ein Mittel, das so manchen davon abhält, seine Thermoskanne mit etwas Härterem als Kaffee zu befüllen.
Von Neugier angetrieben, ob der Nagellack zu meiner lauten Nachbarin passt, warf ich einen Blick auf den gepeinigten iPhone-Bildschirm und beging damit den größten Fehler meines Lebens. Die Nachricht konnte ich auf die Schnelle nicht lesen, wollte es zu diesem Zeitpunkt auch noch gar nicht.
Bis das Dialogfenster geschlossen wurde, abgelöst von einem Hintergrund, der mein Gesicht seiner Farbe beraubte.
Er war es.
Der Mann, mit dem ich seit vier Jahren mein unscheinbares, bis dahin gar nicht so übles Leben teile.
Der Mann, der mich huckepack nach Hause trägt, wenn mir die Füße wehtun.
Und mir zweimal im Quartal die Haare hochhält, wenn ich mal wieder einen über den Durst getrunken habe und mich nicht anfährt mit Sätzen wie: »Kennst du echt IMMER NOCH NICHT dein Limit?«, die seine Vorgänger so gerne von sich gegeben haben.
Der seinen Job riskiert, indem er Gästen das letzte Dessert versagt, um es mir nach seiner Schicht zu servieren.
Eindeutig Lennard. Mein Lennard!
Arm in Arm mit der stolzen Besitzerin acht roter Plastiknägel (zwei davon mutmaßlich bei Schlafzimmerspielchen mit meinem Freund abgewetzt).
Ihr Handy verschwand in ihrer giftgrünen No-Name-Handtasche, als hätte es nichts mit dem Untergang meines Privatlebens am Hut. Lennard sah glücklich aus.
Seine Grübchen führte er aus, während die Person daneben frivol ihre blau verfärbte Zunge rausstreckte, beide Arme um ihn geschlungen wie ein Äffchen.
Das Ganze spielte sich nicht irgendwo ab, es musste vor einer Eisdiele sein, unserer Eisdiele.
»Süße Sünde«, der Gipfel der Dreistigkeit.
Die schwebende Engelsfigur vor der roten Wand erkannte ich sofort wieder.
Nicht mal das Land oder wenigstens die Stadt haben sie verlassen, um mich zu hintergehen.
Obendrein am helllichten Tag, wo sie jeder – mich eingeschlossen! – hätte sehen können.
So wenig Aufwand zu betreiben, nicht erwischt zu werden, ist fast verletzender als der Betrug an sich.
Aber auch nur fast.
Lennard trug auf dem Bild mein Geschenk zu unserem ersten Jahrestag.
Eine im Internet ersteigerte Uhr, original aus den 60ern.
Lässig hing sie an seiner Hand, die nun die Taille der anderen Frau umfasste.
Besonders religiös war ich nie. Doch in diesem Moment betete ich zu allen Göttern, die mir einfielen, mich nicht als Talkshowgast enden zu lassen. Die Schlagzeilen waren zum Greifen nah:
»Törichte Frau kauft Biozitrone – ihr Mann hat eine Affäre« … »Frau mit blauer Zunge spannt Frau mit normaler Zunge den Mann aus« ... »Eisdielen sind die neuen Motels: Ein Inhaber bricht sein Schweigen«.
Mit den Zähnen runtergerissene Unterwäsche, aufsteigendes Adrenalin, der Alltag gerät in Vergessenheit.
Die Bilder verfingen sich in meinem Kopf, saßen fest wie eine Frisbeescheibe in einer Baumkrone. Man würde meinen, es läge nah, die Frau, die dem eigenen Freund die Mittagspause versüßt, zur Rede zu stellen. Weit gefehlt.
Versteinert wie eine verdammte Vollidiotin saß ich nur da. Dann ging's los.
Ich tat, was jeder bis ins Mark verzweifelte Mensch tun würde: Ich begann Fantasieschlösser zu bauen.
Oder wie ich in diesem Moment fand: nach vernünftigen Erklärungen zu suchen.
Was, wenn Lennard ein Zwilling ist?
Jawohl, so wird es sein!
Aber warum hatte er ihn nie erwähnt, wenn er sogar in der gleichen Stadt wohnt?
Das war ein altes Bild. Viel naheliegender.
Bestimmt hatte er vor unserer Zeit mal mit ihr geflirtet und sie dehnte den Begriff »Grenzen« zu ihren Gunsten aus.
Eine armselige Stalkerin, die dringend professionelle Hilfe benötigt, saß neben mir.
Und was ist mit der blöden Jahrestagsuhr?
Die zu erklären wurde am schwierigsten.
Vorläufiges Urteil: Schizophrenie.
Er brauchte mich jetzt dringender als je zuvor.
Und ich hatte rettungslos meinen Verstand verloren, wenn ich es schaffte, mir diesen Nonsens mehr als eine Sekunde lang glaubhaft zu machen.
Mir gelang es für volle vier Minuten.
Unweigerlich folgte die Konfrontation mit meinem schwachen Selbstbild.
Wurde ich zu den Frauen, über die ich mich bisher lustig gemacht habe?
Ein konfliktscheuer Punchingball, mit erkaltetem Essen wartend, der sich beschwichtigen lässt mit Ausreden wie: »Ich stecke wieder im Stau fest, Schatz«?
Ein Stoß mit der Hunkemöller-Tüte riss mich kurzzeitig aus meinen Gedanken.
»Oh, Verzeihung!«
Meinen Freund zu verführen war nicht zu verzeihen.
Noch weniger, diese Schandtat mit Selfies zu dokumentieren und am besten gleich auf Instagram zu posten. Ich schüttelte kurz den Kopf, um ihr zu bedeuten, dass alles gut sei.
Nie hatte ich mich kleiner gefühlt. Dann sah ich nach oben.
Blond. Natürlich war sie blond.
Die bessere Haarfarbe.
Hitchcocks Beuteschema.
Die lebenslange Garantie, nie selbst Reifen wechseln zu müssen.
Ob sie besser im Bett ist? Selbstfolter, Klappe die zweite.
Abartige Techniken, die die Biegsamkeit einer Schwimmnudel sowie ein festgelegtes Safe Word gebieten, darauf stehst du also, Lennard?
Richtig, eine Exhibitionistin im Trenchcoat habe ich dir nie vorgesetzt.
Nicht, dass ich es nicht oft erwogen hätte. Aber dann war ich entweder zu vollgefressen oder es lief im Fernsehen ein 90er-Thriller, den sie nur noch selten ausstrahlen. Und wenn ich mir nun eine Blasenentzündung eingefangen hätte? Oder du gar nicht zu Hause gewesen wärst?
Schatz, bist du JETZT zu Hause und bleibst es auch? Och, nur so! Das hätte sicher den Überraschungseffekt zunichtegemacht.
Insgesamt dreimal habe ich Lennard inzwischen angerufen, jedes Mal abgebrochen.
Wenn ich ihn damit konfrontiere, wird es real.
Und ich kann nicht mehr so tun, als seien die letzten zwei Stationen jemand anders passiert.
Wozu schlafende Hunde wecken?
Zu Hause angekommen, ohne Biozitrone, dafür mit Magenschmerzen und offenen Fragen, suche ich nach Beweisen.
Lennard arbeitet noch. Angeblich.
Arbeiten bis spät in die Nacht, das kommt bei Köchen schon mal vor. Sehr praktisch.
Wir wohnen nicht offiziell zusammen. Nur ich stehe im Mietvertrag.
Seine Wohnung wollte er untervermieten und bei mir einziehen, tat es aber nie.
Er sprach immer nur davon, so lange, bis es lächerlich wurde, das Thema überhaupt noch mal zu erwähnen.
Schlagartig ergibt das Sinn.
In diesem Moment liebe ich mich dafür, dass ich nicht den Rat meiner Freundinnen befolgt und ihn darauf festgenagelt habe, hier formell einzuziehen.
Bei meiner Bekannten Sandra ist das nämlich alles andere als schön verlaufen, als die sich von ihrem rechtlich abgesicherten Mitbewohner getrennt hat.
Unschuldige in Tomatensoße getränkte Prada-Schuhe wurden hineingezogen!
Ich kriege gar nicht mehr zusammen, worum es dabei genau ging.
Glaub, Sandra hatte zuvor Matzes Surfwachs weggeworfen.
Dabei hatte er nicht mal ein Surfbrett, soweit ich weiß.
Gut, dass mir so was erspart bleibt. So bin ich frei, meiner Wut Ausdruck zu verleihen.
Lennards Sachen sollen durchs Fenster fliegen!
Die Nachbarschaft wird mit hoher Schallfrequenz ins Bild gesetzt! Wollte schon immer so einen Auftritt haben.
In meinem Kopf waren derartige Fremdscham-Szenarien allerdings immer lustiger als jetzt, wo ich sie tatsächlich umsetzen kann. Dieser Fehltritt sollte brennende Wut entfachen.
Wilde Entschlossenheit, mein Leben neu zu ordnen.
Et moi? Ich stehe neben mir bzw. jemandem, der aussieht wie ich (nur fahler), panisch vor dem was kommt, wenn Lennard durch diese Tür steigt.
Auf der Suche nach Indizien wie Zweithandys, Kondomen und verschlossenen Schubladen gehe ich leer aus. Boxershorts, DVDs, Lebensmittel; alles kriegt einen Düsenantrieb verpasst, was sich mir in den Weg stellt.
Nichts.
Hat er gar nichts zu verbergen und ich bin manisch oder ist er schlau genug, sein Zweitleben nicht ausgerechnet in der Wohnung seiner Freundin zu horten?
Urgh!
Meine Magenschmerzen waren also noch steigerungsfähig.
Beim Auseinandersetzen mit Trennungsgedanken scheitere ich kläglich.
Erst presse ich aus Google »zusammenbleiben trotz Affäre?« raus, der nächste Viertelstundenschlag trichtert mir Dankbarkeit ein; besitze immerhin halbwegs reine Haut und eine freistehende Badewanne.
Die Kraft des positiven Denkens ist kein verlässlicher Besucher in meinem limbischen System.
Revue-passieren-lassen spaziert wieder durch die Drehtür.
Es war zweifellos Lennard.
Diesen Zwillingsbruder mit einer Vorliebe für Eiscreme und Schlampen hatte er bedauerlicherweise nie erwähnt.
Einziger Strohhalm: Das Bild hat das Verhältnis zu mysteriöser Frau nicht eindeutig offengelegt.
In der Welt zirkulieren etliche Fotos vom Homo sapiens Arm in Arm mit seinen Geschmacksverirrungen.
Meist verbucht unter der Kategorie »nur eine gute Freundin«, ein Klang, artverwandt mit dem Summen einer Mücke (Gefahr! Gefahr!).
Weshalb sollte sie nicht auch darunterfallen?
Freilich reden wir hier über eine Frau, die nicht sonderlich unattraktiv ist.
Groß, langes blondes, weich-welliges Haar und eine sehr weibliche Figur.
Nicht der Typ für das Vorher-Bild. Aber auch nicht Lennards Typ.
Er steht auf kleine Brünette, die seinen Beschützerinstinkt wecken. Er steht auf mich.
Warum dann das Versteckspiel?
Ist ein ehrliches Gespräch mit mir denn wirklich so eine Qual?
Ich bin nicht selbstmordgefährdet. Oder eine Furie, nur in Kombination mit Arsen bekömmlich.
So ein Verhalten habe ich nicht verdient!
Ich war immer treu.
Hey, sogar meinen Look habe ich weiterentwickelt!
Mal Locken, mal glatt, mal Stufen, sogar dieses Balayage habe ich ausprobiert.
Ging kolossal in die Hose.
Haare sahen nach sechs Stunden Hintern platt sitzen ab dem Kinn sehr verärgert aus.
Schlappe 235 Euro von meinem Lehrergehalt durfte ich hinblättern für ein:
»Ist das ein schöner Karamellton! Alina, sag unserer Kundin auch, wie schön die Farbe geworden ist!« – »Oh ja! Und KEIN bisschen rot!«
Auf meine Figur habe ich auch immer zu achten versucht.
Gut, zwar darf ich ohne Bedenken Blut spenden.
Aber! Meine Erscheinung provoziert in Aufzügen keine bangenden Blicke auf das Hinweisschild
TRAGFÄHIGKEIT IN KG.
Eine Zeitlang war ich sogar joggen. Doch, ehrlich!
Nur ging mir das ziemlich auf die Knie.
Und erst dieses »Jogger-Face«-Risiko!
Dem entgeht nur, wer sein Gesicht mit einem Kompressionsverband fixiert.
Ansonsten heißt es eines Tages: oben französische Bulldogge, ab Hals abwärts Sylvie Meis.
Hinzu kommt das erhöhte Zeugenrisiko.
Ständig schallt es aus dem Radio:
Die Leiche wurde am frühen Morgen von einem Jogger (!) im Wald gefunden.
DRRRING! DRRRING! DRRRING!
Lennard würde nicht klingeln. Er hat einen Schlüssel.
DRRRING!
So viel Hartnäckigkeit verdient einen missbilligenden Fensterblick.
Gebe eine kleine Vorstellung ab von meinem achtzigjährigen Zukunfts-Ich, dem man nichts vormachen kann, seit Einlass eines als Heizungsinstallateur verkleideten Trickdiebs.
»Ich seh dich! Mach auf oder kauf dir Vorhänge!«
Maja, meine beste Freundin und Anwältin, hält vor meinem klapprigen Eingangstörchen ein Tablett mit Muffins in den Händen.
Die AA-Party!
Scheiße!
Die hatte ich total vergessen.
»Mensch, Leili! Was hat das denn so lange gedauert?!«, keucht sie sich die Stufen (ich wohne im ersten Stock) hoch.
Sie, die ihre engste Beziehung zu einem Crosstrainer hat, hält es für nötig, mir ein Zweite-Klasse-Gefühl zu vermitteln, nur weil ich in einem Haus ohne Aufzug lebe.
Unter ihrem Leopardenmantel trägt Maja ein silbernes Kleid, das weniger verdeckt, als wenn sie gar nichts anhätte.
Die langen roten Haare sind hochgesteckt, bis auf zwei wellige Strähnen, durch die Aquamarin-Ohrringe durchschimmern.
»Du siehst ... na ja, wir haben ja noch was Zeit. Wolltest du nicht den Cheesecake machen? Wir können da nicht nur mit meinen dunkelbraunen Muffins hin. Sind nämlich Zitronenmuffins. Als ich sie in den Ofen geschoben habe, wurde ich wieder in den YouTube-Sog gezogen.
Wusstest du, dass man mit Yoga mehr Fett verbrennen kann als mit joggen?«
Maja scheint mein fabriziertes Riesenchaos gar nicht aufzufallen, was mehr über mich aussagt als über sie. Seit einigen Jahren sind wir beste Freundinnen. Warum, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich sie brauche. Sie ist der ehrlichste Mensch, den ich kenne, was ihre Gesellschaft nicht immer erträglich macht.
»Ich glaube, Lennard betrügt mich«, unterbreche ich Majas Schwüre auf Buttermilch, die prompt ihr Tablett fallen lässt.
Beim dumpfen Aufprall sind wir beide verdutzt über den Verbrennungsgrad der Mitbringsel.
Die perfekte Mordwaffe für Lennards Steinigung.
Setze Maja ins Bild und füge mich ihrem Vorschlag, Wodka zum neuesten Grundnahrungsmittel zu ernennen. Unsere vorerst letzte Chance, der Realität zu entfliehen.
Auf der »Party«, der wir gleich beisitzen, wird es keinen Tropfen Alkohol geben. Und wenn ich eins nicht kann, dann Lennard stocknüchtern gegenübertreten.
Vom Fenster aus sehe ich Maja zu meinem Stammkiosk hechten.
Ich muss mich irgendwie sammeln, bis sie wiederkommt.
Aufräumen wäre auch nicht schlecht, sonst nehme ich Lennard den unbequemsten Teil des Gesprächs aller Gespräche ab: das Ansprechen.
Geschlachtete Zuckerstreuer und rausgerissene Schubladen schreien nicht gerade nach Ohrringverloren oder Frühjahrsputz.
»Heyhey! Ich hab uns ein Fläschchen destillierten Gehirnurlaub mitgebracht!«
»Hast du nicht vor, das aufzufegen?«, entgegne ich Maja, die einen riesigen Schritt über die Muffinkremation macht, als würde sie einen mitreißenden Fluss überqueren.
»Liebes, dein Freund bumst eine andere und du machst dir Sorgen um deinen Fußboden?«
Ich hasse dieses Wort. Und ich hasse Maja. Weil sie recht hat.
»Der Kioskmann ist ja komisch! Der ist richtig wütend geworden und hat auf Spanisch geflucht, als ich ihm verklickert habe, dass er Schokolade im Gesicht hat.«
»Das ist ein Muttermal. Und er ist Portugiese.«
Rollende Augen und Schraubverschlüsse treiben den Abend voran.
Auf Tele5 läuft »Scarface«, fortan umgemünzt in ein Trinkspiel, das bei jedem Schusswechsel zwei Nackenakte erwirkt.
PENG!
Auf ex!
PENG! PENG! PENG!
Ex! Ex! Ex!
Sehr viele Schüsse später torkeln wir auf die AA-Party zu.
Da die Feier am Kreuzberg der Welt ist und Maja mich überreden konnte, High Heels anzuziehen, teilen wir uns ein Taxi.
RUUUUUMS!
Hackedicht fallen zwei potenzielle Neumitglieder hallend in einen Raum, der an eine Schulaula erinnert.
Die Wände sind sandfarben und rau verputzt.
Dunkelrote Vorhänge, die an einen Kinosaal aus den 30ern gemahnen, umringen das AA-Treffen wie einen Kokon.
Das erste »A« in »AA« wird zugegen wohl besonders großgeschrieben.
»Ha! Du siehst aus wie die Freiheitsstatue mit der verkackten Krone, Chrissie!«
Maja hat wieder auf leeren Magen getrunken.
Wie es scheint, haben wir Christins Rede unterbrochen.
Unsere Noch-Freundin steht gerade auf einem Podest, aufgestockt um eine zusätzliche Längeneinheit.
Ich tue mich grundsätzlich schwer damit, Menschen mit aufblasbarem Kopfschmuck ernst zu nehmen. Heute nicht. Christins wässrige Augen vertreiben den Lachreiz.
»Entschuldige! Mach weiter!«, rufe ich flüsternd (sofern möglich), während Maja den Kuchenstand ansteuert.
»Bäääh! Ohne Alk heiß jezz auch vegan, oda wie?«, mäkelt meine Saufkumpanin, kurz bevor sie ihren Mund in eine Serviette entleert.
»... jedenfalls danke ich euch allen, dass ihr mich auf dieser holprigen Reise begleitet. Ohne euch hätte ich das niemals geschafft. Diese Treffen bedeuten alles für mich.«
Christin vergibt Luftküsse an ein Dutzend applaudierende Mitreisende.
»Ey und was is' mit uns? Wir ham dich ja wohl auch imma aufgefangen! Sag's ihnen, Leili! Wir sind für Christin wohl 'ne Brandung in dem Fels! Imma schon gewesen! Bäh, wieder was Veganes erwischt! Kein Wunder, dass man nur noch saufen will bei so 'nem Fraß!«
Fassungslos schüttelt Christin den Kopf.
Das Mikrofon legt sie ab.
Zum unzähligsten Mal starre ich auf mein Handy.
Hoffe immer noch, dass ich aus diesem Albtraum erwache.
In Lennards Armen, zurück in ein Leben, von dem ich vor wenigen Stunden so sicher war, es zu kennen.
Er müsste jeden Augenblick in meiner Wohnung den suggestiven Saustall entdecken.
Mir wird richtig übel.
»Schämt ihr zwei euch gar nicht? Mit leeren Händen und dazu hackedicht hier aufzutauchen? An meinem Jubiläum? Was kommt als Nächstes?Weiße Kleider auf meiner Hochzeit? Konfettikanonen auf meiner Beerdigung? Ihr seid echt das Allerletzte.«
Das trockene Geburtstagskind, rasend vor Wut, wird in diesem Leben erst nach einem Rückfall wieder mit uns reden.
»Wie biste eigentlich drauf?! Früher warste die Beste! Die Bessste, echt! Wo is' die Chris', die Weihnachten Swinger Partys gegeben hat? In Amsterdam hat man sogar 'nen Cocktail nach dir benannt! Wo is' die? Wenn sie sich in einem der ekelhaften Kuchen versteckt hat, is' es kein Wunder, dass sie niemand mehr findet. WO ISSS CHRISSS?«, brüllt Maja durch einen als Trichter zusammengerollten AA-Flyer gezielt in Christins Ohr.
Habe mich noch rechtzeitig aus der Schusslinie retten können, obschon mein Standort nicht sicherer ist.
Ringend nach einem besseren Handyempfang kraxle ich einen vertikalen roten Teppich hinauf.
Panoramablick nach einer ungenutzten Zigarettenpause: entlarvte Glatzköpfe und Schuppenflechten.
»Du meinst die Christin, die ihre Maklerlizenz entzogen bekommen hat und jetzt ihr Geld mit Blumenarrangements verdient?«
Die Akustik hier oben ist jedenfalls vortrefflich.
»Oder die, die wöchentlich Reinigungsentgelte zahlen musste, weil sie sich in etlichen Taxis und Straßenbahnen erbrochen hat?«
Totenstille.
Selbst der aktuelle Redner mit der potthässlichen Karoschlaghose traut sich nicht fortzufahren. Dabei hatte er bereits tief Luft geholt, um seiner herrischen Mutter die Schuld für die Trinkerei zu geben.
»Oder die, die von ihrem Verlobten verlassen wurde, weil sie auf seiner Absolventenparty so zugedröhnt war, dass sie ihn mit seinem Bruder verwechselt hat?«
Aller Achtung. Christins Sündenliste ist länger, als ich dachte.
»JA! Genau die! Bessster Sommer aaallazeitn! Is' meine Pradatasche jemals wiederaufgetaucht?«
KLATSCH!, ertönt es durch den Saal.
Was wäre eine Party ohne eine Ohrfeige?
Maja guckt, als hätte der Türsteher eines angesagten Clubs sie der Nichterfüllung kleidungsbezogener Einlasskriterien bezichtigt.
Ich derweil habe umdisponiert.
Sitze auf den Schultern Berlins größten Alkoholikers und setze alles daran, mir einen Tennisarm zuzulegen.
»Noch etwas höher! Schaffst du's? Hab immer noch keinen Balken. Stehst du auch wirklich auf den Zehenspitzen, Carlos?«
»Diese Christin, die ihr der Langweilerin von heute vorzieht, ist tot! Und nach dem heutigen Auftritt seid ihr es auch für mich. Das gilt auch für dich da oben! Freunde wie euch auszuhalten, sollte der dreizehnte Schritt sein.«
Ich fühle mich grauenvoll.
Und das nicht nur, weil mein Magen Russisch Roulette spielt und ich soeben zur Freundin des Jahres nominiert wurde.
Jetzt, wo die ersten Promille pensionieren, lichtet sich mir das Ausmaß unserer Darbietung.
Maja und ich sehen aus wie die Luder, die beim Boxkampf den Spielstand anzeigen.
Mein tannengrünes Nachthemd sieht in diesem Licht doch nicht aus wie Diane Krugers Kleid aus der letzten »GALA«-Ausgabe.
Kein Präsent, kein Kuchen (Majas verkohlte Backmischung ruht immer noch auf meinem armen Parkett), nicht mal an eine Karte haben wir gedacht.
Auf einem erklommenen fremden Rücken ein besseres Netz erfuchteln, Werke aus vererbten Rezepten ausspucken … Unterstützung sieht nicht nur anders aus, sie hat eine ganz andere Molekularstruktur.
»Danke, ich glaub, du kannst mich jetzt runterlassen.« Aber für Pietät ist es längst zu spät.
Auch wenn Maja mit ihrem Auftritt praktisch um eine Ohrfeige gebettelt hat, verstehe ich sie.
Nicht nur sie vermisst die alte Christin.
Allein wie wir sie kennengelernt haben…
Wir waren im Schwimmbad, wo sich ein markerschütterndes Unglück zugetragen hatte:
Ein Todesfall.
Zeitpunkt des Todes: 13 Uhr 47.
Todesursache: Blamage.
Meine Bikinihose zog es vor, sich in der Schraube einer Wasserrutsche zu verheddern.
Ganz richtig!
Feucht-fröhlich – unten ohne! – raus ins Kinderbecken ist sie gerutscht, die Frau Lehrerin.
Mütter spendeten ihren Kindern Sichtschutz unter vorgehaltener Hand.
Andere taten lässig und sind nach zwei »Jetzt fällt nicht mehr auf, dass DAS der Grund ist!«-Minuten ins nächste Becken verzogen.
Der weiße Hai hat weniger Menschen in die Flucht geschlagen, so viel ist sicher.
Wo Maja in diesem Moment war? – Direkt neben mir.
Spiralförmig vor Lachen, bis ihr Gesicht die Farbe eines reifen Granatapfels adaptierte, hielt sie sich an der Haltestange.
Meine (weniger als je zuvor!) Wenigkeit hatte alle Hände voll zu tun, ihre Sinne auf ein Kriechloch oder weichzeichnende Massagedüsen auszurichten bis – Rettung! Gnade! Ein Grund weiterzuleben! – mir völlig aus dem Nichts etwas Nasses ins Gesicht geklatscht wurde. Meine semibekleidete Retterin drehte unbekümmert ihre Bahnen im Nachbarsbecken weiter. Diejenigen Mütter, die bereits eine FKK-Show genießen durften, mussten erneut Taucherbrille und Handtuch zusammenpacken.
Dieses Selbstbewusstsein hatte selbst Maja imponiert, deren Gegacker umschlug in ein instruktives:
»Mit dieser Frau MÜSSEN wir uns anfreunden, Leili!«
Der Grund für unsere sperrangelweit geöffneten Kiefer?
Nun … wie sag ich das, ohne mir ein Grab zu schaufeln, aus dem ich nur mit einer Bergsteigerausrüstung wieder rauskomme?
Christin ist kein Hingucker.
Sie hat ein niedliches Gesicht – leider unter Verschluss gehalten bei so viel Stilbewusstsein wie Ronald McDonald.
Aber! Waffenscheinpflichtige Hüften. Einfach weiblich. Einfach großartig.
Untergejubelt wurde ihr ein Busen, so leicht zu übersehen wie ein Ohrstecker am Strand (willkommen im Team Persönlichkeit, Schwester).
Und wie wir seit »Curvy Supermodel« (Sie wissen schon, jenes Schleichwerbungsformat ohne die drei großen K's: Klum, Komplexe, Konfiszieren von Mitternachtssnacks) konstatiert haben, werden Kurven nur als Set hoch gelobt.
Andernfalls läuft man Gefahr, wie bunt zusammengewürfeltes Tischgedeck angegafft zu werden.
Zurück zu Christin.
Die betrunkene Christin ist ein ganz anderer Mensch als die nüchterne.
Die Spritnase wirft mit Bikinihöschen um sich, sorgt für Gesprächsstoff noch Monate post Geschehnis.
Ihre Antagonistin ist verlässlich, gutmütig und (leider, leider!) vernünftig.
Zwar ist ihre Gesellschaft die weniger mitreißende, dennoch ist sie eine unverzichtbare Freundin. Weitaus geduldiger als Maja und per Erfahrungsschatz nicht zu hart zu einem, wenn man wieder mal was verbockt hat.
(»Meldet der sich etwa nur nicht mehr, weil ich seiner Mutter auf Facebook eine Freundschaftsanfrage geschickt habe?«
– »Quatsch! Der meldet sich so was von!«)
Was mich überraschte, war der Grund für Christins ersten Schritt zu ihrer heutigen Krone.
Mit dem Trinken anfangen kann – und sollte manchertags – jeder.
Aber aufhören? So ganz endgültig? Im Tausch gegen eine Laufbahn als Pralinenpedant und Silvesterspaßbremse?
Maja und ich hatten mit so etwas wie fahrlässiger Tötung gekoppelt mit Trunkenheit am Steuer gerechnet. Eben etwas, was einen auf ewig ernüchtert.
Und säurebenetzte Fingerkuppen, dicht gefolgt von einem One Way Ticket nach sich zieht.
Negativ.
Das kryptische Ereignis war ein im Vollsuff gestochenes Tattoo.
Eines, das so ungeheuer hässlich sein muss, dass Christin ihres Betreuers überdrüssig wurde. Niemand hat Christins einmaliges Kunst-Happening je gesehen. Ich weiß selbst erst seit ihrem Einjährigen davon.
Sie meinte in ihrer Rede, dieses Stigma habe für sie Erinnerungsfunktion (»Da will ich nie wieder hin!«), deshalb trage sie es weiterhin.
Immer noch keine Nachricht von Lennard.
Ich will wirklich eine gute Freundin sein, nur wie soll ich das anstellen, so ganz ohne Verstand?
»Gibt's in diesem Loch denn GAR kein WLAN?«, pruste ich, abweichend von dem Plan, es nur zu denken.
»Los, verpisst euch!«
Diesen Blick habe ich zuletzt bei Christin gesehen, als Maja vor einem dreisamen Netflix-Abend im Rewe unterbreitet hat, mit Christins Neunzig-Tage-Chip den Einkaufswagen zu entriegeln.
Maja scheint sich von ihrer Ohrfeige wieder erholt zu haben.
Sie winkt mich rüber zum Kuchenstand, wo ein extrem blauer Kuchen in Form von Schlumpfine die Gugelhupfe buchstäblich blass aussehen lässt.
Die Haare bestehen aus Vanille-Buttercreme.
Was den Körper angeht, kann ich nur raten, was sich unter der Fondantschicht tut, von der ich einen mächtigen Fingerhut verdrücke.
Wieder diese piesackende Übelkeit.
An der frischen Luft kann ich etwas klarer denken.
Ich habe mir ein Taxi bestellt. Maja und ihr dickes Fell sind geblieben.
Das Taxi riecht nach Hubba Bubbas. Ein Hoch auf die Duftbäumchen!
Feiere postwendend die große Kunst des Übertünchens.
Der Fahrer sieht aus wie mein Onkel Emil – abzüglich Ziegenbärtchen.
Zum ungünstigsten Zeitpunkt ist mir die Berufsbezeichnung meines Onkels entwichen.
So was blüht einem, wenn sich pünktlich vor jeder Familienfeier ein Migräneanfall ankündigt.
Gebe mit gesenktem Blick meine Adresse durch und starre in alter Form auf mein Handy.
1 Uhr 14.
Kann doch echt nicht sein!
Ah. Endlich.
Nach und nach fliegen mir Brotkrumen zu:
Vier WhatsApp-Nachrichten aus zwei Chats, drei Anrufe in Abwesenheit und eine Facebook-Freundschaftsanfrage von einem gewissenDr.-Too-little-58.
Die älteste Nachricht ist von Christin, die fragt, wo wir denn bleiben.
Anrufer und Absenderder übrigen Nachrichten: Lennard.
Mir stockt der Atem.
Bin wieder brutal nüchtern.
Mein Warten auf Godot hat ein Ende.
»Schatz, wo bist du?
Ich glaube, bei uns ist eingebrochen worden!
Geht's dir gut??«
»Pfff, uns. Lächerlich. Das ist meine Wohnung, du notorischer Fremdgänger!«
»Wie bitte?«, fragt der Taxifahrer, bei dem ich mir inzwischen sicher bin, dass er der Bruder meines Vaters ist.
»Gar nichts. Sie können mich an der nächsten Ampel rauslassen. Danke.«
Hastig vergebe ich zu viel Trinkgeld und ein vergilbtes Pfefferminzbonbon, doch meine Wohnung schließe ich umso zögerlicher auf.
RUMMMS!
Stürze über Majas gebackene Steine und lande auf Lennards »besonderer« Schürze.
»Rate mal, wer gerade seine Schürze von Tim Raue bekritzeln lässt??? Ich bringe uns nachher den guten Wein mit, denn das muss gefeiert werden, kleine Lady!«, hatte er mir damals aufgeregt in seiner Pause mitgeteilt.
Dieser Stofffetzen ist ihm mehr wert als unsere Beziehung!
Wetteinsatz: eine Nacht mit Chris Hemsworth.
Da steht er. Direkt über mir. Mitten im Schlachtfeld.
»Ich bin ja so froh, dass es dir gut geht! Ich bin fast verrückt geworden vor Angst. Komm, ich helfe dir hoch.«
Fest drückt er mich an sich.
Seine Sorge fühlt sich auf einmal unaufrichtig und falsch an.
Als sei er die Mutter und ich das Kind, dem Mitgefühl bekundet wird, weil sein unsichtbarer Freund gestorben ist.
Ich erwidere die Umarmung. Es könnte unsere letzte sein.
»Dior Sauvage«. Ich liebe diesen Duft – an ihm.
Nicht an Möchtegern-Olivier-Martinez-Typen, die über ihren unregelmäßigen Bartwuchs hinwegtäuschen wollen.
»Entschuldige, hab extra alles so gelassen, falls wir doch die Polizei hätten rufen müssen wegen DNA-Proben und dem ganzen Scheiß«, nabelt er mich von meinem Inhalationsrausch ab.
»Und warum hast du es nicht schon längst?«
Verwirrung? Verständnislosigkeit? Willkommen in meiner heimeligen Welt!
»Was meinst du?«
»Ich meine, wieso hast du nicht die Polizei gerufen, wenn dir der Gedanke kam, mir sei was zugestoßen? Hattest du gehofft, ich sei bereits verkauft worden? Sodass du noch mal neu anfangen kannst, während ich auf dem Pazifischen Ozean treibend, eingesperrt in einem Koffer durch einen Strohhalm atme?«
»Pazifischer … Hast du getrunken? Also bist du für die ganze Unordnung verantwortlich? Du hättest wenigstens die steinharten Muffins entsorgen können. An der Schweinerei verletzt sich noch jemand.«
»Seit wann betrügst du mich?«, höre ich eine selbstbewusst klingende Frau sagen, die eine Scheißangst vor der Antwort hat.
»Seit einem halben Jahr.«
Ganz einfach. Seit einem halben Jahr. So, wie andere sagen, die Milch sei alle.
Völlig unbeteiligt.
»Uuuäääärg!«
Ein blauer Strahl landet frontal auf Lennards signierter Schürze.
Offenbar habe ich doch einiges an Schlumpfkuchen runtergekriegt.
Das ist das Ende.
Bist du deinem Gegenüber nicht mal die Mühe wert, etwas abzustreiten, ist nichts mehr zu retten.
»Mach dir wegen der Schürze keine Sorgen. Das krieg ich raus! Sag mal, was hast du gegessen?«
»Natürlich mach ich mir keine Sorgen! Du hast mit 'ner anderen geschlafen, Arschloch!«
Es ist das erste Mal, dass ich ihn so nenne.
Wir haben uns sonst immer im grundanständigen Blödmann-Zicke-Bereich bewegt, wenn wir uns gestritten haben.
Sich gegenseitig mit Wörtern oder Gegenständen beschmeißen, die schwer wieder zurückzunehmen sind, so wollten wir nie sein.
Wenn es hitzig zuging, hat einer sich ausgezogen oder den anderen auf stumm geschaltet.
Ein System, das uns nie im Stich gelassen hat. Bis heute.
Schiere Stagnation belegt diesen feuchten Traum eines jeden Messis.
Lennard fasst sich mit beiden Händen an die Schläfe und lässt sich nieder auf eine der wenigen freien Stellen meines senffarbenen Samtsofas.
Wo ich sitze, ist mir egal. Wenn ich schon verlassen werde, kann ich meinen Allerwertesten auch gleich von einer Bärenfalle piercen lassen.
»Leila, hör mal …«
Klingt nicht wie der Beginn einer filmreifen Rückeroberung.
»… wir sind doch schon lange nicht mehr glücklich.«
Hör auf zu reden!
»Klar, wir kommen gut miteinander aus, aber ich habe das Gefühl, wir sind uns nicht mehr wirklich … nah.«
Hör auf zu reden!
»Wir leben sehr oberflächlich nebeneinanderher und ... Sex haben wir auch kaum noch.«
Hör auf zu r-e-d-e-n!!!
Ich verstehe nicht, was hier passiert.
Wie konnte es nur so weit kommen, dass zwei Menschen, die tagtäglich miteinander sprechen, ja sich ein gemeinsames Leben aufgebaut haben, in völlig unterschiedliche Richtungen gehen, nein sogar rennen? Und einer von ihnen dabei die ganze Zeit eine Schlafmaske trägt?
»Oberflächlich? Von uns ist keiner sterbenskrank oder hat Schulden. Also was für ernsthafte Gespräche willst du mit mir führen? Und Sex haben wir mindestens einmal pro Woche. Letzten Sommer hatten wir sogar nur alle zwei Wochen Sex.«
Sehr gut, Leila. Erst mal austeilen.
Alles besser, als loszuheulen und sich einen abzubetteln.
»Da hatte ich ja auch mein Praktikum in Paris und war nur alle zwei Wochen hier. Es ist was völlig anderes, wenig Sex zu haben, weil du ihn nicht öfters haben kannst, als wenn du ihn bewusst auslässt, obwohl man jede Nacht zusammen verbringt. Und ich sagte, unser gemeinsames Leben ist oberflächlich, nicht unsere Gespräche. Du kapierst es anscheinend einfach nicht.«
Ich verabscheue ihn.
»Nein, tue ich nicht.«
Wenn er noch ein Wort sagt, werde ich mich von diesem Abend sicher nie erholen.
»Ach komm, jetzt gib nicht mir die ganze Schuld, ja? Du bist auch nicht einfach. Du bist unreif. Als wir uns kennengelernt haben, fand ich das süß, dass du die Tageszeitung nur zum Fegen benutzt hast. Doch inzwischen fällt mir auf, wie ... na ja unterschiedlich wir doch sind. Und das ist irgendwann nur noch anstrengend.«
Während unserer ersten Dates habe ich mich oft mit der Gnade meines Smartphones und vorgetäuschten Toilettengängen durchgemogelt.
Und kam dann gepudert und belesen zurück mit Worten wie: »Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, ich finde auch, dass Einkommensaktien nicht zu verachten sind, sei es nur, um die Gewinne zu polstern, bevor der Markt mal wieder abflaut«, während ich meine Ofenkartoffel salzte und mich selbst beeindruckte.
Mit der Zeit dämmerte mir, es könne der Eindruck entstehen, ich leide unter Blasenschwäche. Hatte nach Zeugung zusammenschweißender Insider die jämmerliche Erwartung, dieses Back-up nicht mehr zu brauchen, weil Lennard mich um meiner selbst willen mag.
Pustekuchen! Märchenkiste! Nichts als dummes Geschwätz!
Frauen können sich niemals zurücklehnen und ihr »wahres Ich« zeigen, solange es nicht gestutzt, geistreich und unkompliziert ist.
»Du kannst ja nichts dafür. Du hast eben jeden Tag mit kleinen Kindern zu tun.«
So relativiert er sein Verhalten? Indem er mich obendrein beleidigt?
»Tu das ja nicht! Versuch nicht so zu tun, als wäre ich dir intellektuell unterlegen. Du verbringst deinen Tag damit, Kohlrabi in Würfel zu schneiden! Seien wir mal ehrlich, du bist auch kein Gehirnchirurg. Du gehst nicht mal wählen! Also was soll der Mist? Worum geht es dir wirklich?
Warum hast du Sex mit einer anderen Frau?Was hat sie, was ich … was dir gefehlt hat?«
»Es geht doch gar nicht um sie! Aber ja, sie reißt nicht alle Pakete auf wie ein zweijähriges Geburtstagskind.«
»Was meinst du?«
»Ich meine, dass, wenn man bei IKEA bestellt, man immer damit rechnen muss, den Schrott wieder zurückzuschicken. Doch wenn du das Paket zuerst in die Finger bekommst, sieht das Wohnzimmer nach zwei Minuten aus, als sei dort ein Pudel rasiert worden. Und wer darf dann jedes Mal ein neues Paket für die Rücksendung bezahlen?
Verdammt, Leila! Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin dein Babysitter, nicht dein Freund! Die Schlamperei hier ist wieder so ein Klassiker. Mal ehrlich, was würdest du tun, wenn ich nicht da wäre mit einer Spinne im Bad, hm?«
Bad stiften, Zähne über der Spüle putzen und in einen Kochtopf pinkeln, bis der Achtbeiner durchschläft.
Erst jetzt offenbart mir sein Gesicht, wie satt er mich schon die ganze Zeit hat.
»Was tut sie denn beruflich so? Deine erwachsene neue Freundin.«
Ich kann es nicht lassen.
»Sie ist nicht meine Freundin! Sie ist ... im Moment arbeitssuchend. Aber sie hat einen Foodblog, mit dem sie was verdient.«
Ohne Frage hat sie den. Die Öko-Freundin meiner Mutter führt auch so einen Blog.
Daher weiß ich auch, wie schwindelerregend-rasant man damit schwarze Zahlen schreibt. Mittlerweile hat sie sich mit Zutaten, Tischdeko und einer neuen Kamera so in Unkosten gestürzt, dass ihre Schulden im vierstelligen Bereich liegen.
»Du brauchst gar nicht so mit den Augen zu rollen. Sie ist einfach locker und aufgeschlossen und …«
Aufgepasst meine Damen und Herren! Jetzt lernen Sie einen ganzen Schwung Synonyme für »nuttig«.
»… sie unterstützt mich.«
Moment mal, was? Zurückspulen, bitte!
»Wann habe ich dich je nicht unterstützt?«
»Also, die Sache mit meiner Oma letzten Sonntag war wirklich unmöglich!«
In unserer Schule gibt es so eine kleine Tradition: Das Lehrpersonal verkleidet sich jedes Jahr zum Erntedankfest. Die Kinder lieben es.
Die auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesenen Beamten hassen es.
»Komm bitte sofort in die Charité!
Ich brauche dich.«
Wer würde sich auf eine so inständige Nachricht erst umziehen?
»Du sagtest, du brauchst mich! Sofort! Krankenhaus!«
»Die zehn Minuten länger hätte ich noch warten können. Besser du wärst ganz weggeblieben, statt als Truthahn verkleidet aufzukreuzen, wo meine Oma im Sterben liegt.«
Unendlich viel will ich ihm sagen.
Etwa, dass ich mich ändern werde, dass wir nur eine schwierige Phase durchmachen. Vertaner Kohlenstoffdioxid.
Diesen Kampf kann ich nicht gewinnen. Er hat sich bereits entschieden.
Und es gibt nichts, was ich sagen oder tun kann, um ihn umzustimmen.
»Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich … Das mit Svenja ist wirklich nichts Ernstes. Wir sind nur ...«
Meine erhobene Hand bringt ihn vorerst zum Schweigen.
Svennnjaaa.