Fallopia: Die Nebel der Kaltwüste - Jamie L. Farley - E-Book

Fallopia: Die Nebel der Kaltwüste E-Book

Jamie L. Farley

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Beschreibung

Was ist weißgrau und stört beim Essen? Ein mysteriöser Nebel, der den Weltuntergang mit sich bringt. Glücklicherweise gibt es das berüchtigte Trio ›Die glorreichen Sieben‹! Wenn sich jemand mit magischen Dingen auskennt, die Menschen in Tiere verwandeln und im ganzen Land Chaos anrichten, dann diese kampferprobten Gefährten. Deshalb nehmen sich der verschlagene Halbling Dan, die neugierige Gnomin Orla und die mürrische Hochelfin Alea der Aufgabe an, ihre Heimat Fallopia vor der Zerstörung zu bewahren. Dass sie dabei von einem sogenannten Auserwählten begleitet werden sollen, scheint kein Problem zu sein – bis sie ihm gegenüberstehen. Kendrick ist vieles – unter anderem ein arroganter Vollpfosten und aufgeblasener Möchtegernkrieger –, aber sicher kein Held. Leider müssen sie trotzdem mit ihm vorliebnehmen, Wunschkonzerte gibt es nur bei Barden. So zieht die vierköpfige Truppe los, um ein uraltes Siegel in der Kaltwüste zu ersetzen, dessen Beschädigung diesen verheerenden Nebel erst ausgelöst hat. Nichts ahnend, dass die Erneuerung des Artefakts ein hohes Opfer fordern wird …

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Landkarte

Kapitel 1 - Das Schiff, das Apfel hieß

Kapitel 2 - Audienz bei Thalion Graumantel

Kapitel 3 - Von E'aenathalas nach Leopenia in unter fünf Sekunden

Kapitel 4 - Der Irrwald

Kapitel 5 - Über Stiefel und womit man sie befüllen kann

Kapitel 6 - Warum Schurken selten Markus Schmitt heißen

Kapitel 7 - Vor den Toren der Stadt

Kapitel 8 - Ankunft in Fairwick

Kapitel 9 - Das Regenbogeneinhorn

Kapitel 10 - Beunruhigende Träumerei

Kapitel 11 - Ein abendliches Besäufnis

Kapitel 12 - Heldentum für Anfänger

Kapitel 13 - Bittere Folgen

Kapitel 14 - Die Route zum Tamra Gebirge

Kapitel 15 - Lagerfeuergespräche

Kapitel 16 - Pfui, Spinne!

Kapitel 17 - Irgendetwas stimmt mit Hasi nicht

Kapitel 18 - Kampf um Clearwick

Kapitel 19 - Portalreise nach Timbervale

Kapitel 20 - König Bruno

Kapitel 21 - Es wird Drachen geben

Kapitel 22 - Zeit für Tee

Kapitel 23 - Kurze Rast

Kapitel 24 - Freundliches Personal in der Silberschmiede

Kapitel 25 - Nebel vor dem Tor

Kapitel 26 - Weltuntergangsromantik

Kapitel 27 - Willkommen in Frostheim

Kapitel 28 - Im Herzen der Kaltwüste

Kapitel 29 - Der Preis des Heldentums

Kapitel 30 - Der Vierundzwanzig-Stunden-rund-um-die-Sonnenuhr-Schnellreiseservice

Kapitel 31 - Der Heimweg

Epilog - Hoch die Krüge!

Glossar

Nachwort

Jamie L. Farley

 

 

Fallopia

Die Nebel der Kaltwüste

 

 

Fantasy

 

 

 

Rabenjagd (Band 2): Finstere Nacht

 

Was ist weißgrau und stört beim Essen? Ein mysteriöser Nebel, der den Weltuntergang mit sich bringt.

 

Glücklicherweise gibt es das berüchtigte Trio ›Die glorreichen Sieben‹! Wenn sich jemand mit magischen Dingen auskennt, die Menschen in Tiere verwandeln und im ganzen Land Chaos anrichten, dann diese kampferprobten Gefährten. Deshalb nehmen sich der verschlagene Halbling Dan, die neugierige Gnomin Orla und die mürrische Hochelfin Alea der Aufgabe an, ihre Heimat Fallopia vor der Zerstörung zu bewahren. Dass sie dabei von einem sogenannten Auserwählten begleitet werden sollen, scheint kein Problem zu sein – bis sie ihm gegenüberstehen. Kendrick ist vieles – unter anderem ein arroganter Vollpfosten und aufgeblasener Möchtegernkrieger –, aber sicher kein Held.

Leider müssen sie trotzdem mit ihm vorliebnehmen, Wunschkonzerte gibt es nur bei Barden. So zieht die vierköpfige Truppe los, um ein uraltes Siegel in der Kaltwüste zu ersetzen, dessen Beschädigung diesen verheerenden Nebel erst ausgelöst hat. Nichts ahnend, dass die Erneuerung des Artefakts ein hohes Opfer fordern wird …

 

 

 

 

Der Autor

Jamie L. Farley wurde 1990 in Rostock geboren. 2010 zog er nach Leipzig und machte dort eine Ausbildung zum Ergotherapeuten. Schnell merkte er jedoch, dass das nicht der richtige Job für ihn ist, weshalb er sich entschlossen hat Pokémontrainer zu werden. Er ist in Leipzig geblieben und wohnt zusammen mit seiner besten Freundin Anika, einer Ente namens Dave und dem Haus-zombie Bradley in einer WG. Neben der Schreiberei gehören Videospiele zu seiner liebsten Freizeitbeschäftigung. Nach dem Veröffentlichen von zwei Kurzgeschichten, erschien sein Debüt ‚Adular (Band 1): Schutt und Asche‘ Anfang 2019 im Sternensand Verlag.

 

 

 

 

 

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

 

1. Auflage, März 2024

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2024

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski

Lektorat: Lektorat Laaksonen | Stefan Wilhelms

Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH

Illustrationen S. 51, S. 176 und Karte: Corinne Spörri

Illustration S. 347: Judith C. Pleiner

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-304-2

ISBN (epub): 978-3-03896-305-9

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Für meine grandiose Dungeons und Dragons-Gruppe.Allen voran Lisa und Caro, die mir mit Alea und Orla ihre Charaktere für die Geschichte geliehen haben.

Ohne die zwei könnte Dan nur ein Drittel so viel Chaos anrichten.

Und unseren wunderbaren Dungeon Master Martin, der uns nicht nur zuverlässig durch das Abenteuer leitet,

sondern uns auch nie an unserem Blödsinn hindert.

Wir bekommen höchstens die Konsequenzen dafür zu spüren.

 

Kapitel 1 - Das Schiff, das Apfel hieß

Dan

 

Der Name des Schiffes, das sie auf den benachbarten Kontinent brachte, lautete ›Jonagold‹ – wie die Apfelsorte. Auf Dans Nachfrage hatte der Kapitän erklärt, dass die erste Lieferung dieses Schiffes kistenweise Äpfel und entsprechende Produkte gewesen seien. Säfte, Alkoholika, Seifen, Eingemachtes … Seit dieser Fahrt könne er das ganze Zeug weder sehen noch riechen.

Dan saß im Schneidersitz auf einem Holzfass nahe der Reling. Unter seinem Arm klemmte eine alte Tageszeitung, die er unter Deck gefunden hatte. Als Halbling konnte er so gut wie überall einen bequemen Platz für sich beanspruchen. Seine Leute und er wurden von anderen liebevoll als das ›kleine Volk‹ bezeichnet. Die meisten von ihnen wurden nur in etwa so groß wie ein durchschnittliches menschliches Kleinkind. Das führte auch heutzutage noch zu Verwirrung bei Hochgewachsenen und Ärger bei den Halblingen, wenn man sie wieder einmal mit einem Kind verwechselte.

Laut einigen Quellen war es zu früheren Zeiten sogar so gewesen, dass man Halblinge aus diesem Grund gar nicht als eigenes Volk anerkannt hatte. Die Leute waren schlichtweg davon ausgegangen, dass es sich bei ihnen um Menschenkinder handelte, die nie richtig erwachsen wurden.

Dabei sehen wir gar nicht so aus wie sie. Unsere Ohren sind spitzer, unsere Haare flauschiger und unsere Füße haariger.

Heute waren alle ein bisschen schlauer und Halblinge wurden als solche anerkannt. Zu oben genannten Verwechslungen mit Kindern kam es trotzdem hin und wieder – etwas, was sie mit den Gnomen gemeinsam hatten, woran sich Dan aber nicht störte. Es passierte, man korrigierte und danach war alles gut.

Die See war ruhig an diesem Nachmittag. Über ihm erstrahlte ein klarer blauer Himmel ohne eine einzige Wolke. Das Schiff wurde derzeit durch reine Muskelkraft über das Meer getrieben. Die Überfahrt sollte eine Woche dauern, zwei Tage davon hatte sie bereits hinter sich gebracht.

Der salzige Geruch füllte Dans Nase. Über ihm kreischten ein paar Möwen, unter ihm plätscherte das Wasser im Takt mit den Rudern.

Auch die Crew der ›Jonagold‹ bildete eine bunte Mischung verschiedener Völker Fallopias ab: ein paar Zwerge, Menschen und Elfen. Sieben dieser Seeleute befanden sich gerade mit ihm auf Deck und kümmerten sich um anfallende Arbeiten wie putzen oder das Warten der Kanonen.

Dan liebte diese Vielfältigkeit. Seine Großeltern hatten ihm Geschichten erzählt, wie es noch vor vielen Jahrhunderten gewesen sein sollte. Als jedes Volk für sich gelebt und man Kontakt untereinander vermieden hatte. Außer, um sich gegenseitig anzufeinden und zu attackieren.

»Bis auf wir Halblinge«, pflegte Großmutter Wynne hinzuzufügen. »Irgendwie haben wir uns schon immer gern unter andere Völker gemischt.«

Nun, Dan war zu dieser Zeit nicht dabei gewesen.

Und seine Großeltern auch nicht, Halblinge erreichten im besten Fall ihre zweihundertfünfzig Lebensjahre, doch die Zeitspanne, von denen Großmutter Wynne und Großvater Sharric stets sprachen, ging in die Jahrtausende.

Dan war jedenfalls froh, dass es heute anders war. Dass die Völker nebeneinander, miteinander und untereinander lebten. Dass man in jeder noch so großen oder kleinen Stadt sowohl Menschen und Elfen als auch Zwerge, Gnome und Halblinge treffen konnte. Seit etwa fünf Jahrhunderten kehrten sogar zunehmend Orks und Halb-Orks in die Städte ein und ihre wilden Nomadenstämme lösten sich allmählich auf.

Während er darüber nachgrübelte, beobachtete er die Seeleute bei der Arbeit.

»Jetzt, wo du es sagst …« Der zwergische Seemann, der mit dem Dunkelelf das Deck schrubbte, hielt inne. In seinem blonden Bart steckten bunte Papageienfedern. Die Sonne spiegelte sich auf seiner Glatze. »Ich kann meine Taschenuhr nicht finden.«

»Seltsam«, erwiderte der Dunkelelf und wischte sich das weiße Haar aus der dunkelgrauen Stirn. »Ich bin mir sicher, dass ich meinen Ring heute Morgen noch am Finger hatte. Vielleicht habe ich ihn vorhin beim Abwaschen verloren?«

Dan hüstelte leise und schlug die Zeitung auf. Definitiv keine seriöse Veröffentlichung, sondern ein schreckliches Schmierblatt namens ›Blutbefleckt – Invasiv – Lausig – Destruktiv‹, was zu lang und umständlich war, weshalb die meisten Leser den Titel mit den Anfangsbuchstaben abkürzten. Nun war er gänzlich dahinter verschwunden.

Ein weiterer Strich auf der Vorteilliste seiner Körpergröße.

»Der taucht schon wieder auf«, versicherte der Zwerg. Der Wischmob tauchte geräuschvoll in den Eimer mit Seifenwasser ein. »Werde nachher mal schauen, ob meine Uhr vom Nachttisch gefallen und unter meine Koje gerutscht ist.«

Dan widerstand dem Drang, an der Zeitung vorbeizusehen.

Tja, wie heißt es doch so schön? Gelegenheit macht Diebe …

Dennoch würde er den Ring und die Uhr heute wieder zurückbringen. Er hatte nie vorgehabt sie wirklich zu stehlen. Es war eine Wette zwischen ihm und seiner hochelfischen Gefährtin Alea gewesen. Wenn es ihr gelang, einen gestandenen Matrosen unter den Tisch zu trinken, würde er für zwölf Stunden zwei Schmuckstücke verschwinden lassen. Wettschulden waren bekanntlich Ehrenschulden.

Hoffentlich beschuldigten sich die Seeleute bis dahin nicht doch noch gegenseitig des Diebstahls. Oder einer von ihnen kam auf die gescheite Idee, einer der drei Passagiere, die nicht zur Crew gehörten, hätte etwas damit zu tun.

Wäre Murphy hier, könnte man es auf ein unwissendes Tier schieben.

Ihm fehlte sein Frettchen, er hatte es zusammen mit den tierischen Gefährten seiner Freunde im Hafen zurücklassen müssen. Der Kapitän verfolgte eine strikte ›Keine Tiere an Bord‹-Regel und hatte sich durch nichts erweichen lassen. Nicht einmal davon, dass es sich bei Murphy um ein sogenanntes Familiar handelte. Ein Seelentier, das mit Magie an Dan gebunden worden war und zu dem er eine telepathische Verbindung aufbauen konnte.

Dafür sind wir jetzt aber zu weit weg. Er seufzte lautlos. Murphy kann sich wunderbar um sich selbst kümmern. Und er ist ja nicht allein, die Seelentiere meiner Freunde sind bei ihm. Imir und Denu werden ihn schon ausreichend beschäftigen. Trotzdem vermisse ich meinen Stinker.

Um sich abzulenken, kehrte Dan mit seiner Konzentration zur Zeitung zurück, die unangenehm nach Fisch stank. Vermutlich war einer damit eingewickelt worden. Wäre sein Onkel Ted hier, könnte der sogar bestimmen, um welchen Fisch es sich gehandelt hatte. Oder würde das zumindest behaupten.

Auf Seite eins war die Aktzeichnung einer hübschen Zwergin zu bestaunen, die einen beeindruckenden Damenbart zur Schau stellte.

Der war sogar lang genug, um sowohl ihren Busen als auch den Intimbereich geschmackvoll zu bedecken.

Dan beneidete die Zwerge um ihre Gesichtsbehaarung. Sein Kinnbart war schön und gut, aber Zwergenbärte spielten in einer ganz anderen Liga. Manchmal würde er sich gerne Perlen in die Barthaare flechten können. Oder sich dort überhaupt Zöpfe binden können. Oder einen Bart haben, der ihm bis zum Bauch reichte. Aber das war ihm leider nicht vergönnt.

Dafür sind die Haare an meinen Füßen unschlagbar, tröstete er sich scherzhaft und blätterte zum Hauptartikel weiter.

›GIB UNS UNSERE PRINZESSIN ZURÜCK!‹ stand in großen roten und weißen Lettern über dem Bild von einigen traurig dreinblickenden Leuten.

Abermals hatte ein Drache eine Königstochter entführt – dieses Mal Prinzessin Bernadette, einzige Tochter von König Bruno aus dem Reich Ursapenia. Das war in Fallopia nicht unüblich, es war sozusagen das Hochzeitsritual in royalen Familien. Der Verlobte der Prinzessin würde demnächst losgeschickt, um sie zu retten, damit sie heiraten konnten. Es gehörte gewissermaßen zum guten Ton für die Eltern, einen öffentlichen Aufschrei zu verursachen.

Wir leben in einer komischen Welt.

»Blanker Sexismus ist das, wenn du mich fragst«, murrte Alea neben ihm.

Dan schielte zur Seite. Er hatte sie gar nicht an sich herantreten hören. Die Hochelfin sah ihm missbilligend über die Schulter, während sie sich ihr weißblondes langes Haar neu zusammenband. Sie war eine hochgewachsene, durchtrainierte Kriegerin. Ihre geschlagenen Schlachten zeichneten sich in Form von zahlreichen Narben auf ihrer hellen Haut ab.

»Selbstverständlich ist es das«, stimmte Dan ihr zu. »Über Prinzessinnen, die den Prinzen beschützen, den Drachen selbst verprügeln und mit ihrem Verlobten unterm Arm nach Hause marschieren, würde man leider nie etwas lesen.«

Alea schüttelte den Kopf. »Warum liest du den Mist überhaupt?«

»Muss mir irgendwie die Zeit vertreiben. Außerdem wollte ich nachschauen, ob wieder etwas über uns drinsteht.«

Es wäre nicht das erste Mal, dass das vorkam. Ihre kleine Abenteurergruppe, zu der neben Alea und ihm auch eine Gnomin namens Orla gehörte, war recht bekannt. Mehr berüchtigt als berühmt.

Der letzte Artikel, der über sie verfasst worden war, beinhaltete Explosionen durch Mehlbomben, eine Massenschlägerei und Alarm durch einen Großbrand. Eine lustige Geschichte. Und einer der Gründe, warum ihr Ruf eher durchwachsen war, obwohl sie eine ausgezeichnete Quest-Abschlussquote vorweisen konnten.

Umso überraschender war es, dass ausgerechnet sie von den Shiro Ahali kontaktiert und nach E'aenathalas eingeladen worden waren. Dieses zurückgezogene und geheimnisvolle Elfenvolk ließ nur äußerst selten Außenseiter in ihre wichtigste Stadt, wenn man von Händlern absah. Aber selbst von denen hatten die meisten nur den Hafen gesehen.

Damit waren sie die Einzigen, die sich nicht der allgemeinen Volksvermischung angeschlossen hatten und unter sich blieben. Eigentlich sollte man meinen, dass dieses Verhalten ein Nährboden für Misstrauen und Vorurteile wäre. Es war leicht, den Shiro Ahali Xenophobie, Elitärismus oder Rassismus vorzuwerfen.

Wahrscheinlich taten das auch einige. Die meisten jedoch respektierten und bewunderten die Shiro Ahali. Vor allem ihre entfernten Verwandten, die Wald-, Hoch-, und Dunkelelfen.

Dan hatte auf dem Schiff nach der Meinung der Seeleute über die Shiro Ahali gefragt.

»Etwas verschroben, aber generell freundlich und sehr höflich«, hatte ihm ein Menschenmann geantwortet. »Es gibt doch überall Völker, die Spaß daran haben, besonders mysteriös zu wirken. Die Shiro Ahali haben uns nie einen Grund zur Besorgnis gegeben. Haben keine Länder überfallen, keine Sklaven gehalten, sich nie groß mit anderen Völkern gekabbelt.«

Und irgendwie gehörten sie einfach zu Fallopia hinzu. So wie die Drachen, die Prinzessinnen als Junggesellenabschied entführten.

Dans Meinung nach bestanden die Shiro Ahali lediglich aus einem Haufen Introvertierter, die keine Lust auf die Außenwelt hatten. Er glaubte, sollten die Shiro Ahali irgendwann doch in Bedrängnis geraten, ihre Geheimnisse zu offenbaren, weil starkes Misstrauen ihnen gegenüber aufkam, würden sie es tun. Entweder stellte sich dann heraus, dass sie harmlos waren wie Gänseblümchen. Oder sie verbargen doch eine magische Superwaffe unter ihrer Stadt, die alles vernichten konnte.

Einerseits fühlte Dan sich durchaus geehrt, dass diese Elfen sie eingeladen hatten.

Andererseits war es auch ein Grund, um besorgt zu sein. Irgendwas musste im Argen sein, wenn diese Elfen sich an Leute wie seine Freunde und ihn wandten.

»Das Blatt stinkt«, bemerkte Alea trocken.

Dan grinste. »Auf mehr als eine Weise, ja.« Er faltete die Zeitung und schob sie sich unter das Hinterteil. »Was treibt dich hoch? Genug Seeleute im Armdrücken geschlagen?«

Alea lächelte kaum merklich und kreiste die rechte Schulter. »Erst mal ja.« Sie stützte sich auf die Reling und ließ den Blick über das Meer schweifen. »Ich brauchte etwas frische Luft. Kann es kaum erwarten, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Hast du Orla gesehen?«

»Ist seit heute Morgen oben im Ausguck.« Dan deutete mit dem Zeigefinger den Mast hinauf und bemerkte, dass Orla bereits wieder auf dem Weg nach unten war.

Die Gnomin kletterte geschickt wie ein Eichhörnchen an der langen Strickleiter hinab.

»Hoffentlich geht sie dem Wachposten nicht auf den Geist«, murmelte Alea.

»Das würde ich nie tun.« Orla sprang den Rest und landete sicher auf ihren Füßen. Die zahlreichen Gegenstände, die sie an ihrem Gürtel trug – Tränke, Schreibutensilien, kleine Messer, eine Sichel für Kräuter – klimperten. »Wenn jemand von einer Menge interessanter Fragen genervt ist, hat er es auch nicht anders verdient.«

Mit ihren neunundachtzig Zentimetern war Orla nur unwesentlich kleiner als Dan, bei dem es sich im wahrsten Sinne des Wortes um einen laufenden Meter handelte.

Sie richtete ihr blaues Kleid, das sie über einer dunkelgrünen Hose trug, rückte den Gürtel zurecht und schlenderte zu ihnen. Eine sanfte Brise wehte ihr das rotbraune Haar aus dem schmalen Gesicht und legte ihre Ohren frei, die ebenso spitz waren wie die von Alea und Dan.

»Ich bin schon so aufgeregt, die Hauptstadt der Shiro Ahali sehen zu können«, fuhr Orla leise fort. Ihre verschiedenfarbigen Augen – eines blau und das andere grün – leuchteten vor Begeisterung. Das Meeresrauschen würde ihre Stimme forttragen, sodass das Gesagte innerhalb ihrer Gruppe blieb. »Dort befindet sich eine der größten Bibliotheken der Welt.«

»Ist das gesichert oder auch nur eines von vielen Gerüchten?«, wollte Dan wissen.

Orla lehnte sich seitlich ans Fass. »Ich habe doch vor unserer Abfahrt das Buch dieses Gelehrten gekauft, der zwanzig Jahre unter den Shiro Ahali gelebt hat. Es ist ein weltweiter Bestseller gewesen und eine der wenigen sicheren Quellen, die es gibt.« Sie tippte mit dem Fuß auf. »Hab’s letzte Nacht durchgelesen, um möglichst gut vorbereitet zu sein.«

Neugierig lehnte Dan sich vor. »Und, was schreibt er so? Irgendetwas über ihre Sitten und Bräuche? Feiertage, Feste, Hierarchien …?«

Orla schüttelte wiederholt den Kopf. »Nichts.«

Dan zog die Brauen hoch. »Wie nichts?«

»Der Autor geht nie ins Detail.« Frustration legte sich wie ein Schatten über Orlas Gesicht und sie verzog den Mund. »Im Grunde stand da immer: Da gibt es diese besondere Nacht im Sommer, in denen die Shiro Ahali ihren wichtigsten Feiertag begehen. Was, wann und wo ist aber geheim. Und das jeeedes Mal. Du glaubst gar nicht, wie zermürbend das ist, ständig Krumen zugeworfen zu bekommen, die nicht zum Kuchen führen. Man verhungert bei diesem Buch förmlich am gedeckten Tisch.«

»Andernfalls hätten die Shiro Ahali es vermutlich nicht gestattet, dass das Buch veröffentlicht wird«, sagte Alea. »Oder hätten es diesem Gelehrten ziemlich übelgenommen, wenn er das hinter ihrem Rücken getan hätte.«

Orla winkte ab. »Entweder schreibe ich ein Buch mit nützlichen Informationen oder ich lasse es bleiben.«

Dan schmunzelte. »Man könnte fast meinen, dieser Gelehrte wäre auf das schnelle Geld aus gewesen.«

»Vermutlich.« Die Gnomin rümpfte die Stupsnase. »Aber zurück zum Punkt: Ich muss mir die Bibliothek ansehen.«

»Glaube nicht, dass du Gelegenheit dazu haben wirst«, erwiderte Alea trocken. »Sie haben uns nicht eingeladen, damit wir Urlaub machen können. Wir werden einen Auftrag bekommen, der besser gestern erledigt worden wäre.«

Orla verschränkte die Arme vor der Brust. »Eine Stunde würde mir schon reichen. Oder zwei. Oder ein paar Tage.« Sie löste ihre defensive Haltung und gestikulierte aufgeregt. »Es befindet sich unfassbar viel Wissen in dieser Stadt. Wenn ich könnte, würde ich die nächsten Jahrzehnte meine Hängematte in der Bibliothek installieren und mir den Inhalt jedes einzelnen Buches einprägen.«

Dan streckte die Beine aus, weil seine Füße allmählich einschliefen, und ließ sie über den Rand des Fasses baumeln. »Also ich würde ja gerne mal die geheimnisvollen Schatzkammern sehen. Angeblich sollen die Shiro Ahali massenweise Reichtümer haben. Hab sogar gehört, dass sie Schmuck und Münzen aus Material besitzen, das um ein Vielfaches wertvoller ist als Gold.«

Aleas Blick verfinsterte sich. »Dan …«

Er hob beschwichtigend die Hände. »Nur gucken, nicht anfassen. Keine Panik, Löwin. Als ob ich so blöd wäre, auch nur daran zu denken, da irgendwas zu stehlen.«

Zugegeben, daran gedacht hatte er. Nicht als tatsächliches Vorhaben, sondern rein hypothetisch.

Es wäre eine Respektlosigkeit sondergleichen von den Shiro Ahali zu stehlen. Dan war zwar ein ebenso passionierter Dieb wie jeder andere – zumindest was seine Familienmitglieder betraf –, aber er zog Grenzen.

»Ich wüsste nämlich wirklich gerne, ob das Gerücht stimmt«, fügte er hinzu. »Und aus welchem Material diese Reichtümer bestehen.«

»Nun, meiner Meinung nach sind es die Bücher«, merkte Orla an. »Wissen ist der größte Schatz.«

»Was ist mit dir, Löwin?«, fragte Dan. »Was reizt dich am meisten an Eän-Dingens? Der Elfenstadt, ihr wisst schon.«

»Eäntha… Anatala«, probierte Orla angestrengt, ihn zu verbessern und scheiterte, obwohl sie fließend elfisch sprach.

Vielleicht konnten nur Elfen diesen Namen aussprechen?

»E-aena-thalas«, intonierte Alea.

Dan deutete mit dem Zeigefinger auf sie. »Sag ich ja. Also, auf was freust du dich?«

Alea drehte sich um und lehnte sich rücklings gegen die Reling. »Hm. Schätze, die Waffenkammer. Würde gerne das stehende Heer sehen, mich mit den Generälen unterhalten. Ein wenig wünschte ich auch, wir hätten die Zeit, um den gesamten Kontinent zu erkunden, weitere Städte dort zu besuchen …«

Orla seufzte wehmütig. »Ich hoffe so sehr, dass wir wenigstens einen Tag bekommen, um uns in der Stadt umzusehen.« Sie stemmte die Hände in die Hüfte. »Je nachdem, wie gefährlich unser Auftrag wird, wäre es das Mindeste.«

 

Als der siebte Tag ihrer Seereise anbrach, tauchte am Horizont eine Turmspitze auf.

Alea, Orla und Dan standen gemeinsam auf dem Oberdeck und unterhielten sich. Vielmehr: Orla und Dan redeten, die Hochelfin stand zumeist schweigend dabei und hörte zu. Bis sie sich abwandte und die Lider spähend verengte.

»Alea, was sieht dein Elfenauge?«, fragte Dan.

Noch immer still, deutete sie mit dem Kinn nach vorne.

»Die Hauptstadt der Shiro Ahali ist in Sicht«, rief der Späher vom Mast und umging damit mehr oder weniger elegant den komplizierten Namen.

»Das ist der Bernsteinturm«, erklärte Orla. »Dort befindet sich auch die gewaltige Bibliothek. Im Buch stand, dass in der Spitze die sogenannten ›Schicksalsschreiber‹ sitzen.«

Dan neigte fragend den Kopf. »Was für ein dramatischer Name. Darf ich raten, was sie tun?«

»Wenn du darauf getippt hast, dass es Chronisten sind, hast du recht«, erwiderte Orla. »Also, hauptsächlich sind sie das. Niemand weiß genau, wie viele es davon gibt, aber vermutlich nur ein paar Hände voll. Sie halten die Geschichte Fallopias fest, alle wichtigen Ereignisse und die Biografien von einflussreichen Leuten.« Die Gnomin legte ihre Finger ans Kinn. »Ich würde ihnen dabei zu gerne über die Schulter sehen.«

Dan schloss sich ihrer Überlegung an: Verfassten diese Schicksalsschreiber ausschließlich Chroniken von großen Personen mit ebenso großen Namen wie Könige, Kaiser und Heerführer? Oder wurde auch den kleinen Beachtung geschenkt? Wie Bauer Henry, der jedes Jahr das ganze Dorf mit seiner Kartoffelernte versorgte. Oder die Bäckerin, die nicht verkaufte Ware des Tages unter Hungernden verteilte.

Er wunderte sich, wie viel diese Elfen vom Weltgeschehen mitbekamen, wenn sie die meiste Zeit unter sich blieben. Hatten sie Spione, die sie mit Informationen fütterten? Oder vielleicht sogar Abkommen mit diversen Herrschern, die ihnen Informationen übermittelten? Oder nutzten sie dafür eine Form der Magie?

»Wie machen diese Schicksalsschreiber das?«, sprach er seine Frage letztlich laut aus.

»Genau deshalb will ich zu ihnen«, antwortete Orla. »Entweder sind sie im Besitz eines gigantischen Informationsnetzwerkes von dem niemand aktiv etwas mitbekommt – oder alle sind Hellseher.«

 

Schon am Abend erreichten sie den Hafen von E'aenathalas. Die Stadt war wirklich atemberaubend schön. Auf den weißen Häusern thronten blaue, runde Dächer. Goldene Elemente schmückten Fensterrahmen, Türen und Wände. Die verzweigten Straßen bestanden aus flachen hellen Steinen. Das Licht der untergehenden Sonne ließ sie in einem warmen Orangerot leuchten. Überall blühte und gedieh es.

Dan konnte selbst vom Schiff aus schon die üppigen Gärten sehen. Blumen- und Weinranken durften ungehindert an Mauern und Wänden emporwachsen. Gras spross saftig grün am Wegesrand und hohe Bäume spendeten Schatten.

Onkel Ted, leidenschaftlicher Seefahrer und geschickter Schmuggler, hatte ihm schon von einigen Wundern erzählt, die er auf seinen vielen Reisen gesehen hatte. Aber keine seiner Geschichten reichte auch nur ansatzweise an das heran, was Dan erblicken durfte.

Vielleicht weil er wahrhaftig hier war, es mit eigenen Augen betrachten konnte, statt es sich nur vorzustellen.

Fühlte sich Ted auch jedes Mal so ergriffen, wenn er an einem neuen Hafen Anker legte?

Am Kai wurde das Schiff bereits erwartet. Während sechs Shiro Ahali dabei halfen, die Fracht zu überprüfen und zu entladen, kamen zwei Elfen auf das Trio zu. Eine Frau und ein Mann. Ihr Haar war rot wie reife Kirschen, seines hingegen schwarz. Beide hatten helle Augen und bronzefarbene Haut, die von auffälligen Tätowierungen bedeckt war. Je zahlreicher und aufwendiger sie waren, desto höher war der gesellschaftliche Stand des jeweiligen Elfen, hatte Orla ihnen erklärt.

Wenn Dan die beiden vor sich betrachtete, schienen sie außerordentlich wichtig zu sein. Ihre Tätowierungen waren eine Mischung aus runenähnlichen Schriftzeichen und Symbolen auf den Händen und Armen, stilisierten Pflanzen, Efeu nicht unähnlich, auf den Hälsen. Sie trugen lange Leinengewänder in Weiß und Hellblau; elegant und doch schlicht.

»Seid gegrüßt«, hob die Frau an und verneigte sich vor ihnen.

Alea tat es ihr gleich. »Es ist uns eine Ehre.«

Orla vollführte einen höflichen Knicks und Dan betrieb eine Verbeugung nach Art seines Volkes: die Füße zusammen, einen Arm auf dem Rücken und die andere Hand vor die Brust.

»Es freut uns, dass Ihr sicher angekommen seid«, sagte der Mann. »Dies ist meine Frau Janori und mein Name ist Eldrian. Wir sind im Namen unseres Oberhauptes Thalion Graumantel hier, um Euch durch die Stadt zu Eurer Unterkunft zu führen. Nach der langen Reise müsst Ihr erschöpft sein.«

»Bekommen wir die Gelegenheit uns genauer umzuschauen?«, platzte Orla heraus. »Ich würde die Spitze meines linken Ohrs dafür geben, Eure Bibliothek besuchen zu dürfen.«

Janori schmunzelte. »Nun, soweit müssen wir es wirklich nicht kommen lassen. Seid herzlich im Bernsteinturm willkommen, Orla. Ihr werdet noch mindestens eine Woche in der Stadt verweilen. Ihr dürft Euch frei bewegen und tun, was Euch beliebt.« Ihre klaren blauen Augen wanderten speziell zu Dan. »Solange Ihr nach unseren Gesetzen handelt.«

Inzwischen war es nicht mehr überraschend, dass fremde Leute, denen sie sich nie vorgestellt hatten, ihre Namen kannten. Ihr Ruf eilte ihnen voraus. Zum Besseren oder Schlechterem.

Dan legte nun beide Hände hinter seinen Rücken und lächelte unschuldig. »Freilich, werte Dame.«

Eldrian bedeutete ihnen mit einer Geste, ihm und Janori zu folgen. »Thalion Graumantel wird Euch in vier Tagen empfangen. Dann erfahrt Ihr auch endlich den Grund, warum wir Euch hergerufen haben. Es tut uns leid, eigentlich wollte er Euch heute treffen. Aber es gab … ein paar Unpässlichkeiten, die zunächst behoben werden müssen.«

»Das macht überhaupt gar nichts«, fuhr Orla dazwischen. »Bleibt mehr Zeit, um zu lesen.«

»Und die Stadt zu erforschen«, fügte Dan hinzu.

Alea nickte zustimmend.

»Habt Dank für Euer Verständnis.« Janori lächelte ihnen über die Schulter hinweg zu. »Wir bringen Euch in Euer Quartier. Dort warten frisch gemachte Betten, Speis und Trank und ein Bad, falls Ihr es wünscht.«

Kapitel 2 - Audienz bei Thalion Graumantel

Orla

 

Früh am nächsten Morgen durchstreifte Orla die gigantische Bibliothek des Bernsteinturms. Alea war aufgebrochen, um mit dem Heerführer zu sprechen, und Dan hatte angekündigt, sich den Markt im Stadtzentrum anschauen zu wollen.

Der runde Raum erstreckte sich über vier Stockwerke, die über eine breite Wendeltreppe zugänglich waren. Die deckenhohen Regale waren aus hellem Holz gebaut, ebenso wie die unzähligen Schreibtische, an denen man wunderbar arbeiten konnte.

Zwischen den einzelnen Elementen standen kunstvolle Säulen, die wie spiralförmige Bäume aussahen. Verschiedene Reliefs schmückten die Decken der Stockwerke, sie zeigten allesamt lernende und lesende Elfen.

Orla schob ein Wägelchen neben sich her, auf das sie einen beachtlichen Stapel Bücher angehäuft hatte. Sie benutzte dafür zwei magisch erzeugte Hände, weil sie sonst nicht erkannt hätte, wohin sie den Wagen lenkte. Auch ohne die Bücher hätte sie sich schon auf die Zehenspitzen stellen müssen, um darüber hinwegschauen zu können.

So viele Bücher, so wenig Zeit, dachte sie wehmütig.

Die Gnomin blieb vor dem Regal mit dem Buchstaben N stehen. Sie schnipste einmal und ließ eine dicke Pergamentrolle erscheinen. Die hatte man ihr am Eingang überreicht, darauf waren alle Bücher verzeichnet, die es aktuell in der Bibliothek gab. Alle hundertdreißig Millionen. Damit wirklich alle Titel draufpassten, war das Dokument verzaubert worden. Orla wollte sich nicht vorstellen, wie gigantisch diese Rolle sonst sein müsste.

Wäre es überhaupt möglich, so viele Meter Pergament heranzuschaffen? Gemäß dem Fall: Würde es ausreichen, um damit mindestens einmal die gesamte Welt zu umspannen? Und am allerwichtigsten: Wie viele Leben man wohl benötigte, um jedes katalogisierte Buch zu lesen und auswendig lernen zu können?

Mal sehen … ein durchschnittliches Gnomenleben hat bis zu vierhundert Jahre. Ich bin jetzt fünfunddreißig. Wenn ich es schaffe, fünf Bücher im Monat in mein Gedächtnis zu prügeln …

Sie stoppte sich, ehe sie sich weiter in die Überlegung vertiefen konnte. Schließlich war sie nicht zum Kopfrechnen hergekommen.

Ungeduldig vollführte sie scheuchende Bewegungen mit der rechten Hand, das Pergament rollte sich vom unteren auf das obere Ende, bis sie den gewünschten Buchstaben gefunden hatte. Wann immer ihr ein Titel gefiel, tippte sie mit dem Zeigefinger drauf. Das Buch löste sich aus dem Regal und schwebte sanft zu ihr herab.

»Nekromantie: Leichenschändung oder Nachhaltigkeit? Warum es nicht immer schlecht ist, Tote wiederzuerwecken«, las sie leise vor.

Ihr Herz machte einen aufgeregten Sprung. Das Buch war in fast allen Ländern Fallopias verboten worden, weil Totenbeschwörung nicht gern gesehen wurde.

Orla hielt es persönlich für falsch, eine Form der Magie zu verunglimpfen. Solange er verantwortungsvoll eingesetzt wurde, sollte jeder Zauber erlernbar und anwendbar sein dürfen. Sie hatte schon erlebt, wie mittels Nekromantie ein abgestorbener Fuß bei einem verletzten Krieger vollständig geheilt worden war.

Gäbe es nicht überall diese Idioten, die damit nichts als Schaden anrichten, wäre die Nekromantie eine Schule der Magie wie jede andere auch. Stattdessen bekommt man kaum eine Chance, sie richtig zu erlernen und zu begreifen, wie man damit Gutes tun kann.

Orla kehrte zu ihrem auserwählten Platz zurück und ließ dabei das Buch neben sich her fliegen: ein bequemer Sessel, der versteckt in einer Regalnische stand.

Orla lehnte sich darin zurück, schlug das Buch über Nekromantie auf und verlor sich in den Zeilen.

 

»Hey, Sonnenschein.« Dans Stimme kam aus dem Nichts.

Orla zuckte zusammen und ließ das schwere Buch fallen. »Dan«, rief sie empört aus. »Du kannst mich doch nicht so erschrecken.«

Der Halbling grinste entschuldigend, doch dem schelmischen Funkeln in seinen leuchtend grünen Augen tat das keinen Abbruch. »War nicht meine Absicht. Hier, ich hab dir was mitgebracht.«

Er reichte ihr einen Teller, auf dem buntes Obst um ein rundes Küchlein verteilt lag.

Orlas Magen knurrte vernehmlich. Rasch schob sie sich ein Apfelstück in den Mund. »Wie spät ist es?«

»Kurz nach fünfzehn Uhr.« In Dans schwarzem Wuschelhaar steckte eine hellblaue Blüte. »Alea und ich werden gleich Mittagessen gehen.«

»Ich bleib hier«, nuschelte Orla mit Kuchen in der Wange.

»Deshalb hast du deine Portion geliefert bekommen«, entgegnete Dan.

Sie deutete auf die Blume in seinem Haar. »So eine ist mir neu. Woher hast du die?«

Der Halbling berührte die Blüte vorsichtig. »Hat mir die Elfin geschenkt, bei der ich mir ein neues Paar Stiefel anfertigen lasse. Würde ja behaupten, sie mag mich, wenn ich nicht mitbekommen hätte, dass jeder Kunde eine kriegt.«

Orla schmunzelte. »Ich bin mir sicher, sie weiß deine Persönlichkeit trotzdem sehr zu schätzen.«

»Ehen zwischen großen und kleinen Leuten sind eh viel zu kompliziert. Ich hätte immer eine Trittleiter in ihrer Nähe gebraucht.« Der Halbling räusperte sich und kehrte zum eigentlichen Thema zurück. »Das ist eine Blumenart, die nur auf diesem Kontinent wächst. Sie wird Königstulpe genannt.«

»Aber die sieht nicht einmal entfernt aus wie eine Tulpe«, warf Orla ein.

»Wie eine Königin auch nicht. Von daher …« Dan zuckte mit den Schultern. »Wie dem auch sei, Alea und ich sind in der Taverne ›Celoniel‹, falls du doch nachkommen möchtest.«

Orla winkte ihm zum Abschied, leerte den Teller und vergrub sich anschließend wieder in den Büchern.

 

Die nächsten drei Tage bis zu ihrer Audienz beim Oberhaupt Thalion Graumantel verliefen genauso. Orla stand bei Sonnenaufgang auf und verbrachte die Zeit bis Sonnenuntergang in der Bibliothek. Ab und an schauten ihre Freunde vorbei und brachten ihr etwas zu essen oder zwangen sie, unter murrendem Protest, dazu, eine Pause einzulegen.

Ihre Suche nach Informationen über die Shiro Ahali war bislang wenig erfolgreich gewesen. Sämtliche Biografien oder Geschichtsbücher waren in einer Sprache verfasst, die Orla nicht beherrschte. Die Wurzeln davon lagen klar im Elfischen, jedoch mit ganz eigenem Dialektik und einer Grammatik, die sie in der kurzen Zeit unmöglich durchschauen konnte.

Orla fühlte sich wieder wie eine Studentin. Sie erinnerte sich gerne an ihre Zeit in Fairwick zurück. In der Stadt befand sich eine der renommiertesten Magierakademien ganz Fallopias. Es war eine Ehre gewesen, dort angenommen und zur Magierin ausgebildet zu werden.

Wie oft hatte sie sich so sehr in den Büchern verloren, dass sie darüber eingeschlafen war? Wie oft war es vorgekommen, dass sie der nächste Morgen überrascht hatte, weil die Stunden förmlich verflogen waren?

Für Orla gab es nur wenige Freizeitbeschäftigungen, die schöner waren, als das Lesen. Zum Beispiel über die besten Anwendungen für Feuermagie zu diskutieren. Oder Feuermagie anzuwenden.

Schritte hallten durch die Stille der Bibliothek. Dan konnte es nicht sein, den hörte man nämlich nie, wenn er sich näherte. Außerdem war er, soweit sie wusste, damit beschäftigt, jeden Winkel von E'aenathalas zu erkunden. »Jede Stadt hat seine versteckten Gassen und geheimen Winkel«, hatte der Halbling erklärt. »Und ich liebe es, nach ihnen zu suchen.«

Alea war es auch nicht, sie bewegte sich stets im disziplinierten Gleichschritt und hielt sich am liebsten auf dem Übungsplatz des Heeres auf. Sie hatte in hohen Worten und mit ehrlicher Anerkennung von der Armee der Shiro Ahali gesprochen. Als der Heerführer ihr angeboten hatte, am Training der erfahrenen Krieger teilzunehmen, hatte sie natürlich nicht abgelehnt. Alea ließ sich keine Herausforderung entgehen.

Orla sah vom Buch auf und blickte Janori entgegen.

»Guten Morgen«, grüßte diese.

Orla lächelte der rothaarigen Elfin freundlich zu. »Morgen. Eure Bibliothek ist großartig. Ich bin kaum zur Hälfte durchs Untergeschoss gekommen und am liebsten würde ich mich die nächsten Jahre hier häuslich einrichten.«

Janori ließ ihren Blick schweifen und nickte andächtig. »Das kann ich nachvollziehen. Wenn es meine knappe Freizeit zulässt, bin ich auch am liebsten hier.« Sie musterte Orla mit einem Funken Neugier in den hellblauen Augen. »Ich muss gestehen, dass Ihr die erste Gnomin seid, der ich persönlich begegne.«

»Oh, das liegt wahrscheinlich daran, dass die wenigsten von uns gern zur See fahren«, erwiderte Orla. »Ich mag festen Boden auch lieber, aber die Welt ist zu groß und spannend, um das Abenteuer Schifffahrt nicht zu wagen.«

Die Elfin lehnte sich seitlich gegen den Sessel. »Ihr seid … eine Waldgnomin, nicht wahr? Stimmt es, dass Ihr mit Tieren sprechen könnt?«

»Nur mit kleinen Tieren«, erklärte Orla. »Maximal bis Ponygröße.«

Obwohl die ihm Vergleich zu ihr alles andere als klein waren.

Sie war überaus dankbar für ihre Gabe. Orla liebte jedes Tier, egal welcher Art. Sie musste an ihr Familiar denken, einen grünen Pseudodrachen namens Imir. Normalerweise leistete er ihr Gesellschaft, döste auf ihren Schultern, wenn sie las. Ihr fehlte das Gewicht und die angenehme Wärme in ihrem Nacken.

Dan und Alea würden ihren Seelentieren wahrscheinlich auch am liebsten die Stadt der Shiro Ahali zeigen. Vor allem der Hochelfin fiel es jedes Mal schwer, sich von ihrem weißen Elch zu trennen.

Wir sehen sie ja bald wieder. Ich hoffe, den dreien ist nicht zu langweilig, sonst veranstalten sie irgendeinen Blödsinn. Also … genau wie wir. Huch.

»Worüber unterhält man sich mit einem Pony? Oder einem, sagen wir, Eichhörnchen?«, wollte Janori wissen.

»Zum Beispiel darüber, wo sich am besten Nüsse für den Winter vestecken lassen.« Orla strich über den Einband des Buches. »Man schimpft über Katzen und Raubvögel und mit den Jungtieren hab ich früher gern Wettklettern veranstaltet. Ich bin zwar wirklich gut darin, aber natürlich komme ich nicht gegen die kleinen Racker an.«

Janori lachte und es hellte ihr gesamtes Gesicht auf. Bisher hatte Orla sie als freundlich, aber recht unnahbar wahrgenommen. Dieses Lachen machte sie menschlicher. Oder elfischer, in ihrem Fall.

»Das klingt wundervoll.« Janori schmunzelte weiterhin. »Was ist mit Euren Cousins, den Tiefgnomen? Sind sie auch dazu in der Lage?«

»Nein, leider nicht.« Deshalb taten ihr die Tiefgnome ein wenig leid. »Dafür können sie besser im Dunklen sehen, fast instinktiv komplexe Tunnel bauen und haben ein Näschen dafür, Edelsteine und Erzadern zu finden.«

Ein Großteil der Tiefgnome lebte unter Tage. Ihre Augen und die Haut waren sehr empfindlich gegen Sonnenlicht. Wenn sie nach oben kamen, dann nachts. Ähnlich wie die Shiro Ahali, mischten sie sich kaum bis gar nicht in die Belange der Oberwelt ein, aber betrieben regen Handel mit anderen Völkern.

»Bitte entschuldigt, dass ich Euch aus Eurem Lesefluss reißen muss, doch es wird Zeit.« Sie wies mit einer eleganten Armbewegung in Richtung Ausgang. »Thalion Graumantel erwartet Euch und wird Euch endlich erklären, warum wir Euch gerufen haben.«

Orla legte wehmütig das Buch über verschiedene Anwendungen der Elementarmagie zur Seite. »Es besteht keine Möglichkeit, das Werk auszuleihen, oder?«

»Ich fürchte leider nicht«, antwortete Janori. »Entschuldigung.«

Orla hatte mit der Antwort gerechnet, dennoch war es enttäuschend. »Ist in Ordnung. Bis zu unserer Abreise kann ich es sicher noch durchlesen.«

Sie rutschte vom Sessel und folgte Janori aus dem Bernsteinturm und durch die belebten Straßen.

Es war früher Morgen, dennoch waren schon erstaunlich viele Elfen auf den Beinen. Aus einer Bäckerei strömte ein wunderbarer Duft und zwei Shiro Ahali manövrierten ein riesiges Blumengesteck an den anderen Passanten vorbei. Orla genoss den Luxus, sich einfach nur ein wenig ducken zu müssen, um unbehelligt an ihnen vorbeizukommen.

Janori bewegte sich auf ein pompöses Gebäude zu. Wie alle anderen war es weiß mit einem blauen Dach und goldenen Verzierungen um die Fenster- und Türrahmen. Der Eingang wurde jedoch von goldmarmorierten Säulen gesäumt und die Wände waren mit aufwendigen Gipsstuck verziert.

Dan und Alea warteten in einer runden Eingangshalle vor einem breiten Schreibtisch. Dahinter saß eine streng aussehende Elfin, die ihr rotes Haar zu einem festen Knoten zusammengebunden hatte.

Sie sah nur kurz auf. »Name?«, fragte sie an die Gnomin gewandt.

»Orla Nyx Lilceli Folkor Nim Quigani«, antwortete sie. »Aber Orla reicht aus.«

Unberührt machte die Elfin sich eine Notiz des vollen Namens und nickte.

»Thalion Graumantel wartet auf diese Leute«, fügte Janori hinzu.

»Geht weiter«, erwiderte die Elfin hinter dem Schreibtisch.

»Ich habe eine Frage«, hob Dan an, während sie eine breite Treppe hochstiegen. »Muss man Thalion Graumantel immer mit vollem Namen ansprechen?«

Janori nickte. »Das ist eine Sache des Respekts. Graumantel ist nicht sein Name, sondern der Titel, den er trägt. Er ist gleichzusetzen mit der Anrede König Thalion.«

Die Elfin führte sie einen langen, lichtdurchfluteten Korridor entlang. Der Teppich, auf dem sie liefen, war weich wie Moos, hatte jedoch einen tiefen Blauton.

Am Ende des Gangs befand sich eine Flügeltür. Ein großer Mann mit wallenden blonden Haaren und stahlblauen Augen stand wartend davor. Sein Gesicht wirkte jugendlich und maskulin, in menschlichen Maßstäben gemessen war er sicherlich überaus attraktiv. Sein kantiges Kinn war glattrasiert. Das Lächeln, das er Janori schenkte, entblößte perlweiße Zähne.

»Ah, da seid Ihr ja«, grüßte er. »Ich bin sehr froh, Euch wiederzutreffen. Und wie ich sehe, seid Ihr in außerordentlich liebreizender Begleitung.«

Der Mann zwinkerte Alea zu, deren Gesicht sich sofort verfinsterte. Die Hochelfin hatte eine schwierige Vergangenheit mit Menschen und Orks und misstraute ihnen zunächst grundsätzlich. Vielleicht sollte jemand diesem Fremden sagen, dass er sich gerade eher sein Grab schaufelte, als dass er Alea von seinem Charme überzeugte.

Dann sah er nach unten und runzelte missbilligend die Stirn. »Wer hat denn Kinder hier reingelassen? Los, verschwindet! Geht zu euren Eltern oder so.«

Orla warf einen Blick über die Schulter, in der geringen Hoffnung, dass er nicht so ein Trottel war, wie sie gerade befürchtete. Leider entdeckte sie keine Kinder hinter sich, was im Umkehrschluss bedeutete …

»Und warum hat der kleine Junge da einen Bart?«

… dass der Typ Dan und sie meinte.

Dan zupfte sich am Kinnbart. »Wenn Ihr den schon gut findet, dann solltet Ihr erst mal die Haare an meinen Füßen sehen.«

Orla stemmte die Hände in die Hüfte und funkelte den Blonden an. »Wir sind erwachsen.«

»Zumindest körperlich«, murmelte Alea trocken. »Geistig lässt sich darüber streiten.«

Orla ignorierte das gekonnt. »Ich bin eine Gnomin. Und mein Freund hier ist ein Halbling.«

»Wir werden einfach nicht sonderlich groß«, ergänzte Dan und fügte mit einem Seitenblick zu Alea hinzu: »Zumindest körperlich. Geistig hingegen werden wir geradezu gigantisch. Man kann sagen: Wir sind auf das Beste reduziert.«

»Jaja, wie auch immer.« Der Mann winkte desinteressiert ab, sah sie nicht einmal an dabei. »Sagt, schöne Frau, wie ist Euer Name? Ich habe Euch hier nie zuvor gesehen.«

»Ich wünschte, das wäre auch so geblieben«, murrte Alea kaum hörbar.

Orla konnte dieses rüpelhafte Verhalten nicht fassen. Wäre Janori nicht gewesen, hätte sie diesem Kerl allzugern gezeigt, dass sie sich so nicht behandeln ließ. Etwas sagte ihr, dass er mindestens eine der Unpässlichkeiten war, weshalb sich ihre Audienz bei Thalion um vier Tage verschoben hatte. Entweder war es ihrem gnomischen Instinkt oder der Tatsache zu verschulden, dass er kaum eine Minute gebraucht hatte, um sich bei ihr unbeliebt zu machen.

Verstimmt wandte sie sich an Janori. »Wer ist das?«

»Der Grund aus dem Ihr hier seid«, antwortete die Shiro Ahali.

Die Brust des Mannes schwoll vor Stolz derart an, dass Orla fast erwartete, sein Hemd würde aufreißen. »Mein Name ist Kendrick. Merkt ihn Euch gut, denn er wird in die Geschichtsbücher eingehen, sobald ich mein Schicksal erfüllt habe.«

Nachdenklich verengte Orla die Lider. Sie begann zu ahnen, was hier vor sich ging.

»Schön, Euch kennenzulernen«, rief Dan übermäßig laut und fröhlich. »Dann seid Ihr der Mann, den wir gesucht haben.«

Alea zog eine Braue hoch, die stumme Frage ›Haben wir das?‹ stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.

Kendrick lachte. »Da seid Ihr nicht die Einzigen.«

Der Halbling zog einen unsichtbaren Hut und verneigte sich. »Gestatten: Danwrick Reedfellow. Zu Diensten.«

Kendrick nickte. »Und die anderen?«

»Orla«, antwortete die Gnomin knapp.

Die Hochelfin schwieg beharrlich.

Dan deutete mit einer Kopfbewegung zu ihr. »Und das ist Alea.«

»Sie ist förmlich sprachlos vor Freude«, fügte Orla trocken hinzu.

Janori deutete auf die Flügeltür. »Bitte geht weiter. Thalion Graumantel erwartet Euch. Kendrick, Ihr kennt unsere Bräuche und Sitten, von Euch wird erwartet, dass Ihr sie erfüllt. Ihr anderen seid unsere Gäste, achtet dennoch auf gängige Höflichkeit und Respekt.«

»Selbstverständlich«, erwiderte Alea.

Orla wunderte sich ein wenig darüber, dass der Eingang nicht von außen bewacht wurde, wenn sich das Oberhaupt der Shiro Ahali dahinter befand. Gerade weil Fremde in ihrer Stadt waren, würde Orla mehr Sicherheitsmaßnahmen erwarten. Selbst wenn die Elfen sie eingeladen hatten, blieb immer ein Restrisiko. Und sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass es hier niemanden gab, der Thalion seine Position neidete.

Die Flügeltür öffnete sich und Orla spürte Magie auf ihrer Haut kribbeln.

Durch den Türöffner? Oder war das ein Schutzzauber?

Kendrick schritt voran und sie folgten ihm langsam.

Staunend ließ sie den Blick durch den großen Saal schweifen. Er schien zu leben, überall wuchsen Pflanzen: Blumen, Pilze, Büsche und Bäumchen. Nicht etwa in Töpfen und Kästen, sie schienen ganz natürlich zu wachsen. Gras spross aus dem Boden, ein breiter Pfad aus weißem Kies führte zum hölzernen Thron. Die Decke spiegelte den tatsächlichen Himmel wider, hellblau und mit wenigen Schäfchenwolken. Das also war das Prickeln gewesen, das sie beim Eintreten gefühlt hatte.

Thalion Graumantel saß schweigend auf dem Thron. Sein langes Haar war schneeweiß und die Farbe seiner Augen ließ sich am besten mit flüssigem Silber beschreiben. Helle Tätowierungen schmückten wie filigrane Pflanzenranken seine bronzefarbene Haut.

Er sieht völlig anders aus als die Shiro Ahali, die mir bisher begegnet sind, dachte Orla. Ob das ein Geburtszeichen der Herrscher ist? Vielleicht werden Thronerben immer mit weißem Haar geboren? Nun wäre es wirklich praktisch gewesen, wenn ich die Bücher hätte lesen können, die sich mit diesem Volk beschäftigen …

Bestimmt hätte in denen auch etwas über die Magie in diesem Thronsaal gestanden. Aber diese Elfen wollten sämtliche Geheimnisse über sich für sich behalten. So blieb ihr nur weiter zu mutmaßen.

Kendrick formte einige komplizierte Handzeichen, verbeugte sich tief und sagte etwas in der Sprache der Shiro Ahali.

Thalion nickte und senkte sein Haupt als Erwiderung.

Orla warf ihren Freunden einen kurzen Blick zu. Nacheinander verneigten sie sich demütig und grüßten das Oberhaupt auf Elfisch. Dan ebenfalls, der die Sprache nicht beherrschte und einen furchtbaren Akzent hatte. Doch Orla war sicher, dass Thalion diese Geste zu schätzen wusste.

Der Elf erhob sich schließlich. »Ich heiße Euch willkommen. Ich hoffe, Euer Aufenthalt bisher war angenehm?«

»Ja, das war er«, antwortete Alea. »Vielen Dank für Eure Gastfreundlichkeit.«

»Eure Bibliothek ist wirklich beeindruckend«, fügte Orla hinzu.

Thalion lächelte sanft. »Das freut mich zu hören. Kendrick, dies sind Eure Gefährten, die Euch auf Eurer Mission begleiten werden. Sie nennen sich selbst ›Die glorreichen Sieben‹.«

»Und wo sind die restlichen vier?«, fragte Kendrick irritiert.

»Haben das Schiff verpasst und schwimmen noch«, antwortete Orla geflissentlich.

Auf Thalions Lippen legte sich der Anflug eines amüsierten Schmunzelns. Er deutete nacheinander auf sie. »Zuerst Alea Faris. Sie ist eine geschickte Kriegerin, hat in vielen Schlachten gekämpft und ist zudem eine erfahrene Waldläuferin. Daneben Orla Nyx Lilceli Folkor Nim Quigani, eine fähige Magierin. Sie hat die Akademie in Fairwick mit Bestnoten verlassen. Zuletzt Danwrick Reedfellow. Seine Fähigkeiten sind für die, sagen wir, heikleren Angelegenheiten bekannt.«

Kendrick runzelte fragend die Stirn.

»Ihr werdet schon sehen«, fuhr Thalion fort. »Ich habe diese Leute aufgrund ihres Könnens und ihres Rufs auserwählt, Eure Begleiter zu sein.«

Kendrick verneigte sich abermals. »Ich würde niemals an Euch zweifeln, Thalion Graumantel.«

Orla war beeindruckt, dass Thalion ihren vollständigen Namen aufsagen konnte ohne einmal zu stottern. Das gelang den Wenigsten. Allerdings wurde sie allmählich ungeduldig. Sie wollte endlich wissen, warum sie alle hier versammelt waren. Und ein wenig ärgerte es sie auch, dass Thalion sie nicht einmal gefragt hatte, ob sie die Mission überhaupt annahmen. Sie hatten keine Ahnung, worum es im Groben ging, von den Details ganz zu schweigen.

Dennoch sprach der Elf so, als hätten sie längst zugestimmt. Möglicherweise wurde ihre Anreise bereits als Einwilligung gesehen und es lag ein grundliegendes Kommunikationsproblem vor?

Thalion Graumantel setzte sich wieder. »Ihr seid nun lange genug im Dunklen gelassen worden. Lasst mich also direkt sagen, warum Ihr hier seid: Unsere Welt wird von einer Bedrohung heimgesucht, die verheerende Auswirkungen haben wird, wenn sie nicht gestoppt wird. Im Moment ist sie klein, aber sie wächst stetig. Und sie frisst.«

»Sie … frisst?«, wiederholte Dan. »Also ist es etwas Lebendes?«

»Teilweise«, antwortete Thalion. »Ist Euch die Kaltwüste bekannt?«

»Es ist der kälteste Ort Fallopias. Eine eisige Tundra, in der es kaum Leben gibt. Nur wenige kälteresistente Pflanzen und wenige Tiere. Sie befindet sich im Nachbarreich von Leopenia, in Ursapenia«, zitierte Orla, ohne Luft zu holen.

»Gerüchten zufolge soll sich im Dörrtal, das im Herzen der Wüste liegt, ein Portal in die Unterwelt befinden, das von einem magischen Siegel verschlossen gehalten wird«, fügte Dan hinzu.

Die Unterwelt. Orla würde lügen, wenn sie behauptete, sie wäre nicht daran interessiert, diesen Ort zu erforschen.

In früheren Zeiten hatten einige Völker, vor allem Menschen und Zwerge, die Unterwelt für das Jenseits gehalten. In alten Büchern fand man noch immer Zeichnungen, wie die Seele nach dem Tod hinabstieg und in einen breiten, endlos langen Fluss gezogen wurde.

Heutzutage wusste man, dass die Unterwelt ein physischer Ort war. Und ein sehr gefährlicher noch dazu. Dort hausten dämonische Kreaturen, lebende Tote und generell alles, was monströs aussah und dem man ungern im Dunklen begegnen wollte. Angeblich war sie auch der Quell für schwarze Magie – aber Orla glaubte nicht, dass so etwas existierte. Allerdings stimmte sie der Theorie zu, dass die Magie, die aus diesem Ort kam, verdorben war.

»Diese Gerüchte sind korrekt«, sagte Thalion. »Wir Shiro Ahali sind seit jeher die Wächter dieses Siegels.« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Leider waren wir … war ich nachlässig. Das Siegel ist gebrochen worden.«

Kurz entgleisten Aleas Gesichtszüge, doch sie fing sich rasch und setzte eine ernste Miene auf. »Das bedeutet, das Tor zur Unterwelt steht offen?«, fragte sie mit angespannter Kiefermuskulatur.

»Noch nicht. Das Siegel ist beschädigt, nicht zerstört.« Thalion stand wieder auf und trat an eines der hohen Fenster. »Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Ein seltsamer Nebel steigt aus dem Dörrtal auf und breitet sich dort wie eine Pestwolke aus.«

Orla beobachtete seine Spiegelung im Glas. Seine hellen Augen waren auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne gerichtet, seine Miene angespannt. Dennoch wahrte er Haltung.

Wie aufgewühlt war der Elf wirklich?

»Im Klartext: Wie schlimm ist es?«, fragte Dan. »Auf einer Skala von ›Verschüttetes Bier‹ bis ›Apokalyptisches Szenario des Todes‹?«

»Uns haben Berichte darüber erreicht, dass der Nebel in einigen Städten in Leopenia aufgetaucht ist. Innerhalb von Minuten hat er alles ins Chaos gestürzt und ist wieder verschwunden. In der ersten Stadt verstummten sämtliche Bewohner, die mit ihm in Berührung kamen. Ihre Stimmen verloren sich im Nebel und eine Heilung wurde noch nicht gefunden. Im nahe liegenden Dorf konnte man die Stimmen hören, bevor der Nebel es erreichte. Denjenigen, die von ihm berührt wurden, sind Fell oder Federn gewachsen. Seltsamerweise ist Ursapenia bisher nicht davon betroffen. Aber ich schätze, das hängt mit der chaotischen Natur des Phänomens zusammen. Morgen oder schon in der nächsten Minute kann sich das ändern«, antwortete Thalion.

Dan rieb sich den Nacken. »Also irgendwo zwischen ›Oh, Scheiße‹ und ›Alles brennt‹.«

Thalion schwieg kurz. »Ja.«

»Dann ist noch Luft nach oben«, murmelte Alea.

Orla war unangenehm flau im Magen geworden, während Thalion gesprochen hatte. Es stand außer Frage, dass sie helfen würden, das Siegel zu erneuern. Egal wie spannend es klang, einen Zugang zur Unterwelt zu haben: Wenn schon ein kleiner Riss im Siegel derart heftige Folgen hatte, wollte sie nicht wissen, was geschah, wenn das Tor offen stand.

Kendrick räusperte sich. »Erlaubt Ihr mir, zu sprechen?«

Thalion sah über die Schulter und nickte.

Offenbar hatte Kendrick die ganze Zeit darauf gewartet, ebenfalls das Wort ergreifen zu dürfen. »Es war vorherbestimmt, dass das eines Tages geschieht. Ich bin als Mensch unter den Shiro Ahali aufgewachsen und genau darauf vorbereitet worden. Sie haben mich schon als kleinen Jungen auserwählt und für diese Aufgabe ausgebildet. Und nun wird sich endlich mein Schicksal erfüllen. Ich bin der beste Schwertkämpfer, den Ihr hier finden werdet.«

Alea musterte ihn skeptisch von unten bis oben.

Orla hatte Kendrick kaum zugehört. Sie verarbeitete noch, was Thalion ihnen offenbart hatte.

»Dann müssen wir uns zur Kaltwüste durchschlagen und das Siegel reparieren, richtig?«, fragte Dan.

»Theoretisch liegt Ihr richtig. Allerdings kann das Dörrtal nicht mehr betreten werden.« Thalion drehte sich wieder zu ihnen um. »Zumindest nicht ohne die richtigen Vorbereitungen. Der Nebel umhüllt es wie eine Mauer. Jeder Versuch, zum Dörrtal vorzudringen, ist zum Scheitern verurteilt. Ihr müsst einen Weg finden, diese Barriere zu zerstören, um den Schaden zu beheben, der angerichtet wurde. Und Ihr müsst denjenigen aufspüren, der dafür verantwortlich ist, damit er dafür bestraft werden kann.«

Das war eine große Aufgabe für nur vier Personen.

Er sagte, wir sind aufgrund unserer Fähigkeiten ausgewählt worden. Aber das hier … das hier ist was ganz anderes als unsere bisherigen Abenteuer. Vielleicht besitzt Kendrick eine Gabe, von der bisher niemand weiß? Solche Auserwählten haben doch immer irgendwelche Tricks im Ärmel.

Orla fragte sich, was es mit der ganzen Prophezeiung auf sich hatte, die Kendrick am Rande erwähnte.

»Natürlich werden wir Euch für Eure Reise ausrüsten.« Thalion wandte sich an den Auserwählten. »Kendrick, würdet Ihr bitte Eldrian Bescheid geben, dass er alles für Euren Aufbruch vorbereiten soll? Ich hätte gerne noch einige private Worte mit Euren Gefährten.«

Kendrick schien unzufrieden damit zu sein, doch er gehorchte. Er verabschiedete sich respektvoll und verließ den Saal. Als die Tür hinter ihm zufiel, seufzte Thalion leise.

»Kendrick ist der Einzige, der das Siegel wiederherstellen kann«, sagte das Oberhaupt und setzte sich. »Wie er schon sagte: Es war vorherbestimmt, dass es eines Tages zerstört werden würde. Wir Shiro Ahali wussten, dass es geschehen wird, aber nicht wann oder wie. Prophezeiungen wie diese sind immer unspezifisch, wie Euch vielleicht bekannt ist. Vielleicht war es keine Nachlässigkeit, sondern einfach Schicksal, dass es letztlich geschehen ist.«

»Warum ist er der Einzige, der etwas dagegen tun kann?«, fragte Orla. »Wirklich besonders wirkt er auf mich nicht.«

»Die Prophezeiung besagte, dass der Auserwählte ein blonder Jüngling sein wird, der zu einer bestimmten Zeit unter einem besonderen Stern geboren wird. Zu erkennen an dem kronenförmigen Muttermal an seiner Hüfte«, antwortete Thalion. »Das traf auf Kendrick zu. Glaubt mir, wir haben alles getan, um jeglichen Irrtum auszuschließen.«

Orla musterte ihre Freunde und sie schien nicht die Einzige zu sein, die erheblichen Zweifel an der sogenannten Prophezeiung hatte.

Das ist idiotisch. Wie viele Kinder sind noch zu dieser Zeit und an diesem Tag geboren worden? Und ernsthaft: Ein Muttermal an der Hüfte zeichnet den Auserwählten aus?

»Ist er wirklich ein so guter Krieger?«, fragte Alea.

»Der beste menschliche in der Stadt. Leider haben seine Aufsichtspersonen ihn mehr verzogen als trainiert. Sie haben ihm in den Verstand gemeißelt, wie besonders er ist, und das ist ihm zu Kopf gestiegen.« Thalion sah sie eindringlich an. »Deshalb brauche ich Euch. Ihr müsst auf ihn achtgeben, damit er seine Aufgabe erfüllt. Wenn das Siegel im Dörrtal bricht, ist unsere Welt dem Untergang geweiht.«

Das konnte ja heiter werden. Orla wechselte einen vielsagenden Blick mit ihren Freunden. Einerseits gefiel ihr die Vorstellung gar nicht, über einen unbestimmten Zeitraum mit diesem Kendrick umherzureisen.