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›Du bist schuld daran, dass ein Vampir sein Unwesen treibt. Du bist schuld am Tod deines besten Freundes.‹ Clay hat den Vampir Krátos von seinem jahrhundertelangen Bann befreit und ihm damit ermöglicht, seinen Rachefeldzug zu beginnen. Von schrecklichen Gewissensbissen geplagt, beginnt der Schüler, ein dunkles Flüstern in seinem Kopf zu hören. Es weckt eine nie gekannte Aggression in ihm und nährt den zerstörerischen Wunsch nach Vergeltung. Sowohl für das, was Krátos ihm angetan hat, als auch für die Schikanen, die er jahrelang in der Schule erleiden musste. Doch diese Rachgier könnte nicht nur seinen Feinden gefährlich werden, denn Clay und seine Freunde ahnen nicht, dass sich die Fronten verschoben haben. Es ist nicht länger Krátos, den die Jugendlichen fürchten müssen, sondern das Böse, das bereits unter ihnen weilt. Und das vom Vampirjäger John unermüdlich geschürt wird.
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Seitenzahl: 414
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Informationen zum Buch
Impressum
Widmung
Kapitel 1 - Clay
Kapitel 2 - John
Kapitel 3 - Krátos
Kapitel 4 - Clay
Kapitel 5 - John
Kapitel 6 - Clay
Kapitel 7 - Yve
Kapitel 8 - Krátos
Kapitel 9 - Dawn
Kapitel 10 - John
Kapitel 11 - Krátos
Kapitel 12 - Leander
Kapitel 13 - Julie
Kapitel 14 - Danny
Kapitel 15 - Krátos
Kapitel 16 - Clay
Kapitel 17 - John
Kapitel 18 - Danny
Kapitel 19 - Dawn
Kapitel 20 - Krátos
Kapitel 21 - Clay
Kapitel 22 - John
Kapitel 23 - Clay
Kapitel 24 - Krátos
Kapitel 25 - Leander
Kapitel 26 - Krátos
Kapitel 27 - Clay
Nachwort
Jamie L. Farley
Rabenjagd
Band 2: Finstere Nacht
Fantasy
Rabenjagd (Band 2): Finstere Nacht
›Du bist schuld daran, dass ein Vampir sein Unwesen treibt. Du bist schuld am Tod deines besten Freundes.‹
Clay hat den Vampir Krátos von seinem jahrhundertelangen Bann befreit und ihm damit ermöglicht, seinen Rachefeldzug zu beginnen. Von schrecklichen Gewissensbissen geplagt, beginnt der Schüler, ein dunkles Flüstern in seinem Kopf zu hören. Es weckt eine nie gekannte Aggression in ihm und nährt den zerstörerischen Wunsch nach Vergeltung. Sowohl für das, was Krátos ihm angetan hat, als auch für die Schikanen, die er jahrelang in der Schule erleiden musste.
Doch diese Rachgier könnte nicht nur seinen Feinden gefährlich werden, denn Clay und seine Freunde ahnen nicht, dass sich die Fronten verschoben haben. Es ist nicht länger Krátos, den die Jugendlichen fürchten müssen, sondern das Böse, das bereits unter ihnen weilt. Und das vom Vampirjäger John unermüdlich geschürt wird.
Der Autor
Jamie L. Farley wurde 1990 in Rostock geboren. 2010 zog er nach Leipzig und machte dort eine Ausbildung zum Ergotherapeuten. Schnell merkte er jedoch, dass das nicht der richtige Job für ihn ist, weshalb er sich entschlossen hat Pokémontrainer zu werden. Er ist in Leipzig geblieben und wohnt zusammen mit seiner besten Freundin Anika, einer Ente namens Dave und dem Haus-zombie Bradley in einer WG. Neben der Schreiberei gehören Videospiele zu seiner liebsten Freizeitbeschäftigung. Nach dem Veröffentlichen von zwei Kurzgeschichten, erschien sein Debüt ‚Adular (Band 1): Schutt und Asche‘ Anfang 2019 im Sternensand Verlag.
www.sternensand-verlag.ch
1. Auflage, Januar 2017
© Sternensand-Verlag GmbH, Zürich 2017
Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss
Lektorat / Korrektorat: Martina König | Sternensand Verlag GmbH
Illustration Krátos: Judith Pleiner
Landkarte: Corinne Spörri | Sternensand Verlag GmbH
Satz: Sternensand Verlag GmbH
ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-277-9
ISBN (epub): 978-3-03896-278-6
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Für Juliane
Danke für deine treue Freundschaft und Unterstützung.
Ob als Testleserin, Standhelferin oder im Pikachu-Onesie durch die Leipziger Innenstadt, um ein Happy Meal zu kaufen.
#TeamZwerg
Es war früher Samstagmittag. Clay hatte sich zusammen mit seinen Freunden Danny und Dawn bei ihr zuhause getroffen. Während die beiden noch einmal durchgingen, was sie in letzter Zeit über Vampire und die Jagd gelernt hatten, hatte Clay seinen Skizzenblock rausgeholt. Dannys Golden Retriever Farin lag neben ihm und döste schnarchend.
Vor einer Woche waren sie zuletzt bei dem Vampirjäger John im Haus gewesen, um ihm von den Ereignissen zu berichten, die sich am vorherigen Abend zugetragen hatten. Yve, eine ehemalige Klassenkameradin von Dawn und Clay, hatte die beiden auf dem Heimweg attackiert und ihn bis zur Bewusstlosigkeit geprügelt. Er hatte eine geprellte Schulter, einige Hämatome und eine Platzwunde an der Wange davongetragen, die hatte genäht werden müssen. Wesentlich interessanter für John war jedoch die Tatsache gewesen, dass Krátos ihnen geholfen hatte. Ausgerechnet der Mann, den sie als rachsüchtigen und blutrünstigen Mörder kennengelernt hatten. Egal wie gründlich Clay darüber nachdachte, er konnte sich dieses Verhalten nicht erklären. Eventuell war es wirklich eine Manipulationstaktik, wie der Jäger behauptete.
Ich kann mir aber vorstellen, dass er sich … in gewisser
Weise in dir wiedererkennt. Möglicherweise sieht er in dir einen
Verbündeten? Johns Worte verfolgten ihn seither wie ein böser Geist. Es kann sein, dass er dich nicht tötet, wenn er dich in die Fänge bekommen sollte. Sondern, dass er dich in einen Vampir verwandelt.
Seitdem hatten sie John nur ein weiteres Mal gesehen. Das letzte Treffen hatte gestern in den Ruinen im Wald stattgefunden und es war anders gewesen als die zuvor.
Clay konnte nicht genau beschreiben, was sich verändert hatte. Vielleicht war es nur ein Gefühl. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass er abermals mit Yve konfrontiert gewesen war und so tun musste, als hätte sie ihn letzte Woche nicht in die Notaufnahme geprügelt. Die frischen Narben in ihrem Gesicht hatten furchtbar ausgesehen. Laut John habe Krátos ihr diese Wunden zugefügt als Strafe dafür, dass sie Clay angegriffen hatte.
»Mein neuer Lieblings-Fun-Fact über Vampire is’ ja der: Das Haar von Vampiren wächst nach der Verwandlung nich weiter«, sagte Danny. Er strich sich mit einer Hand durch den grünblau gefärbten Iro. »Schneidet man es ab, wächst es zwar nach, aber nur bis zur ursprünglichen Länge.«
Clay schielte von seiner Zeichnung zu ihm.
»Das heißt, würdest du jetzt zum Vampir werden, müsstest du für den Rest deines Lebens mit dieser Frisur rumlaufen«, bemerkte Dawn. Sie hob eine kupferrote Strähne vor ihre Augen und musterte sie nachdenklich. »Ich würde meine Haare vorher mindestens bis zur Hüfte wachsen lassen. Falls ich mir im Laufe meiner Unsterblichkeit doch mal wünschen sollte, arschlange Haare zu haben.«
»Und ich müsste nich ständig mit der Haarmaschine die Seiten nachbearbeiten«, erwiderte Danny. »Also, ich fänd’s cool.«
»Meinst du?« Dawn klang wenig überzeugt. »Ich glaube, nach dreihundert Jahren bist selbst du aus der Punk-Phase rausgewachsen.«
Danny schnaubte. »Du klingst fast wie meine Mutti. Einmal Punk, immer Punk. Und zur Not greift man halt auf Perücken zurück.«
›Die beiden sind sich ziemlich nahegekommen, oder?‹
Ein Gedanke, der sich wie eine fremde Stimme aus seinem Verstand erhob. Es war ein garstiges und gleichzeitig sanftes Flüstern.
Clay runzelte die Stirn. Im ersten Moment störte ihn das nicht. Aber manchmal verselbstständigten sich seine Gedanken, schweiften ab. Wenn er ihnen den Freiraum ließ, klangen sie in seltenen Fällen wie ein Hörspiel, das exklusiv in seinem Kopf lief. Natürlich waren Dawn und Danny enger zusammengewachsen, nachdem Stan gestorben war …
›Stan ist nicht einfach gestorben‹, unterbrach die Stimme seine Gedanken. ›Er wurde ermordet. Krátos hat ihn bis auf den letzten Blutstropfen ausgesaugt.‹
In dem Verlies unterhalb der Ruinen im Talinnger Wald, in dem sie vor einem Jahr den Sarg gefunden hatten.
›Und das konnte er nur tun, weil du den Sarg geöffnet und den Bann gebrochen hast. Dawn weiß das auch. Kein Wunder, dass sie Danny mittlerweile lieber mag als dich. Sieh dir an, wie sie sich anfassen!‹
Er warf seinen Freunden einen Blick zu. Dawn tätschelte Danny gerade kopfschüttelnd die Schulter. Selbst im Sitzen war er, der stehend über einen Meter neunzig maß, fast einen halben Kopf größer als sie. Hatte Clay einen Witz verpasst? Sie wirkte amüsiert. Ein flaues Gefühl verbreitete sich wie ein Ölfilm in seiner Magengegend.
So ist Dawn eben, antwortete er seinem Gedanken. Sie stellt gerne Körperkontakt her.
Clay stützte das Kinn auf die linken Fingerknöchel und führte den Bleistift vorsichtig über die Seite. Er hatte versucht, den Vampir zu zeichnen. Nach Dawns Beschreibung und seinen Skizzen, die er von Krátos angefertigt hatte, als er ihn vor knapp einem Jahr in einem Sarg gefunden hatte.
Krátos war mit vielleicht Mitte dreißig verwandelt worden. Er hatte ein markantes Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem spitzen Kinn. Seine Züge waren scharf geschnitten, ein gestutzter Bart bildete mit dem zerzausten schwarzen Haar einen auffälligen Kontrast zu der marmornen Haut.
›Wieder eine Paralelle zu dir‹, flüsterte die Stimme. ›Die gleiche Haarfarbe, blass und von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet. Nur dass Krátos natürlich um ein Vielfaches attraktiver ist als du. Aber wenn du es genau nimmst, ist das fast jeder.‹
Clay hatte möglichst detailliert gearbeitet. Gerade die Gesichter von Menschen übten in ihrer Vielfältigkeit seit jeher eine gewisse Faszination auf ihn aus. Er hatte im Laufe der Zeit ein gutes Gedächtnis dafür entwickelt.
Er legte den Bleistift zur Seite. Bisher hatte er nur eine Büste gezeichnet und dachte darüber nach, sich an einem Ganzkörperporträt zu probieren. Dawn hatte Krátos’ Körperbau als schlank und sehnig beschrieben. Mit feingliedrigen Händen, die vornehm und zugleich außergewöhnlich kräftig wirkten.
Seine Augen seien betörend gewesen, hatte sie gesagt. Klar, wachsam und leuchtend grün. Sie haben regelrecht aus der Dunkelheit geglommen.
Clay ließ seine Finger über einer Auswahl an grünen Buntstiften schweben. Für Dawns Augenfarbe würde er sich an frischem Moos orientieren. Welcher Ton passte wohl zu Krátos?
Smaragd? Oder etwas Giftiges?
»Würd’s helfen, wenn ich mein T-Shirt ausziehe?«, fragte Danny.
Clay blinzelte irritiert und sah zu den beiden. »Bitte?«
Dawn schüttelte grinsend den Kopf. »Wenn du das Bedürfnis dazu hast, nur zu.«
Danny zog sich sein T-Shirt, auf dem Johnny Cash dem Betrachter den Mittelfinger zeigte, über den Kopf.
»Braucht ihr einen Moment für euch?«, fragte Clay amüsiert.
»Kannst gerne mitmachen«, antwortete Danny und zwinkerte.
»Wir erledigen gerade unsere ›Hausaufgaben‹, die John uns gestern aufgetragen hat«, erklärte Dawn. »Das Herz auf Anhieb finden. Je sicherer wir wissen, wohin wir stechen müssen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir im Notfall darauf zurückgreifen können.« Stirnrunzelnd musterte sie Dannys nackte Brust. Man sah ihm an, dass er dem Sport eher ab- und Pizza zugeneigt war. Er war nicht dick, hatte aber bestimmt zwei, drei Kilo zu viel auf den Rippen. Während man die von Clay einzeln zählen konnte, weil er zu dünn war. »Auch wenn die Chance gering ist. Vampire sind schneller und stärker als wir. Es kostet Überwindung, jemanden mit einem Messer zu stechen. Und dann ist es sehr gut möglich, dass wir im Eifer des Gefechts nicht treffen.«
Clay dachte an Johns erste Lehrstunde zurück. An die Vampirin, die er ihnen vorgeführt hatte.
Dawn drückte den Zeigefinger gegen Dannys Brust und warf einen prüfenden Blick in das Anatomiebuch auf ihrem Schoß. »Dritte Rippe rechts … um zirka vierzig Grad zur Seite geneigt … Da sollte es sein.«
»Glaubt ihr … Denkt ihr, John wird uns bald dazu drängen, einen Vampir zu pfählen?«, fragte Clay leise.
Ihm gefiel schon der bloße Gedanke nicht. Er wollte niemanden verletzen, der wehrlos gefesselt vor ihm lag. Erst recht nicht, wenn derjenige nichts anderes verbrochen hatte, als ein bisschen mehr Zahnschmelz zu haben.
›Und wenn Krátos vor dir sitzt?‹, flüsterte es in sein Ohr. ›Würde es dir dann leichter fallen?‹
Möglicherweise wäre es so. Wenn es bedeutete, dass sie danach alle sicher waren, würde Clay sich dazu überwinden können.
In seinem Fall wäre es Notwehr … oder?
»Zuzutrauen is’ es ihm«, murrte Danny. »Werde ich aber nich machen. Da kann er sich auf’n Kopp stellen, und Dracula zitieren. Ich ramme niemandem ein Messer in die Brust.«
Dawn spielte mit dem Stecker in Form eines vierblättrigen Kleeblatts in ihrem Ohrläppchen. »Ich denke, er zieht das jetzt wirklich durch und will Jäger aus uns machen.«
»Wie gesagt: ohne mich«, wiederholte Danny. »Pokémontrainer werden? Klar. Vampirjäger? Nee.«
Clay musterte seine Zeichnung. Er klappte das Skizzenbuch zu, holte einen dunklen Filzstift aus dem Etui und rutschte näher an die anderen beiden heran. »Halt mal still.«
Er nutzte die Vorlage im Buch, das Dawn aufgeschlagen hatte, und malte in groben Zügen ein Herz auf Dannys breite Brust. »So ungefähr?«
Dawn verglich die Abbildung mit seiner Zeichnung und nickte bedächtig. »Auch wenn es natürlich nicht so frei liegt.« Sie tippte gegen Dannys Brustbein. »Das Sternum ist im Weg. Die einzige Möglichkeit, es relativ gut zu erwischen, ist, zwischen zwei Rippen zu stechen.«
Sie verfielen in nachdenkliches Schweigen.
Clay drehte seinen Kopf und sah aus dem Fenster. Aschgraue Wolken hingen am Himmel und es schneite leicht. Er glaubte nicht, dass etwas davon liegen blieb. Es war Dezember und die Weihnachtsferien nahe. John hatte bereits angekündigt, dass er in dieser Zeit, wenn sie nicht mit der Schule beschäftigt waren, mehr denn je ihre Aufmerksamkeit forderte.
Clay fragte sich, wie lange es dauerte, einen Vampir zu beseitigen. Krátos hielt sich ja offenbar in der Stadt auf. Thalbonn war nicht groß und sie waren ihm bereits mehrfach begegnet. Wie schwer mochte es sein, dem Vampir eine Falle zu stellen? Wenn es half, alles zu beenden, würde Clay sich sogar als Köder anbieten. Hauptsache, sie konnten endlich in ihr altes Leben zurück.
›Mach dir nichts vor. Es wird nicht wie früher. Nie mehr.‹
Eine Welle von Schuldgefühlen wusch eiskalt über ihn hinweg und er spürte, wie sich die Haare in seinem Nacken aufstellten.
›Du bist schuld daran, dass ein Vampir sein Unwesen treibt. Du bist schuld am Tod deines besten Freundes.‹
Die Stimme sprach aus, was ihn in schlaflosen Nächten verfolgte. Clay drehte sich der Magen um und er bereute jeden Bissen, den er zum Frühstück gegessen hatte.
Alles, was gerade passierte, geschah nur, weil er zu neugierig gewesen war und die verdammte Kiste geöffnet hatte. Hätte er einfach auf seinen klaren Menschenverstand gehört, der ihm deutlich gesagt hatte, dass es dumm sei, einen alten Sarg zu öffnen, wäre das alles nicht passiert. Dann würde Stan mit ihnen in dieser Runde sitzen.
»Ich würde gerne mal mit ihm sprechen«, sagte Danny plötzlich.
Clay drehte den Kopf zu ihm.
»Mit Krátos, mein ich.« Er zog sich sein T-Shirt über. »Vielleicht lässt er ja mit sich reden? Er hat euch das letzte Mal vor Yve beschützt. Wäre er nich gewesen, dann hätte der Typ, der bei ihr war, Dawn bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt. Und wie schlimm Yve Clay noch zugerichtet hätte, lässt sich auch nur erahnen.«
»Aber er hat Yve anschließend auch das Gesicht zerschnitten«, merkte Dawn an.
»Wenn es wahr ist, dass Krátos … sich in mir wiedererkennt, dann hat er das vielleicht sogar in meinem Namen getan«, murmelte Clay unwohl.
Danny strich mit dem Daumen über die Tätowierung auf seinem Handgelenk. Sie zeigte den schwarzen Pfotenabdruck seines Hundes vor einem roten Pinselstrich. »Wenn er es überhaupt war, der Yve verletzt hat.«
»Wie meinst du das?«, wollte Dawn wissen.
Danny schwieg einen Moment länger, ehe er eine Antwort formulierte. »Die Frau hängt mit ziemlich komischen Typen ab. Was is’, wenn der Kerl, der beim Überfall dabei war, sie so zugerichtet hat? Weil er angepisst war? Oder wenn irgendjemand, dem sie Medikamente vertickt hat, auf ’nem Trip war?«
Dawn zupfte nachdenklich am Ärmel ihres grünkarierten Holzfällerhemds. »Ganz davon abgesehen, dass Yve sich allein durch ihren Charakter überall Feinde macht. Würde mich nicht wundern, wenn eines ihrer Opfer die Schnauze voll hatte und sie mal einstecken musste.«
»Ja, genau«, pflichtete Danny bei. »Und weil es gut in sein Narrativ vom bösen Vampir passt, hat John behauptet, Krátos wäre es gewesen.«
Ein dunkles Kichern hallte durch Clays Innenohr. ›So ein Idiot. Auf wessen Seite steht er eigentlich?‹
Ihm wurde immer kälter. »Erstens: Warum sollte Yve da mitspielen? Und zweitens: Seit wann sind wir davon abgerückt, dass Krátos der Täter ist?«
»Seit er dir und Dawn nix angetan hat«, antwortete Danny. »Obwohl du geblutet hast. Laut John sind Vampire wie Haie und drehen sofort durch, wenn sie Blut riechen.«
Es ist mir vollkommen egal, dachte Clay. Der Dreckskerl hat Stan ermordet. Das ist alles, was für mich zählt.
›Und dafür wird er büßen‹, flüsterte die Stimme. ›Dafür wird er leiden. Bluten.‹
»Dazu kommt, dass auch Yve nicht gebissen wurde«, merkte Dawn an. »Ja, irgendetwas ist da seltsam.«
»Und genau deshalb will ich Krátos’ Version hören. Außerdem … wie cool wär’s denn, mit ’nem Vampir zu sprechen? Einem echten, einigermaßen lebenden Vampir?«, fügte Danny hinzu, offenbar bemüht, die Stimmung zu lockern.
Dawn gluckste, doch es klang etwas gezwungen.
Clay gab zu, dass auch er den Gedanken verlockend fand. Denn eigentlich war er fasziniert von Vampiren. Allerdings hatte er sie lieber gemocht, als sie noch ein Mythos für ihn gewesen waren.
»Stimmt schon«, murmelte er und rieb sich über die Arme, um die Gänsehaut zu vertreiben. »John erzählt zwar viel, aber halt nur Negatives.«
»Es kann da draußen nicht nur böse Vampire geben«, stimmte Dawn zu. »Denke da zum Beispiel an die arme Nayeli. Ich hoffe wirklich, dass es ihr gut geht …«
Clay erinnerte sich ungern an diese erste Lehrstunde unten im Verlies zurück. Es war nach wie vor verstörend. Die Vampirin Nayeli, die gefesselt vor ihnen saß. John, der sein Referat über ihre Art hielt. Und Yve, die viel zu viel Spaß an alldem gehabt hatte.
»Ich wüsste gerne, wie ein Vampir selbst über sich spricht«, fuhr Clay fort. »Wie sie die Welt wahrnehmen. Wie es ist, mehrere Jahrhunderte alt zu sein.«
Danny nickte eifrig. »Das meine ich. Stell dir vor, du triffst jemanden, der live bei so was wie der Französischen Revolution dabei war. Der miterlebt hat, wie die ersten Autos gebaut und in Betrieb genommen wurden.«
Das flaue Gefühl in Clays Magen ebbte allmählich ab. »Könnten Krátos ja fragen, ob er zu einem Interview bereit wäre.«
Dawn rückte zum dösenden Hund und kraulte ihm sanft den Bauch. Farin wälzte sich wohlig brummend auf den Rücken. »Ernsthaft, wenn du mich als professionellen Unsterblichen fragen würdest, ob du ein ›Interview mit einem Vampir‹ führen darfst, würde ich dich aber so was von verprügeln. Nur wegen des Witzes.«
»Professioneller Unsterblicher?«, wiederholte Clay amüsiert. »Gibt’s die auch in stümperhaft?«
Dawn zog eine Braue hoch. »Ja. Wenn sie in der Sonne glitzern und funkeln, statt brav zu verbrennen.«
Danny lachte und auch Clays Lächeln wurde breiter. »Touché. Denke nicht, dass Krátos den Film kennt. Oder überhaupt irgendeinen. Der würde den Gag also nicht verstehen und ich könnte unbedarft weitermachen.«
»Hab den auch noch nie gesehen«, gestand Danny.
Clay sah ihn gläubig an. »Bitte, was?«
Danny zuckte mit den Schultern. »Hab mich bisher nich so für Vampire interessiert. Fand Werwölfe immer cooler. Farin mag die auch lieber, oder?«
Beim Klang seines Namens zog der Golden Retriever die Lefzen zu einem animalischen Lächeln hoch und wedelte mit dem Schweif.
»Das sollten wir dringend nachholen. Ich hab den Film zu Hause. Und das Buch auch. Eigentlich die ganze Reihe«, erwiderte Clay eifrig. »Und wenn wir schon dabei sind, auch diverse wirklich gute Dracula-Verfilmungen.«
»Ach, Clemens. Du bist so niedlich, wenn du dich für etwas begeisterst«, sagte Dawn liebevoll.
›Dein bester Freund wurde von einem echten Vampir ermordet und du denkst darüber nach, dir diese Filme anzusehen?‹, zischte die düstere Stimme in seinem Hinterkopf. ›Wie kannst du so viel Freude für das Thema aufbringen, wenn Krátos da draußen auf euch lauert?‹
Clays Herz sank der Dunkelheit entgegen, die Stans Tod und die Depressionen in seiner Seele hinterlassen hatten. Wie hatte er diesen Vorschlag nur machen können? Dawn und Danny mussten ihn für ein unsensibles Arschloch halten.
Die Stimmen seiner Freunde gerieten zunehmend in den Hintergrund. Clay starrte gedankenverloren auf seine schwarze Hose, während das Flüstern zunehmend lauter wurde. Wie konnte er, nach allem, was passiert war, Vampire noch faszinierend finden? Sollte nicht eher Angst und Wut vorherrschen?
›Bei einem normalen Menschen würden sie das. Aber du warst schon immer irgendwie krank. Krátos wird jeden töten, den du liebst. Alles ist deine Schuld. Du wirst alles verlieren und du verdienst es.‹
Farins Bellen riss ihn aus den Gedanken. Der Hund kuschelte sich fordernd an ihn. Er streckte den Kopf zwischen Clays Arm und Oberkörper; schob sich vor, bis er halb auf seinem Schoß lag und leckte an seiner Wange.
»Was hast du denn auf einmal?«, fragte Clay überrumpelt und drückte die kalte Hundeschnauze von sich weg. »Alles gut, Flausch.«
»Farin is’ ein sehr sensibler Hund«, erklärte Danny. »Er hat gemerkt, dass sich bei dir wieder das Gedankenkarussell dreht.«
Clay musterte den Golden Retriever schweigend. Das, was ihm eben durch den Kopf gegangen war, hatte sich nach mehr angefühlt als nach den üblichen düsteren Gedanken. Er hatte eine Stimme vernommen, die definitiv nicht in seinen Verstand gehörte. Es ist der Stress, dachte er. Und ich bin ein zu kreativer Mensch. Meine Fantasie geht mit mir durch.
»Demnächst großer Vampirfilmabend bei mir?«, fragte Danny. »Wir bestellen Pizza und machen die Nacht durch.«
Dawn seufzte. »Ich weiß nicht so recht. Einerseits könnte es helfen. Andererseits …«
»Fühlt es sich nach allem, was passiert ist, nicht richtig an«, murmelte Clay.
»Können auch ’nen Herr der Ringe-Marathon machen. Oder Star Wars gucken.« Danny zuckte mit den Schultern. »Hauptsache, wir sitzen zusammen und essen Pizza. Nächstes Wochenende?«
»Klar, gern doch«, antwortete Dawn fröhlich.
Clay nickte still und blickte zurück zum Hund, der noch immer eng an ihn geschmiegt lag.
Viele Jahrhunderte zuvor.
Jonathan Alexander Charles William Hopkins, benannt nach seinen Vorvätern und meistens schlicht John gerufen, entsprang einer langen Blutlinie von Jägern. Die Familie Hopkins war ein altes britisches Adelsgeschlecht, das ihre Söhne seit jeher darauf vorbereitete, alles zu vernichten, was nicht menschlich war. Dämonen, Geister, Vampire, Werwölfe. Diese Kreaturen waren Missgeburten und ihrer Existenz nicht würdig. Er hatte die Tatsache, dass seine Familie über allem, ob untot oder nicht, erhaben war, förmlich mit der Muttermilch aufgesogen.
Einmal im Jahr, zum Geburtstag des Familienoberhaupts Jonathan Sr., kam die ganze Sippe zusammen. Großeltern, Onkel und Tanten, Brüder, Schwestern, Nichten und Neffen.
John richtete ein letztes Mal seine Kleidung. Die Kutsche stand schon bereit. Im Nebenraum hörte er, wie seine Frau die beiden Söhne zur Eile antrieb. Es war Zeit, um aufzubrechen.
»Vater?« Sein Elfjähriger streckte den Kopf ins Zimmer. »Mutter möchte wissen, ob du fertig bist.«
John schenkte ihm ein seltenes Lächeln. »So gut wie.«
Der Junge kam auf ihn zu, als er ein kleines in Leder geschlagenes Buch aus einer verschlossenen Schublade holte. »Was ist das?«
John legte die Hand auf den Kopf seines Sohnes und streichelte ihm sanft durchs dunkelblonde Haar. Viel häufiger holte eben diese Hand zum Schlag gegen das Kind aus. Deshalb verkrampfte sich der Junge zunächst und zog die Schultern hoch. Doch als nach einigen Sekunden nichts Schmerzhaftes geschah, entspannte er sich wieder. »Eine Überraschung für die Feier«, antwortete John leise.
Die braunen Augen des Jungen leuchteten neugierig. Er lehnte sich an seine Seite und genoss sichtlich die rar gesäte liebevolle Zuwendung seines Vaters. John war schlichtweg kein sonderlich fürsorglicher Mann. Liebesbekundungen und Zärtlichkeiten hielt er für überflüssig. Er war so erzogen worden, dass man sich Liebe und Anerkennung hart erarbeiten musste. Dabei war er seiner Meinung nach noch sehr gnädig mit seinen Söhnen. Sein eigener Vater hatte ihn regelmäßiger und wesentlich härter verprügelt.
»Kannst du es mir schon verraten?«, flüsterte sein Sohn.
»Nein.« John schmunzelte. »Du wirst dich gedulden müssen.«
Er verstaute das Buch in seinem Koffer. Dann verließ er mit seinem Jüngsten den Raum, erlaubte ihm sogar, seine Hand zu halten. Er schickte ihn und seinen vier Jahre älteren Bruder vor und wies sie an, sich in die Kutsche zu setzen.
Seine Gattin hatte nie so schön ausgesehen wie heute. Ihr dunkelrotes Kleid, das lange braune Haar und ihre rosige Haut. Sie trat an ihn heran und richtete seinen Mantelkragen. Der süße Duft ihres Parfüms wehte ihm in die Nase.
»Du weißt, dass ich gut und gerne auf deine Familienfeiern verzichten kann«, murmelte sie missbilligend. »Ich schwöre dir, sollte sich dein Bruder wieder halb in die Besinnungslosigkeit saufen, werde ich ihm nicht noch einmal helfen, in sein Bett zu kommen.«
John antwortete nicht. Seine Frau war klug und entschlossen, ihr Verstand ebenso scharf wie ihre Zunge. Sie war aufmüpfig, ungehorsam und eigenwillig; brüllte zurück, wenn er sie im Streit anschrie. Und damit trieb sie ihn regelmäßig zur Weißglut. Egal wie oft er sie dafür gezüchtigt hatte – seine Frau blieb unerschütterlich.
Vielleicht fand er deshalb etwas an ihr. Und vielleicht hätte er sie in einem anderen Leben tatsächlich geliebt. In diesem hatte es nur für eine Zweckehe gereicht.
Seine Frau musterte ihn fragend. »John?«
»Sollte Theodore dir noch einmal in seinem betrunkenen Zustand an den Hintern fassen, breche ich ihm den Arm. In Ordnung?« Er beugte sich vor und küsste sie.
Überrascht zog sie die Brauen hoch. »Womit habe ich das denn verdient?«
»Sagen wir, ich habe heute außerordentlich gute Laune«, antwortete er und bot ihr seinen Arm an.
Sie lächelte, hakte sich bei ihm unter und ließ sich von ihm zur Kutsche führen.
Als sie die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatten, waren seine Frau und die beiden Söhne tot. Der Kutscher war angewiesen, weiterzufahren und jegliche Geräusche zu ignorieren. Zu seinem Glück tat er das auch.
John hatte das aufgeschlagene Buch auf dem Schoß und beobachtete schweigend, wie das Blut seiner Familie in den Seiten versickerte.
Er streifte zuerst die Handschuhe ab, ehe er sich seiner restlichen blutigen Kleidung entledigte.
Der Jäger prüfte mit dem Handspiegel seiner Frau, ob sich rote Sprenkel in seinem Gesicht befanden und stellte zufrieden fest, dass seine Haut sauber war. Dann holte er die Wechselkleidung aus dem Koffer und zog sich um.
Es war Abend, als er das Hopkins Anwesen erreichte. Seine Mutter empfing ihn freudig, und er entschuldigte seine Familie.
»Sie haben sich einen Virus eingefangen, fürchte ich«, erklärte er. »Deshalb sind sie zu Hause geblieben und hüten das Bett.«
»Zu schade.« Mutter seufzte. »Ich hoffe, sie erholen sich schnell. Es ist schön, dass du verschont geblieben bist und heute hier sein kannst.«
John lächelte. »Ich würde es um nichts in der Welt verpassen.«
»Johnny!« Seine jüngere Schwester Victoria raffte ihre Röcke und lief eilig auf ihn zu. »Es ist so schön, dich wiederzusehen. Wie geht es dir?«
Er erwiderte ihre innige Umarmung. Sie roch nach Rosenblüten. Ihr dunkelblondes Haar war zu einem festen Dutt hochgebunden, hochwertiger Schmuck glänzte an ihren Ohren und dem Hals.
»Du musst unbedingt deinen jüngsten Neffen kennenlernen«, fuhr sie fort.
»Stell ihn mir vor«, erwiderte John. »Wie alt ist er jetzt?«
Victoria hakte sich bei ihm unter und schlenderte mit ihm in Richtung des Speisesaals. »Vier Monate. Ich bin froh, dass mein Mann und ich der Familie nun auch endlich einen Sohn schenken konnten …«
Kurze Zeit später waren alle wichtigen Menschen im Esszimmer versammelt. Kinder unter fünfzehn Jahre wurden bei Ammen gelassen. John war zuvor bei ihnen gewesen, um seinen Neffen zu betrachten und letzte Vorbereitungen für das Festmahl zu treffen.
Die Tafel war reichlich gedeckt: Fleisch und Gemüse, guter Wein, frisches Brot, Käse und Obst. Die Stimmung war ausgelassen. Man plauderte heiter miteinander, brachte einander auf den neusten Stand, was das Privatleben und die Arbeit betraf.
Plötzlich erstarrten alle, teilweise mitten in der Bewegung. Sein Vater Jonathan Sr. hatte die Gabel noch im Mund. Seine älteste Nichte setzte gerade den Kelch an die Lippen. John beobachtete genüsslich die Verwirrung in ihren Augen, die allmählich der Panik wich. Sie waren das Einzige, was sie noch bewegen konnten.
Er schluckte den letzten Bissen hinunter, legte das Besteck nieder und tupfte sich den Mund ab.
»Meine liebe Familie«, begann er bedächtig. »Ich habe auf diesen Moment gewartet, um euch etwas Besonderes mitzuteilen.«
John schob seinen Teller beiseite und griff unter den Tisch. Er förderte das kleine in Leder geschlagene Buch hervor und legte es vor sich. »Das ist Morritas. ›Das Buch der Leere‹, wie es in unsere Sprache übersetzt heißt.«
Die Augen seines Vaters weiteten sich.
John nickte. »Du hast richtig gehört. Dein Lebensziel liegt genau hier, und ich habe es gefunden. Unsere Familie lechzt seit Generationen nach der Macht, die es in sich trägt.« Andächtig strich er über den Einband, wie ein wesentlich warmherzigerer Vater über den Kopf seines Säuglings. »Und ich … habe es gefunden. Was ihr in diesem Augenblick spürt, ist einer von vielen praktischen Zaubern. Ich habe einen Bann über dieses Haus gelegt, der jeden betrifft, außer mich.«
Die Blicke seiner Familienmitglieder zuckten unruhig hin und her. Sie kämpfte mit allem, was sie hatten, gegen die Lähmung. Sein Vater schien zu versuchen, ihn mit bloßem Starren zu ermorden.
»Die Diener sind demnach ebenso gelähmt und werden uns nicht stören. Ihr werdet euch erst wieder bewegen können, wenn ich das will. Morritas hat mich auserwählt.« Er packte seinen Bruder am Kragen und zerrte ihn ein Stück aus dem Sitz. »Mich, Theodore.«
Auf der Stirn seines kleinen Bruders bildeten sich Schweißperlen. Mit einem verächtlichen Schnauben stieß John ihn zurück auf den Stuhl. Theodore war immer das Goldkind gewesen, der Liebling ihres Vaters. Obwohl John der Erstgeborene war, hatte er ständig im Schatten seines Bruders gestanden und war nie das Gefühl losgeworden, dass er eine Enttäuschung für ihren Vater war. Aber das spielte heute keine Rolle mehr.
John nahm das lange Messer aus dem tranchierten Braten. »Morritas ist bereit, mir alles zu geben. Praktisch würde ich die Unsterblichkeit der Blutsauger bekommen, ihre schnellen Reflexe und übermenschliche Stärke. Ich würde die Sinne eines Werwolfs bekommen, ihr Gespür für die Jagd und die Kraft, die sie aus dem Vollmond ziehen. Ich bekäme die magischen Kräfte eines Dämons. Und das alles, ohne mich in eines dieser Viecher verwandeln lassen zu müssen.« Er betrachtete die Klinge. »Ich werde so viel mehr sein. Ein nahezu göttliches Wesen.«
Morritas flüsterte in sein Ohr. Verbotene Worte. Eine Sprache, die so grässlich falsch war, dass allein ihr Klang einen Menschen in den Wahnsinn treiben konnte. John nicht. Morritas hatte ihm erlaubt, es zu verstehen.
»Ihr werdet begreifen, dass ein solches Geschenk einige Opfer erfordert.«
Er trat hinter Theodore. Konnte die Angst riechen, die aus all seinen Poren quoll. Hörte seinen heftigen Puls. Und merkte, dass er lächeln musste. »Morritas verlangt Blut, Schmerz und Angst. Es nährt sich gerade an jedem von euch. Und ich werde es weiter füttern, bis es mich dafür belohnt.«
Seine Frau und Kinder waren die Ersten gewesen, die er Morritas zum Fraß vorgeworfen hatte. Und seine restliche Familie die nächsten.
John grinste breit, als er seinem Bruder das Messer an die Kehle hielt. »Das alljährliche Hopkins Familienfest ist hiermit ein für alle Mal beendet.«
Er schnitt Theodore den Hals auf. Ließ die Klinge langsam in sein Fleisch sinken und lauschte andächtig den stummen Schreien, die sich von überall her erhoben. Blut ergoss sich in einem dunkelroten Sturzbach über den Tisch.
Diese Flecken werde ich nie wieder aus der Tischdecke bekommen. Innerlich ahmte er in einem Anflug von bitterem Zynismus die Stimme seiner Mutter nach. Und ich werde dieses Blut für alle Ewigkeit an meinen Händen kleben haben.
Es wurden eine lange Nacht und darauffolgende Tage. Der Rest der versammelten Runde hatte nicht das Glück, so schnell zu sterben wie sein Bruder. Morritas sollte so viel Leid wie möglich in sich aufnehmen. Das Buch trank jeden Tropfen vergossenen Blutes und labte sich an den Qualen im Raum. John ließ sich Zeit mit ihnen. Erlösung würde keiner von ihnen finden. Ihre Seelen gehörten bis in alle Ewigkeit dem Buch.
Am Ende war nur Victoria übrig. Ihre Schminke war verschmiert, Rotz und Tränen flossen über ihr Gesicht. Das Essen auf dem Tisch war verdorben, es stank nach Blut und Tod. Glücklicherweise unterdrückte sein Zauber das Bedürfnis der Betroffenen nach Schlaf, Nahrung und Ausscheidungen. So konnte er sich einerseits mehr Zeit lassen und andererseits verhinderte es weitere Verschmutzungen.
John setzte sich neben seine Schwester. Ihr toter Ehemann lag ausgeweidet unter dem Tisch.
Er ließ den Blick über das angerichtete Massaker schweifen. Ein Gefühl tiefster Zufriedenheit überkam ihn. Als hätte er sich das dargebotene Festmahl einverleibt und würde nun satt im Kreis seiner Liebsten sitzen. Was auf eine makabre Weise auch zutraf.
Er musterte seine Schwester und beschloss, ihr die Kontrolle über die Muskeln in ihrem Hals und dem Kopf zurückzugeben. Victoria und er hatten stets ein gutes Verhältnis zueinander gehabt. Er gestattete ihr ein paar letzte Worte.
»Johnny …«, flüsterte sie heiser.
Seine Miene blieb unbewegt. Sie war die Einzige, die ihn mit dieser furchtbaren Verniedlichung seines Vornamens ansprach. Aus irgendeinem Grund hatte er das immer zugelassen.
»Warum …?« Seine Schwester schüttelte energisch den Kopf. »W-Was hast du davon?«
»Das habe ich erklärt«, antwortete er.
Victoria stieß einen würgenden Laut aus. »D-Dafür hast du deine F-Familie ermordet?«
John schwieg. Um einige Personen tat es ihm leid. Seine Frau und Kinder beispielsweise. Aus seinen Söhnen wären mit Sicherheit gute Jäger geworden. Es war tragisch, dass er seinen Cousin, der auch sein bester Freund gewesen war, hatte töten müssen. Seinen Onkel, der wie ein zweiter Vater für ihn und seine liebe Mutter, die zu weich gewesen war für diese Welt. Die Theodore, im Gegensatz zu seinem Vater, nie vorgezogen hatte.
Doch John merkte, dass dieses Mitleid mehr und mehr aus seinem Herzen wich. Je stärker er Morritas’ Macht durch seine Adern fließen spürte, desto kälter wurden seine Gefühle.
»Antworte mir«, kreischte Victoria.
John nickte bedächtig. »Dafür sind sie gestorben.« Er drehte den Kopf zu ihr. »Hätte Vater das Buch zuerst in die Hände bekommen, säße er jetzt an meiner Stelle. Gleiches gilt für Theodore.«
Victoria schluchzte heftig. »Täten sie nicht.«
John zog abfällig eine Braue hoch. Eine weinende Hopkins. Er hätte nicht erwartet, dass seine Schwester so tief sinken würde. »Oh, bitte. Du weißt genau so gut wie ich, dass unsere Familie alles für dieses Buch getan hat. Allein das, was unser Vater für die Suche geopfert hat, sollte dir vor Augen führen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis so was passiert.«
»W-Was ist mit den K-Kindern?«, stammelte Victoria.
»Tot«, antwortete John kühl. »Genau wie die Ammen, die sie behütet haben. Vergiftet. Kurz bevor wir unser wunderbares Festmahl begonnen haben.«
Das letzte Licht erlosch aus ihren blaugrauen Augen, als sie realisierte, dass auch ihre Töchter und der neugeborene Sohn nicht mehr lebten. Victorias Kopf sank auf ihre Brust. Ihre Kinder schienen das Letzte gewesen zu sein, wofür sie willens war, zu kämpfen. Nun gab es keinen Grund mehr.
John spürte eine Gänsehaut auf seinem Rücken und den Unterarmen, als ihr Leid eiskalt in sein Blut sickerte. Eine neue Welle der Kraft durchströmte seine Glieder und er wusste, dass Morritas zufrieden mit ihm war.
Sanft hob er Victorias Kinn an und hauchte einen Kuss auf ihre Wange. »Du warst immer mein Lieblingsgeschwister«, raunte er und griff wieder nach dem Messer. »Es ist … schade … dass du sterben musst.«
Seine Schwester reagierte nicht, als er ihr die Klinge in die Brust stieß. Sie schloss lediglich die Augen und schied still dahin.
Seit Mendacis fort war, fühlte sich Krátos, als wäre er aus einem langen, von Schrecken erfülltem Fiebertraum erwacht. Die Welt um ihn herum wurde mit jeder Nacht klarer. Die Halluzinationen, die ihn zuvor fast permanent gequält hatten, verloren zunehmend an Intensität.
Eine Woche war vergangen, seit er seine innere Bestie bezwungen und sie zurück in sein Unterbewusstsein gesperrt hatte. Eine Woche, in der er sich klar gemacht hatte, in welcher Bredouille er sich befand. Und nun musste er einen Weg hinausfinden.
Unruhig durchschritt er die leeren Räume seines schäbigen Verstecks. Zwar war er ohne Mendacis freier, doch auch ohne Plan oder Richtung. Die Stadt zu verlassen, kam nicht infrage. Es würde die Jugendlichen nicht retten, ihre Lage eher verschlimmern. Krátos kannte John lang genug, um zu wissen, dass der Jäger sich nicht fortlocken lassen würde. Eher benutzte er Clay und seine Freunde, um Krátos zurückzuholen.
Der Vampir hielt inne, als er ein Fahrzeug hörte. Er trat an das schmutzige Fenster und spähte in die Tiefe. Ein Auto hielt unmittelbar vor dem Abrisshaus und zwei Vampirinnen stiegen aus. Eine von ihnen war kaukasisch mit blondem Haar. Die zweite eine Latina.
Krátos verengte die Lider. War er ihr nicht schon einmal begegnet?
Sie gingen auf den Eingang zu. Krátos spürte eine Welle der Verunsicherung; einen misstrauischen Stich in seiner Brust.
›Sie werden dich verletzten.‹ Mendacis’ Flüstern drang aus seinem Unterbewusstsein. ›Sie …‹
»Gib Ruhe«, murmelte er.
Die Bestie verstummte.
Dennoch konnte Krátos die nervöse Skepsis nicht abschütteln. Er nahm das Messer auf, das neben seinem Sarg auf dem Boden lag, und schob die Klinge behutsam zwischen Gürtel und Hosenbund. Dann erst trat er aus der Wohnung ins Treppenhaus.
»Das ist ein Zeichen«, hörte er eine der Frauen sagen. »Bis hierher und nicht weiter.«
Sie mussten vor dem kaputten Teil der Treppe stehen. An einer Stelle waren die Stufen mit grober Gewalt zerstört worden, sodass eine gewaltige Lücke zwischen zwei Stockwerken klaffte.
»Wenn du umkehren willst, Tabea, dann tu es.« Das musste die Latina sein. Sie sprach mit einem merklichen spanischen Akzent. »Ich habe dir gesagt, dass ich ihm zurückgeben will, was er für mich getan hat.«
Krátos legte unwillkürlich eine Hand an den Messergriff. Noch eines seiner Opfer, an das er sich nicht erinnern konnte? Hatte er der Frau unter Mendacis’ Einfluss etwas angetan?
»Außerdem habe ich immer noch seinen Mantel«, fügte sie hinzu.
Er runzelte die Stirn. Erinnerungsfetzen tauchten vor seinem inneren Auge auf. Er sah die Latina am Boden liegen, mit Stichwunden übersät.
Ihr Name ist Nayeli, dachte er. Und sie hat Jonathan überlebt.
Vorsichtig entspannte er sich und stieg weitere Stufen nach unten.
»Krátos?«, rief Nayeli. »Sind Sie hier?«
Die Frauen befanden sich eine Etage unter ihm.
›Wie haben sie dich gefunden?‹, flüsterte Mendacis. ›Sie haben nach dir gesucht. Weil sie dir etwas antun wollen. Weil sie dich zum Jäger bringen wollen.‹
Zögernd gab er sich zu erkennen.
Tabea verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihn unverhohlen misstrauisch. Nayeli hingegen trat vor. Sie hielt seinen Mantel im Arm und schenkte ihm ein freundliches Lächeln. »Erinnern Sie sich an mich?«
Krátos’ Muskeln waren zum Zerreißen gespannt. Kampf oder Flucht – er wusste nicht, wie er bei einer falschen Bewegung der Frauen reagieren würde.
›Benutz das Messer‹, zischte das Monster. ›Verletz sie, bevor sie dich verletzen können!‹
Sei endlich still, fauchte er innerlich.
Tabeas Starren wurde immer feindseliger. Hatte er gerade ein boshaftes Zucken ihrer Mundwinkel gesehen? Krátos versuchte, seine Gedanken zu ordnen und gleichzeitig die Paranoia zu bezwingen, die seinen Verstand verwirrte.
»Sie haben mich im Talinnger Wald gefunden«, erklärte Nayeli. »Jonathan hat mich zum Sterben dort zurückgelassen.«
Krátos nickte kaum merklich. Seine Nackenmuskulatur war derart verkrampft, dass er zu keiner größeren Bewegung fähig war. Er spürte das Messer, die kalte Klinge, die sich durch den dünnen Hemdstoff auf seine Haut zu brennen schien.
›Benutz es!‹
»Wir haben uns sogar in meiner Muttersprache unterhalten.« Nayeli hatte ins Spanische gewechselt. »Ich muss sagen, das kam unerwartet. Es hat mir aber geholfen, Ihnen zu vertrauen.«
Auch bei Krátos löste es etwas aus. Ein positives Gefühl, die Erinnerung an seine frühere Leidenschaft, neue Sprachen zu lernen. Daran, wie sehr er es geliebt hatte, auf Reisen zu sein. Er spürte, wie sich seine Anspannung löste. Seine Schultern sanken herab und er lockerte seine Kiefermuskulatur.
»Es freut mich, dass es Ihnen besser geht«, erwiderte er in Spanisch und sprach dann auf Deutsch weiter: »Wie haben Sie mich gefunden?«
»Oh, das war nicht schwer«, erwiderte Nayeli lächelnd. »Thalbonn ist nicht groß und ich …«
Sie warf Tabea einen kurzen Blick zu.
Die vollführte eine fordernde Handbewegung.
»Ich kann Gedanken lesen«, fuhr Nayeli fort. »Als wir uns im Wald getroffen haben, konnte ich einige Schnipsel erkennen. Unter anderem auch dieses Haus. Es hat trotzdem eine ganze Weile gedauert, bis wir den richtigen Ort gefunden haben.«
Krátos zog sich die Kehle zusammen. Bedeutete das auch, sie hatte Mendacis gehört? Wusste sie, was er unter dem Einfluss der Bestie getan hatte?Sein Blick wanderte nervös zwischen den Frauen hin und her.
»Ich bin hier, um mich bei Ihnen zu bedanken.« Nayeli näherte sich ihm langsam und tat ihr Bestes, um nicht bedrohlich zu wirken. »Außerdem habe ich Ihren Mantel, den Sie mir gegeben haben. Im Wald hatte ich nur mein Arbeitsshirt an und war von Stichwunden übersäht. Er ist frisch gewaschen.«
Zögerlich nahm Krátos ihn entgegen. »Danke.«
Tabea löste ihre defensive Körperhaltung und seufzte. »Ich muss Ihnen auch danken. Ohne Sie hätte ich meine Frau für immer verloren.«
Krátos blinzelte überrascht. Die beiden waren verheiratet? Er hatte nicht erwartet, dass das inzwischen für gleichgeschlechtlich Paare möglich war. Innerhalb der vampirischen Gesellschaft waren homosexuelle Beziehungen zu seiner Zeit wenigstens geduldet worden. Noch weit entfernt von Toleranz und Akzeptanz, aber es war ein erster Schritt in die richtige Richtung gewesen.
»Ich bin froh, dass ich etwas tun konnte«, sagte er schließlich.
»Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten, Krátos.« Nayeli rieb sich den Nacken. »Über den Jäger und Mendacis.«
Er sah sich unsicher um. Also hatte sie das Monster gehört. Konnte er ihr trauen? Was war, wenn die beiden ihn in eine Falle lockten? Wenn John sie mit der Hilfe seines verfluchten Buches manipuliert und beauftragt hatte, ihn gefangen zu nehmen? Oder wenn Mendacis sie hergeholt hatte, damit sie ihn folterten, bis das Monster wieder frei war?
»Sie haben mir das Leben gerettet, Krátos«, fuhr Nayeli sanft fort. »Lassen Sie mich Ihnen helfen. Bitte.«
Er schluckte trocken und gestikulierte vage nach oben. »Im Dachgeschoss ist eine Wohnung. Dort habe ich mich … eingenistet.«
Nur ungern kehrte er den Frauen den Rücken und führte sie in sein schäbiges Versteck. »Es tut mir leid. Ich habe keinen Besuch erwartet.« Der armselige Versuch eines Scherzes.
Tabea betrachtete zweifelnd den dreckigen Boden. Sie stieß getrockneten Rattenkot zur Seite und sah zu ihm auf. »Wie lange halten Sie es schon hier aus? Ich meine …« Sie streckte die Hände aus. »Das ist doch untragbar.«
»Seit einem Jahr vielleicht«, antwortete Krátos.
Man ist viel toleranter, was Dreck und Unordnung angeht, wenn man wahnsinnig ist, fügte er innerlich hinzu.
»Nun, so kann das jedenfalls nicht bleiben.« Nayeli runzelte die Stirn. »Wir finden eine richtige Wohnung für Sie. Mit Heizung, Warmwasseranschluss und Strom. Einem richtigen Schlafplatz und Möbeln und – ach, eigentlich allem.«
Krátos überlegte, ob und wo sie sich hinsetzen konnten. Er hatte kein Mobiliar, sein Sargdeckel war zerstört und zudem wollte er die Frauen ungern in diesen Raum führen.
»Sagen Sie«, hob Tabea neugierig an, »Sie sind Engländer, oder?«
Krátos nickte.
Tabea spiegelte ihn. »Man hört es Ihnen an, aber nur ganz leicht. Warum können Sie so gut Hochdeutsch? Das wurde erst im 19. Jahrhundert eingeführt und Sie …«
»Ich schätze, das habe ich Mendacis zu verdanken«, erwiderte er. »Was wissen Sie über diese Biester?«
Nayeli kratzte sich im Nacken. »Ich habe eigene Erfahrungen mit so einer Bestie und mit Morritas. Es ist viele Jahre her, lange bevor ich nach Deutschland kam und Tabby kennenlernte.«
Tabea löste sanft Nayelis Finger von ihrem Genick und nahm ihre Hand.
»Ich war noch ein Mensch und habe in einem kleinen Dorf gelebt, als man mir die Bestie in die Seele pflanzte«, fuhr sie fort. »Am Ende meines Martyriums war sie dann mächtig genug, damit ich sie nicht nur hören, sondern auch sehen konnte.«
Krátos musterte sie aufmerksam. »Wurden Sie gezeichnet?«
Nayeli schob ihre langen, rotbraunen Locken zur Seite und offenbarte das Brandzeichen in ihrem Nacken. Es sah Krátos’ Bannmal nicht unähnlich, doch die Zeichen waren auf andere Weise verschlungen. Und es fehlte das Auge in der Mitte.
Krátos schob zaghaft seinen linken Hemdärmel hoch und zeigte ihr die Narben auf seinem Unterarm.
»Es sieht aus, als hätten sie unterschiedlichen Zwecken gedient«, merkte Tabea an.
»Ich sollte nie gebannt werden«, antwortete Nayeli. »Nur gehorchen.«
Krátos gefiel der Gedanke nicht, dass es mehrere dieser Bestien gab. Wie viele davon konnte John beschwören? Würde er so weit gehen und den Jugendlichen einen solch dunklen Keim einpflanzen? Wenn es ihm gelang, konnte er sie nicht nur zu Gewalttaten antreiben, sondern ihnen auch den freien Willen rauben.
Mendacis kicherte in seinem Geiste und ein unerträgliches Pfeifen drang in seine Ohren.
»Wie sah Ihre Bestie aus?«, fragte Krátos.
Tabea streichelte mit ihrem Daumen über Nayelis Handrücken. Die schwieg einen Augenblick, ließ ihren Blick über Spinnenweben und Tapetenreste schweifen. »Schattenhaft«, raunte sie. »Mit klauenartigen Händen und spitzen Zähnen. Die Gestalt war … obskur, bizarr … es sah aus, als hätte ein Kind das Monster aus seinem Albtraum gezeichnet.«
Krátos’ gesamte Rückenmuskulatur spannte sich an. Kaltes Grauen rann seine Wirbelsäule hinab; drohte ihm das Blut in den Adern zu gefrieren und ihn zu lähmen. Er zwang sich, es niederzuringen, wendete sich ab und öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Mendacis war nicht mehr. Er hatte es bezwungen.
Mit einer knappen Kopfbewegung lud er die Vampirinnen ein, ihm zu folgen. »So in etwa?«
Nayeli löste sich von ihrer Frau und lief eilig auf die bemalten Wände zu. Ihre Züge entgleisten. Er konnte Entsetzen und Angst in ihren dunklen Augen flackern sehen. »¡Dios mío!«, flüsterte sie.
Tabea trat ebenfalls näher. »Sie sehen exakt gleich aus?«
Nayeli nickte aufgeregt. »Meinem Mendacis fehlten allerdings die … d-die …« Sie fluchte leise. »Wie heißt das Wort? Die … los luceros …«
»Die Augen«, übersetzte Krátos. Es war interessant, dass sie statt ›Ojos‹ den poetischeren Begriff gewählt hatte.
Mendacis hat nicht nur keine Augen, sondern auch keine Seele, dachte er. Es ist eine leere, dunkle Hülle.
»Ja, meinem Mendacis ebenfalls«, fuhr er fort. »Aus einem Impuls heraus habe ich es allerdings immer wieder mit Augen gezeichnet.«
»Diese Monster tauchen nicht zufällig auf«, sagte Nayeli. »Sie müssen gerufen werden mit der Macht von Morritas.«
Tabea strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem blassen Gesicht. »Wenn ich diese Zeichnung sehe, dreht sich mir der Magen um. Dann gibt es wohl wirklich mehrere dieser Bücher.«
Krátos runzelte die Stirn. »Was meinen Sie damit?«
»Bis vor Kurzem bin ich davon ausgegangen, dass ich das einzige Exemplar von Morritas zerstören konnte«, antwortete Nayeli. »Als ich in den Ruinen war, hat das Zeichen in meinem Nacken die ganze Zeit gebrannt wie Feuer. Morritas’ Macht war überall spürbar.«
»Und wäre es zerstört, würde Jonathan nicht mehr existieren.« Krátos rieb sich über den kurzen Bart. »Ich dachte bisher, Morritas kann nicht vernichtet werden. Mein Schöpfer hat es versucht und konnte lediglich ein paar Seiten ausreißen.«
Nayeli ging einige Schritte im Raum auf und ab, den Blick auf den Boden gerichtet. »Seltsam. Ich erinnere mich nicht daran, dass es anstrengend gewesen wäre.« Sie spielte mit dem goldenen Kreuz um ihren Hals. »Es war nicht einfach und hat einiges gekostet – aber ich habe es in Stücke gerissen und am Ende war nur Asche übrig.«
Er hörte das spöttische Lachen seiner Bestie. Es war ein Geräusch am Rande seines Gehörs, nur einen Halbton über dem Wahrnehmbaren, sodass es leicht als Einbildung abgetan werden könnte. Mendacis hatte Wissen, das es ihnen vorenthielt.
Es entstand eine Pause. Krátos versuchte, sich nicht von den Schatten ablenken zu lassen, die in seinem Augenwinkel lauerten. Oder dem Flüstern zu verfallen, das scheinbar näher kam, immer lauter wurde.
»Und was ist, wenn das Buch von Jonathan einfach mächtiger ist?« Tabea sprach die Frage aus, die sich auch in Krátos’ Verstand manifestierte.
»Möglich. Aber was unterscheidet Jonathans von seinem? Warum ist es stärker?« Nayeli dachte laut nach. »Vielleicht hat es was mit dem Alter zu tun? Das Buch des Dorfältesten war angeblich seit Generationen in dessem Besitz. Wie alt ist Jonathan?«
»Meines Wissens, einige Jahrhunderte«, erklärte Krátos. »Früher, bevor sein Buch beschädigt wurde, war er noch wesentlich mächtiger. Er hat Morritas alles gegeben, und ich denke, er opfert ihm jede Kreatur, die er tötet.«
»Womit er die Macht von Morritas weiter steigert.« Nayeli schauderte. »Es ist kein schöner Gedanke, dass meine Seele beinahe von diesem Buch verschlungen worden wäre.« Sie stemmte die Hände in die Hüfte und betrachtete die Zeichnung. »Ich habe es schon einmal geschafft, es zu vernichten. Es gelingt mir mit Sicherheit auch ein zweites Mal.«
Etwas in Krátos zweifelte erheblich daran. Vielleicht war er pessimistisch. Doch Arunas hatte ihm davon berichtet, welche Mühen es bereitet hatte, allein die Seiten auszureißen. Und dass es ihnen nicht gelungen war, sie zu zerstören. Sie hatten alles versucht und waren gescheitert, sodass sie die Seiten letztlich irgendwo verstecken ließen.
»Wie dem auch sei, wir müssen etwas tun«, beschloss Nayeli. »Zuerst müssen Sie hier raus. Dann brauchen wir einen Plan, wie wir Jonathan bekämpfen und die Kids von ihm wegbekommen können. Tabby und ich können unsere Kontakte spielen lassen, dann haben Sie im Nu eine eigene Wohnung. Ganz bei uns in der Nähe.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Krátos. »Aber ich denke, es ist besser, wenn Sie sich von mir fernhalten. Jonathan ist hinter mir her. Er hatte Sie schon einmal in seiner Gewalt, Nayeli. Wenn er herausfindet, dass Sie mir unter die Arme greifen, wird er Sie erneut jagen. Und dieses Mal wird er sichergehen, dass Sie in der Sonne verbrennen. Und er wird währenddessen hämisch über Ihnen stehen und sich an Ihren Qualen laben.«
»Ich kann, will und werde Sie nicht in dieser Bruchbude zurücklassen«, erklärte Nayeli stur. »Wie sollen Sie denn zurück auf die Beine kommen, wenn Sie weiterhin hier hausen?«
»Was wären denn Ihre nächsten Schritte?«, wollte Tabea wissen. »Was würden Sie als nächstes tun?«
Krátos schwieg. Darauf hatte er nach wie vor keine Antwort.
»Ich denke, wir haben ähnliche Ziele, oder?«, fuhr Nayeli sanft fort. »Wir wollen, dass der Jäger aus der Stadt verschwindet und niemand mehr zu Schaden kommt.«
Krátos wusste, dass sie recht hatte. Er hatte das Abrisshaus satt. Er hatte es satt, dass die Neuzeit ihn verwirrte. Dass er nicht wusste, woher er neue Kleidung bekommen oder wie er eine anständige Wohnung finden sollte. Wie kam er an Geld ohne es zu stehlen? Es schien ihm nicht danach, als könnte er in dieser Zeit seine Tätigkeit als Künstler einfach wieder aufnehmen. Und wie nutzte er die heutigen Transportmittel, ohne davon überfordert und entsprechend auffällig zu sein? Je länger er darüber nachdachte, desto mehr Beispiele fielen ihm ein. Er hatte kurzum keine Ahnung von nichts und Mendacis hatte dieses Unwissen bisher überdeckt. Allein würde er sich nicht mehr zurechtfinden. Dennoch brodelte die Angst in ihm, dass Nayeli und Tabea es bitter bereuen würden, wenn sie ihm halfen. Jonathan war sowohl gnaden- als auch skrupellos und würde die beiden mit Vergnügen für ihre Nächstenliebe töten. Krátos wollte nicht noch mehr Leben zerstören.
»Leyla und Matthieu Leroux haben von Ihnen gesprochen«, warf Tabea ein.
Hätte er noch einen Puls gehabt, wäre sein Herz vermutlich gesprungen. »Sie kennen die beiden?«