Falsch gespielt - Carin Gerhardsen - E-Book
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Falsch gespielt E-Book

Carin Gerhardsen

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Beschreibung

Vier Männer verlassen nach einem geselligen Abend eine Kneipe in Stockholm. Am nächsten Morgen ist einer von ihnen tot - ermordet durch einen Nackenschuss. Das Opfer war allseits beliebt, ein respektierter Familienvater mit einwandfreiem Ruf und großem Engagement für die Ausgestoßenen der Gesellschaft. Warum ist er bloß ermordet worden? Es ist Sommerferienzeit, doch die Ermittlungen führen das Team von Kommissar Conny Sjöberg auf eine Reise zu furchterregenden Orten in den Tiefen des Waldes, in ein hinterwäldlerisches Schweden, dem die Polizisten noch nie begegnet sind, und zu den dunkelsten Orten der menschlichen Seele ...

Über diese Serie

Hammarby, mitten in Stockholm: Hier ermittelt Kommissar Conny Sjöberg mit seinem Team. Dabei ist der sympathische Familienmensch Sjöberg immer wieder mit menschlichen Abgründen konfrontiert ...

Mit dieser Serie erlangte die Schwedin Carin Gerhardsen ihren internationalen Durchbruch: Die Schweden-Krimis wurde in über 25 Sprachen übersetzt, jedes Buch erreichte Platz 1 der schwedischen Bestseller-Charts.

Alle Schwedenkrimis um Conny Sjöberg:

1: Das Haus der Schmerzen

2: Du bist ganz allein

3: Und raus bist du

4: Falsch gespielt

5: Vergessen wirst du nie

6: In deinen eiskalten Augen

7: Blutsbande

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung!


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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Zitat

Karte

August 2009, in der Nacht von Samstag auf Sonntag

Sonntagmorgen

Sonntagvormittag

Sonntagnachmittag

Montagvormittag

Montagnachmittag

Dienstagvormittag

Dienstagnachmittag

Mittwochvormittag

Mittwochnachmittag

Mittwochabend

Donnerstagvormittag

Donnerstagnachmittag

Freitagvormittag

Freitagnachmittag

Samstagabend

Montagnachmittag

Dienstag

Weitere Titel der Autorin

Das Haus der Schmerzen

Du bist ganz allein

Und raus bist du

Vergessen wirst du nie

In deinen eiskalten Augen

Blutsbande

Über dieses Buch

Vier Männer verlassen nach einem geselligen Abend eine Kneipe in Stockholm. Am nächsten Morgen ist einer von ihnen tot – ermordet durch einen Nackenschuss. Das Opfer war allseits beliebt, ein respektierter Familienvater mit einwandfreiem Ruf und großem Engagement für die Ausgestoßenen der Gesellschaft. Warum ist er bloß ermordet worden? Es ist Sommerferienzeit, doch die Ermittlungen führen das Team von Kommissar Conny Sjöberg auf eine Reise zu furchterregenden Orten in den Tiefen des Waldes, in ein hinterwäldlerisches Schweden, dem die Polizisten noch nie begegnet sind, und zu den dunkelsten Orten der menschlichen Seele …

Über die Autorin

Carin Gerhardsen, geb. 1962, ist in Katrineholm aufgewachsen und lebt nun in Stockholm. Vor dem internationalen Durchbruch als Autorin arbeitete die Mathematikerin mit großem Erfolg in der IT-Branche. Mit der Serie um Kommissar Conny Sjöberg erlangte die Schwedin Carin Gerhardsen ihren internationalen Durchbruch: Die Schweden-Krimis wurde in über 25 Sprachen übersetzt, jedes Buch erreichte Platz 1 der schwedischen Bestseller-Charts.

CARIN GERHARDSEN

FALSCHGESPIELT

Aus dem Schwedischen vonThorsten Alms

SCHWEDEN-KRIMI

beTHRILLED

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2011 by Carin Gerhardsen

Titel der schwedischen Originalausgabe: »Helgonet«

Originalverlag: Norstedts, Sweden

Published by arrangement with Nordin Agency AB, Sweden

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat/Projektmanagement: Lukas Weidenbach

Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven von © juliewoohogirl/shutterstock; © wavebreakmedia/shutterstock; © Wilqkuku/shutterstock; © Pavel Pomoleyko/shutterstock

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-0767-1

be-ebooks.de

lesejury.de

Ich taste mich durch diesen dunklen Raum,ich spüre die scharfe Kante der Klippe an meinen Fingern,ich kratze meine hochgestreckten Händean den vereisten Wolkenfetzen blutig.

Ach, meine Nägel reiße ich von den Fingern,meine Hände schürfe ich eitrig, wundan Felsen und an dunklem Wald,am schwarzen Eisen des Himmelsund an der kalten Erde?

Angst, Angst ist mein Erbteil,die Wunde meiner Kehle,mein Herzensschrei in die Welt.

August 2009,in der Nacht von Samstag auf Sonntag

Tief sog er die satten Düfte der Nacht durch die Nase ein. Es war vollkommen windstill. Der Mond, der vor einer Weile noch groß und golden direkt über den Baumwipfeln geschwebt hatte, war jetzt im Verschwinden begriffen. Zwischen den Bäumen stand ein Reh und betrachtete ihn mit gespanntem Nacken und aufgerichteten Ohren. Eine Ricke, dachte er. Das war der korrekte Name für ein weibliches Reh, eine Ricke. An ihrer Seite konnte er ein Kitz ausmachen, das unbekümmert im Unterholz nach etwas Essbarem suchte, ohne ihn auch nur im Geringsten zu beachten.

Gott ist gut, dachte er. Heute Nacht hält Gott seine schützende Hand über uns.

Er stand allein unter den Sternen, allein auf dem Wanderweg im Waldgebiet Herrängsskogen. Seine Gedanken lösten einander ab, glitten durch sein Bewusstsein, ohne dort Wurzeln zu schlagen. Die Jugendlichen – was taten sie an einem so warmen und klaren Abend wie diesem? Er war noch keinem betrunkenen Teenager begegnet, seit er von zu Hause aufgebrochen war. Vielleicht hatten diese Wochen ohne jegliche Verpflichtungen ihren Tribut gefordert. Vielleicht hatten sie genug von dem unverbindlichen Miteinander und der ganzen Freiheit und bereiteten sich darauf vor, in ihre Käfige zurückzukehren. Und die Obdachlosen, was mochten die gerade tun? Sammelten sie ihre Kräfte vor einem weiteren unbarmherzigen Winter? Die Voraussetzungen dafür waren in diesem Sommer zweifellos ideal gewesen. Was die Fußballmädchen taten, dessen war er sich ziemlich sicher: Sie schliefen, bereiteten sich auf das morgige Punktspiel vor. Die Fortschritte, die sie in den vergangenen Wochen gemacht hatten, und die Einstellung, die die Mannschaft am Donnerstag im Training gezeigt hatte, überzeugten ihn davon, dass es nur ein Ergebnis geben konnte: Sie würden gewinnen. Und es wäre mehr als verdient. All die Stunden, die er selbst und die Mädchen auf dem Rasen geopfert hatten, waren nicht ohne Resultate geblieben.

Welch ein Sommer. Welch ein Abend. Mit den Pokerkameraden im Långbro Värdshus war es hoch hergegangen. Hering in allen Formen, weltklasse Grillgerichte, ordentlich zu trinken und beste Laune bei allen Beteiligten. Auch bei Janne Siem, der den Kürzesten gezogen hatte, als es ans Bezahlen ging. Aber wer sich ins Spiel begibt, der … Es war nun einmal so, dass die Pokerkasse jedes Jahr verfeiert wurde, und wer am meisten verloren hatte, stand natürlich für den größten Anteil gerade. Dieses Jahr hatte es Siem erwischt, der Fortuna nicht auf seiner Seite gehabt hatte, aber er ließ sich dadurch den Spaß nicht verderben. Auch Staffan Jenner war besser gelaunt als gewöhnlich. Er lebte richtig auf, wenn er zur Pokerrunde stieß, und konnte die Schattenseiten des Lebens für ein paar Stunden vergessen. Der arme Staffan, er sollte wirklich aus diesem Haus ausziehen, das ganze Elend hinter sich lassen und noch einmal von vorne anfangen. Wie Lennart es nach seiner Scheidung getan hatte. Nachdem seine Frau ihn verlassen hatte, war Lennart Wiklund gleich wieder aufgestanden und weitergegangen, immer positiv eingestellt und ein großer Gewinn für gesellschaftliche Ereignisse wie dieses.

Er zog das Handy aus der Hosentasche, fuhr geübt mit dem Zeigefinger über das Display und wollte das Telefon gerade wieder zurückstecken, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Das Reh schien zu einem Entschluss gekommen zu sein. Ohne Vorwarnung verschwand es mit einem eleganten Sprung zwischen den Bäumen und wurde sofort von der Dunkelheit verschluckt. Das Kitz konnte er nicht mehr sehen, aber vermutlich hatte es denselben Weg eingeschlagen. Der Augustmond war spurlos verschwunden. Er atmete tief ein, und seine Lungen füllten sich mit feuchter Spätsommerluft.

Gott ist gut, stellte er erneut fest. Heute Nacht ist Gott uns gnädig.

Ein überwältigendes Gefühl des Glücks und der Dankbarkeit überkam ihn, während er einsam unter den Sternen durch den Herrängsskogen ging.

Der erste Schuss traf ihn in den Rücken, und der zweite, nachdem er gefallen war, mit großer Präzision in den Nacken.

Möglicherweise war Sven-Gunnar Erlandssons Gott nicht so empfänglich für erhabene Stimmungen. Er schien blind zuzuschlagen, ohne den Gedanken Beachtung zu schenken, die zur selben Zeit und ganz in der Nähe alles andere als rein und erhaben klangen.

»Er weiß Bescheid, ich bin sicher, dass er Bescheid weiß. Jahrelang hat er gewusst, was ich getan habe, und trotzdem hat er mich unter seine Fittiche genommen …«

»Nichts kann mich aufhalten. Ich will, ich wage. Ruhig bleiben, ich bin schon so nahe …«

»Und immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Als ob es nie geschehen wäre. Zuerst eine Ohrfeige, dann eine Umarmung. Und damit soll alles vergessen sein. Aber das ist es nicht, kann es gar nicht …«

»… keine Ehre im Leib, immer diese miesen Tricks. Ganz gleich, ob es um die Aufstellung ging, um Urteile oder ums Pokerspiel. Und immer mit diesem scheinheiligen Lächeln …«

»Ich werde ihn töten, ich wage es, ich werde töten. Ihr werdet schon sehen, ich kann es tun. Ich werde es tun …«

»Zwei Mal, zwei verfluchte Male ist es passiert, und er tut so, als wäre nichts gewesen. Obwohl er weiß, dass ich weiß, dass er weiß …«

»Er schreibt die Regeln nach seinen Bedürfnissen um, dieser verdammte Heuchler …«

»Man steckt fest wie in einer Zwickmühle, muss sich von diesem Joch befreien …«

»Wenn er verschwände, würde der Druck von meiner Stirn weichen und ich könnte mein eigenes Leben leben …«

»Und wir sitzen hier herum wie lallende Idioten, wie Marionetten, und nicken alles ab …«

»Ich kann, ich wage, tief einatmen. Einen Schuss in den Nacken wird er bekommen, hübsch und sauber …«

Sonntagmorgen

Kriminalkommissar Conny Sjöberg hatte den Sommer voll ausgekostet: lange Arbeitstage, an denen er das Sommerhaus fertiggebaut hatte, und helle Nächte, in denen er viel zu viel gegessen und getrunken hatte. Was einander leider nicht vollständig aufgehoben hatte, denn der aufmerksame Beobachter konnte feststellen, dass sein Körper nicht mehr ganz so jugendlich wirkte. Familie Sjöberg war am Freitag in die Stadt zurück gezogen, damit sich die Kinder wieder an normale Schlafenszeiten gewöhnen konnten, bevor am Montag der sanfte Start in den Kindergarten und die Ferienbetreuung folgte. Den Samstag hatten sie unter geradezu chaotischen Verhältnissen im Vergnügungspark Gröna Lund verbracht: zwei Erwachsene mit fünf Kindern, die in fünf verschiedene Richtungen zogen. Aber das Schöne daran war, dass sie endlich überhaupt solche Dinge gemeinsam machen konnten, dass alle Kinder alt genug waren, um sich stimulierenderen Aktivitäten widmen zu können, als auf allen vieren über den Boden zu krabbeln oder Rollenspiele zu spielen. Die Zwillinge hatten sich über den Sommer prächtig entwickelt. Und sie hatten sich beruhigt. All das, in Verbindung mit der Sommeridylle, die in Bergslagen allmählich Gestalt annahm, flößte ihm Ruhe ein und ein Gefühl der Befreiung. Jetzt war die Zeit endgültig vorbei, in der Mittagsschläfchen, Kinderwagen, Schnuller, Brei und Kindergeschrei das Dasein bestimmten.

Und trotzdem wurde er an diesem verdammten Sonntagmorgen um halb sechs aus dem Schlaf gerissen. Dieses Mal allerdings vom Telefon.

*

Jens Sandéns Urlaub war schon seit einer Woche vorbei, und er war bereits wieder im Alltagstrott angekommen. Nach dem Schlaganfall, den er 2007 erlitten hatte, hatte sich der mittlerweile dreiundfünfzigjährige Kriminalinspektor, ganz anders als alle erwartet hatten, mächtig zusammengerissen und nicht weniger als zweiundzwanzig Kilo abgenommen. Er aß gesund, unternahm vor dem Frühstück oft lange Spaziergänge und spielte jeden Freitagmorgen Tennis mit seinem besten Freund Conny Sjöberg. Im Großen und Ganzen fühlte er sich gut in Form, und die Tatsache, dass seine geistig leicht behinderte Tochter ihr Leben inzwischen wieder im Griff hatte, trug das ihre dazu bei. Auch sie war schon an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt – hinter den Empfangsschalter der Polizeiwache – und hatte sich nach den Sommerferien schnell wieder zurechtgefunden.

An diesem Morgen war Sandén von alleine um fünf nach fünf aufgewacht, hatte sich mithilfe dieses neuen Dings aus dem Designerladen ein Ei in der Mikrowelle gekocht und war jetzt im Begriff, sich Stiefel und Regenjacke überzuziehen, um sich auf seinen morgendlichen Spaziergang zu begeben. Diese Pläne wurden allerdings über den Haufen geworfen, als das Telefon klingelte und er gebeten wurde, sich in den Wagen zu setzen und nach Herrängsskogen hinauszufahren. Naja, dachte er, dort würde er die Regensachen wohl auch gut gebrauchen können.

*

Es regnete in Strömen. Nach einem herrlichen Sommerabend waren in den frühen Morgenstunden Wolkenfelder über die Ostsee herangezogen und entleerten sich nun über Schwedens Osten. Und das nur, um uns Kriminaltechnikern eines auszuwischen, dachte Gabriella Hansson, als sie ihren Wagen durch den Schlamm am fünften Fairway des Nacka Golfclubs zog. Und das nur, um uns Golfspielern eines auszuwischen, dachte Hedvig Gerdin, als sie nach einem misslungenen Schlag mit dem Fünfereisen den Ball herunterfallen und im Schlick steckenbleiben sah, schätzungsweise zwanzig Meter vor dem Grün. Sie unternahm einen halbherzigen Versuch, den rutschigen Griff an einem klatschnassen Handtuch trockenzuwischen, und stopfte den Schläger in die Tasche zurück, bevor sie das nicht gerade bescheidene Stück Rasen zurückholte, das sie mit dem Ball zusammen auf den Weg geschickt hatte. Mit dem Handrücken wischte sich Hedvig – seit gut einem Jahr meist nur noch Gäddan, Hecht, genannt – den Schlamm ab, der ihr bei dem halb missglückten Schlag ins Gesicht gespritzt war.

Sie war fünfundfünfzig Jahre alt und erst kürzlich, nach mehr als dreißig Jahren, die sie vom Polizeidienst beurlaubt war, als Inspektorin bei der Polizeiwache in Hammarby in den aktiven Dienst zurückgekehrt. Ihr Mann hatte bis zu seinem Tod vor ein paar Jahren als UN-Mitarbeiter bei der WHO in Genf gearbeitet, während sie sich in ihrem Haus in Soral um die Familie gekümmert hatte. In der Zeit, die ihr das Hausfrauendasein nebenbei ließ, hatte sie sich weitergebildet, ihre theoretischen polizeilichen Kenntnisse auf dem Laufenden gehalten und sich außerdem ein schwedisches juristisches Examen mitsamt Doktortitel zugelegt. Und die eine oder andere freie Stunde hatte sie auch auf dem Golfplatz verbracht, was in einem Handicap resultierte, das sich zwischen sechs und acht bewegte.

Mit ihrem sechsten Schlag gelang es Hansson, den Ball auf das Grün zu bekommen, er landete jedoch weit hinter der Flagge, die am vorderen Rand platziert war. Gerdin legte den Ball mit einem eleganten Chip einen halben Meter vor das Loch und versenkte ihn zum Par, obwohl das Handy ihrer Mitspielerin genau zu ihrem Putt zu klingeln begann.

»Hansson … Okay … Soll ich Gäddan mitbringen? Wir sind auf dem Golfplatz … Es könnte eine Weile dauern, wir sind so weit vom Parkplatz entfernt, wie man überhaupt kommen kann … Fünfundvierzig Minuten. Höchstens eine Stunde … Ich gebe den Technikern Bescheid, dass sie so schnell wie möglich ein Untersuchungszelt aufstellen. Und sieh zu, dass sie nicht zu viel am Tatort herumtrampeln, bitte.«

»Ausgespielt?«, fragte Gerdin.

Hansson nickte.

»Für uns und für einen Pokerspieler in Älvsjö. Ich putte jedenfalls noch zu Ende«, sagte sie und versenkte ohne nennenswerte Begeisterung einen fast sensationellen Zwanzigmeterputt zum Doppelbogey.

*

Wie ein kleiner Ausschlag, ein leichtes Ekzem; meistens denkt man nicht daran, aber manchmal juckt es zum Verrücktwerden. So ungefähr pflegte die einunddreißigjährige Polizeiassistentin Petra Westman ihre Gefühlslage während schlafloser Stunden zusammenzufassen. Mittlerweile waren fast drei Jahre seit dem Abend vergangen, an dem sie in der Clarion Bar unter Drogen gesetzt, zu einem Haus in Mälarhöjden transportiert und dort von zwei Männern vergewaltigt worden war. Der eine, Oberarzt Peder Fryhk, saß jetzt in Norrtälje hinter Gittern, und das würde hoffentlich noch ein paar Jahre so bleiben. Mithilfe von Staatsanwalt Hadar Rosén hatte sie das Kunststück fertiggebracht, Fryhk für mehrere Vergewaltigungen verurteilen zu lassen, ohne selbst während der Verhandlung in Erscheinung treten zu müssen. Sehr vieles sprach allerdings dafür, dass sie nicht so inkognito war, wie sie gehofft hatte, denn Bildaufnahmen der Vergewaltigung waren gelegentlich in alles andere als angenehmen Zusammenhängen aufgetaucht.

Polizeidirektor Roland Brandt hatte mit einem dieser Bilder ein eindeutiges Angebot von ihrer eigenen E-Mail-Adresse aus zugeschickt bekommen. Er hatte es ernst genommen und versucht, sie ins Bett zu bekommen. Als ihm dies nicht gelang, hatte sie von ihm prompt die Kündigung zugeschickt bekommen. Erst ein geistesgegenwärtiger Sjöberg konnte dieses Schicksal in letzter Sekunde abwenden. Später war eine Filmsequenz von Hamads E-Mail-Adresse aus verschickt worden, und wie viele Leute die gesehen haben mochten, das wusste der Teufel. Und als ob das alles noch nicht genug gewesen wäre, wäre sie beinahe in die Falle getappt und hätte mit Hamad gebrochen, obwohl er einer derjenigen war, die ihr am nächsten standen.

Und dies alles war mit sicherer Hand von dem anderen Mann, wie sie ihn nannte, gesteuert worden. Dem Mann, der die Kamera gehalten hatte. Dem Mann, der schmerzhafte Penetrationen von wehrlosen Frauenkörpern heranzoomte, um dann selbst zu vergewaltigen, wenn die Kamera abgeschaltet war. Dem Mann, der so lichtscheu war, dass die anderen missbrauchten Frauen wahrscheinlich noch nicht einmal von seiner Existenz wussten. Dem Mann, der vielleicht sogar in der Polizeiwache an der Östgötagatan 100 arbeitete und sich damit fast jeden Tag in ihrer unmittelbaren Nähe aufhielt. Denn wie hätte er sonst an ihre Passierkarte und an ihren und Hamads Computer herankommen können? Nein, dass sich der andere Mann im Gebäude befunden haben musste, stand außer Zweifel, aber wer war er? Petra Westman hatte absolut keine Ahnung.

Und das nagte an ihr. Die eigentliche Vergewaltigung, die sie kaum bewusst erlebt hatte, und die physischen und psychischen Nachwirkungen hatte sie zu einem Teil verdrängen können. Aber die Tatsache, dass der andere Mann lebte und sich mitten unter ihnen befand, ließ es ihr kalt den Rücken hinunterlaufen. Er hatte sie seit über einem Jahr nicht mehr behelligt, also war es wohl das Beste, den Ärger herunterzuschlucken und einfach weiterzugehen. Aber manchmal juckte es. Zum Verrücktwerden.

Deshalb machte es ihr nicht so viel aus, als an ihrem letzten Urlaubstag um kurz nach halb sechs am Morgen das Telefon klingelte.

*

Das war doch nicht möglich. Das konnte doch nicht wahr sein, dass so früh am Sonntagmorgen das Telefon klingelte, und dazu noch im Urlaub. Er war den ganzen Sommer lang niemals vor neun Uhr aufgestanden, und dass der Regen gegen das Fenster prasselte, machte es auch nicht gerade leichter. Er warf einen Blick zu Mercury hinüber, aber der schlief unbeirrt weiter, obwohl es schon mindestens drei Mal geklingelt hatte. Sein sechsjähriger Sohn hatte wie üblich die Decke weggestrampelt, die meist schon auf dem Boden landete, bevor er überhaupt einschlief.

Odd Andersson war achtunddreißig Jahre alt und war im vergangenen Oktober von der Stockholmer Citywache zur Hammarbypolizei gewechselt. Mit unnachahmlichem Timing war er in dem blauen, ovalen Besprechungsraum erschienen, nachdem er nur ein paar Tage zuvor unter den Augen von anderthalb Millionen Fernsehzuschauern ganz knapp aus einer Mottoshow von Idol 2008 ausgeschieden war. Wie bei einem ansehnlichen Teil der schwedischen Bevölkerung hatte sich der alte Rock ’n’ Roller auch in den Herzen von Conny Sjöberg und seinen Mitarbeitern bald einen Platz erobert. Nachdem er eine Weile unter dem Namen Idol-Odd firmierte, hatte Jens Sandén irgendwann genug davon und den Namen Loddan ins Spiel gebracht. Die Lodde, sagte er, ist ein hässlicher Fisch mit großem Maul, der in großen Schwärmen durchs Meer zieht, aber nicht besonders lecker ist. Deshalb meinte er, dass er gut zu Idol-Odd passen würde, der damit auch Gäddan im Aquarium – dem großen Glasgebäude an der Östgötagatan 100 – Gesellschaft leisten könne. Und konsequenterweise dauerte es dann auch nicht mehr lange, bis man den kleinen Mercury bei der Hammarbypolizei auf den Namen Mörten – Rotauge – getauft hatte.

Bevor das Telefon noch ein weiteres Mal läuten konnte, nahm er den Hörer ab.

»Okay … Ja, so ist es vielleicht am Besten … Dann werde ich den Jungen eben mitnehmen, er wohnt bei mir … Ach, dann muss er eben im Auto sitzen und Däumchen drehen, kein Problem …«

*

Während der schlaftrunkene Polizeiassistent Jamal Hamad sich höchst widerwillig der Morgentoilette widmete, beschäftigte sich sein Gehirn weiter damit, die Eindrücke des vergangenen Tages zu verarbeiten. Den Samstagabend hatte er ausgerechnet auf dem Pride-Festival verbracht. Nicht weil ihn die Veranstaltung besonders amüsierte, er fand, dass zu viel Gewicht auf das Sexuelle, das Extreme gelegt wurde. Seriöse Programmpunkte über Toleranz und sexuelle Selbstbestimmung in allen Ehren, aber jetzt im Ernst – Dildokegeln? Würden solche Beiträge das Verständnis für Fragen der Homo-, Bi- und Transsexualität fördern? Er befürchtete, dass es sich eher andersherum verhielt. Nun hatte er allerdings weder aus Spaß noch aus politischer Überzeugung teilgenommen, sondern aus höchst persönlichen Gründen.

Im Tantolunden und in unmittelbarer Nähe eines Wohnwagens, wo man, wenn man bereit war, dreißig Minuten zu warten, herausfinden konnte, ob man mit Chlamydia oder HIV infiziert war, hatte eine Podiumsdiskussion stattgefunden. Dort unterhielten sich ein Repräsentant des Lesben- und Schwulenverbands, ein Vertreter des Rechtsmedizinischen Instituts, ein Kriminologe von der Universität Stockholm, Politiker verschiedener Parteien sowie einige Polizisten über Gleichstellung, sexuelle Gleichberechtigung und Hasskriminalität.

Die Eröffnungsrede hielt der stellvertretende Polizeidirektor der Hammarbypolizei, Gunnar Malmberg. Der Vergewaltiger Gunnar Malmberg. Dass niemand anderer als er der andere Mann war, wusste allein Hamad.

Was Malmberg während der zehn Minuten sagte, die er das Wort hatte, ließ Hamad zusammenzucken: »Glaubwürdigkeit hat ein großes Gewicht, ganz besonders in einer Organisation wie der Polizei. Um unserem Bemühen um Gleichstellung Glaubwürdigkeit zu verleihen, müssen wir jetzt handeln und nicht nur reden.«

»Empathie. Wir alle tragen die Verantwortung dafür, dass die Machtordnung der Geschlechter erhalten bleibt. Männer sollten sich in die Situation der Frauen hineinversetzen. Wenn Männer dies wie selbstverständlich täten, bräuchten wir uns um Gleichstellung nicht zu bemühen.«

»Alle Erfahrung sagt uns, dass die Gleichstellung eine ungeheure Kraft gegen die Gewalt entfaltet. Es gibt keine schlechten Menschen – es ist das Schweigen der guten Menschen, mit dem ich mich so schwertue.«

Pfui, Teufel. Hamad schauderte es, als er die Tür hinter sich schloss, um zum Tatort nach Älvsjö hinauszufahren.

*

Man hatte ein Zelt über dem Körper aufgespannt. Der tote Mann bot ein trauriges Bild, wie er in einer Art stabiler Seitenlage ruhte. Seine Kleidung war vollkommen durchnässt, und der Regen hatte den Asphaltweg, auf dem er lag, effektiv von jedem Blut gereinigt. Die klaffenden Löcher an Hals und Nacken zeugten jedoch davon, dass es sehr viel Blut gewesen sein musste. Außerdem deutete alles darauf hin, dass er zusätzlich noch einen Schuss in den Rücken bekommen hatte.

Er war ordentlich gekleidet mit Slippern aus Veloursleder, beigen Hosen, hellblauem Hemd und marineblauem Jackett. Eine elegante Uhr schaute unter der Manschette hervor, und am Ringfinger der linken Hand steckte ein Goldring. Man hatte bereits zu Beginn die Taschen des Mannes geleert, um so viel wie möglich vor dem Regen zu retten. In der Innentasche des Jacketts hatte noch die Brieftasche gesteckt, die sowohl Kreditkarten als auch Bargeld enthielt, was gegen einen Raubmord sprach. Laut Führerschein handelte es sich bei dem Opfer um den zweiundfünfzig Jahre alten Sven-Gunnar Erlandsson.

Sjöberg, Hamad, Westman und Andersson standen vor dem Untersuchungszelt und schauten hinein, um sich ein Bild vom Tatort zu machen. Zwei Techniker arbeiteten unter der Plane. Es schien ein hoffnungsloses Unterfangen, noch irgendwelche Spuren des Mörders aus den Wasserpfützen auf dem Asphalt herauswaschen zu wollen.

»Es war ein schöner Abend gestern. Weiß irgendjemand, wann der Regen angefangen hat?«, fragte Sjöberg.

»Ich bin um zwölf ins Bett gegangen, da war es noch schön«, antwortete Andersson.

»Als ich um viertel vor eins nach Hause kam, hatte es sich schon ein bisschen zugezogen«, sagte Hamad.

»Als ich um viertel nach vier aufgestanden bin, hat es schon gegossen und seitdem auch nicht wieder aufgehört«, berichtete Hedvig Gerdin, die plötzlich mit Bella Hansson, Sandén und dem Rechtsmediziner Kaj Zetterström im Schlepptau aufgetaucht war.

»Sehr gut, dann bist du also schuld, Gäddan«, sagte Sandén. »Schön, euch alle wiederzusehen. Hattet ihr einen schönen Urlaub?«

»Mhm, zumindest bis jetzt«, antwortete Sjöberg. »Danke, dass ihr euch alle bereitgefunden habt.«

Er trat einen Schritt zur Seite, um Hansson und Zetterström ins Zelt zu lassen.

»Ich dachte, es wäre das Beste, wenn alle von Anfang an dabei sind, dann brauchen wir am Montag nicht alles noch einmal durchzukauen. Ihr könnt die Überstunden natürlich bei Gelegenheit wieder abbummeln, ich hoffe, das ist okay für euch. Wenn ihr euch vielleicht dort drinnen umschaut«, fuhr Sjöberg an Sandén und Gerdin gerichtet fort, »dann werden wir anderen uns mal die Umgebung ansehen. Ich werde ein paar Worte mit den Polizisten wechseln, die zuerst vor Ort waren.«

Am Absperrband weiter unten auf dem Weg standen zwei uniformierte Polizisten, ein Mann und eine Frau, die aussahen, als würden sie auf bessere Zeiten warten. Einer von ihnen schaute in den Himmel, aber der versprach keinen Wetterumschwung in naher Zukunft, sondern blieb unverändert grau.

»Wer hat den Körper gefunden?«, fragte Sjöberg.

»Eine Joggerin«, antwortete die Polizistin. »Ein junges Mädchen, das hier in der Nähe wohnt. Wir haben sie nach Hause geschickt.«

»Hat sie etwas gesehen oder gehört?«

»Nichts. Es war so gegen fünf Uhr.«

»Hat sie ihn berührt?«

»Sie hat nach dem Puls gesucht, aber es war ziemlich offensichtlich, dass er schon tot war, sodass sie keine Wiederbelebungsversuche unternommen hat. Außerdem hat sie das Opfer gekannt.«

»Sie hat ihn gekannt? Woher?«

»Anscheinend war er ihr Fußballtrainer«, erklärte der andere Polizist. »Sie war ganz schön mitgenommen. Sie hatten wohl heute auch noch ein Spiel.«

»Oh, verdammt. Wie alt ist sie denn?«

»Dreizehn. Josefin Siem heißt sie. Du bekommst ihre Daten.«

Irgendwo unter dem Regenponcho zog er einen Notizblock hervor, riss eine Seite heraus und gab sie Sjöberg, der sich mit einem Nicken bedankte und zum Untersuchungszelt zurückkehrte, wo die anderen sich ihm anschlossen.

»Gruselig«, bemerkte Sandén und schüttelte den Kopf. »Er sieht aus wie ein ganz normaler Durchschnittsschwede.«

»Er soll Fußballtrainer sein«, sagte Sjöberg. »Sagt jedenfalls das Mädchen, das ihn gefunden hat.«

»Wir haben Kreditkarten und auch Bargeld in seiner Brieftasche gefunden«, sagte Gerdin. »Über tausend Kronen. Er scheint also nicht ausgeraubt worden zu sein.«

»Auf der anderen Seite hatte er kein Handy dabei, und das dürfte im Jahr 2009 ziemlich ungewöhnlich sein«, meinte Sandén.

Sjöberg blieb skeptisch.

»Handyräuber sind normalerweise junge Männer, die schlimmstenfalls mit einem Messer angreifen. Ich halte es für ziemlich ungewöhnlich, dass eine Bande von Teenagern jemandem in den Schädel schießt, um an sein Handy zu kommen. Ist euch sonst noch etwas aufgefallen?«

Hansson schaute aus der Zeltöffnung heraus.

»Ich nehme an, dass ihr wissen wollt, was wir bei ihm gefunden haben. Über die Brieftasche wisst ihr Bescheid. Sportliche Armbanduhr der Marke Seiko. Goldring ohne Inschrift, wahrscheinlich ein Ehering, weil er am linken Ringfinger saß. Und dann steckten vier Spielkarten in der Brusttasche seines Jacketts.«

»Asse?«, wollte Westman wissen.

»Tja, eine der Karten war ein Ass, aber nicht alle.«

»Vielleicht ein Falschspieler?«, überlegte Hamad. »Nach einer schönen, alten Tradition schießt man Falschspielern in den Kopf.«

»Was ist denn mit Teer und Federn passiert?«, seufzte Sandén.

Auch Zetterström steckte seinen Kopf aus dem Zelt.

»Ihm wurde nicht in den Kopf geschossen, sondern in den Nacken. Aus kurzer Entfernung und mit einer großkalibrigen Waffe, schätze ich. Die Kugel ging quer durch den Hals, ihr werdet sie also irgendwo hier in der Ecke finden. Wahrscheinlich wurde ihm zuerst aus fünf bis zehn Metern Entfernung in den Rücken geschossen. Dabei dürfte er nach vorne gefallen sein, worauf der Mörder näher an ihn herantrat und eine weitere Kugel in seinen Nacken abfeuerte. Von dem ersten Schuss habe ich kein Austrittsloch gefunden, wahrscheinlich hat die Kugel das Rückgrat getroffen und die Richtung geändert, sodass sie irgendwo im Körper steckengeblieben ist. Wenn ich mit der Obduktion begonnen habe, gibt es Genaueres.«

Der Rechtsmediziner zog sich ins Zelt zurück, und Hansson nahm den Faden wieder auf.

»Dann haben wir in derselben Tasche wie die Spielkarten noch einen handgeschriebenen Zettel gefunden. Aber der ist so aufgeweicht, dass man den Text nicht entziffern kann. Es könnten sowohl Ziffern als auch Buchstaben sein, aber es ist sehr verschwommen.«

»Eine Telefonnummer vielleicht? Oder eine Adresse?«, schlug Andersson vor.

»Gut möglich. Ich werde tun, was ich kann, um den Zettel lesbar zu machen. Das war alles.«

»Danke«, sagte Sjöberg. »Ich werde herausfinden, wo er wohnt, ob er Angehörige hat und ob er vermisst gemeldet worden ist.«

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

»Es ist noch vor sieben, es ist also durchaus möglich, dass ihn noch niemand vermisst. Nach seinem Ring zu urteilen, wird er wohl Angehörige haben. Wir kehren zu den Autos zurück.«

Als Nächstes wählte er die Nummer von Lundin, von dem er wusste, dass er gerade Diensthabender in der Wache war, weil er ihn vor nicht allzu langer Zeit angerufen und geweckt hatte. Von ihm erfuhr er, dass Sven-Gunnar Erlandsson nicht als vermisst gemeldet worden war, dass er im Vaktelstigen 16 in Herrängen wohnte und dass dort auch seine Ehefrau, Adrianti, gemeldet war.

*

»Adrianti?«, sagte Gerdin, als sie und Sjöberg sich darauf vorbereiteten, bei Familie Erlandsson zu läuten. »Was ist denn das für ein merkwürdiger Name?«

Sie befanden sich in einer freundlichen Eigenheimsiedlung mit üppigen Gärten, direkt neben einem Waldgebiet, das die Bewohner effektiv von zwei ganz in der Nähe verlaufenden, dicht befahrenen Verkehrsadern abschirmte. Es war derselbe Wald, in dem Sven-Gunnar Erlandsson gefunden worden war, nur ein paar hundert Meter weiter. Das Haus war in einem grünen, fast olivfarbenen Ton gestrichen. Im Unterschied zu den umliegenden Häusern war es nach oben erweitert worden und glich einer Kaufmannsvilla im Kleinformat.

Der Himmel war ein wenig aufgeklart, und was vom Regenwetter noch übrig war, das tropfte auf sie herunter, während sie an dem Audi in der asphaltierten Hofeinfahrt vorbei zum Eingang gingen. Sjöberg drückte auf den Knopf, und ein angenehmes Klingelsignal pflanzte sich durch die Wände fort und bis zu ihnen nach draußen. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis eine Frau mittleren Alters in Morgenmantel und Lammfellpantoffeln die Tür öffnete. Sie starrte sie mit einem gehetzten Ausdruck an, ohne etwas zu sagen. Sjöberg hatte den Polizeiausweis bereitgehalten und streckte ihn ihr entgegen.

»Ich heiße Conny Sjöberg und arbeite als Kommissar bei der Hammarbypolizei. Das ist Kriminalinspektor Hedvig Gerdin.«

»Ist etwas passiert?«, fragte die Frau besorgt. »Geht es um Svempa?«

Sjöberg hatte sofort den starken Akzent bemerkt und nahm aufgrund ihres Aussehens an, dass sie wahrscheinlich aus dem südostasiatischen Raum stammte. Das schwarze Haar war hastig zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der sich bereits wieder aufzulösen drohte. Mit krampfhaft vor der Brust verschränkten Armen und hochgezogenen Schultern vermittelte sie den Eindruck, als sei sie gerade erst aus dem Bett gestiegen. Und als wäre ihr Erwachen nicht das beste gewesen.

»Sind Sie Adrianti? Sven-Gunnar Erlandssons Frau?«, fragte Sjöberg und versuchte einen Gesichtsausdruck aufzusetzen, der möglichst wenig von ihrem Auftrag verriet.

Sie nickte.

»Wir würden gerne hereinkommen und uns mit Ihnen unterhalten. Wäre das möglich?«

Sie nickte ein weiteres Mal und trat einen Schritt zurück, um sie hereinzulassen. Sie befanden sich jetzt in einer kleinen Diele mit Holzpaneelen an den Wänden und einem Flickenteppich auf dem Boden. Auf der Türmatte entledigten sie sich ihrer schlammigen Stiefel und folgten ihr ins Haus. Nachdem sie die Treppe ins Obergeschoss passiert hatten und einen kurzen Blick in ein gemütliches Wohnzimmer mit vollen Bücherregalen und einem alten Klavier werfen konnten, gelangten sie in eine große Küche, die an einem weiß gestrichenen Holztisch im Bauernstil Platz für zehn Personen bot. Auch hier war der Boden mit Flickenteppichen bedeckt. Der anheimelnde Duft nach Curry erinnerte Sjöberg daran, dass er noch nicht gefrühstückt hatte. Mit zitternden Händen zog die Frau einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich. Die beiden Polizisten nahmen ihr gegenüber Platz, und Sjöberg wollte gerade das Wort ergreifen, als sie ihm zuvorkam.

»Er ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen. Ich bin gegen Mitternacht zu Bett gegangen, und da war Svempa noch nicht da. Und als ich eben aufgewacht bin, war er immer noch nicht zu Hause. Was ist denn passiert?«

Sie faltete die Hände vor dem Mund und presste die Finger so fest aneinander, dass die Knöchel weiß hervortraten.

»Er ist vor ein paar Stunden tot aufgefunden worden«, kam Sjöberg direkt zur Sache. »Ganz in der Nähe. Auf dem Spazierweg hier im Wald. Es tut mir furchtbar leid.«

Sie starrte ihn verstört an, unfähig, auch nur ein Wort zu erwidern. Er gab ihr Zeit, die schreckliche Nachricht zu verarbeiten. Da knarrten die Treppenstufen, und kurz darauf tauchte eine junge Frau in der Türöffnung auf, barfuß und im Pyjama. Sie schien um die zwanzig zu sein und ließ ihren Blick verwundert von Sjöberg zu Gerdin wandern, bevor er dem ihrer Mutter begegnete. Oder war es vielleicht ihre Stiefmutter? Die blauen Augen und die blonden Haare sprachen dafür. Ein Hauch von Besorgnis streifte ihr Gesicht, als sie mit einem Blick auf die Digitaluhr im Mikrowellenherd feststellte, dass es tatsächlich so früh war, wie sie gedacht hatte.

»Ist etwas passiert?«, fragte sie mit dem halbherzigen Versuch eines Lächelns. »Ist etwas mit Papa? Adri?«

Die Anrede überzeugte Sjöberg davon, dass er mit seiner Vermutung richtig gelegen hatte. Die Stiefmutter bekam kein einziges Wort heraus, sodass Sjöberg sich gezwungen sah, an ihrer Stelle zu antworten.

»Sven-Gunnar Erlandsson, ist das ihr Vater?«

Sie nickte.

»Es tut mir leid, aber er ist vorhin tot aufgefunden worden.«

Gerdin erhob sich, legte einen Arm um das Mädchen, das leise zu weinen begann, und setzte sie sanft auf einen Stuhl.

»Was ist passiert?«, fragte sie matt, während ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen.

»Er ist erschossen worden«, antwortete Sjöberg. »Eine Joggerin hat ihn gegen fünf Uhr auf dem Waldweg hier in der Nähe gefunden. Wissen Sie, wo er gewesen ist?«

»Im Långbro Värdshus«, antwortete Adrianti Erlandsson mit brüchiger Stimme.

Sie räusperte sich und fuhr fort.

»Die Pokerrunde verfeiert einmal im Jahr ihre Kasse. Sie essen und trinken, bis das Geld alle ist. In der Regel wird es ziemlich spät, also war ich nicht beunruhigt darüber, dass er noch nicht zu Hause war, als ich ins Bett ging.«

Jetzt begannen auch bei ihr die Tränen zu fließen.

»Ach, Kleine«, sage sie und zog das Mädchen zu sich heran. »Meine liebe, kleine Ida.«

Sie saßen ruhig und gefasst beisammen und spendeten einander Wärme und Trost. Sjöberg fand, dass die Szene von einer tiefen Würde geprägt war. Stille Trauer und Liebe.

»Gibt es noch mehr Kinder?«, fragte er.

»Ja. Ich muss Anna und Rasmus anrufen.«

»Wir werden Sie nicht mit Unmengen von Fragen quälen. Aber um weiterarbeiten zu können, brauchen wir jetzt sofort einige wichtige Informationen. Den Rest können wir bei einem späteren Besuch klären. Wir benötigen die Namen und die Adressen oder Telefonnummern aller Leute, die gestern Abend dabei waren. Können Sie uns damit helfen?«

Adrianti Erlandsson küsste das Mädchen auf die Stirn, sammelte ihre Gedanken und wandte sich Sjöberg zu.

»Staffan«, sagte sie. »Staffan Jenner, Svempas bester Freund. Er wohnt nicht weit von hier. Im Blåklintsvägen. Lennart Wiklund. Er wohnt jetzt drüben im Långbrokungens Väg. Und dann noch Janne Siem, der in Långbro wohnt.«

Sjöberg zuckte zusammen.

»Siem?«, wiederholte er. »Hat der vielleicht eine Tochter namens Josefin?«

Sie schaute ihn erstaunt an.

»Ja, sie spielt in der Mannschaft, die Svempa trainiert. Warum?«

»Sie hat ihn gefunden. Beim Joggen.«

Ida schaute mit verschleierten Augen zu ihm hoch und warf dann ihrer Stiefmutter einen schwer zu deutenden Blick zu. Die Stiefmutter sah jetzt noch betroffener aus.

»Armes Kind«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Ich … weiß nicht, was ich sagen soll … Ich werde nachsehen, ob ich ihre Nummer im Handy gespeichert habe.«

Sie erhob sich mit einem tiefen Seufzen und verließ die Küche.

»Ida, wissen Sie, ob Ihr Vater sein Handy gestern zu Hause gelassen hat?«, nutzte Gerdin die Gelegenheit zu einer Frage an die Tochter.

»Nein, das würde er niemals tun«, antwortete das Mädchen und wischte sich mit der Hand unter der Nase. »Er hatte sein Telefon immer dabei.«

»Was hatte er für ein Modell?«

»Ein iPhone mit sechzehn Gigabyte, in einer roten Hülle. Wurde er ausgeraubt?«

Gerdin warf Sjöberg einen fragenden Blick zu, überließ ihm die Entscheidung, welche ihrer Erkenntnisse sie preisgeben würden.

»Vielleicht«, antwortete er. »Wir haben kein Handy gefunden. Seine Brieftasche war dagegen noch da. Wo hat Ihr Vater gearbeitet?«

»Bei der SEB. Im Kungsträdgården.«

»Wissen Sie, ob er Feinde hatte?«

»Feinde?«

Ida Erlandsson wirkte aufrichtig überrascht.

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Alle lieben Papa. Haben ihn geliebt«, korrigierte sie sich.

Adrianti kehrte mit einem Handy in der Hand zurück. Sie hatte offensichtlich auch die Frage gehört.

»Svempa hatte keine Feinde«, sagte sie. »Ich habe noch nie jemanden ein schlechtes Wort über ihn sagen hören. Großzügig, hilfsbereit, beliebt auf der Arbeit, ein Familienmensch. Er hat den Obdachlosen geholfen und war seit vielen Jahren Fußballtrainer. Ehrenamtlich.«

Neue Tränen schossen ihr in die Augen, während sie sprach, sodass sie sich unterbrach und sich mit den Händen vor den Augen wieder an den Tisch setzte. Sjöberg fand es pietätlos, jetzt noch weitere Fragen zu stellen, also sahen die beiden Polizisten zu, dass sie die letzten Informationen noch bekamen, und verabschiedeten sich.

Sonntagvormittag

Gegen neun, nachdem alle etwas gegessen hatten, versammelten sich die beteiligten Kräfte im blauen, ovalen Besprechungsraum auf der Polizeiwache. Sjöberg hatte Hansson noch erreicht, als sie sich auf der Rückfahrt vom Tatort befand, aber sie meinte, dass sie nichts mehr gefunden hätten, was mehr Licht auf den Fall werfen könnte. Deshalb verzichtete sie darauf, an der Besprechung teilzunehmen, und widmete sich stattdessen der Analyse ihrer Funde im Labor. Staatsanwalt Hadar Rosén war eigens für dieses Treffen von seinem Sommerhaus in Roslagen in die Stadt gefahren, hatte es anscheinend aber nicht für notwendig angesehen, die Freizeitkleidung durch einen Anzug zu ersetzen. Eine Einstellung, die er mit allen anderen, die an dem Tisch saßen, zu teilen schien, wenngleich er der Einzige war, der normalerweise auch im Alltag einen Anzug zu tragen pflegte.

Sjöberg eröffnete die Besprechung mit einer kurzen Wiedergabe der bekannten Fakten zu diesem Mordfall, vor allem, um den Staatsanwalt auf den aktuellen Stand zu bringen. Zusätzlich fasste er den kurzen Besuch bei der Witwe und der Tochter zusammen.

»Es gibt natürlich noch vieles mehr, worüber wir mit ihnen sprechen wollen, aber wir lassen sie heute noch in Ruhe und nehmen erst morgen wieder Kontakt zu ihnen auf.«

»Welchen Beruf hat Erlandsson ausgeübt?«, wollte Rosén wissen.

»Den Angaben der Tochter nach arbeitete er als Bankangestellter bei der SEB.«

»Wurde er im Herrängsskogen ermordet, oder fand die Tat woanders statt?«

»Laut Bella wurde Sven-Gunnar Erlandsson dort erschossen, wo er auch gefunden wurde«, antwortete Sjöberg. »Der Regen hat sehr viel Blut fortgespült, aber unter dem Körper war noch genug übrig, um daraus schließen zu können, dass er dort umgebracht worden ist. Das meiste deutet, wie gesagt, darauf hin, dass er zunächst mit einem Schuss in den Rücken verletzt worden ist und die Tat kurz darauf mit einem Schuss in den Nacken abgeschlossen wurde.«

»Eine regelrechte Hinrichtung«, stellte Gerdin fest.

»Ausgeführt von einem feigen Hund, der seinem Opfer nicht in die Augen schauen wollte«, bemerkte Sandén.

»Ich glaube immer noch, dass es um Falschspiel ging«, meinte Hamad. »Warum hätten sonst diese Spielkarten in seiner Tasche stecken sollen? Es wäre etwas anderes, wenn wir ein ganzes Kartenspiel gefunden hätten. Und ein Schuss in den Kopf ist tatsächlich das, was die Tradition hier vorschreibt, auch wenn man vielleicht das Gefühl hat, dass es zu einer anderen Zeit und zu einem anderen Ort gehört.«

»Nun ist er allerdings in den Nacken geschossen worden, und nicht in den Kopf«, warf Andersson ein.

»Das ist doch Haarspalterei … Im Prinzip ist es doch dasselbe«, meinte Hamad.

»Wir wissen gar nicht, um welche Summen es ging«, sagte Sjöberg. »Aber wenn ich es richtig verstanden habe, dann hat diese Truppe gestern Abend die gesamte Pokerkasse im Långbro Värdshus verfeiert. Selbst wenn es entgegen unserer Annahme nur eine Person gewesen sein sollte, die für die Rechnung geradestehen musste, kann ich mir kaum vorstellen, dass es dabei um so große Summen ging, dass man dafür einen Mord begehen würde. Drei Gänge und edle Weine, dazu vielleicht noch Champagner und Cognac, für insgesamt vier Personen. Ich sage mal zehntausend Kronen, und das ist eher ein bisschen hoch gegriffen. Aber das kann man ja ganz einfach herausfinden.«

»Da bin ich ganz Connys Meinung«, sagte Westman. »Zehntausend sind viel zu wenig, um dafür den Schädel weggeblasen zu bekommen.«

»Den Nacken …«, versuchte Andersson erneut einzuwerfen.

»Nicht, wenn der Mann ein System daraus gemacht hat«, argumentierte Hamad hartnäckig weiter. »Vielleicht hat er seit Jahren schon geschummelt, und am Ende ist bei irgendjemandem das Maß einfach voll gewesen.«

»Dann würde es sich um Rache handeln«, fuhr Westman fort. »Und in dem Fall hätte der Schuss in die Stirn gehen müssen. Was wäre denn das für eine Rache, wenn das Opfer gar nicht mitbekommt, worum es eigentlich geht? Außerdem ist es aus meiner Sicht der falsche Zeitpunkt für einen Racheakt, wenn die Rechnung bereits bezahlt ist.«

»Mir geht dieses fehlende Handy einfach nicht aus dem Kopf«, sagte Sandén. »Habt ihr überprüft, ob er es zu Hause gelassen hat?«

»Das hat er nicht«, antwortete Sjöberg. »Seine Tochter sagt, er hätte es immer dabei.«

»Dann können wir also festhalten, dass der Mörder ihm auf jeden Fall das Handy abgenommen hat«, sagte Sandén. »Was war es für ein Modell?«

»Ein iPhone«, sagte Sjöberg. »Mit roter Hülle.«

»Sechzehn Gigabyte«, präzisierte Gerdin.

»So eins kostet auf jeden Fall fünf- bis sechstausend Kronen. Aber niemand von euch glaubt, dass es sich um einen Handyräuber handelt?«

Allgemeines Kopfschütteln. Sandén zuckte mit den Schultern, war selbst anscheinend auch nicht besonders überzeugt.

»Weil die Brieftasche noch da war, können wir einen Raubmord, glaube ich, ausschließen«, sagte Andersson. »Dass ihm zuerst in den Rücken geschossen wurde, spricht aus meiner Sicht dafür, dass wir es mit einem feigen Hund zu tun haben, genau wie Jens schon gesagt hat. Vielleicht sogar mit einem Anfänger. Aber auf jeden Fall mit einer Person, die es auf niemand anderen als Erlandsson abgesehen hatte. Und wer weiß – vielleicht tatsächlich nur, um an das Handy heranzukommen. Vielleicht enthielt es wichtige Informationen. Die es wert waren, dafür zu töten.«

»Interessanter Gedanke«, sagte Sjöberg. »Vielleicht hatte er es auch in der Hand gehalten, und der Mörder konnte nicht widerstehen. Wir gehen jetzt folgendermaßen vor: Du, Loddan, und Jens, ihr befragt Jan Siem und seine Tochter. Ich brauche wohl nicht extra zu betonen, dass ihr mit dem Mädchen besonders rücksichtsvoll umgehen solltet. Petra und Jamal kümmern sich um die anderen beiden Pokerkameraden, Lennart Wiklund und Staffan Jenner. Gäddan, du bleibst hier und recherchierst. Melderegister, Kriminalregister, allgemeines Fahndungsregister, internes Fahndungsregister und so weiter, für alle beteiligten Personen. Ich selbst werde Kontakt zum Långbro Värdshus aufnehmen und anschließend versuchen, seine Arbeitskollegen zu erreichen, falls das an einem Sonntag überhaupt möglich ist.«

»Bist du dir absolut sicher?«, fragte Gerdin kryptisch.

Alle Blicke richteten sich auf sie. Gerdin war ein schräger Vogel, aus dem man nicht so richtig klug wurde. Wahrscheinlich, weil sie sich nicht entscheiden konnte, ob sie ein junges Mädchen oder eine Dame im besten Alter sein wollte. Sjöberg hatte sich tatsächlich bei dem Gedanken ertappt, dass sie vielleicht nur deshalb ein Problem mit ihr hatten, weil sie sie in keine Schublade stecken konnten, was für eine gewisse Irritation sorgte. Außer bei Sandén, ausgerechnet, der fand, dass sie »ein wunderbarer Typ« sei, wie er es ausdrückte. Und bei Hansson natürlich, die jede Menge Zeit mit ihr auf der Golfbahn verbrachte, wo Gerdin offensichtlich eine Göttin war.

»Ich bin mir bei gar nichts sicher«, entgegnete Sjöberg trocken. »Was meinst du denn?«

»Bist du sicher, dass man Josefin Siem mit Samthandschuhen anfassen sollte? Warum nicht mit harter Hand?«

Ein paar Sekunden lang sagte niemand etwas, aber ein breites Grinsen zog sich über Sandéns Gesicht.

»Sie ist doch noch ein halbes Kind«, sagte Sjöberg skeptisch. »Was könnte man deiner Meinung nach damit erreichen?«

»Ich halte es einfach für einen seltsamen Zufall, dass ausgerechnet sie als Erste am Tatort aufgetaucht ist. Ich jedenfalls würde gar nicht ausschließen wollen, dass sie möglicherweise den Mord begangen hat.«

»Eine Dreizehnjährige …?«

»Die sind heutzutage schon ziemlich weit für ihr Alter. Eine andere Möglichkeit wäre, dass ihr Vater Erlandsson umgebracht hat und die kleine Josefin ihm in irgendeiner Weise dabei behilflich war. Sie könnte zum Beispiel die Waffe zum Verschwinden gebracht haben. Sie ist Fußballspielerin, hat bestimmt eine Mordskondition und könnte durchaus bis nach Fittja und wieder zurück gelaufen sein.«

Sjöberg nickte nachdenklich, er war gezwungen, ihr in diesem Punkt recht zu geben. Das Szenario schien zwar weit hergeholt, war aber durchaus möglich. Die Waffe war nicht gefunden worden, obwohl man ein ziemlich großes Gebiet rund um den Tatort durchkämmt hatte.

»Naja, es war ja nur ein Gedanke. Haltet einfach die Augen offen, Jungs«, bemerkte sie abschließend und feuerte ein Lächeln auf Andersson und Sandén ab.

Im selben Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und Gunnar Malmberg trat ein. Wie üblich tadellos gekleidet, in diesem Fall in Jeans und Pikeehemd, mit einer kleidsamen Sonnenbräune und einer Frisur, die dem morgendlichen Unwetter ganz eindeutig nicht ausgesetzt worden war.

»Du lieber Himmel«, rief Sandén aus. »Ist heute nicht Sonntag?«

»Und dazu auch noch Urlaub?«, warf Gerdin ein, die sich wie Sandén keine allzu großen Gedanken um ihre Stellung in der Hierarchie machte, sondern mit dem stellvertretenden Polizeidirektor redete, als wäre er ein x-beliebiger Kollege.

»Ich musste mich über das Wochenende durch ein paar Aktenberge durcharbeiten«, antwortete Malmberg reserviert und wechselte sofort das Thema. »Ich habe von Lundin gehört, dass ihr diesen Älvsjömord bearbeitet, stimmt das? Hieß der Mann Erlandsson?«

»Das stimmt«, bestätigte Sjöberg.

»Ich habe gerade eben einen seltsamen Anruf bekommen.«

Er warf einen Blick auf die Uhr, die jetzt zwanzig Minuten vor zehn anzeigte.

»Vor ungefähr fünf Minuten. Er habe mich angerufen, weil ich der Polizeichef sei, so hat er es ausgedrückt, und er hat erzählt, dass er Informationen zu diesem Mord hätte. Ich wusste noch gar nichts darüber, machte mich aber gleich bereit, Notizen zu machen. Leider sagte er nichts weiter, als dass wir den Mörder niemals finden würden, und dann hat er aufgelegt.«

»Das ist ja ein Ding«, sagte Sjöberg. »Und es war ein Mann, da bist du dir sicher?«

»Absolut. Ziemlich jung, würde ich sagen.«

»Sprach er einen bestimmten Dialekt?«

»Darauf habe ich nicht geachtet.«

»Alter?«

»Keine Ahnung, im Hintergrund war es ziemlich laut.«

»Stimmenverzerrer?«, schlug Gerdin vor, ohne dass jemand so recht zu sagen wusste, ob sie es ernst meinte oder scherzte.

»Tja, das wäre natürlich möglich«, antwortete Malmberg, der die Frage jedenfalls ernst nahm. »Das ist heutzutage schwer festzustellen, oder?«

»Könntest du das Gespräch vielleicht so gut es geht im Wortlaut wiedergeben?«, bat Sjöberg.

»Natürlich«, sagte Malmberg und zog einen handgeschriebenen Zettel aus der Hosentasche. »Ich habe es so aufgeschrieben, wie ich mich daran erinnerte. Kleine Fehler kann ich allerdings nicht ausschließen: ›Du bist also der richtige Polizeichef, oder?‹ – ›Ja, so könnte man das sagen. Stellvertretender Polizeidirektor ist die korrekte Bezeichnung.‹ – ›Ich habe interessante Informationen, die den Fall Erlandsson betreffen.‹ – ›Okay, schießen Sie los.‹ – ›Dann kann ich euch erzählen, dass der, der geschossen hat, den findet ihr nie. Ihr verdammten Loser.‹ Das war alles.«

»Tja, jedenfalls bereut er es nicht, das wissen wir jetzt«, stellte Sandén fest.

»Fragwürdige Grammatik«, mäkelte Gerdin, ohne dass ihr jemand besondere Aufmerksamkeit schenkte.

»Hast du das Gespräch auf dem Handy entgegengenommen oder über die Zentrale?«, wollte Hamad wissen, der alles genau notierte, was Malmberg berichtete.

»Es war das Handy, der Anruf kam aber über die Zentrale. Für einen Außenstehenden ist das die einzige Möglichkeit, telefonisch mit mir in Kontakt zu kommen. Meine Handynummer ist natürlich geheim, aber ich leite alle Anrufe auf mein Handy um.«

»Du hattest Hintergrundlärm erwähnt«, sagte Rosén. »Kannst du beschreiben, um welche Art von Lärm es sich gehandelt hat?«

»Stimmen? Motorengeräusche? Musik?«, schlug Sjöberg vor.

»Verkehrslärm, würde ich sagen. Es ging so schnell, ich konnte kaum reagieren, bis alles vorbei war.«

»Ich kann mich darum kümmern«, sagte Hamad. »Ich mache bei der Telia ein bisschen Dampf, damit wir erfahren, von welcher Nummer der Anruf stammte und von wo er kam. Ich kann auch die Verbindungslisten für Erlandssons Telefon beantragen, wenn ich schon einmal dabei bin.«

Sjöberg begann seine Papiere einzusammeln.

»Gut, Jamal«, sagte er. »Wir werden ja sehen, wie schnell sie an einem Sonntag in der Ferienzeit arbeiten können. Und danke für die Informationen, Gunnar. Ich glaube, wir sind jetzt fertig. Die nächste Besprechung findet morgen früh um neun statt.«

*

Sandén und Andersson lasen Mercury bei Lundin auf, wo er saß und ein Bild malte, nachdem es ihm angeblich gelungen war, dem Diensthabenden zwei Gitarrenakkorde beizubringen. Anschließend machten sie sich in Anderssons Auto auf den Weg zu Familie Siem im Vivelvägen in Långbro, während der Sechsjährige auf dem Rücksitz mit voller Kraft die Gitarre bearbeitete. Eine Weile später ließen sie ihn dort zurück, nur um von Frau Siem zu erfahren, dass weder Josefin noch deren Vater zu Hause seien, da sie trotz allem beschlossen hätten, nach Södertälje zu fahren, um das dort angesetzte Auswärtsspiel zu bestreiten.

»War das Mädchen nach diesem Erlebnis denn wirklich in der Lage, Fußball zu spielen?«, fragte Sandén mit einer gewissen Skepsis.

»Wir haben uns gedacht, dass es gut für sie ist, rauszukommen und Leute zu treffen«, antwortete die Frau. »An andere Sachen zu denken.«

Sie war zwischen vierzig und fünfundvierzig Jahre alt und sah gut aus, auch wenn sie für einen Sonntagvormittag zu Hause ein bisschen zu sehr geschminkt war, fand Sandén.

»Aber wenn ich es richtig verstanden habe, dann war Sven-Gunnar Erlandsson doch ihr Trainer. Wie sind sie denn damit umgegangen?«

»Janne ist eingesprungen. Er trainiert eine andere Mannschaft, kennt aber alle Mädchen, sodass es für ihn kein Problem ist«, antwortete sie unbekümmert.

»Aber wenn der Trainer ermordet worden ist … Sagt man in so einer Situation nicht das Spiel ab?«, bemerkte Andersson. »Gibt die Punkte kampflos ab? Die Mädchen müssen doch alle unheimlich schockiert sein, die können sich doch gar nicht aufs Fußballspielen konzentrieren?«

»Wir haben uns gedacht«, sagte sie ein weiteres Mal, »dass sie noch nichts davon erfahren sollten. Es ist ja noch nichts an die Öffentlichkeit gekommen, und …«

»Und …?«

Sie musste sich sichtlich zusammenreißen.

»… es war ein wichtiges Spiel.«

Sandén biss sich auf die Zunge, um seinen Gedanken nicht freien Lauf zu lassen.

»Und es ist ja wohl kaum unsere Aufgabe, sie darüber zu unterrichten«, stellte sie fest.

Sandén musste ihr im Grunde genommen recht geben, aber fasziniert davon, wie sie mit der Situation umging, fragte er weiter.

»Wer sollte das denn tun?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Der Verein. Die Polizei. Die Eltern.«

»Hatten Sie etwas gegen Sven-Gunnar Erlandsson?«, wagte Andersson sie geradeheraus zu fragen, und ihr Gesicht nahm plötzlich einen ganz anderen Ausdruck an.

»Ganz und gar nicht«, antwortete sie mit einem traurigen Lächeln, das durchaus echt sein konnte. »Im Gegenteil. Er war ein fantastischer Mensch. Wir werden ihn sehr vermissen.«

»In welcher Hinsicht war er denn – fantastisch?«, wollte Sandén wissen.

Sie dachte einen Augenblick nach, bevor sie antwortete, verlagerte ihr Körpergewicht auf das andere Bein und schien irgendwo oben zwischen den Wolken nach einem Fingerzeig zu suchen.

»Gut.«

Kunstpause.

»Er hatte ein gutes Herz. Er war hilfsbereit, rücksichtsvoll. Er steckte unendlich viel Zeit in die Mädchen und den Fußball. Ein wunderbarer Vater. Ja, so ist er ja auch zum Fußball gekommen. Und dazu noch die ganze wohltätige Arbeit.«

»Wohltätig?«

»Ja, er hat sich sehr um die Obdachlosen gekümmert. Wir werden ihn vermissen«, wiederholte sie, und Sandén fragte sich, ob man ihre Augen mittlerweile nicht fast schon als glänzend bezeichnen könnte.

»Hatten Sie privat miteinander zu tun?«, fragte Andersson.

Sie schüttelte den Kopf.

»Nicht als Familien, aber Janne und Svempa haben sich oft gesehen. Einmal durch den Fußball, und zum anderen haben sie ja auch Poker miteinander gespielt.«

»Und das haben sie gestern auch gemacht?«

»Nein, gestern haben sie nur das Geld verfeiert, das sie zusammengespielt hatten. Ja, wie genau das funktioniert, weiß ich auch nicht. Aber gestern waren sie jedenfalls im Långbro Värdshus und haben gegessen.«

»Haben Sie irgendeine Ahnung, wie lange sie dort waren?«, fuhr Andersson fort, ohne zu sagen, worauf er eigentlich hinauswollte.

»Soviel ich weiß, sind sie geblieben, bis das Restaurant schloss. Janne war etwa um halb eins zu Hause, würde ich schätzen.«

»Dann haben Sie erst einmal vielen Dank«, beendete Sandén das Gespräch. »Wir werden uns wieder bei Ihnen melden.«

»Was für ein verdammter Roboter«, fasste Andersson das Gespräch auf dem Rückweg zum Auto zusammen, nachdem sie die Tür geschlossen hatte.

Sandén konnte ihm nur zustimmen.

»Entweder hat sie nicht alle Tassen im Schrank oder sie ist tatsächlich diese bourgeoise Eiskönigin, die sie gerade gegeben hat.«

»Mit einem guten Schuss Scheinheiligkeit«, ergänzte Andersson. »Gerade so nach Bedarf. Eine Eislaufmutter im Chanelkostüm.«

»Hatte sie das?«, rief Sandén verblüfft. »Ein Chanelkostüm?«

»Was weiß denn ich? Glaubst du ernsthaft, ich würde so etwas erkennen? Zumindest habe ich deutlich erkannt, dass sie überhaupt etwas anhatte.«

Sie mussten beide lachen. Ein herrliches, dreckiges Lachen.

*

Direkt nach der Besprechung setzte sich Hamad mit der Telia in Verbindung und beauftragte sie, ihm so schnell wie möglich mitzuteilen, welche Teilnehmer zwischen 9.30 Uhr und 9.40 Uhr die Zentrale der Polizeiwache angerufen hatten. Sicherheitshalber erbat er dasselbe für Malmbergs Durchwahl und seine Handynummer. Darüber hinaus erteilte er ihnen den nicht ganz so dringenden Auftrag, eine Liste der Anrufe zusammenzustellen, die Sven-Gunnar Erlandsson auf seinem Handy getätigt oder entgegengenommen hatte. Anschließend machte er sich mit Westman auf den Weg zum Blåklintsvägen in Herrängen.

Staffan Jenner war eine schräge Figur. Obwohl er erst fünfundfünfzig Jahre alt war, wirkte er gebeugt, grau und ausgezehrt. Seine Hosen schienen allein wegen des Gürtels nicht herunterzurutschen. Hamad musste spontan an Krebs denken, und auch während der Befragung hatte er erhebliche Probleme, diesen Gedanken zur Seite zu drängen. Aber Jenner begegnete ihnen von Anfang an freundlich, bot ihnen einen Platz auf der Couch im Wohnzimmer an, bevor er überhaupt nach ihrem Anliegen fragte. Er hatte eine angenehme Stimme und aus seinen intensiv blauen Augen sprach mehr als alles andere die Neugierde.

»Wir würden gerne wissen, was Sie gestern Abend getan haben«, begann Westman die Befragung, während Hamad den Notizblock zückte.

»Ich habe im Långbro Värdshus mit ein paar guten Freunden gegessen«, antwortete er freimütig.

»Wann waren Sie zu Hause?«

»So um halb eins.«

»Wie sind Sie nach Hause gekommen?«

»Ich bin zu Fuß gegangen, es war eine fantastische Sommernacht.«

Er lächelte, als er die Antwort gab, ein kaum wahrnehmbares Lächeln, das alles mögliche bedeuten konnte, zum Beispiel auch, dass er meinte, was er gesagt hatte.

»Zu der Zeit hat es also nicht geregnet?«

»Nein, der Regen kam wohl erst, als ich schon eingeschlafen war. Es gab fast keine Wolken. Wir unterhielten uns noch darüber, wie groß der Mond aussah, als er kurz über den Baumwipfeln stand.«

»Wir?«

»Ja, zuerst haben mich noch ein paar Freunde begleitet, mit denen ich den Abend verbracht hatte.«

Immer noch keine Fragen. Warum interessierte ihn nicht, was sie von ihm wollten?

»War Sven-Gunnar Erlandsson möglicherweise einer von ihnen?«

»Ja, genau«, bestätigte er mit einem Nicken.

Westman schmiedete das Eisen, solange es heiß war.

»Welchen Weg haben Sie genommen?«