Falscher Kurs - Hannes Nygaard - E-Book

Falscher Kurs E-Book

Hannes Nygaard

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Beschreibung

Lüder Lüders allein zwischen den Fronten. Mitten in der Büsumer Fußgängerzone wird ein Staatsanwalt kaltblütig erstochen. Ein terroristischer Akt? Diese Frage versetzt die Menschen in Angst und die Behörden in Aufregung. Die Suche nach dem Täter führt Lüder Lüders vom Kieler LKA bis nach Thüringen, wo das Opfer tätig war. Doch die dortigen Behörden verweigern die Zusammenarbeit. Lüders, der seine eigenen Schlussfolgerungen zieht, begibt sich auf einen gefährlichen Alleingang...

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Hannes Nygaard ist das Pseudonym von Rainer Dissars-Nygaard. 1949 in Hamburg geboren, hat er sein halbes Leben in Schleswig-Holstein verbracht. Er studierte Betriebswirtschaft und war viele Jahre als Unternehmensberater tätig. Hannes Nygaard lebt auf der Insel Nordstrand.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Roy Bishop/Arcangel Images

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Gestaltung Innenteil: César Satz & Grafik GmbH, Köln

Lektorat: Dr. Marion Heister

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-552-7

Hinterm Deich Krimi

Originalausgabe

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Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog, Dr. Michael Wenzel (www.editio-dialog.com).

Für Brigitte und Uli,Hedi und Rudolf,

Der Staat trägt einen Januskopf:Er hilft den Schwachen und erdrückt sie auch.

Johann Wolfgang von Goethe,

EINS

Ein strahlend blauer Himmel wölbte sich über der Küste. Zirruswolken hingen wie getupft unter dem weiten Firmament. Ein leichter Wind strich über die nur mäßig bewegte See und streichelte die Menschen, die entspannt am Meeressaum entlangschlenderten, auf dem sanft ansteigenden grünen Deich mit ihrem Nachwuchs spielten oder dort ein Lager aufgeschlagen hatten. Kleinkinder stießen sich mit ihren kurzen Beinchen ab und nahmen Geschwindigkeit auf ihren Laufrädern auf, den Kopf nach hinten gewandt und den Blick der stolzen Eltern suchend. Urlauber wichen ihnen aus, manchmal nervös an der Leine zerrend, um auch ihren Hund vor dem Überrolltwerden zu bewahren.

Wer den Weg von der Familienlagune, auf deren Neugestaltung die Verantwortlichen zu Recht stolz waren, vorbei an dem markanten Hochhaus, eine Bausünde vergangener Jahre, geschafft hatte, bummelte am Wasser entlang. Hinter dem Deich zeichnete sich die Reihe der Hotels ab, bis der Blick von der Fassade des Wellenbads eingefangen wurde. Nur wenige folgten der Deichlinie am Südstrand bis zum Sperrwerk, das den Hafen bei Hochwasser schützte.

Die Mehrheit der Spaziergänger bog zwischen dem Schwimmbad und dem neuen Hotelklotz ab. Hinrich Meeseburg und seine Partnerin schwammen im Strom mit. Meeseburg hielt Margot Kummernuss am Ärmel fest.

»Nun warte mal. Du kriegst deinen Kaffee. Nächste Woche hast du das nicht mehr im Blick.« Meeseburg sah von oben auf das Hafenbecken hinab. Dort lagen die Traditionsschiffe. Rechts versteckte sich der alte rot-weiße Leuchtturm. Im Hintergrund erhoben sich die grauen Silos.

Zwischen den Geschäften auf der anderen Seite der Hafenanlagen und der Kaimauer strömten die Menschen zum großen Hafenbecken, in dem die malerisch wirkenden Krabbenkutter lagen. Die Spaziergänger hielten inne, wenn wieder ein Fischer einlief, im engen Gewässer sein Schiff drehte und es offenbar mühelos in eine Lücke manövrierte, um anzulegen.

»Die können das besser als mancher mit seinem Kleinwagen im Parkhaus«, hatte Meeseburg einmal festgestellt. Dort lagen auch die Ausflugsdampfer, die zu den Seehundbänken hinausfuhren, den Urlaubern mit einer Stundenfahrt vor der Küste ein maritimes Erlebnis bescherten oder abends zur Tanzparty in See stachen.

Die »Lady von Büsum« und die »Funny Girl«, die Büsum mit Helgoland verbanden, würden erst später wieder zurückkehren.

Margot Kummernuss zupfte an Meeseburgs Ärmel.

»Komm schon. Das guckst du dir jeden Tag mehrfach an.«

»Na und?«, brummte Meeseburg. »Nächste Woche latschst du wieder durch Stendal.«

»Nun mach unsere Stadt nicht schlecht. Am Kornmarkt im Schatten von Sankt Marien ist es auch schön.«

Meeseburg brummte etwas Unverständliches und ließ sich fortziehen. Seit zehn Jahren kamen sie regelmäßig in das freundliche Familienbad an der Nordsee und wohnten in der gemütlichen Pension am Blauort.

»Da geht es noch sehr individuell und persönlich zu«, hatten sie nach dem ersten Besuch festgestellt und sich fast heimisch gefühlt.

Auf den mit Holzbänken bestückten Stufen, die vom Deich in die Stadt hinunterführten, saßen zahlreiche Leute und genossen das bunte Treiben am Hafen. Kinder schleckten an ihren Eistüten, und manche Eltern versuchten sich am Krabbenpulen. Die fangfrischen und nicht konservierten Meeresbewohner gab es an einem mobilen Stand direkt an der Kaimauer. Sie wurden nicht abgewogen, sondern mit einem Hohlgefäß gemessen. Folgerichtig war der Preis auch in »Liter« angegeben. Wer ungeübt war, fand im Pulen eine Beschäftigung für einen großen Teil des Nachmittags. Dafür wurden die Genießer mit einem unvergleichlichen Geschmackserlebnis belohnt.

Von oben sah man in die Alleestraße hinab, »Büsums Kurfürstendamm«, wie Meeseburg es einmal genannt hatte. Ein Neubau im Stil der alten Bäderarchitektur passte sich wunderbar in das bunte Häuserensemble ein, das die schmale Straße mit den vielen bunten Geschäften säumte. Für jeden Geschmack gab es Angebote. Entsprechend dicht war das Gedränge der Menschen. Niemanden regte es auf, wenn der Fluss ins Stocken geriet, sich eine Traube gebildet hatte, Bekannte zu einem Klönschnack mitten im Weg stehen blieben und ein Hindernis bildeten.

»Wohin willst du?«, fragte Meeseburg, der fürchtete, Margot würde zum wiederholten Mal vor einem der zahlreichen Klamottenläden stehen bleiben, die Hand ausstrecken und wieder und immer wieder die Kleidung auf dem Ständer zur Seite schieben, ein Stück hervorholen und es ihm hinhalten.

»Wie findest du das?«

»Ich habe meine Brille vergessen«, erwiderte er in solchen Situationen ungnädig. »Komm. Wir müssen sehen, ob wir einen Platz kriegen.«

»Ich will noch mal schnell in die Buchhandlung.«

»Da warst du doch erst gestern. Du hast den Roman noch gar nicht richtig angefangen. Was ist das überhaupt für ein Ding?«

»›Dunkle Marsch‹. Ein Krimi von der Küste. Spielt hier in der Nähe. Heike Denzau heißt die Autorin.«

Meeseburg nickte versonnen. »Komisch, dass Frauen immer Krimis lesen müssen.«

»Ist besser als gar nicht lesen. Ihr guckt immer nur Fußball.«

»In die Buchhandlung können wir hinterher noch rein. Ich will erst mal ’nen Kaffee.«

Sie schlenderten gemächlich die Alleestraße entlang. Meeseburg war enttäuscht, dass alle Außenplätze ihres Stammcafés besetzt waren. »Kein Wunder bei dem Wetter.«

»Dann setzen wir uns rein«, schlug seine Partnerin vor.

»Ach nee. Wer weiß, wie lange das Wetter noch so bleibt.« Er sah zum Himmel empor.

»Das hält sich«, sagte Margot und hakte sich bei ihm ein. »Guck mal. Die haben ihren Kaffee aus. Die gehen bald. Dann können wir doch schnell in die Buchhandlung rein. Die haben so ’ne Ecke mit niedlichen Kleinigkeiten. Da finde ich bestimmt ein Mitbringsel für Marita, Antje und Walburga.«

»Vergiss Verena nicht«, knurrte Meeseburg ungnädig.

»Für alle«, erwiderte Margot Kummernuss salomonisch. Sie packte ihn am Ärmel.

»Sieh mal …« Er stupste sie in die Seite. »Da willst du Urlaub machen und dann so was.«

»Was meinst du?«

»Die da. In ihrem Bettlaken. Vollverschleiert. Als würde sie eine Bank überfallen wollen. Das müsste doch verboten werden. In Dingsda … in Köln. Da laufen die im Fasching so rum.«

»Karneval heißt das«, erwiderte sie in belehrendem Tonfall.

»Hier ist doch kein Fasching. Die sollen zu Hause bleiben. Bei uns in Stendal gibt es so was nicht.«

»Lass sie doch. Die tut dir nichts.«

»Trotzdem. Das ist doch bescheuert.«

»Hinrich. Das geht uns nichts an. Nun komm endlich. Sonst setzt sich noch jemand an den Tisch, den wir haben wollen.«

Er blieb abrupt stehen. »Ach, geh doch allein. Ich warte hier und behalte den Tisch im Auge.«

»Du willst nicht mit?« Ein leichter Vorwurf schwang in ihrer Stimme mit.

»Nee.« Meeseburg blieb trotzig stehen. »Sonst kommt noch die Schleiereule und nimmt uns den Platz weg.« Er lachte auf. »Mich würde interessieren, wie die ihren Kaffee trinken und den Kuchen essen will.«

»Hinrich!« Margot war energischer geworden.

»Ist doch wahr. Was soll diese Verkleidung? Sieh sie dir doch an. Wahrscheinlich ist die potthässlich, dass es ganz gut ist, dass man sie nicht sieht. Allein ihr Gang. Die tapst wie ein alter Tanzbär. Nee. Ich möchte keiner von denen sein. Solche Frauen. Da könntest du mir einen ganzen Harem schenken.«

Die verschleierte Frau, deren untersetzte Figur unter dem schwarzen Überkleid nur zu erahnen war, kreuzte quer den Strom der Passanten.

»He«, beschwerte sich ein salopp gekleideter Mittfünfziger mit kurz rasiertem Schädel.

Die Frau ignorierte ihn. Sie steuerte direkt auf einen lockeren Pulk von Leuten zu. Der Strom war ins Stocken geraten, weil eine Familie mit kleinen Kindern die Fußgängerzone querte. Ein älterer Mann mit grauen Haaren, auf dessen Hinterkopf sich eine kahle Stelle abzeichnete, hatte den Blick zur Seite gewandt und sah in die Buchhandlung hinein, die über die ganze Ladenbreite zur Straße hin geöffnet war. Die kurze Unaufmerksamkeit reichte, dass er der rothaarigen Frau vor ihm in die Hacken trat. Sie drehte sich erschrocken um und wollte ihrem Unmut freien Lauf lassen, als er sich bei ihr höflich entschuldigte. Auch ihre Begleitung hatte sich umgewandt.

Meeseburg murrte, als die Verschleierte auch noch auflief. »Wie auf der Autobahn, wenn einer pennt«, sagte er zu sich selbst und staunte über die Heftigkeit des Remplers. Der Grauhaarige wurde nach vorn gedrückt und stolperte noch einmal gegen die Frau vor ihm.

»Nun ist aber gut«, beschwerte sich deren Begleiter. »Einmal kann ja ein Versehen sein. Aber nicht so.«

Die Rothaarige öffnete den Mund, nachdem sie sich halb umgedreht hatte, weil der Grauhaarige nicht von ihr abließ. Sie konnte sich erst von ihm lösen, als sie einen Schritt rückwärts machte. Der Grauhaarige blieb einen Moment stehen, dann gaben seine Knie nach, und er sackte in Zeitlupe in sich zusammen. Meeseburg stand etwa drei Meter entfernt. Es schien ihm unwirklich, dass sich auf dem beigefarbenen Pullover des Mannes ein dunkler Fleck abzeichnete.

»Der blutet«, rief Meeseburg. Es war mehr eine intuitive Ahnung als ein klares Erkennen. Instinktiv machte er einen Schritt auf den Mann zu und wollte ihn auffangen. Dabei stieß er gegen die Verschleierte. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er durch den schmalen Schlitz im Gesichtsschleier in ihre Augen. Er breitete die Arme aus und wollte sie aufhalten, als ihn ein höllischer Schmerz durchfuhr. Während sich die Verschleierte an ihm vorbeidrängte, sah Meeseburg auf seinen Oberarm. Blut schoss heraus. Der Ärmel seines Hemdes war aufgerissen.

»Sie hat ein Messer«, rief er. »Ein Messer!«

Die dichte Menschentraube um ihn herum stob auseinander. Entsetzte Frauenstimmen schrien auf. Der Grauhaarige war inzwischen zusammengesunken und krümmte sich auf dem Gehsteig. Mit einem kurzen Seitenblick sah Meeseburg, dass der Mann nicht nur aus einer Wunde blutete.

»Ich bin verletzt«, rief er und umklammerte mit der rechten Hand den linken Oberarm. Er sah sich hilfesuchend um. Niemand half ihm. Die Menschen liefen panikartig in alle Richtungen davon. Es war nur ein kurzer Augenblick, der Meeseburg ewig erschien. Der Grauhaarige lag am Boden und bewegte sich kaum. Eine jüngere Frau krümmte sich und hielt ihre Hände vor den Leib gepresst. Zwischen ihren Fingern rann Blut hervor. Ein Stück entfernt stand ein Mann und hielt sich seine Hand. Auch sie blutete.

Endlich näherten sich zaghaft ein paar Leute. Die Frau mit der Bauchverletzung wurde an den Schultern gepackt. Zwei Männer versuchten, sie auf den Boden gleiten zu lassen. Eine ältere Frau war an Meeseburg herangetreten.

»Sind Sie verletzt?«, fragte sie mit besorgter Stimme.

»Nee, ich tu nur so«, erwiderte er. Merkwürdigerweise spürte er keine Schmerzen. Aber es war keine Einbildung. Das Blut schoss aus seinem Oberarm, hatte das Hemd durchtränkt und tropfte auf den Fußboden. »Ich blute«, rief er überflüssigerweise.

Ein sportlich wirkender Mann mit Brille und gepflegtem Bart kam aus der Buchhandlung, sah sich um und steuerte Meeseburg an.

»Was ist?«, fragte er.

»Das hier.« Meeseburg hielt ihm den Arm hin.

»Das müssen wir abbinden«, sagte der Mann und sah sich suchend um.

»Hier!« Eine blonde Frau riss sich ein Tuch vom Hals und hielt es ihm hin. »Sie sind von der Buchhandlung?«

Der Buchhändler nickte kurz, nahm das Tuch und band es oberhalb der klaffenden Wunde um Meeseburgs Oberarm. Dann zog er es kräftig zusammen. Sofort ließ der Blutstrom nach. Gäste des gegenüberliegenden Cafés schleppten Stühle herbei und drängten Meeseburg auf den Sitz. Er sah, wie sich mehrere Passanten um die anderen Verletzten kümmerten. Um ihn hatte sich ein Ring Neugieriger gebildet.

»Der Rettungsdienst ist informiert«, rief jemand aus der Menge. »Und die Polizei auch.«

»Was war denn hier los?«, fragte eine Frauenstimme.

»Da hat ein Wahnsinniger mit einem Messer herumhantiert und viele Leute verletzt.« Ein dunkelhaariger Mann aus der zweiten Reihe hatte sich zu Wort gemeldet.

»Wer denn?«, meldete sich eine andere Stimme. »Ich habe nichts mitbekommen.«

»Der ist wie der Blitz weg«, stellte ein älterer Mann fest.

»Wer?«

»Keine Ahnung.«

»Das muss man doch gesehen haben«, behauptete der Erste.

»Das war die verschleierte Frau«, sagte Meeseburg.

»Welche Verschleierte?«

»Die habe ich auch gesehen«, bestätigte der Dunkelhaarige.

Meeseburg wurde schwarz vor Augen. Ihm war plötzlich übel. Das Letzte, was er mitbekam, war, dass ihn jemand an den Schultern packte und so verhinderte, dass er vom Stuhl fiel.

ZWEI

Die Luft in dem kargen Raum war zum Schneiden. Zu viele Menschen drängten sich in den engen Sitzreihen. Gefühlt Hunderte von Augenpaaren hatten den Blick nach vorn gerichtet und folgten den Ausführungen des Referenten. Rhetorisch perfekt, mit feinem, hintersinnigem Humor, trug er sein Thema vor. Die Sympathien des Auditoriums hatte der schlaksige junge Mann mit der Glatze und dem Ohrring bei der Vorstellung gewonnen.

»Das ›f‹ am Ende des Namens hat unsere Familie sich redlich erworben. Das war ein mühsames Unterfangen«, hatte er gesagt. Magnus von Dummsdorff hieß er. Die Leichtigkeit, mit der er sein profundes Wissen vortrug, sprach dem Namen Hohn. Hatten zunächst noch einige der Zuhörer gelächelt, war das einer konzentrierten Aufmerksamkeit gewichen.

Von Dummsdorff war eingeladen worden, ein Referat über die historischen Wurzeln der Konflikte unter den Arabern vorzutragen, die den Menschen im Nahen Osten Leid und Elend bescherten und die von dort in andere Teile der Welt exportiert wurden. Die Auswirkungen hatten lange schon die sogenannte westliche Welt erreicht, sei es durch Terrorakte, die sie mit in Geiselhaft nahmen, oder durch die wachsende Migration der Menschen, die dem Leiden entfliehen wollten. Eine Antwort auf die Frage, wie sich Flucht vor Krieg und Elend von Asyltourismus abgrenzen ließ, war nicht einfach zu finden.

Von Dummsdorff war nicht angetreten, der offenen Diskussion eine weitere Meinung anzuheften. Er war Historiker und beleuchtete auf sachlicher Basis die Entwicklung in diesem Teil der Welt, wo über viele Jahrhunderte im Osmanischen Reich relativ friedlich Religionen und Ethnien nebeneinander existiert hatten. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts schufen die Kolonialmächte, allen voran England und Frankreich, das bis heute herrschende Durcheinander, indem sie auf dem Reißbrett Grenzen zogen und willkürlich Staaten schufen, deren Bewohner keinen Bezug zueinander fanden. Mit der Installation willfähriger Herrscher, die wie Marionetten den Interessen der Europäer folgten, wurden die Gegensätze geboren, die die Welt heute in Atem hielten.

»Auf ›Völker‹ wurde keine Rücksicht genommen«, sagte von Dummsdorff und stützte sich lässig auf das Rednerpult. »Nehmen Sie zum Beispiel die Kurden. Die tauchen in mehreren Nationalstaaten auf. Immer als Minderheit.« Er lächelte hintergründig. »So wie die Bayern. Sunniten und Schiiten stehen sich unversöhnlich gegenüber. Bei uns sind die Differenzen zwischen Katholiken und Protestanten ausgeräumt. Na ja.« Der Referent legte eine Kunstpause ein und zwinkerte mit dem rechten Auge. »Bis auf ein paar Dörfer im tiefsten Bayern.« Er wedelte mit der Hand in der Luft. »Nun glauben Sie nicht, ich hätte etwas gegen die Lederhosendeutschen. Im Unterschied zu den Sunniten und Schiiten fühlen sich die Bayern als gemeinsame Staatsbürger mit uns. Wenn eine Minderheit die Mehrheit unterdrückt und sie nicht an die Fleischtöpfe heranlässt, ist der Konflikt vorprogrammiert. Die Ehemänner wissen, wovon ich rede. Die Herrschenden haben es verstanden, ihre Macht durch Unterdrückung und Willkür auszubauen. Und nun«, so von Dummsdorff, »sind wir auch einbezogen, eben durch …«

In diesem Moment wurde die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf ein lautes Entengeschnatter gelenkt. Der Referent unterbrach irritiert seinen Vortrag. Die Köpfe der Leute reckten sich und drehten sich zu einem Mann mit blondem Wuschelkopf um, dessen Hand suchend in die Hosentasche gefahren war und mit dem Smartphone wieder auftauchte.

»Wer sonst, wenn nicht Lüders«, rief jemand aus dem Publikum. Alle lachten. Kriminalrat Dr. Lüder Lüders stand auf, ließ ein lautes »Entschuldigung« hören und zwängte sich durch die Stuhlreihen zum Ausgang des Vortragssaals im Landeskriminalamt Schleswig-Holstein. Er musste sich noch eine spöttische Anmerkung von Dummsdorff gefallen lassen: »Wer immer erreichbar ist, gehört zu den Dienstboten.«

Lüder verließ, verfolgt von den Blicken der Anwesenden, den Saal und nahm das Gespräch entgegen.

»Ich komme«, sagte er knapp und kehrte in den Raum zurück. Von Dummsdorff hatte gerade angesetzt, seinen Vortrag fortzusetzen, und seine Körpersprache verriet, dass er ungehalten war, als Lüder erst winkte und dann rief: »Jens!« Der Angesprochene reagierte nicht. Lüder wiederholte die Aufforderung lauter und drängender, bis sich Kriminaldirektor Dr. Starke erhob und zu ihm an die Seitenlinie kam.

»Was ist denn?«, fragte der braun gebrannte Dr. Starke, der – wie immer – in einer tadellos sitzenden Kombination steckte und zum Hemd eine passende Krawatte trug.

»Ein Terroranschlag in Büsum«, sagte Lüder knapp und eilte davon.

Der Abteilungsleiter hatte Mühe, ihm zu folgen. Sie liefen zu ihren Büros. Während Lüder seine Sachen zusammenklaubte und sich kurz darauf im Hof einfand, wo er ungeduldig von den Männern des SEK erwartet wurde, würde der Leiter der Abteilung 3, des Polizeilichen Staatsschutzes, im Lagezentrum des Landeskriminalamts eine »Besondere Aufgabenorganisation« aktivieren, die nach festgelegten und geübten Verfahrensvorgaben aufeinander abgestimmte spezialisierte Tätigkeiten aufnehmen würde. Dazu gehörten neben der Koordination der bereits angelaufenen Einsätze der lokalen Polizeibehörden auch die Steuerung des Einsatzes des SEK und die Öffentlichkeitsarbeit. Kaum hatte Lüder sich in die erste schwarze Limousine mit den abgedunkelten Scheiben gequetscht, beschleunigten die Wagen und preschten vom Hof des Kieler Polizeizentrums Eichhof.

Die Fahrzeuge waren mit Blaulicht und Martinshorn ausgestattet und durften die Sonderrechte der Straßenverkehrsordnung anwenden. Im Unterschied zu den Einsatzfahrzeugen von Polizei und Rettungsdiensten waren sie äußerlich aber nicht als solche zu erkennen und wurden deshalb von manchen Autofahrern weder wahr- noch ernst genommen. Das erforderte von den Fahrern zusätzliches Können.

Der Einsatzleiter des SEK hatte den Lautsprecher auf Mithören geschaltet, sodass sie den Dialog mit der Leitstelle verfolgen konnten. Zunächst liefen unterschiedliche Meldungen auf, die ein diffuses Bild ergaben. In der stark frequentierten Fußgängerzone, so kristallisierte sich heraus, hatte eine Frau mit Gesichtsschleier und einem traditionellen Gewand mit einem Messer wahllos auf verschiedene Passanten eingestochen. Es gab mehrere Opfer, Tote und Verletzte. Zur Anzahl der Täter lagen unterschiedliche Angaben vor.

Kurz nach Eingang der Meldung in der Elmshorner Leitstelle West wurden die örtlichen Polizeidienststellen und die Rettungswachen in Büsum und Heide informiert. Der örtliche Streifenwagen war als Erster vor Ort und übernahm die Nahsicherung und Erkundung. Um die Erstversorgung der Verletzten kümmerten sich die nach und nach eintreffenden Rettungskräfte und Notärzte. Die beiden Beamten aus Büsum erhielten Verstärkung durch das Heider Revier. Außerdem waren Einsatzkräfte von der Itzehoer Direktion unterwegs. Auf Lüders Nachfrage wurde ihm bestätigt, dass auch das Kommissariat 1, die »Mordkommission«, unter der Leitung von Hauptkommissar Schwelm, auf dem Weg nach Büsum war.

Die Landespolizei Schleswig-Holstein verfügte über keine eigenen Hubschrauber. Bei Bedarf forderte man Unterstützung durch die Hubschrauberstaffel der Bundespolizei bei Bad Bramstedt an. Heute näherte sich das SEK dem Einsatzort auf dem Landweg. Die Fahrer verfügten über eine spezielle Ausbildung. Trotz der Sonderrechte und des Drucks, der auf ihnen lastete, hatte Lüder nie den Eindruck, die Männer würden leichtsinnig handeln, die Gesetze der Fahrphysik missachten oder unbeteiligte Dritte gefährden. Lüder spürte die Anspannung der Männer in ihren schweren Schutzanzügen. Sein Nachbar, ein Oberkommissar, kaute konzentriert auf der Unterlippe. Lüder schätzte den Mann mit der Statur eines Leistungssportlers auf Anfang dreißig.

»Nervös?«, fragte er ihn.

Der Beamte schüttelte den Kopf. »Beim SEK weiß man nie, was einen vor Ort erwartet. Natürlich ist man vollgepumpt mit Adrenalin. Die Ungewissheit ist da. Das lässt sich nicht leugnen. Es ist aber nicht das Abenteuer. Wer so etwas sucht, ist falsch bei dieser Einheit. Natürlich ist man voller Anspannung. Aber dafür sind wir trainiert.«

Als sie nach fünfzig Minuten in Büsum eintrafen, wimmelte es in der Fußgängerzone von Einsatzfahrzeugen. Die freiwillige Feuerwehr hatte den Tatort weiträumig abgesperrt. Vereinzelt standen Menschengruppen herum und sprachen leise miteinander. Die Fassungslosigkeit war allen ins Gesicht geschrieben. Eine solche Tat raubt den Menschen die Worte. Es ist wie ein zusätzlicher Keulenschlag, wenn so etwas in der eigenen Umgebung geschieht.

Bis zur Ankunft hatten sich die Meldungen dahin gehend verdichtet, dass es ein oder zwei Täter, darunter eine Frau, waren, die das Verbrechen verübt hatten. Die Täter hatten dabei mit Messern zugestochen. Schusswaffen waren nicht benutzt worden. Man hatte die umliegenden Geschäfte evakuiert, weil nicht sicher war, ob nicht irgendwo Sprengsätze deponiert waren. Es war eine nicht unübliche Taktik, durch ein Verbrechen Leute und Hilfskräfte an einen Ort zu locken, um dann, nachdem die Helfer dort in größerer Zahl versammelt waren, einen Sprengkörper zu zünden und einen Anschlag noch verheerenderen Ausmaßes herbeizuführen. Es schien so, als seien die Täter nach dem Anschlag geflüchtet. Dazu gab es unterschiedliche Aussagen.

Die SEK-Beamten gingen gleich nach der Ankunft ihren Aufgaben nach. Mitten auf der Straße hatte man einen Sichtschutz aufgebaut. Ein Streifenpolizist hinderte Lüder daran, sich zu nähern.

»Ein Toter«, erklärte der Uniformierte. »Erstochen. Er war schon tot, als der erste Notarzt eintraf.«

»Weitere Todesopfer?«

»Soweit ich weiß – zum Glück nicht. Aber Verletzte. Sie sind alle medizinisch versorgt. Aber Genaues …« Er zuckte mit den Schultern.

Lüder hob kurz die Hand, um Hauptkommissar Markus Schwelm aus Itzehoe aus der Ferne zu begrüßen. Für einen ausführlicheren Austausch war jetzt keine Zeit. Was hätte Schwelm ihm sagen können? Er war kurz vor Lüder eingetroffen und hatte mit Sicherheit keine weiterführenden Informationen. Lüder versuchte, seine Dienststelle in Kiel zu erreichen. Dort hatte man auch noch kein klares Lagebild. Man ging von einem Toten und drei Verletzten aus. Nach den vorliegenden Erkenntnissen waren bis auf einen Passanten alle Opfer mit einem Messer angegriffen worden. Der dritte Verletzte war bei der Flucht der Täterin – alle Zeugen sprachen von einer Frau – umgestoßen worden und hatte sich bei seinem Sturz Verletzungen zugezogen. Die sofort eingeleitete Fahndung und die Straßensperren hatten noch zu keinem Erfolg geführt.

Zum Glück schien es, als hätten die Täter den Tatort verlassen. Für die Anwesenden und die auch nach Aufforderung nicht weichenden Neugierigen bestand keine akute Gefahr mehr. Polizisten sprachen die Passanten an und fragten nach Augenzeugen. Einige wenige meldeten sich. Lüder bekam mit, wie ein Mann mittleren Alters die Bitte um Auskunft brüsk zurückwies.

»Nein. Damit will ich nichts zu tun haben. Man kennt es ja. Wenn man als Zeuge aussagt, ist man seines Lebens nicht mehr sicher.«

Lüder sprach einen Schutzpolizisten an und erfuhr, dass es widersprüchliche Aussagen gab. Manche behaupteten, es seien zwei Täter gewesen. Andere wussten nur von einer arabisch gekleideten Frau zu berichten. Einig war man sich in der Feststellung, dass es sich bei den Attentätern um Islamisten handelte. Man konnte, schloss Lüder, von einem Terroranschlag mit islamistischem Hintergrund ausgehen.

Ihm drängten sich Fragen auf. Diese Tätergruppe bevorzugte Orte mit einem hohen Menschenaufkommen. Das war hier gegeben. Aber weshalb hatte man sich ein ruhiges Familienbad an der Nordsee ausgesucht? Eine sogenannte »Kleinstadt«, selbst wenn Büsum nicht einmal die Stadtrechte besaß.

Von der Fußgängerzone zweigte eine Einkaufspassage ab.

»Da ist sie durch«, behauptete ein junger Polizist.

Lüder betrat die »Einkaufsmeile«, wie ein Transparent sie nannte. Während sich auf der linken Seite die Fensterfront der Buchhandlung entlangzog, waren gegenüber kleine Geschäfte, die die üblichen Accessoires der Ferienorte anboten. Der Weg mündete in einen Quergang, in dem sich weitere Geschäfte sowie Gastronomie befanden. Während die Frauen in den bunten Läden stöberten, konnte die männliche Begleitung im »kleinen Biersalon« eine Pause einlegen. Am rechten Abzweig endete die Passage an einer Tür, die zu einem ruhigen Hinterhof führte, der fast vollständig von Mauern umgeben war. Eine Abfahrt führte zu einer Tiefgarage hinab. Auf der anderen Seite gelangte man durch eine Ausfahrt zu einer Nebenstraße. Die Ausfahrt diente auch als Abstellmöglichkeit für Fahrzeuge. Es blieb Platz für die Durchfahrt eines Autos.

Lüder folgte dem Weg, der an einer Schranke endete, die von Berechtigten mit einem Schlüssel geöffnet werden konnte. Er beugte sich hinab und nahm den Pfosten mit der Öffnung, aber auch die Schranke selbst in Augenschein. Er konnte keine Spuren einer unsachgemäßen Anwendung erkennen. An dieser Stelle standen rollbare Müllcontainer. Direkt dahinter befanden sich die Fenster eines Cafés, dessen hölzerne Außenterrasse durch Blumenkübel vom Gehweg abgetrennt war. Alle Tische waren besetzt. Als er sich näherte, bemerkte er, dass sich die Gespräche der Gäste nur um ein Thema drehten: das Attentat. Er sprach ein Paar mittleren Alters an, das der Schranke am nächsten saß.

»Ja«, versicherte die Frau. »Das haben wir dem Streifenpolizisten auch schon erzählt, der vorhin hier war. Der hat auch unsere Personalien aufgenommen. Wir sitzen hier nichts ahnend. Auf der Hauptstraße … da war alles besetzt. Da kriegt man kein’ Platz. Wir ahn’ ja nicht, was da los war. Sonst hätt’n wir uns das ja gemerkt.« Sie bewegte den Arm in Richtung der Ausfahrt. »Also. Von da is er gekommen.«

»Wer?«

»Der SUV mit den dunklen Scheiben. War ganz schön auffällig.«

»Weshalb?«

»Nun – ja. An die SUVs hat man sich ja gewöhnt. Wir woll’n uns auch so ein’ anschaffen, nich, Björn?«

Ihr Begleiter nickte eifrig.

»Der is also von da rausgekommen. Ich hab mich gewundert, dass er ziemlich rasant an die Schranke ran is. Ich dachte schon, der kracht da rein. Aber dann is die Schranke doch hoch. Von allein. Kann sein, dass das mit Funk automatisch geht.«

»Es ist niemand aus- oder eingestiegen?«

Sie schüttelte den Kopf mit dem Pagenschnitt. »Nö. Hier nich.«

»Haben Sie etwas erkennen können? Wagentyp?«

»Davon versteh ich nix.«

»Farbe? Kennzeichen?«

Sie spitzte die Lippen. »Schwarz. Mit dunklen Scheiben. Da konnte man nich reingucken. Und das Nummernschild … Mal ehrlich. Wer achtet auf so was?«

Recht hat sie, dachte Lüder. Es gab im Normalfall keinen Grund.

»Was geschah dann?«

»Die Schranke is hoch. Dann is der Wagen in die Straße eingebogen. Ich dachte noch, das war knapp. Fast hätt er einen Radfahrer erwischt, der entgegenkam.«

»Mehr haben Sie nicht gesehen?«

Sie schüttelte erneut den Kopf. »Nee. Leider nich.« Dann legte sie eine Hand auf ihren rechten Busen. »Das hat auch gereicht. Mann – so was. Man ahnt nix, und plötzlich bist du mitten in so was.«

Lüder verabschiedete sich und ging auf zwei weißhaarige Frauen zu, die jenseits des gespannten Seils, das als Grundstücksbegrenzung diente, auf dem Gehweg standen und unverwandt zu ihnen herüberblickten.

»Moin. Kriminalpolizei. Haben Sie etwas beobachtet, das für uns hilfreich sein könnte?«

Eine der beiden sah erst ihn, dann ihre Begleitung an. »Ich weiß nicht«, meinte sie zögernd. »Oder, Elfriede?«

»Elfriede« streckte den Arm aus und zeigte die Straße hinab.

»Wir sind von da gekommen. Unten am Wasser ist bei diesem Wetter viel Betrieb. Deshalb waren wir im Kurpark.« Sie lächelte. »Da ist es schön ruhig. Als Rentner hat man ja viel Zeit. So wollten wir in die Stadt und sehen, ob wir irgendwo ein Plätzchen für eine Kaffeepause finden. Wir wollten gerade über die nächste Querstraße, da kam dieses Auto angeschossen. Ich hatte gar nicht mitbekommen, wo es herkam. Ohne zu blinken«, empörte sie sich, »fuhr er im Affenzahn um die Ecke und brauste dann wie ein Wilder drauflos. Ich habe zu Gerda gesagt«, dabei streifte die den Unterarm ihrer Freundin, »dass man den hart bestrafen müsste. So ein Flegel. Wie leicht kann da etwas passieren, und es kommt jemand zu Schaden.«

Lüder ließ unerwähnt, dass die Täter auf eine andere Art und Weise Menschen angegriffen hatten.

»Konnten Sie etwas erkennen? Automarke? Kennzeichen?«

Elfriede lachte pikiert auf. »Ach, junger Mann. Wir fahren schon lange nicht mehr Auto und reisen mit dem Zug an. Früher war das bequem.« Sie rückte ein wenig an Lüder heran. »Aber heutzutage … Die ewigen Verspätungen. Man erreicht nicht die Anschlusszüge. Die reservierten Plätze sind weg. Und Informationen erhält man auch keine. In unserem Alter steht man dann ratlos auf dem Bahnsteig. Aber da ist auch keiner mehr. Opa, der wusste noch, wie man zuverlässig Eisenbahn macht. Aber heute? Die blicken durch ihre ganzen Computer selbst nicht mehr durch. Das ist das reinste Chaos.«

Bereitwillig gaben die beiden alten Damen Lüder ihre Personalien an. Dann ging er ein Stück die Straße hinab und sah in die Viktoriastraße, eine Einbahnstraße, die zwischen Häusern mit Ferienappartements entlangführte. Passanten waren keine zu sehen. Lüder kehrte zurück und nahm den Weg über die Ausfahrt. Hier hielten sich weder Bewohner noch Beamte auf. Als er bei der Stelle angekommen war, wo die Zufahrt zur Tiefgarage hinabführte, sah er an der Giebelwand eines Rotklinkerhauses empor. Sein Blick kreuzte sich mit dem einer Frau, die sich hinter einer Gardine verbarg und sich sofort zurückzog, als sie bemerkte, dass er sie entdeckt hatte. Er suchte den Hauseingang, der zu den Wohnungen führen musste, und betätigte die Klingel. Nichts rührte sich. Auch nach mehrmaligen Versuchen blieb alles stumm. »Bartels«, stand auf dem Schild neben dem Knopf.

Er probierte es bei einem Nachbarn. Nach einer Weile summte der Türöffner, und Lüder stieg die Treppe empor.

Ein Mann mit eingefallenen Wangen empfing ihn auf dem Absatz vor einer offenen Wohnungstür.

»Kriminalpolizei«, sagte Lüder. »Ich komme …«

»Habe ich mir gedacht«, unterbrach ihn der Mann. »Man ist schockiert. Solche schlimmen Dinge passieren überall in der Welt, aber doch nicht hier bei uns in Büsum. Das glaubt kein Mensch.« Aus einem der Räume hörte man einen Rundfunksprecher, der – natürlich – die Ereignisse vor Ort zum Thema hatte.

Der Mann schüttelte sein graues Haupt. »Das hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich vor dem Radio sitze und anhören muss, was sich direkt vor meiner Haustür abgespielt hat. Ich würde Ihnen gern behilflich sein, schließlich muss solchen Verbrechern das Handwerk gelegt werden. Wissen Sie schon etwas? Im Radio spricht man von einem Terroranschlag. Ich habe aber nichts gesehen. Ich war beim Edeka. Die Einkäufe liegen noch auf dem Küchentisch. Mit dem Bein hier«, dabei klopfte er mit der flachen Hand auf die Seite des Oberschenkels, »geht das nicht mehr so fix. Als ich zurückkam, war schon alles abgesperrt. Sonst gehe ich immer durch die Passage. Heute musste ich mit meinen vollen Taschen außenrum. Wenn Sie nicht mehr so fit sind, ist jeder Schritt beschwerlich. Deshalb habe ich auch nichts mitgekriegt. Tut mir leid.«

»Ihre Nachbarin?«

»Frau Bartels? Die müsste zu Hause sein. Die ist selten draußen. Aber gesehen hat die auch nichts, glaube ich. Unsere Wohnungen liegen ja nach hinten heraus.«

»Weshalb öffnet Frau Bartels nicht?«

»Das macht sie nie. Sie ist misstrauisch. Wollen Sie mit ihr sprechen?«

Der Mann wartete die Antwort nicht ab.

»Kommen Sie«, sagte er und mühte sich die Treppe zur nächsten Etage hinauf, indem er sich am Geländer hochzog. Er blieb vor der Wohnungstür stehen und klopfte energisch gegen das Holz.

»Frau Bartels. Hier ist Heine. Machen Sie auf. Ich weiß, dass Sie zu Hause sind.«

Nach einer gefühlten Ewigkeit hörten sie, wie der Schlüssel im Schloss bewegt wurde. Dann öffnete sich die Tür einen Spalt, immer noch durch eine Sperrkette gesichert. Ein halbes Gesicht erschien.

»Frau Bartels. Der Herr ist von der Polizei und zieht Erkundigungen ein.«

»Ich habe nichts gesehen«, sagte eine dünne Stimme. Die Frau sprach leise und war kaum zu verstehen.

»Sie haben nicht viel gesehen«, sagte Lüder.

»Gar nichts. Absolut nichts.«

»Doch. Sie sind verpflichtet, es der Polizei mitzuteilen.«

»Ich will damit nichts zu tun haben. Bitte.« Es klang flehentlich.

»Was haben Sie beobachtet?«, wollte Lüder wissen.

»Fast nichts. Ich wollte mir gerade einen Kaffee machen, als ich zufällig aus dem Fenster sah. Da sah ich das schwarze Auto. Hinten, auf unserem Hof. Das gehört da nicht hin.«

»Ein fremdes Auto, das Sie noch nie gesehen haben?«

»Ich will es auch nicht wiedersehen. Warum stand es da und der Motor lief?«

»Der Motor war an?«, hakte Lüder nach.

»Sagte ich doch.«

»Ist der Fahrer ausgestiegen?«

»Wie sollte er? Der Motor lief doch.«

»Haben Sie noch andere Leute gesehen?«

»Nein. Keine. Nur die Frau in dem komischen Gewand.«

»Wie sah die aus?«

»Ich kann es nicht beschreiben. Unheimlich. Schwarz. Man hat nur das Gewand gesehen. Und das Gesicht war durch eine Maske verdeckt.«

Maske! Damit umschrieb Frau Bartels den Niqab.

»Was hat die Frau gemacht?«

»Die ist in das Auto eingestiegen. Dann fuhr es los.«

»Wo ist die Frau eingestiegen?«

»Sagte ich doch – ins Auto.«

»Vorn? Hinten? Links? Rechts?«

»Auf der Beifahrerseite. Neben dem Fahrer.«

»Haben Sie …«

Weiter kam er nicht. Die Frau hatte die Tür geschlossen.

»Ich habe es Ihnen gesagt.« Herr Heine klang fast entschuldigend. »Frau Bartels ist ein wenig seltsam. Ich bin erstaunt, wie viel Sie von ihr erfahren haben.«

Lüder bedankte sich bei dem Mann und fragte, ob er ihm beim Treppensteigen behilflich sein konnte.

»Das geht schon«, versicherte Herr Heine. »Sehen Sie zu, dass Sie die Täter zu fassen bekommen. So etwas wollen wir in unserem schönen Büsum nicht haben.«

Weder hier noch sonst wo, dachte Lüder und kehrte in die Fußgängerzone zurück. Dort herrschte reges Treiben. Zahlreiche Beamte gingen ihrer Arbeit professionell und unaufgeregt nach. Lüder erfuhr, dass ein Polizeirat aus der zuständigen Flächendirektion Itzehoe die Leitung vor Ort übernommen hatte.

Er verließ den abgesperrten Bereich und suchte sich ein ruhiges Plätzchen. Er ging die Alleestraße entlang und schlenderte am Rathaus und dem historischen Hotel »Alte Post« vorbei Richtung Kirche, ein Sakralbau aus dem 15. Jahrhundert, die St. Clemens, dem Schutzheiligen der Fischer und Küstenbewohner, geweiht war und deshalb auch Fischerkirche genannt wurde. Hier in Büsum hatte fast alles einen Bezug zur See. Auch das Attentat?, fragte er sich. Deshalb Büsum?

Auf dem Kirchplatz fand er eine Bank, die einen Baum umschloss. Dort saß eine lebensgroße Bronzestatue, die in einem aufgeschlagenen Buch las. Sie war Neocorus gewidmet, eine Plastik, die der Künstler Jens Rusch geschaffen hatte und für die Pastor Dr. Dietrich Stein, eine lebende Legende aus Dithmarschen, Modell stand. Lüder tippte der Figur auf den Hut.

»Na du?«, sagte er. »Hast du etwas gesehen?«

Dann setzte er sich auf die Bank neben Neocorus und rief seine Dienststelle an. Niemand nahm ab. Er hatte schließlich Glück und erreichte Edith Beyer, die Mitarbeiterin im Vorzimmer des Abteilungsleiters.

»Das hier ist ein Bienenhaus«, stöhnte die junge Frau. »Und er da ist alles andere als ein ruhender Pol dazwischen. Man merkt, dass er nie im richtigen Polizeidienst war.« Dann schien ihr einzufallen, dass Lüder auch über ein Studium in den höheren Dienst gelangt war. »Oh, Verzeihung.«

»Ich weiß, wie Sch…« Er ließ einen langen Zischlaut hören. »… schmeckt«, fuhr er fort. »Wer kann mir einen aktuellen Überblick geben?«

»Die sind alle irgendwie eingebunden. Große Lage. Sie wissen ja, wie so etwas ist.«

»Bei Ihnen laufen doch alle Fäden zusammen«, sagte Lüder einschmeichelnd. »Gibt es schon Fahndungserfolge?«

Edith Beyer senkte die Stimme, als fürchtete sie, ein Geheimnis zu verraten. »Man hat wohl das vermutliche Fluchtauto gefunden.«

»Leer?«

Sie lachte leise. »Muss ich darauf antworten? Es ist ausgebrannt. Ein Autofahrer hat das brennende Fahrzeug etwas abseits der … der …« Sie kam ins Stottern. »Hedwig-Dingsbums-Chaussee gefunden.«

»Hedwigenkoog«, half Lüder aus.

»Kann sein. Der Mann war fürchterlich erschrocken. Die Einsatzkräfte sind zum großen Teil in Büsum gebunden. Deshalb hat man die freiwillige Feuerwehr aus … Irgendwas mit Reins… Entschuldigung, aber ich habe das alles nur am Rande aufgeschnappt.«

»Sonst hat die Ringfahndung nichts ergeben?«

»Soweit ich weiß – nein. Da war noch eins. Sie waren noch mit dem SEK unterwegs nach Büsum, da lag das erste Bekennerschreiben vor. Zehn Minuten nach dem Attentat.«

Lüder war überrascht. »So schnell?«

»Es ist bei der Zeitung eingegangen.«

»Bei LSD?«

Edith Beyer bestätigte es. Lüder bat sie, Dr. Starke auszurichten, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um zwei Täter handelte.

Anschließend suchte er auf der Karte die Stelle, an der man das brennende Auto gefunden hatte. Die Täter waren in nördlicher Richtung aus Büsum geflohen. Der Ort lag an der Spitze einer Halbinsel. Viele Straßenverbindungen gab es nicht. Die Bundesstraße Richtung Heide war für die Flucht zu riskant. Man konnte sich ausrechnen, dass Verstärkung aus der Kreisstadt anrückte und diesen Weg als Erstes abriegelte. Eine schmale Straße schlängelte sich im Süden nahe am Wasser entlang. Hier konnte man sich nur mäßig schnell fortbewegen. So war es wahrscheinlich, dass die Täter an Stinteck vorbei bis Westerdeichstrich geflohen waren. Dort waren sie auf die kaum befahrene Straße durch den Hedwigenkoog abgebogen, hatten das Fahrzeug gewechselt und waren dann weiter Richtung Wesselburen gefahren. Da gab es eine kleine Polizeistation, die aber nicht strategisch für die Absperrung bei einem solchen Einsatz eingesetzt werden konnte.

So hätte ich es geplant, dachte Lüder. Aber ich kenne mich in Schleswig-Holstein, der Geografie und Infrastruktur aus. Die Täter müssen sauber recherchiert haben, wenn sie zu dem gleichen Ergebnis gekommen sind. Kann man das arabisch aussehenden Terroristen zutrauen?

Er suchte aus seiner Kontaktliste die Handynummer von Leif Stefan Dittert, kurz LSD, dem Journalisten des Boulevardblattes, heraus.

LSD meldete sich sofort.

»Mensch, Lüders, das war Gedankenübertragung. Ich wollte Sie gerade anrufen. Unter uns Pastorentöchtern: Was gibt es Neues?«

»Es ist nicht neu, sondern wohlbekannt, dass ich für Sie immer noch Herr Dr. Lüders bin, Dittert. Klar?«

»Kriminalrat oder Mimose? Wir leben in einer Zeit, in der die Dinge immer schneller ablaufen. Sparen wir uns lange Vorreden. Wie ist der Stand der Dinge?«

»Wir haben eine hervorragende Pressestelle. Und bei solchen Ereignissen bedienen wir uns auch der aktuellen Informationen über die sozialen Medien.«

»Der Pressechef heißt Hauptkommissar Bla-Bla.«

»Die Pressearbeit organisiert der Abteilungsleiter.«

»Der Scheiß-Starke … Vergiss es, Lüders. Was wisst ihr über die Täter? Wer hat die Araber gesehen? Wie viele außer der Frau waren noch beteiligt? Gibt es noch mehr Tote außer dem einen, der bisher bestätigt ist?«

»Mich wundert, Dittert, dass Sie an der Sache dranhängen. Normalerweise beginnen Sie doch erst bei einem halben Dutzend Opfer.«

»So klang es auch zunächst.«

»Wer hat Ihnen direkt nach dem Attentat die Meldung zukommen lassen?«

»Ich habe die Zeit abgeglichen. Keine zehn Minuten nach der Tat traf bei uns ein Bekennerschreiben ein.«

»Von wem?«

»Almawt lilmushrikin. Ich wette, von denen habe Sie noch nie etwas gehört.«

Das traf zu. Lüder tat LSD aber nicht den Gefallen, es zu bestätigen.

»Sie sind gebildet, Lüders. Trotzdem übersetze ich es Ihnen. Es heißt: Tod den Götzendienern. Darunter versteht man Polytheisten – Vielgötterverehrer. Nur wenige wissen, was damit gemeint ist. Damit wurden Menschen bezeichnet, die neben einem Hochgott noch andere verehren, zum Beispiel Heilige oder eine Mittelebene, die beim Hochgott Fürbitte leisten.«

»Das Bekennerschreiben kam per WhatsApp. Man sprach von zahlreichen Toten.«

»Anzahl?«

»Viele.«

Bisher war nur von einem Toten die Rede, dachte Lüder. War das Attentat für die Täter nicht so erfolgreich, wie man es sich erhofft hatte? Weshalb hatte man ein Messer benutzt und nicht mit automatischen Waffen in die Menschenmenge geschossen? Oder Sprengsätze benutzt? Lüder holte tief Luft. Gott sei Dank war das nicht geschehen. Es hätte ein furchtbares Blutbad geben können. Aber auch diese Tat war schlimm genug.

»Was ist nun? Ich brauche Informationen. Sie wissen doch: Die Presse ist nicht nur unabhängig, sondern immer noch ein Medium, das nicht nur schnell informiert, sondern den Ermittlungsbehörden hilfreich zur Seite steht.«

»Das Fluchtfahrzeug wurde gefunden«, warf Lüder dem Journalisten einen Brosamen zu.

»Was? Wo? Unter welchen Umständen?«

»Ausgebrannt. In der Marsch.«

»Profis. Die wussten, wie sie Spuren verwischen. Los, Lüders, mehr Details.«

»Pressestelle.«

»Die sagen doch nichts.«

»Dann kommen Sie her und sehen Sie sich vor Ort um.«

Für einen Moment war es still in der Leitung. Dann meldete sich Dittert: »Geht im Augenblick nicht. Habe noch gut zwei Wochen Pause.«

»Haben Sie wieder gesoffen? Wie damals mit Große Jäger?«

»Als er mich besoffen gemacht hat und anschließend die Blauen anrief? Nein. Ich habe kein Lalülala auf dem Dach wie Sie. Trotzdem ist es unsere Pflicht, schnell und umfassend zu informieren. Auf dem Weg zu einem Tatort hat mich dann der Stadtfotograf erwischt.«

»Berufsrisiko«, sagte Lüder, legte auf und kehrte zum Tatort zurück.

Endlich fand er Zeit, mit dem Leiter der Itzehoer Mordkommission zu sprechen. Hauptkommissar Markus Schwelm schnaufte kurz durch, bevor er seinen Bericht begann.

»Tach. In aller Kürze. Wir haben einen Toten und vier Verletzte, drei hier in der Fußgängerzone und einer hinten in der Passage, davon eine junge Frau mit Bauchverletzungen. Ihr Zustand ist kritisch. Der Notarzt konnte nur Stichverletzungen feststellen. Alles andere wird sich im Westküstenklinikum in Heide ergeben.«

»Wer ist der Tote?«

»Bernd Hollstein, siebenundsechzig, seit Kurzem wohnhaft hier in Büsum.«

»War er allein unterwegs?«

»Das scheint so. Es hat sich keine Begleitung gemeldet.«

»Zeugen?«

»Haben die Kollegen aufgenommen.« Schwelm schilderte kurz, was ihnen über den Tathergang bekannt war. »Es gibt widersprüchliche Aussagen über die Anzahl der Täter.«

»Eine Zeugin hat die Frau beobachtet, wie sie geflüchtet ist.« Lüder erzählte, welche Informationen er besaß. »Bisher spricht vieles für eine einzelne Täterin, eine verschleierte Frau. In Verbindung mit dem Bekennerschreiben, das kurz nach der Tat einging, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um ein Attentat mit islamistischem Hintergrund handeln könnte.«

Schwelm zog die Stirn kraus. »Wenn so zügig nach der Tat die Zeitung informiert wurde, muss ein Beteiligter die Meldung abgesetzt haben. Das wäre nicht geschehen, wenn die Aktion missglückt wäre.«

Der Hauptkommissar hatte recht. Unter den Passanten musste sich ein weiterer Akteur befinden, der dann aktiv eingegriffen hatte.

»Schicken Sie noch einmal die Leute los. Sie sollen fragen, ob unter den Fußgängern jemand mit, nun ja … fremdländischem Aussehen aufgefallen ist. Die Frage soll aber so gestellt werden, dass die Gerüchteküche nicht zusätzlich angeheizt wird. In den Medien wird schon jetzt von einem Blutbad durch Islamisten berichtet.«

»Wasch mich, aber mach mich nicht nass«, brummte Schwelm.

Lüder stellte sich etwas abseits und suchte auf dem Smartphone nach Meldungen zum Attentat. Er fand die erste Meldung, die von der Boulevardzeitung herausgegeben worden war.

»Terrorakt in Büsum. Islamisten richten Blutbad an. Zahlreiche Tote und Verletzte befürchtet«, hatte der Online-Redakteur getextet. Die Meldung war kurz nach dem Eingang des Bekennerschreibens bei der Zeitung abgesetzt worden. Tempo war im Nachrichtengeschäft alles. Nur wer als Erster mit der Sensation auf den Markt kam, band die Leser an sich. Und die Boulevardzeitung genoss den Ruf, in solchen Fällen immer vorn mitzuspielen.

Lüders Blick blieb beim Eingang zur Buchhandlung, vor der das Attentat stattgefunden hatte, haften. Über die ganze Breite des Ladens war das Geschäft geöffnet, lediglich an den Seiten durch Ständer für Ansichtskarten und kleine Andenken ein wenig eingeschränkt. An den Wänden zogen sich viele Regalmeter mit Büchern entlang, im freundlich gestalteten Raum nahmen Gondeln, in denen Urlauber mit Begeisterung stöberten, Bücher, Mitnahmeartikel, Kalender und viele andere Dinge auf. Es befanden sich nur noch wenige Menschen in dem großen Geschäft. Lüder vermutete, dass es sich um das Personal handelte. Er steuerte auf eine Gruppe zu, die sich um das Kassenterminal versammelt hatte, nannte seinen Namen und ergänzte, dass er von der Kriminalpolizei sei. Ein sportlich wirkender Mann mit Brille und gepflegtem Bart kam ihm entgegen.

»Das ist furchtbar«, sagte er mit belegter Stimme.

»Sie sind …?«, setzte Lüder an.

»Der Geschäftsführer. Entschuldigung, aber ich bin noch ganz benommen.« Er zeigte auf eingetrocknete Blutflecken auf seiner Kleidung. »Von der eigentlichen Tat haben wir nichts mitbekommen, obwohl sie sich direkt vor unserem Geschäft zugetragen hat. Ich selbst war gerade in einem Kundengespräch, als auf der Straße die Unruhe ausbrach. Kurz darauf lief eine Frau in einem schwarzen Ganzkörperüberkleid durch unseren Laden. Das Gesicht war durch einen Gesichtsschleier, ebenfalls in Schwarz, komplett verdeckt. Lediglich für die Augen war ein schmaler Schlitz frei.« Er hob die Hand vor das Gesicht und deutete mit Daumen und Zeigefinger die Breite an. »Dann sah ich das blutige Messer in ihrer Hand. Ich war starr vor Schreck. Hoffentlich geschieht unseren Kunden und Mitarbeitern nichts, habe ich gedacht. Derzeit sind viele Urlauber im Ort, und der Laden war voll.«

»Wo ist die Frau abgeblieben?«, wollte Lüder wissen.

Der Buchhändler streckte den Arm aus und wies in den hinteren Bereich des Geschäfts. »Wir haben einen Notausgang. Der ist aus Sicherheitsgründen von innen zu öffnen. Dort ist sie hinaus.«

»Führt der in die Passage?«

Der Buchhändler nickte. »In die Querpassage.«

Von dort war die Täterin zu der Stelle hinter dem Haus gelangt, wo der SUV auf sie gewartet hatte. Der Fluchtweg war kein Zufall. Alles war zuvor recherchiert worden. Die Attentäter hatten sich gründlich vorbereitet und die Örtlichkeiten bis ins Detail ausgekundschaftet. Das bedeutete, dass der Tatort gezielt ausgesucht worden war.

Lüder zeigte über die Schulter. »Schönes Geschäft haben Sie hier«, sagte er. »Und Sie weisen die Kunden vorbildlich darauf hin, dass die Ladenfläche videoüberwacht wird. Darf ich mir die Aufzeichnung ansehen?«

»Natürlich«, versicherte der Geschäftsführer und bat ihn in ein kleines Büro.

Dann spulte er die Aufzeichnung zurück. Zunächst sah man nur Kunden, die sich im Geschäft umsahen. Dann tauchte die Frau auf. Sie war in der Tat so gekleidet, dass nichts zu erkennen war. Sogar Handschuhe trug sie. Deutlich war das blutverschmierte Messer in der rechten Hand zu erkennen. Ein Bowie-Messer.

»Das ist ein Kampfmesser«, stellte Lüder fest. »Von James Bowie als Arbeitsmesser und für Kämpfe entwickelt. Eine teuflische Waffe mit einer Klinge von mindestens fünfzehn Zentimetern Länge und fünf Zentimetern Breite. Die Form des Griffes gestattet es, kräftig und tief zuzustoßen. Sehen Sie hier«, er zeigte auf den Bildschirm, »eine Clip-Point-Klinge. Der Klingenrücken ist zur Klingenspitze hin gebogen. Wer so etwas mit sich führt und benutzt, will töten.«

Ein Schauder durchzuckte den Buchhändler.

Sie konnten den Weg der Frau durch das Geschäft verfolgen. Behände und ohne Zögern lief sie durch den lang gestreckten Laden, umrundete dabei Kunden, die sich in den Gängen zwischen den Regalen und Gondeln aufhielten, steuerte den Tresen im Hintergrund an und verschwand durch eine Tür, auf der eine Schiefertafel angebracht war, auf der Preise für Getränke notiert waren.

»Da geht es zum Hinterausgang«, erklärte der Buchhändler.

Lüder bat darum, die Aufzeichnungen mitnehmen zu dürfen.

»Selbstverständlich.«

Sie würden im Landeskriminalamt von den Spezialisten ausgewertet werden.

Frauen in traditioneller arabischer Kleidung wirkten in ihren Bewegungen oft schwerfällig. Das mochte an den Einschränkungen liegen, die mit dieser Bekleidung verbunden waren. Trotzdem bewegte sich die Frau relativ elastisch. Ihr Gang wirkte fast ein wenig federnd, als wäre sie sportlich durchtrainiert. Vorurteile besagen, dass Frauen aus diesem Kulturkreis die eigene sportliche Betätigung versagt war. Das galt sicher nicht für kampfgeschulte Attentäterinnen. Ohne Vorbereitung war eine solche Tat nicht durchzuführen. Bei aller Gründlichkeit, mit der das Attentat geplant und vorbereitet worden war … Hatten die Täter die Videoaufzeichnung übersehen?

»Die kannte jeden Zentimeter des Fluchtwegs. Das war kein Zufall«, stellte Lüder fest. »Wie hat sie sich informiert?«

Der Buchhändler hob vorsichtig den Zeigefinger, als würde er sich zu Wort melden wollen. »Ich bin nur an zwei Tagen in der Woche hier in Büsum. Unser Hauptgeschäft ist in Heide. Meine Mitarbeiterin, die hier vor Ort die Verantwortung trägt, berichtete vor einiger Zeit, dass sich ein Kunde merkwürdig verhalten hat. Unser Personal sprach ihn an, als er sich im hinteren Bereich an der Tür neben dem Tresen zu schaffen machte.«

»Dort geht es zum Notausgang?«

»Richtig. Er behauptete, er habe die Kundentoilette gesucht. Da er offensichtlich nichts entwendet hatte, ließ meine Mitarbeiterin es dabei bewenden. Der Kunde hat daraufhin das Geschäft zügig verlassen. Ich hatte noch einmal nachgefragt. Man konnte sich nicht erinnern, dass er öfter bei uns war.«

»Da muss kein Zusammenhang bestehen, aber der Hinweis ist wichtig.«

Der Buchhändler zögerte einen Moment. »Ich will um Gottes willen keine Vorurteile nähren, aber …«

»Gibt es noch etwas?«

»Der junge Mann sah arabisch oder türkisch aus.« Dann bestätigte er, dass er auch diese Aufzeichnung der Polizei zur Verfügung stellen könne.

Lüder ließ sich von dem hilfsbereiten Buchhändler noch den Notausgang zeigen. Dann kehrte er in die Fußgängerzone zurück und wies Schwelm darauf hin, dass die Spurensicherung sich des Hinterausgangs annehmen solle. Schwelm sah ihn sprachlos an, als er den jungen Mann erwähnte, der möglicherweise als Kundschafter unterwegs gewesen war.

»Der Rechtsmediziner konnte an der Leiche hier vor Ort vier Messerstiche feststellen, jeweils etwa drei bis vier Zentimeter breit. Die Täterin hat kraftvoll zugestoßen, und zwar so heftig, dass das Messer von hinten in die Lunge und das Herz eingedrungen ist. Wenn es ein Bowie-Messer war, muss sie es bis zum Handschutz in das Opfer hineingerammt haben. Dazu ist schon ein erheblicher Kraftaufwand notwendig.« Sie wurden durch den Buchhändler unterbrochen, der sich ihnen genähert hatte und diskret ein Stück entfernt stehen geblieben war.

»Haben Sie noch etwas?«, fragte Lüder.

Der Mann nickte. »Meine Mitarbeiterin hat mich eben angesprochen. Sie war heute kurz privat zur Reinigung, um dort ein paar persönliche Dinge abzugeben. Unterwegs hat sie den jungen Mann gesehen, der in unserem Laden vorgab, nach der Toilette gesucht zu haben. Sie ist sich ziemlich sicher.«

Lüder bedankte sich. Das war ein wichtiger Hinweis. Es bestärkte ihn in der Vermutung, dass der Unbekannte nicht nur am Ausspähen der Örtlichkeiten, sondern auch heute an der Ausführung des Verbrechens beteiligt war. Hatte er das Bekennerschreiben abgesetzt? Aber das war reine Spekulation. Er bedankte sich bei dem aufmerksamen Buchhändler und wandte sich wieder seinem Kollegen zu.

»Weshalb hat man so heftig auf Hollstein eingestochen und andere Passanten nur verletzt? ›Nur‹ soll bitte keine Wertung sein. Aber wenn die Täterin zweimal auf Hollstein und dann auf andere losgegangen wäre, hätte sie mehr Menschen töten oder schwer verletzen können.«

»Da ist noch die junge Frau mit den Bauchverletzungen«, warf Schwelm ein. »Es hat nicht den Anschein, dass sie und Hollstein sich kannten. Beide waren offenbar Zufallsopfer.«

»Der ältere Mann …«

»Meeseburg.«