Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Dr. Ing. Theodor Vogel (1901 - 1977) war in der jungen Bundesrepublik als Unternehmer und als Einiger der deutschen Freimaurerei sowie als Patriarch einer großen Familie eine weithin bekannte und respektierte Persönlichkeit. Als einer der wenigen deutschen Unternehmer, die die Nazizeit mit "lupenreiner weißer Weste" (Der Spiegel) überstanden hatten, konnte er bald nach Kriegsende mit Einwilligung der Militärregierung seinen Beruf wieder ausüben. 1946 übernahm er die Leitung des väterlichen Betriebes in Schweinfurt. In dieser Recherche geht Johanna Vogel, eine der Töchter, der weniger bekannten Vorgeschichte nach und fragt, wie es der Vater geschafft hat, trotz mancher privater, beruflicher und politischer Probleme seine wachsende Familie unbeschadet durch die krisenhaften Zeiten der Weimarer Republik und des Naziregimes zu bringen. Dabei weicht sie auch kritischen Fragen an den Vater nicht aus. Das Buch ist einerseits eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft, andererseits eine an Wahrheit und Genauigkeit interessierte Recherche über die Lebensbedingungen und die Überlebensstrategien der Familie in dieser kritischen Epoche deutscher Geschichte. Ein umfangreicher Dokumentenanhang ergänzt und unterstreicht die Plausibilität dieser Recherche.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 150
Veröffentlichungsjahr: 2017
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Ulrich, das Riesenbaby, geb. am 12. Oktober 1944, der Neunte in der Geschwisterreihe, im Arm seiner ältesten Schwester Bärbel, links der stolze Vater. Foto Strobel, Oktober 1944
Im Mittelpunkt dieser zeitgeschichtlichen Recherche steht die Geschichte meines Vaters, genauer, die Geschichte seiner ersten Lebenshälfte, die mit dem Ende des Dritten Reiches und der Naziherrschaft ihrerseits zu Ende ging. Was danach kam, also sein Aufstieg als Unternehmer und Freimaurer, und damit seine Aufnahme in den Olymp bedeutender Deutscher, ist hinlänglich bekannt und durch verschiedene Publikationen ausreichend dokumentiert. Dem kann und will ich nichts hinzufügen. Mir geht es vielmehr um den Lebensweg des weitgehend noch unbekannten Mannes, um das Werden und Durchhalten meines Vaters als Ehemann und Familienmensch, als Mitarbeiter im väterlichen Betrieb, als Schriftsteller und Arbeitsloser und schließlich als freiberuflicher Ingenieur in wirtschaftlich und politisch turbulentester Zeit.
Dabei lasse ich mich von der Frage leiten, wie es mein Vater über das Dritte Reich hinweg geschafft hat, Beruf und Familie so zu gestalten und zu vereinbaren, dass er sich nach dem Zusammenbruch als politisch unbelastet direkt in den Neuaufbau des Gemeinwesens und der deutschen Freimaurerei einbringen konnte. Sein Engagement für die Freimaurerei, das ich persönlich immer eher kritisch gesehen habe, spielt jedoch in meiner Recherche nur eine untergeordnete Rolle.
Während ich anfangs ausschließlich die berufliche Situation meines Vaters während des Dritten Reiches im Focus meines Interesses hatte, habe ich mich aufgrund meiner Beobachtungen schließlich dazu entschlossen, auch die familiäre Situation stärker zu berücksichtigen. Entstanden ist dabei so etwas wie eine Familienbiografie. Sie zeigt die Entwicklung einer ungewöhnlichen Ehe unter schwierigen Startbedingungen hin zum Aufbau und zur Sicherung einer nicht alltäglichen Großfamilie unter extremen politischen Rahmenbedingungen. Die nach längerer Arbeitslosigkeit durchgehend freiberufliche Beschäftigungssituation meines Vaters als „beratender Ingenieur“ im Dritten Reich von kleinen Anfängen hin zu einem umfangreichen Aufgabenfeld mit drei Ingenieurbüros gegen Ende des Krieges war für mich dabei ebenso beeindruckend wie seine Fähigkeit und Bereitschaft zusammen mit meiner Mutter, seiner Familie, also uns Kindern, ein von politischer Einflussnahme weitgehend geschütztes Zuhause bieten zu können. Auch Aspekte der Erziehung und Förderung der Kinder nehmen deshalb mehr Raum ein als ursprünglich von mir geplant.
Die Aktenlage für die Zeit des Dritten Reiches ist generell dünn. Dennoch glaube ich, auf mancherlei Wegen – über Archive, Sekundärliteratur, Aussagen von Zeitzeugen und private Briefe aus Familienbesitz - viel bisher Unbekanntes und Aufschlussreiches herausgefunden zu haben. Ich halte mit meiner persönlichen Einschätzung nicht hinter dem Berg und formuliere offene Fragen als solche. Aus Gründen meines eigenen Alters ist es mir nicht möglich, noch lange Zeit diesen offenen Fragen nachzugehen. Trotzdem glaube ich, mit meiner Arbeit etwas Licht in die bisher eher schamhaft verschwiegene (Vor-) Geschichte des Dr. Ing. Theodor Vogel gebracht zu haben. Gleichzeitig fällt damit auch Licht auf die oft komplexe gesellschaftliche Gemengelage im Dritten Reich, die einer allzu platten schwarz-weiß Malerei entgegensteht.
Ich habe durch diese Arbeit auch meinen Vater noch einmal in einem anderen Licht sehen gelernt. Sein Lebensentwurf, seine stringente Treue und sein unbeirrbares Verantwortungsbewusstsein gegenüber der fast ausufernden Familiensituation unter schwierigsten Bedingungen haben mir höchsten Respekt und Dank abgenötigt.
Die strukturellen Schwächen und sachlich-wissenschaftlichen Lücken meiner Arbeit sind mir bewusst. Jüngere mögen zu gegebener Zeit hier weiterforschen. Der umfangreiche Dokumentenanhang soll hierfür als Anregung dienen. Er kann außerdem einen Einblick in die mir zugänglich gewesenen Unterlagen vermitteln.
Johanna Vogel, im Dezember 2016
Eine konzeptionelle Vorbemerkung
Vorwort
Berufsfindung und Familiengründung 1920 - 1932
Jung gefreit hat nie gereut
Berufsjahre im väterlichen Betrieb, 1924 - 1932
Rückblick auf den beruflichen Werdegang bis Ende 1932
Beruf und Familie während des Dritten Reiches
Eine Vorbemerkung
Das Krisenjahr 1933 in Familie und Beruf
Exkurs: Schon wieder ein Mädchen
Neustart im freien Beruf als Beratender Ingenieur 1933
Ein Bewerbungsschreiben
Ideologische Schwierigkeiten mit dem NS-Regime
Bürgerschaftliches Engagement im Dritten Reich
Die Familie: Kindererziehung und Rückzugsräume
Exkurs: Die freiheitliche Rolle meiner Mutter
Vollmacht
Die Odenwaldschule als Rückzugsraum
Zufluchtsort Widdersberg mit Tante Grete
Das Ingenieurwesen bei den Kriegsvorbereitungen und im Krieg
Wiederaufbauamt in Saarbrücken
Großaufträge zur unterirdischen Verlagerung kriegswichtiger Industrien
Das Geheimprojekt „Kaulquappe“ – Fa. Schott Jena
Im Fadenkreuz der Gestapo
KZ, Zwangsarbeit, Holocaust: Was wusste mein Vater
Nachlese zu Kaulquappe - der Stempel
Andere Großprojekte vor Kriegsende
Kriegsende und Entnazifizierung
Schlussbetrachtung
Erinnerungstafel an den Bürgermeister von Kolitzheim
Lebensdaten, Wichtige Ereignisse
Literaturverzeichnis
Dokumentenanhang
Vorbemerkung; Dank, Quellennachweis
Abkürzungen
Inhalte der Dokumente
Dokumente
Hinweis auf: Die Auflehnung des Miguel C. Eine Spurensuche
Hinweis auf: Kindheit in Schonungen 1933 – 1946. Eine Nachprüfung
Was wissen wir schon über das Leben unserer Eltern? Sie sind da, im besten Falle jedenfalls. Sie kümmern sich um uns, geben uns Kost und Logis, erziehen uns und prägen uns mit ihrem Sosein und Dasein für unser ganzes weiteres Leben. Manchmal erzählen sie uns von früher, z. B. wie sie sich kennen gelernt haben, wie das damals war. Ach ja, der Wandervogel. Die herrlichen Wanderungen, oft tagelang, man schlief bei den Bauern im Stroh. Aber es ist nie etwas passiert. Das pflegte meine Mutter an dieser Stelle immer zu betonen. Wirklich nie? so fragen wir heute und konsultieren den Kalender im Blick auf unsere eigenen Geburtstage. Noch immer pflegen sie die Freundschaften mit ehemaligen Wandervögeln, Beziehungen auch fürs spätere Berufsleben.
Mein Vater war nicht im Krieg. Ein Grund, die vielen Kinder. Am 25. Februar 1939 kam mit unserer Schwester Christine das siebte Kind zur Welt. Wer mehr als 6 Kinder hatte, war vom Wehrdienst befreit. Er war ja auch nicht mehr der Jüngste, keiner, den man für ein Soldatenleben hätte begeistern können. Aber reicht das für eine Erklärung aus? Denn wichtiger noch ist, er war uk, unabkömmlich. Und da bin ich bei dem alles entscheidenden Punkt: uk, unabkömmlich! Warum? Was hat er so Wichtiges gemacht für die da, für die Nazis? Als Jugendliche in der Nachkriegszeit hat mich diese Frage sehr beschäftigt. Schlecht ist es uns im Dritten Reich schließlich wirklich nicht gegangen. „Ich schäme mich, einen Vater zu haben, der nicht im KZ war!“, war mein Verdikt ihm gegenüber. Wer meinen Vater gekannt hat, weiß, dass er oft aufbrausend, ja sogar jähzornig sein konnte. Wenn ich mit einer entsprechenden Reaktion gerechnet haben sollte, so wurde ich aber enttäuscht. Denn er antwortete ruhig, fast mitleidig, und fragte: was ich glaube, was aus uns geworden wäre, wenn er ins KZ hätte gehen müssen.
Was also hat er gemacht in jener Zeit? „Er hat den Luftschutzkeller unter dem Schloss Mainberg1 gebaut“, erinnert sich wohlwollend der alte Herr, der an diesem Tag mit mir im Archiv von Schonungen2 kramt. Er selbst hat sich bei den Fliegerangriffen auf Schweinfurt auch in diesen Luftschutzkeller geflüchtet. Sein Überleben belegt, wie lebenswichtig dieses Bauwerk meines Vaters war – und wie unpolitisch. Ein Luftschutzkeller eben.
So leicht gebe ich mich nicht zufrieden. Das war schließlich nicht alles. Da waren seine vielen Reisen nach Saarbrücken und sonst wohin. Tagelang, so erinnere ich mich, war er oft weg. Wenn er nachhause kam von diesen Reisen, liefen wir ihm entgegen: „Hast Du uns etwas mitgebracht?“. Und seine Antwort, ehe er kleine Geschenke auspackte, lautete dann: „Einen hungrigen Bauch und ein paar müde Füße!“
So weit also meine Kindheitserinnerungen an seinen damaligen Beruf und was dazu in meinem Kopf in jungen Jahren vor sich ging. Jetzt im Alter möchte ich es genauer wissen. Ich denke nach über eine fast unbeschwerte Kindheit in diesem Dorf Schonungen während des Dritten Reiches. Wie war das möglich damals, in dieser finsteren Zeit, dieses schöne Elternhaus, der große Garten, die vielen Menschen in unserem Haus, das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, unsere so tatkräftige Mutter, unser so umtriebiger und lebensfroher Vater? Diese scheinbar heile Welt, in der ich aufgewachsen bin? Wie war das damals möglich?
1 Mainberg, zwischen Schweinfurt und Schonungen am Main gelegen, ist vor allem wegen seines Schlosses bekannt.
2 Schonungen, ein Arbeiterdorf nahe Schweinfurt, ist der Ort, in dem wir während des Dritten Reiches gelebt haben. Das Archiv des Dorfes habe ich mehrmals besucht.
Zweifel an der Relevanz dieses Sprichwortes sind sicher erlaubt. Aber im Falle meiner Eltern hat es sich offenbar bewahrheitet, obwohl die Widerstände gegen diese Verbindung seitens der Familie meiner Mutter erheblich gewesen sein müssen. Das erschließt sich mir nicht nur aus gelegentlich aufgefangenen Gesprächsfetzen mancher ihrer ehemaligen Freunde, sondern auch aus mehr oder weniger diskreten Andeutungen in Briefen aus der Familie Raasch3.
Zur Aufklärung für den heutigen Leser vorab also ein paar Bemerkungen über diesen mütterlichen Zweig meiner Herkunft. Es waren die Familien Straumer aus Sachsen und Raasch aus Pommern, in die meine Mutter hineingeboren wurde. Diese Familien waren allesamt gut bürgerlich, gut evangelisch und gut christlich, wenn auch mit deutlich landschaftlich geprägten unterschiedlichen Wesenszügen. Viele Pfarrer, Beamte im höheren Dienst und gelegentlich auch Schriftsteller, bestimmten den sozialen Status dieser Familien. Die Großmutter Raasch, geb. Straumer war eine Professorentochter gewesen. Der Vater meiner Mutter, Großvater August Raasch, hatte es immerhin zum Oberingenieur gebracht. Er hat als solcher durchgehend bei Siemens-Schuckert gearbeitet, erst in Nürnberg, dann in Berlin (1903-1908) und zu guter Letzt wieder in Nürnberg, und galt auf seinem Feld als eine Kapazität.
Meine Mutter, geb. am 16. Januar 1902, kam als jüngste von drei Kindern zur Welt. Einige Jahre ihrer Kindheit hat sie entsprechend der Laufbahn ihres Vaters in Berlin zugebracht, noch vor dem Ersten Weltkrieg, noch im Kaiserreich. Die Familie wohnte in Charlottenburg, in der Nähe des Schlossparks, wo gelegentlich die Tochter des deutschen Kaisers bei einer Spazierfahrt besichtigt werden konnte, was meine Mutter als Kind tief beeindruckt haben muss. Auch sonst hat die Berliner Luft ein wenig auf sie abgefärbt; denn etwas von einer gewissen Berliner Nonchalance hat sie sich ein Leben lang bewahrt. Sie ließ sich nicht so leicht unterkriegen und sie wusste sich zu behaupten, auch gegenüber unserem Vater.
Obwohl ihr Vater, also unser Großvater Raasch, eher fromm und konservativ dachte, lag ihm doch eine solide Ausbildung seiner Kinder am Herzen. Grete, die Älteste, durfte sogar Medizin studieren, ehe sie dann 1920 einen Mediziner, Omar Böhlau, heiratete, und damit ihre akademische Laufbahn beendete. Else, meine Mutter, offenbar weniger strebsam, begnügte sich mit einer Ausbildung zur Kindergärtnerin in Nürnberg.
Gertrud, Hanna und Else als Wandervögel, 1918 bei Fürth
Dort fand sie schon mit sechzehn Jahren Zugang zum Wandervogel. Zwei Freundinnen aus ihrer Nürnberger Schulzeit, Gertrud Lades und Hanna (verh.) Krönert, mit denen sie lebenslang verbunden geblieben ist, haben sie in diese Gruppen eingeführt, nicht unbedingt zur Begeisterung ihrer Eltern.
Der Wandervogel, eine Jugendbewegung des späten Kaiserreiches, und 1894 in Berlin Steglitz gegründet, fand nach dem Krieg an vielen Orten des danieder liegenden deutschen Reiches eine Wiederbelebung. Er war die Protestbewegung einer Jugend, die, aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft kommend, doch deren Ideale verachtete und boykottierte. Das einfache Leben auf Wanderungen in der Natur, Freiheit von bürgerlichen Zwängen, das Zusammensein mit Gleichaltrigen, Volkstanz und Volkslieder, das waren ihre Ideale. Manche dieser Wandervogelgruppen ließen auch schon Mädchen zu.
Gemischte Wandervogelgruppe aus Fürth, Herbst 1919
Die Reformpädagogik des frühen 20. Jahrhunderts mit ihren Landschulheimen hatte hier ihre Wurzeln. Dass nicht nur die Pfadfinder, sondern auch die „Hitlerjugend“ an diese Tradition anknüpften, indem sie ideologisches Gedankengut und jugendgemäße Verhaltensweisen des Wandervogels für ihre Zwecke adaptierten, sei hier um der historischen Wahrheit willen angemerkt, ohne dass diese späteren Anleihen jedoch die Attraktivität des Wandervogels für die Nachkriegsjugend des ehemaligen Kaiserreiches zutreffend erklären würden.
Beim Wandervogel lernte meine Mutter schon 1919 den fast gleichaltrigen Theodor Vogel kennen, der von seinen Freunden allgemein nur Petrus genannt wurde. Wie er zu diesem Spitznamen kam, lässt sich nicht mehr ganz aufklären, so Dass ich auf entsprechende Legenden dazu an dieser Stelle verzichte. Im Freundes- und Familienkreis wurde der Spitzname aber über die Jahre beibehalten, weshalb ich ihn zur Bezeichnung meines Vaters im Folgenden ebenfalls benutze.
Petrus, alias Theodor Vogel, geb. am 31. Juli 1901 in Schweinfurt, bereitete sich in Nürnberg auf das Abitur vor; denn an seiner Schule in Schweinfurt konnte man damals noch kein Abitur ablegen. Auch er war ein Wandervogel. Im Gegensatz zu Else stammte er aus eher einfachen Verhältnissen. Zwar betrieb sein Vater, unser Großvater Hermann Vogel, schon ein kleines Unternehmen, das Fensterwerk Vogel. Aber die bodenständige Herkunft aus dem Handwerkermilieu, - der von Petrus hoch verehrter Großvater war Zunftmeister der Schlosser und Schmiede in Schweinfurt gewesen, - prägte seine Familie und ihre Vorstellungswelt. Sie prägte auch meinen Vater, der sich zeitlebens den allerhöchsten Respekt gerade vor der Arbeitswelt von Arbeitern, Bauern und Handwerkern bewahrt hatte und diesen Respekt auch seinen Kindern vermittelte.
Familie Hermann Vogel. ca. 1920. rechts Petrus mit Bruder Hermann
Man kann also verstehen, dass in den Augen der Familie Raasch die aufkeimende Beziehung zwischen den beiden jungen Leuten misstrauisch beobachtet wurde, zumal sie ja auch tatsächlich noch sehr jung waren. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Brief von Grete an ihren Verlobten Omar vom Frühjahr 1920, in dem sie schreibt4:
„Ich hatte Else, als ich ihr kürzlich schrieb, in guter Art vor dem Wandervogel gewarnt, weil sie ihm immer wieder einmal ganz zu verfallen drohte. Und heute schreibt sie mir in einem überfrohen Brief, dass sie einem Wandervogel ihre Treu gegeben hat. Er ist noch sehr jung, kaum 19, und sie haben 4 oder 5 Jahre vor sich. …..Ich kenne ihn, Theodor Vogel, ganz flüchtig von einer Fahrt ins Landheim. Er geht im Herbst auf die Technische Hochschule, will Dr. Ing. und Architekt werden und übernimmt dann die Fabrik seines Vaters in Schweinfurt; und im Maintal an einem Weinberg wollen die zwei sich einstens ihr Nest bauen. Außer mir weiß in der Familie niemand davon.“
Auch die damals schon erkennbaren, impulsiven Charakterzüge meines Vaters fanden das Missfallen der Familie Raasch und weckten schwere Bedenken. Ihnen missfielen auch die gemeinsamen Unternehmungen mit dem Wandervogel, die Else schon recht bald bis nach Schweinfurt brachten und damit in die Vogel’sche Familie. Manche andere Wanderung, z. B. in die Berge, wurde ihr deshalb auch schlichtweg untersagt. Dem heutigen Leser sei es gesagt, dass man damals erst mit 21 Jahren volljährig wurde, was den Freiraum junger Leute erheblich eingeschränkt hat. Für ein Liebespaar war das also eine schwierige Zeit, die schwierige Balanceakte von ihm verlangte. Aber beide wussten offensichtlich genau, was sie wollten, und verfolgten ihr Ziel hartnäckig.
Ostern 1920 machte Else ihr Examen als Kindergärtnerin in Nürnberg, während Petrus zur gleichen Zeit in Nürnberg erfolgreich sein Abitur ablegte, und dann sein Studium begann. Die ersten zwei Semester studierte er in München, was Besuche bei Böhlaus in Widdersberg erlaubte. Widdersberg, ein Ort von dem noch viel die Rede sein wird, war das Feriendomizil der Schriftstellerin Helene Böhlau, mit der Grete, die ältere Schwester meiner Mutter, durch ihre Heirat mit deren Sohn Omar inzwischen eng verbunden war. Auch Else tauchte hier nun immer öfter auf. Sie bemühte sich, das Wohlwollen der berühmten Helene Böhlau zu gewinnen, die dadurch zur allgemein respektierten Sittenwächterin aufstieg. Helene Böhlau vor allem, aber auch die Schwester Grete Raasch alias Böhlau und Omar Böhlau, Gretes Mann waren nun die Gewährsleute dafür, dass zwischen Else und Petrus, wenn der wieder einmal auftauchte, alles seine geziemende Ordnung hatte.
1921 änderten die beiden ihre Strategie. Else bemühte sich um eine geeignete Arbeitsstelle in ihrem Beruf als Kindergärtnerin, und verdingte sich zunächst bei verschiedenen Familien. Petrus wechselte zur TH nach Darmstadt, um dort sein Studium fortzusetzen. Das Schicksal spielte den beiden nun in die Hand. Unweit von Darmstadt, und der Kontrolle der Familie Raasch weniger zugänglich, befand sich das berühmteste Projekt der Reformpädagogik des frühen 20. Jahrhunderts, die Odenwaldschule5. Hier wurden in ländlicher Umgebung und mitten im Wald oft schwierige Kinder, meist aus besseren Familien, in familienähnlichen Strukturen erzogen. Sechs bis acht Kinder unterschiedlichen Alters und beiderlei Geschlechtes lebten jeweils in einem eigenen Haus mit zwei LehrerInnen oder ErzieherInnen wie eine Familie zusammen. Der Unterricht wurde für die Schüler in kleineren Gruppen bedarfsgerecht strukturiert. Auch eine handwerkliche Ausbildung gehörte zum Konzept. Die Gründer dieser Reformschule, Edith und Paulus Geheeb, lebten mitten unter den Kindern. Ihr damals revolutionäres pädagogisches Modell fand großen Zuspruch bei fortschrittlichen Eltern wie z. B. bei den Manns und den Weizäckers, die ihre Söhne in die Odenwaldschule gaben.
Befreundet mit den beiden Geheebs und interessiert an ihrem pädagogischen Experiment war auch Martin Buber, der damals mit seiner Familie in Heppenheim lebte. Zu Buber suchte und fand auch Petrus6 engen Kontakt, von dessen Ausstrahlung und Denken er zutiefst fasziniert war, und den er – wie ich heute glaube – sich in gewisser Weise auch zum Vorbild nahm. (Erst indem ich dies niederschreibe, wird mir klar, weshalb meinem Vater später so sehr daran gelegen gewesen war, dass ich ein paar Semester an der hebräischen Universität in Jerusalem studierte, wo Martin Buber lebte. Ich verfolgte damals freilich andere Pläne und lehnte deshalb diesen Vorschlag ab.)
Wer zuerst darauf gekommen ist, Petrus oder Else, wissen wir nicht. Aber jedenfalls gelang es Else, in der Odenwaldschule eine Anstellung zu finden. Sie bewarb sich im Oktober 1921 auf eine Ausschreibung der Schule in der Zeitschrift „Junge Menschen“ und wurde eingestellt. Zwei Jahre lang, vom 21. November 1921 bis zum 15. Oktober 1923 arbeitete sie dort sozusagen als Mädchen für alles7. Damit war sie ganz in der Nähe von Petrus, der sie von Darmstadt aus regelmäßig besuchte oder auch an Wochenenden zu Wanderungen mit dem Darmstädter Wandervogel abholte.
Else entwickelte in dieser Zeit eine enge Beziehung zu Edith Geheeb, der Frau des Gründers Paulus Geheeb, an der sie lebenslänglich festhielt. Ein sehr persönlicher Brief von Edith Geheeb an das „liebe Elschen“ aus dem Jahr 19308 belegt die Gegenseitigkeit dieser Freundschaft, die auch Petrus mit einschloss. Die Affinität zur Odenwaldschule, die als Refugium besonders während des Dritten Reiches für unsere Familie eine wichtige Rolle spielte, hat hier ihren Ursprung. Dass diese Schule 2016 so schmählich untergegangen ist, meine Mutter, wenn sie es wüsste, würde sich im Grabe umdrehen.