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Fragt man Menschen, welche Farbe die Trauer habe, antworten die meisten wohl spontan: Schwarz. Fragt man Trauernde selbst, stellt man schnell fest, dass sie sehr bunt sein kann. Und dass jede Farbe dabei für einen Aspekt dieses vielschichtigen Gefühls steht, das oft so schwer zu fassen ist. Anke Keil ist diesen Trauerfarben nachgegangen – und hat sie in berührende, alltagserprobte Texte gepackt, die Trauernden aus dem Herzen sprechen. Daneben gibt es zu jeder Farbe eine Anregung: eine Körperübung, eine Gestaltungsidee, einen Schreibimpuls – was eben gerade passt. Die Übungen unterstützen und vertiefen die Texte, es geht aber auch um Resilienz und das Entdecken und Nutzen eigener Ressourcen, um mit der Trauer leben zu lernen.
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Seitenzahl: 73
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Printausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2022
ISBN 978-3-7365-0452-3
E-Book-Ausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024
ISBN 978-3-7365-0601-5
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Erstellung: Sarah Östreicher
Lektorat: Marlene Fritsch
Covergestaltung: Finken und Bumiller, Stuttgart
Covermotiv: Yuliya Koldovska / shutterstock.com
www.vier-tuerme-verlag.de
Anke Keil
Farben der Trauer
Von Abschied, Loslassen und Bewahren
Vier-Türme-Verlag
Vorwort
Ich war einmal mit einer Freundin mehrere Tage in den Dolomiten wandern. Wir starteten an einem tollen Sommertag in einem Tal mit schönem See. Diesen galt es erst einmal halb zu umrunden, danach begann der eigentliche Aufstieg. Am See begegneten wir – selbst bepackt mit Wanderrucksack und Wanderstiefeln an den Füßen – vielen Menschen, die Ballerinas, Sneaker, Flipflops oder gar offene Pumps trugen und mit uns auf diesem ersten Wegabschnitt liefen. Manche Frauen hatten Handtaschen über der Schulter, mehr Gepäck hatte aber niemand dabei. Angesichts der riesigen Berge vor uns und unseren eigenen Plänen wirkten sie teilweise etwas verwirrend an diesem Ort, vor dieser Kulisse. Aber zumindest für die erste Strecke waren sie wahrscheinlich weniger auffällig gekleidet als meine Freundin und ich.
Der Weg änderte rasch seinen Charakter mit dem Aufstieg: steinig, schmal und anstrengend. Die Wegweiser wurden spärlicher, die Menschen, denen wir begegneten, schnell weniger. Und mein Blick änderte sich: Was vom Tal aus wie eine großartige Kulisse ausgesehen hatte, war auf dem steilen Weg einfach nur mühsam. Zum See zurückzuschauen, war kein Problem. Aber am Berg sieht man das Ziel, die Spitze nicht mehr. Es ist, als gäbe es nur Weg. Merkwürdig, wie wenig Schritte manchmal zwischen der einen und der anderen Welt liegen, wie wenig Höhenmeter.
Als mich die Trauer das erste Mal mit voller Wucht traf, fühlte ich mich, als hätte mich jemand gezwungen, mit Ballerinas und Handtasche auf einen solchen Gipfel zu laufen. Denn ich musste feststellen, dass ich trotz allem, was ich dachte, an »Ausrüstung« für solche Situationen dabei zu haben, letztlich doch reichlich unvorbereitet war auf das, was dann kam. Ich wusste nicht, wie abgründig Trauer sein kann – und wie hilflos ich mich fühlen konnte. Ich wusste nicht, dass ich schlaflos und müde zugleich sein kann. Und ich wusste nicht, wie schwer es ist, einfach nur den gewohnten Alltag aufrechtzuerhalten. Und wie man mit dem Gefühl umgeht, im eigenen Leben irgendwie fremd zu sein, im Freundeskreis ein Fremdkörper, der reibt und alles komplizierter macht im Zusammensein. Denn eigentlich wollte ich das nicht sein: unbequem und kompliziert. Ich wusste nichts über die Intensität meiner eigenen Gefühle und ihren schnellen Wechsel. Und ich wusste vor allem nicht, wie das alles geht. Woher Kraft kommt oder das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein und nicht nur irgendwie herumzuirren. An den Tagen, an denen es mir besser ging, war ich deswegen voll Misstrauen gegen mich, vielleicht etwas falsch zu machen. An den Tagen, an denen es mir schlecht ging, war ich voller Misstrauen, weil es nicht »schnell genug« besser wurde, die Trauer immer wieder kam.
Trauer ist viel mehr als Traurigkeit. Sie hat viele Aspekte. Um diese alle deutlich zu machen, habe ich die Gestalt der Farben gewählt, da Farben ständig gegenwärtig und Teil unseres Alltags sind. Zu den meisten Farben haben wir eine Assoziation: eine Stimmung, ein Gefühl, ob ich die Farbe mag oder nicht, einen liebgewonnenen oder verhassten Gegenstand. Sieht man sie alle nebeneinander, wie zum Beispiel in einem Farbkasten, hat man das Gefühl, dass manche besser, andere weniger gut zueinander passen – je nach Farbempfinden. Aber in ihrer Unterschiedlichkeit sind sie auch schön, fast verheißungsvoll: Mit einer solchen Auswahl kann man alles malen!
Bei Lebensentwürfen, Gefühlen oder Erfahrungen ängstigt uns die Vielfalt dagegen. Wir alle sind damit groß geworden, angenehme Gefühle wie Freude und Leichtigkeit, Lachen und Erfolg gerne zu teilen. Dieser Teil unserer Gefühlswelt ist eine Komfortzone, in der wir uns leicht und sicher bewegen können. Aber er ist nur ein Teil der Wirklichkeit, in der wir als geistig und leiblich verfasste Menschen leben. Denn es gibt eben auch die dunkleren Gefühle wie Angst, Sorge, Ohnmacht, Zurückweisung, Missverständnis, Scham, Schuld, Wut und Traurigkeit in uns. Und es gibt körperliche Erfahrungen von Schmerz, es gibt Mangel, Leid, Krankheit, Tod. Und diese Seite ist so real wie die andere. Die Vielfalt zu entdecken, die zwischen Schwarz und Weiß liegt, sich nicht davor zu fürchten, dass die Welt mehrdeutig ist, dass Gutes und Schlechtes, Leichtes und Schweres beieinander sein können, ohne dass eins davon unwahr ist – das ist für mich eine der wichtigsten Trauerlektionen. Und deshalb möchte ich in diesem Buch all den Farben nachgehen, die in den Zeiten der Trauer in uns auftauchen – oft nicht gewünscht und manchmal auch sehr unwillkommen, aber deshalb nicht weniger wirklich und wichtig. Und weil jeder Mensch sein eigenes Farbempfinden hat, können die Farben der Trauer in diesem Buch in der Reihenfolge gelesen werden, wie sie hier vorkommen, oder nach eigenen Mustern und Vorlieben.
Zu jeder Farbe als Symbol für einen bestimmten Traueraspekt gibt es zudem einen Impuls und eine Anregung, um dazu ins Tun, ins Denken, ins Gestalten zu kommen. Ich habe dafür das »Pragmatische Du« der Trauergruppen übernommen. Die Anregungen sind so angelegt, dass du sie ohne Vorbereitung umsetzen kannst, denn je mehr Vorbereitung nötig ist, desto höher auch die Schwelle, es auszuprobieren. Es reichen darum in der Regel deine Gedanken, deine Sinne, dein Körper und ein Stift, um den einzelnen Aspekten nachzugehen. Und sie sind auch so gehalten, dass es egal ist, wo du gerade bist, ob Natur oder Stadt um dich ist, viel Platz oder wenig. So kannst du an deinen Trauerfarben an jedem Ort und ohne Vorbereitung fühlen, denken und arbeiten.
Notizseiten geben Raum, deine eigenen Farbworte zu finden, in denen du deinen Schmerz wie deine Aufbrüche, die Momente des Vermissens deiner oder deines Verstorbenen wie deine Schritte der Wiederherstellung, des Anknüpfens, der Neuorganisation und Ausrichtung deines eigenen Lebens in Worte und Bilder bringen kannst. Dein Weg des Begreifens, Erinnerns, Fühlens ist ein wichtiges Element, um in einen Lebensfluss ohne den Verstorbenen oder die Verstorbene zu finden – im Wissen, dass es Verbindungen gibt, die bleiben und tragen.
Ich wünsche dir, dass du in diesem Buch für deine eigene Farbwahrnehmung, die Vielfalt deines Wachsens die eine oder andere Entdeckung und Bestärkung findest.
Deine Anke
Lückenschmerz
Welche Farbe hat die Trauer? Viele Menschen antworten darauf spontan: »Schwarz«. Schwarz ist bei uns die Farbe der Traurigkeit. Möglicherweise liegt es daran, dass man traditionell bei Beerdigungen schwarz trägt und man auch oft selbst, ohne sich darüber viele Gedanken zu machen, instinktiv nichts Fröhliches, Buntes tragen möchte, wenn man traurig ist. Vielleicht steckt dahinter der Wunsch, sich zurückzuziehen, nicht aufzufallen. Man kann hier an eine dunkle Höhle denken, in die man sich am liebsten verkriechen würde. Oder an die Decke, die man sich gerne über den Kopf ziehen möchte. Schwarze Kleidung ist dann Ausdruck eines inneren Gefühls von unsagbarer Leere, Ohnmacht, Fassungslosigkeit, Rückzug, Schuldgefühl, Unsicherheit, was jetzt kommt.
Schwarz entspricht auch dem inneren Gefühl, in Dunkelheit und Nacht zu versinken, der Angst, dass die Traurigkeit alles Leichte und Schöne verschlingt, so wie die Farbe Schwarz das Licht der Sonnenstrahlen absorbiert. »Da ist nur noch Finsternis« – in diesen Schlussworten des Psalms 88 wird Trostlosigkeit spürbar. Schwarz ist die Farbe der Abwesenheit des Lichtes: schwarze Finsternis.
In der Trauer steht die Farbe Schwarz für diese Traurigkeit, ihre machtvolle Abgründigkeit, das Gefühl, untröstlich zu sein. Und auch für die Wucht, mit der uns der Tod trifft – egal, wie vermeintlich vorbereitet wir sind. Wir werden in eine Situation gestellt, die wir uns nicht gewünscht haben, mit der wir aber dennoch umgehen und weiterleben müssen. Eine Erfahrung, die uns in der Regel verändert in unserer Wahrnehmung von dem, was wichtig ist.
Gibt man schwarzes Pigment im Farbkasten zu anderen Farben hinzu, dann entstehen daraus nicht wie bei anderen Mischungen neue Farben, sondern sie verdunkeln sich. So ist es auch bei der Trauer: Sie verändert uns, sie »verdunkelt« jedes andere Gefühl, weil sie uns an unsere eigene Verletzbarkeit erinnert. Und weil sie die Brüchigkeit von Glück und unsere menschlichen Grenzen aufzeigt: der Medizin, der Kontrolle über unsere Lebenspläne, unserer eigenen Fähigkeiten. Und sie bleibt – in der Gestalt von Lückenschmerz. Weil jemand für immer fehlt.
Anregung für deine Schwarz-Momente