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Was ist Faschismus? Eine Bewegung? Ein gleichgeschaltetes Herrschaftssystem? Für Paul Mason ist Faschismus nicht zuletzt ein Gedankengebäude. In dessen Zentrum steht eine ethnisch definierte Mehrheit, die sich als Opfer emanzipatorischer Bestrebungen sieht und alles ablehnt, was sie in ihrem Widerstand dagegen einschränken könnte: liberale Demokratie, Medien, Wissenschaft.
Blickt man durch diese Linse auf den Hindunationalismus eines Narendra Modi, auf den queerfeindlichen Kurs bestimmter osteuropäischer Regierungen oder die Lügen eines Donald Trump, sind Übereinstimmungen unverkennbar. Wie der Faschismus der Zwischenkriegszeit gedeihen diese Phänomene in einer Phase tiefgreifender Umbrüche.
Doch wie kann man sie aufhalten? Um diese Frage zu beantworten, bringt Mason seine großen Begabungen zum Einsatz: historische Neugier und das Talent, Theorien griffig zusammenzufassen. Die Hoffnung, man müsse nur die Unwahrheiten der Autoritären aufdecken, ist aus seiner Sicht naiv. Stattdessen müssen Liberale und Linke gemeinsam eine positive Gegenvision entwickeln und mit ökonomischen Reformen das Leben aller Menschen verbessern.
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Seitenzahl: 523
3Paul Mason
Faschismus
Und wie man ihn stoppt
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022.
Erste Auflage dieser Ausgabe 2022Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022© Paul Mason, 2021Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Textund Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.
Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt
Umschlagfoto: Peter Dazeley / Getty Images
eISBN 978-3-518-77006-1
www.suhrkamp.de
5Für die Antifaschisten – die vergangenen, die gegenwärtigen und die zukünftigen
»Die Geschichte lehrt uns, dass Ideen tödlich sein können.«
Karl Loewenstein, antifaschistischer Jurist und Politikwissenschaftler, 19371
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Einleitung. Die Faschisten sind zurück – aber warum?
Teil
I
Ideologie
1 Symbolische Gewalt. Was wollen die Faschisten des 21. Jahrhunderts?
Ein Pogrom in Indien
Bürgerwehren an der griechischen Grenze
Eine rechtsextreme Miliz in Brasilien
Eine Neonazi-Zelle in der Bundeswehr
Die Verteidigung Winston Churchills
2 Träume vom Ethnostaat. Das Gedankengebäude des modernen Faschismus
Die Mythologie des modernen Faschismus
Trump,
QA
non und der Capitol Hill
3 Fünf Arten von Problemen. Die Kräfte, die den Rechtsextremismus antreiben
Der Neoliberalismus ist kaputt
Die Mauer der technologischen Macht
Die Demokratie verfällt
Der Planet brennt
Covid-19 als Brandbeschleuniger
Interagierende Krisen
Teil
II
Geschichte
4 Zerstört alles. Die Ursprünge des Faschismus
Russland: »Weltkrieg 1.5«
Deutschland: Vom Freikorps zum Nationalsozialismus
Italien: Faschisten der ersten Stunde
Mythos, Rasse und Intuition
5 Mussolini aufhalten. Ein Spiel in fünf Zügen
Die Revolution der Volkskontrolle
Phase 1: Squadrismo
Phase 2: Der Faschismus wird gesellschaftlich akzeptabel
Phase 3: Der Zusammenbruch der liberalen Logik
Phase 4: Die kritische Situation
Phase 5: Der »Marsch auf Rom«
Wer hätte Mussolini aufhalten können?
6 »Ich bin benommen.«. Warum hielt die Linke Hitler nicht auf?
Die ersten linken Theorien des Faschismus
Klasse gegen Klasse
1929: Hitlers Durchbruch
Was hätte Hitler stoppen können?
1932: »Schluss jetzt!«
1932: Kurz vor dem Aufprall
Ist »Klasse« eine Erklärung für den Nationalsozialismus?
»Aus dem Innersten des deutschen Volkes«
Teil
III
Widerstand
7 Eine Theorie des Faschismus. Jenseits der Definitionskriege
Von der liberalen Unordnung zum »Totalitarismus«
Von der großen Theorie zur Soziologie
Was der Marxismus falsch verstanden hat
Auftritt der Seelenklempner
Für eine materialistische Faschismustheorie
Faschismus: Eine Zusammenfassung
Die Bestandteile des faschistischen Prozesses
8 Wehrhafte Demokratie 2.0. Wir brauchen eine neue Volksfront
Culture Wars, Gender Wars
Linke und Liberale: Ein Waffenstillstand?
Eine Neuauflage der wehrhaften Demokratie
9 Everybody Comes to Rick's. Antifaschismus als Ethos
Danksagung
Anmerkungen
Einleitung
Teil
I
Ideologie
1 Symbolische Gewalt
2 Träume vom Ethnostaat
3 Fünf Arten von Problemen
Teil
II
Geschichte
4 Zerstört alles
5 Mussolini aufhalten
6 »Ich bin benommen.«
Teil
III
Widerstand
7 Eine Theorie des Faschismus
8 Wehrhafte Demokratie 2.0
9 Everybody Comes to Rick's
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Die Faschisten sind zurück – aber warum?
Was wäre, wenn das NS-Regime eine Zeitmaschine erfunden und sich in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs entschlossen hätte, eine SS-Einheit in die Zukunft zu schicken, um das »Vierte Reich« zu errichten? Für welches Jahr wäre wohl die Landung programmiert worden?
75 Jahre dürften damals wie ein angemessener Zeitraum erschienen sein. Die meisten Zeugen des Holocaust würden bis dahin tot sein. Machen wir ein Gedankenexperiment: Nehmen wir an, im März 2020 landet ein Trupp nationalsozialistischer Zeitreisender in Europa. Die Mitglieder der Einheit sind schockiert vom Ultraliberalismus der westlichen Gesellschaft. Sie staunen über unsere digitalen Technologien, und zu ihrem Entsetzen stellen sie fest, dass die Musik von Afroamerikanern die Welt erobert hat. Aber dann …
Dann sehen sie, dass hinduistische Mobs in Delhi mit Eisenstangen auf linke Studenten einprügeln. Sie sehen, dass die rechtsextreme Partei Vox die spanischen Medien mit einer gewalttätigen Rhetorik gegen Migranten, Feministen und die Linke überflutet und damit bei der Parlamentswahl 2019 3,7 Millionen Stimmen gewonnen hat. Sie entdecken, dass eine Million chinesische Muslime in Anlagen interniert worden sind, die große Ähnlichkeit mit Konzentrationslagern haben – und dass sich offenbar niemand dafür interessiert.
Als sie erst einmal herausgefunden haben, wie das Internet funktioniert, und wissen, was ein Meme ist, bringt sie eine Karikatur, in der ein Frosch mit dem Namen »Honk Honk10ler« zu sehen ist, zum Lächeln. Ihr Lächeln wird breiter, als sie erfahren, dass in Deutschland eine Bundeswehreinheit aufgelöst worden ist, weil sie von Neonazis infiltriert war. Als sie tiefer schürfen, stellen sie fest, dass alle Ideen in ihren Köpfen – rassische Reinheit, männliche Suprematie, Antisemitismus und Führerkult – weltweit in Discord-Kanälen und Whatsapp-Gruppen verbreitet werden und Millionen wütende Anhänger haben.
Als sie sich eingewöhnt haben, wird ihnen klar, dass sich etwas noch Größeres zusammenbraut. Es ist eine Krankheit. Sie tötet Menschen. Als sich das Virus Covid-19 in den Vereinigten Staaten ausbreitet, sehen sie, wie rechtsextreme Demonstranten, von denen einige automatische Waffen tragen, durch die Straßen ziehen und das Recht einfordern, sich mit dieser Krankheit anzustecken.
George Floyd wird ermordet. In den Internetforen der Alt-Right brodelt die Vorfreude: Es ist so weit, »Boogaloo« ist da, das Codewort der weißen Suprematisten für einen zweiten amerikanischen Bürgerkrieg. Zehntausende Demonstranten, die auf die Straße gehen, um gegen die Ermordung Floyds zu protestieren, werden von rechtsextremen Milizen attackiert, die teilweise mit der Polizei unter einer Decke stecken.1
Trump verliert die Wahl, aber da sie aus den dreißiger Jahren angereist sind, kann das, was als Nächstes geschieht, unsere Faschisten nicht überraschen: Trump ruft einen rassistischen Mob auf, sich in Washington vor dem Kapitol zu versammeln, und stachelt die Menge dazu auf, das Gebäude zu stürmen. Es überrascht die Zeitreisenden auch nicht, dass Parlamentarier der Republikanischen Partei den Angriff rechtfertigen. Schließlich war es in den dreißiger Jahren eine unter Politikern verbreitete Praxis, Gewalt zu legitimieren.
Was tun die Besucher aus der faschistischen Vergangenheit, 11während die extreme Rechte einen vierjährigen Aufstand gegen die Regierung Biden beginnt? Sie kaufen Popcorn, entspannen sich und genießen das vergnügliche Spektakel. Ihre Mission war nicht erforderlich.
Der Faschismus ist zurück – ohne dass jemand nachhelfen musste. Etwas anderes war bereits da. Aber was? Und was können wir dagegen tun? In diesem Buch werde ich versuchen, diese Fragen zu beantworten.
Als meine Generation in den siebziger Jahren Skinheads »Nie wieder!« zurief, verstanden wir diesen Slogan nicht als Ziel, sondern als Tatsache. Der Faschismus war Geschichte: ein Produkt für immer beseitigter gesellschaftlicher Hierarchien, ein Phänomen, das durch eine Art von Wirtschaftskrise heraufbeschworen worden war, die sich nie wiederholen würde. Wir hatten gute Gründe für diesen Glauben. Der Historiker Ernst Nolte, der im Jahr 1963 die erste vergleichende Studie des internationalen Faschismus vorgelegt hatte, hatte das Phänomen für »tot« erklärt. Wir hätten alle möglichen Varianten des Faschismus gesehen, schrieb Nolte: Diese historische Episode sei abgeschlossen.2
Als die digitale Ära anbrach und Staaten und Unternehmen ihr Monopol auf Informationen verloren, hatte es den Anschein, als könnten die Eliten nie wieder die öffentliche Meinung manipulieren wie einst Hitler und Mussolini. Noch im Jahr 2008 konnte der Historiker Giuseppe Finaldi in einem Lehrbuch über Mussolini schreiben: »Der Faschismus sagt uns heute nichts mehr, und viele seiner Obsessionen wirken nicht nur absurd, sondern unverständlich.«3 Wir nahmen an, dass der Faschismus nie wiederauferstehen könne, da wir die Wahrheit über ihn herausgefunden hatten.
Mittlerweile ist klar, dass alle diese Annahmen falsch waren.
12Im Lauf des vergangenen Jahrzehnts sind rechts vom Mainstream-Konservatismus drei politische Bewegungen aufgeblüht: Rechtsextremismus, Rechtspopulismus und autoritärer Konservatismus. Eine ganze Teildisziplin der Politikwissenschaft beschäftigt sich mit den Unterschieden zwischen den drei Strömungen und hat zahlreiche Typologien, Definitionen und Etiketten entwickelt.4
Rechtsextremisten befürworten normalerweise einen »Rassenkrieg«, begehen Gewaltakte und kämpfen offen für die Beseitigung der Demokratie. Rechtspopulisten bekämpfen die Menschenrechte, stigmatisieren Minderheiten, versuchen, die Massen zu mobilisieren, sind jedoch im Allgemeinen nicht gewalttätig, sondern konzentrieren sich darauf, Wahlen zu gewinnen, wozu sie oft neue politische Parteien gründen. Autoritäre Konservative übernehmen die Rhetorik der Populisten, sind jedoch innerhalb von Mainstream-Parteien, Netzwerken der Elite und traditionellen staatlichen Institutionen tätig.
So weit die Theorie. Das Problem ist, dass diese drei Strömungen in der Realität begonnen haben, ganz bewusst Synergien zu erzeugen. Seit den neunziger Jahren nahmen die Politikwissenschaftler an, rechtspopulistische Parteien würden als Brandmauer gegen den eigentlichen Faschismus dienen. Tatsächlich ist das Gegenteil geschehen. Die Brandmauer hat Feuer gefangen.
Seit 2008 haben die Bewegungen rechts von der politischen Mitte eine gemeinsame Sprache, einen gemeinsamen Raum im Internet und ein gemeinsames Ziel gefunden: Sie wollen illiberale Demokratien errichten, die in der Lage sind, Koalitionen von Populisten und Autoritären dauerhaft an der Macht zu halten, den Rechtsstaat zu untergraben und die auf Regeln beruhende Weltordnung zu zerschlagen.
13In den zehner Jahren wurden drei der bevölkerungsreichsten Demokratien – die USA, Indien und Brasilien – rasch und gründlich untergraben. In mehr als der Hälfte der entwickelten Länder ist die Qualität der Demokratie in den letzten vierzehn Jahren gesunken. »Die Funktionstüchtigkeit des Staates, die Meinungs- und Religionsfreiheit sowie die Rechtsstaatlichkeit sind die Bereiche, in denen die meisten Einbußen zu beobachten sind«, erklärt die Monitoring-Gruppe Freedom House.5 Dieser als »demokratischer Verfall« bezeichnete Prozess hat unsere Widerstandskraft gegen den eigentlichen Faschismus verringert und einen Raum geschaffen, in dem die Faschisten operieren können.
Der französische Neofaschist Maurice Bardèche, der sein Leben der Leugnung des Holocaust widmete, sagte bereits 1961 eine Rückkehr des Faschismus in anderer Form voraus: »Mit einem anderen Namen, einem anderen Gesicht und ohne jeden Hinweis auf den Entwurf der Vergangenheit, in Gestalt eines Kindes, das wir nicht wiedererkennen, und mit dem Kopf einer jungen Medusa wird der Orden Spartas wiedergeboren werden.«6
Bardèche erklärte, nicht die SS-Einheiten und die Folterzellen hätten das Wesen des faschistischen Projekts ausgemacht, sondern sein Konzept von »Mensch und Freiheit«. Heute ist das faschistische Konzept von Mensch und Freiheit im Internet nur wenige Klicks entfernt, egal wonach man auf Youtube, Facebook oder Twitter sucht.
Meine Generation hat sich also geirrt. Wie sich herausgestellt hat, lagen die Wurzeln des Faschismus nicht in der spezifischen Klassendynamik Europas in den dreißiger Jahren. Es ist keine Massenarbeitslosigkeit erforderlich, um ihn hervorzubringen. Er ist nicht auf eine Niederlage im Krieg oder auf die Existenz staatlicher Radiosender angewiesen. Er ist 14ein wiederkehrendes Symptom des Systemversagens im Kapitalismus.
Und das entscheidende Versagen, von dem der Faschismus profitiert, ist nicht wirtschaftlicher, sondern ideologischer Natur. In normalen Zeiten stützt sich der Kapitalismus auf ein gleichermaßen passives und allgegenwärtiges System von Überzeugungen. Einfach um leben zu können, müssen wir glauben, dass die Märkte natürlich funktionieren, dass der Staat fair und gerecht ist, dass harte Arbeit belohnt werden wird, dass der technologische Fortschritt unser Leben sowie das unserer Kinder besser machen wird. Diese Überzeugungen stellen in ihrer Gesamtheit eine Ideologie dar. Wir reproduzieren und verstärken sie durch unsere tägliche Erfahrung am Arbeitsplatz, daheim und in allen Räumen dazwischen.
Der Faschismus setzt sich fest, wenn wir den Glauben an diese Alltagsideologie verlieren und nicht in der Lage sind, sie durch eine progressive Alternative zu ersetzen. Aber er ist eine andersartige Ideologie: Der Faschismus kann nur durch außergewöhnliche Erfahrungen verstärkt und in den Köpfen der Menschen reproduziert werden: durch Krieg, Viktimisierung und Genozid.
Historiker studieren den Faschismus traditionell unter drei Gesichtspunkten: als Ideologie, als Bewegung und als Regime. Obwohl er all das ist, lautet die Prämisse dieses Buchs, dass wir den Faschismus nur wirklich verstehen können, wenn wir ihn als Ergebnis eines Prozesses betrachten, nämlich eines Prozesses der sozioökonomischen Desintegration, die das Leben von Millionen Menschen durcheinanderbringt, ihr Selbstbild erschüttert, den Wunsch bei ihnen weckt, einen Haufen Lügen zu glauben und sich sogar aktiv an der Erfindung und Verbreitung dieser Lügen zu beteiligen.
Ich werde versuchen, folgende Fragen zu beantworten: Wel15che Faktoren treiben diesen Prozess heute an? Welche Faktoren trieben ihn in der Vergangenheit an? Und wie können wir ihm Einhalt gebieten?
Es ist klar, worin der Kern des heutigen faschistischen Glaubenssystems besteht: Die ethnischen Mehrheitsgruppen sind »Opfer« von Einwanderung und Multikulturalismus; die Errungenschaften des Feminismus sollten rückgängig gemacht werden; die Demokratie ist verzichtbar; Wissenschaft, Universitäten und Medien sind nicht vertrauenswürdig; die Nationen haben die Orientierung verloren und müssen ihre frühere »Größe« wiedererlangen; ein nicht näher bestimmtes katastrophales Ereignis wird die Dinge wieder ins Lot bringen.
Jeder Faschist glaubt all das und mehr; jeder rechtspopulistische Wähler glaubt mittlerweile einen Teil davon; der autoritäre rechte Politiker appelliert in verschlüsselter Form an einige dieser Überzeugungen, um Vorteil daraus zu schlagen. Ob ein Konservativer antifaschistisch ist, kann man daran erkennen, ob er bereit ist, all diese Überzeugungen in Wort und Tat zu bekämpfen.
Aber was die modernen Faschisten von den Populisten und Rechtskonservativen unterscheidet, ist ihr Endziel: ein globaler Rassenkrieg, der eine Welt der ethnischen Monokulturen hervorbringen und die moderne Gesellschaft beseitigen wird.
Die gegenwärtige Stärke des Faschismus kann nicht an den Wahlergebnissen gemessen werden: In den meisten westlichen Ländern geben die Faschisten normalerweise rechtspopulistischen Parteien ihre Stimme, die sich damit begnügen, die Verbindungen und den politischen Raum zu nutzen. Seine Position kann auch nicht anhand der Teilnehmerzahlen bei 16rechtsradikalen Kundgebungen beurteilt werden, denn die eigentliche Mobilisierung findet im Internet statt. Gegenwärtig kann man die Stärke des Faschismus am besten an der Präsenz seiner Ideen messen, die sich rasch in den sozialen Medien verbreitet haben.
Der Grund für ihre Ausbreitung ist offenkundig: Als im vergangenen Jahrzehnt die freie Marktwirtschaft versagte, die Globalisierung zurückgeschraubt wurde, der Klimawandel eine radikale Neudefinition unserer Prioritäten erforderlich machte und schließlich die Corona-Pandemie die wirtschaftlichen und geopolitischen Spannungen verschärfte, löste sich die Ideologie, die der Welt in den Augen vieler Menschen einen Sinn gegeben hatte, in ihre Bestandteile auf. Der Faschismus bietet an, diese Ideologie durch eine neue Utopie zu ersetzen, die auf Rassismus, Misogynie und Gewalt beruht.
Wir können diesen Prozess auf der individuellen Ebene verfolgen. In den vierziger Jahren äußerten manche die Ansicht, der Nationalsozialismus sei ein Produkt des »deutschen Charakters«. Die Philosophin Hannah Arendt hielt dem entgegen, dass er in Wahrheit durch die Desintegration des deutschen Charakters verursacht worden sei.7 Heute sind wir mit einem ähnlichen Problem konfrontiert, nämlich mit der Desintegration eines globalen menschlichen Charakters – jenes typischen »Selbst«, das im Verlauf der Globalisierung der freien Märkte entstand und jetzt im Dunkeln tappt, da das ganze System implodiert.
Auf der Suche nach einem Feind hat die extreme Rechte in Anlehnung an die nationalsozialistische Rhetorik der zwanziger Jahre dem »Kulturmarxismus« den Kampf angesagt. Aber da die Zahl der tatsächlichen Marxisten gering ist, müssen Feministen, People of Color, Klimaforscher, Geflüchtete, 17Rechtsanwälte und LGBTQ+-Personen stigmatisiert, schikaniert und durch »Doxxing« (Veröffentlichung persönlicher Information im Internet) aus dem öffentlichen Leben gedrängt werden. Während der Pandemie wurde die Liste der Ziele um Vertreter der öffentlichen Gesundheitssysteme erweitert: In der rechtsextremen Folklore sind sogar Atemschutzmasken »marxistisch«.
Wenn wir eine Lehre aus den Geschehnissen im 20. Jahrhundert ziehen können, so diese: Haben einmal Millionen Menschen die faschistische Denkweise übernommen, so sind sie mit nicht weniger als der totalen Zerstörung zufrieden. Im Jahr 1945 flehte der Schriftsteller und Journalist Wassili Grossman nach einem Besuch des Vernichtungslagers Treblinka die kommenden Generationen an:
Jeder Mensch ist heute vor seinem Gewissen verpflichtet, […] vor dem Vaterland und der Menschheit mit der ganzen Kraft seiner Seele und Vernunft auf die Frage zu antworten: was hat den faschistischen Rassenwahn hervorgebracht, was muß geschehen, damit der Nazismus, der Hitlerismus, niemals wieder, weder auf dieser, noch auf der andern Seite des Ozeans auferstehen kann, nie wieder, bis in alle Ewigkeit?8
Er forderte uns nicht auf, darüber nachzudenken, wie schlimm der Faschismus war, welche gewaltigen Kosten er verursachte, wie irrational seine Ideen waren – sondern was ihn verursacht hatte. Seine Antwort beschreibt sehr gut, was heute geschieht: »Die imperialistische Idee der nationalen, rassenmäßigen oder irgendeiner anderen Sonderstellung hat die Hitlerleute logisch zur Errichtung von Maidanek, Sabibur, Belschiza, Oswienziem, Treblinka geführt.«9
Eine andere Bezeichnung für diesen Exzeptionalismus ist die Suprematie – der Weißen über People of Color, der Män18ner über Frauen, der »einheimischen« Bevölkerung über Einwanderer, der Kolonisten über die indigenen Völker des Globalen Südens. Grossman verstand, dass hinter jeder suprematistischen Ideologie ein genozidaler Impuls lauert, hinter dem sich – wie wir sehen werden – eine noch tiefere Sehnsucht nach der Selbstzerstörung verbirgt.
Im Holocaust wurden sechs Millionen Juden ermordet. Im Zweiten Weltkrieg wurden sechzig Millionen Menschenleben ausgelöscht, drei Viertel der Opfer waren Zivilisten.10 Es fällt uns schwer, diese Zahlen zu begreifen, aber eine zweite faschistische Ära könnte noch höhere Kosten verursachen.
Im Jahr 2018 besuchte ich das ehemalige Konzentrationslager Majdanek in der Nähe von Lublin, wo mindestens 80 000 Juden, Polen, Russen und andere Menschen ermordet worden waren. Mir fiel die instabile Konstruktion auf: ein paar Betonpfeiler von wenigen Zentimetern Durchmesser, ein doppelter Stacheldrahtzaun und ein paar Wachtürme aus Fichtenholz.11 Fünfhundert Insassen gelang die Flucht aus Majdanek. Heute würde niemand mehr aus einer für einen solchen Zweck errichteten Anlage entkommen.
Im 21. Jahrhundert würden an einem solchen Ort Gesichtserkennung, biometrische Identifizierung, elektrifizierter Klingendraht und Taser eingesetzt, um die KZ-Häftlinge unter Kontrolle zu halten. Die Umfriedung würde nicht mit Hunden und Suchscheinwerfern, sondern mit tödlichen automatischen Waffen gesichert. Das Lager wäre ein Wirtschaftsbetrieb mit eigener PR-Abteilung und einem Emissionszertifikat und hätte so wie Guantanamo einen Souvenirladen für Besucher und Personal.
Das Einzige, was man bräuchte, um ein modernes Gefängnis oder Auffanglager für Migranten in ein Todeslager zu verwandeln, wäre das, was die Nationalsozialisten an Orte 19wie Majdanek brachten: eine erbarmungslose Logik der Entmenschlichung.
Majdanek wurde von der Roten Armee befreit. Aber wer würde ein modernes Majdanek befreien? Diesmal ist die Gefahr absolut. Ein zweiter Sieg des Faschismus in einem großen Land würde das Überleben der Menschheit bedrohen.
Das Einzige, was ihn aufhalten wird, sind widerstandsfähige Institutionen und der Antifaschismus der Normalbürger. Aber wie könnte dieser Antifaschismus aussehen?
Von den siebziger bis in die neunziger Jahre war ich ein antifaschistischer Aktivist – erst in der Anti-Nazi League und dann in Anti-Fascist Action. Wir störten faschistische Veranstaltungen und wandten dabei Methoden an, die potenzielle zukünftige Teilnehmer abschrecken sollten. Wir gingen gemeinsam mit Zehntausenden Menschen auf die Straße, um die Schließung der Zentrale der British National Party (BNP) in London zu erzwingen, und holten uns bei den Auseinandersetzungen mit der Bereitschaftspolizei blutige Köpfe.12 Wir wurden überwacht, schikaniert und von verdeckten Ermittlern infiltriert. Und wozu all das?
Indem wir die Faschisten von der Straße verdrängten, zwangen wir sie zu einem Umweg über die Wahlurnen, und mittlerweile sind die Vorstellungen, die in den achtziger Jahren von der BNP vertreten wurden, von der Konservativen Partei übernommen worden. Tory-Abgeordnete feiern ganz offen die Geschichte Großbritanniens als Sklavenhalternation und denken über die Massendeportation von Geflüchteten in Internierungslager auf abgelegenen Inseln nach. Mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder sehen im Islam eine »Bedrohung für die westliche Zivilisation« und für die »britische Lebensart«.13
20Als Kind spielte ich in der Bergbaustadt Leigh in Lancashire in aufgegebenen Bombenschutzkellern, deren Wände mit antifaschistischen Parolen aus dem Krieg übersät waren. Als ich mich im Jahr 2019 in Leigh am Labour-Wahlkampf beteiligte, hörte ich Männer meines Alters offen über eine ethnische Säuberung sprechen, deren Ziel die rumänischen Einwanderer sein sollten. »Man sollte sie nachts zuhause abholen, mit ihren Kindern in einen Laster setzen und nach Dover bringen«, lautete die Forderung. »Und was dann?«, fragte ich. Die Antwort war ein peinlich berührtes Grinsen.
All die Ziegelsteine, Flaschen und Schimpfworte, die wir den Skinheads in den siebziger Jahren entgegenschleuderten, verhinderten nicht, dass die hirnlosen Thesen von der weißen Suprematie in die Köpfe der Menschen eindrangen, als die globale Finanzkrise einen ideologischen Zusammenbruch auslöste.
Um den Faschismus zu stoppen, müssen wir dieselben Fragen beantworten, mit denen die Progressiven in den dreißiger Jahren konfrontiert waren: Wie können wir die Linke und die politische Mitte dazu bringen, die Bedrohung gemeinsam zu bekämpfen? Wie können wir den Rechtsstaat und das staatliche Gewaltmonopol verteidigen, die von rechtsextremen Bewegungen untergraben werden? Können Sicherheits- und Nachrichtendienste, die die Elite vor der Arbeiterklasse schützen, jemals wirksam eingesetzt werden, um die Demokratie vor dem Faschismus zu beschützen? Wie können wir durch Hoffnungslosigkeit und den Romantizismus der Gewalt radikalisierte Menschen zur Deeskalation bewegen? Wie können wir Demokratien wiederbeleben, die so korrupt und heruntergekommen sind, dass sie in den Augen vieler desillusionierter Menschen nicht wert sind, gerettet zu werden?
Es gibt keine einfachen Antworten auf diese Fragen, weil 21wir mit jeder Antwort unseren eigenen Status riskieren. Wenn Sie dieses Buch im Zug, im Café, am Strand oder in einem Klassenzimmer lesen, hat sein Umschlag bereits den Raum politisiert, in dem Sie sich befinden. Dank Donald Trump werden Sie mittlerweile überall stigmatisiert, wenn Sie sich als Antifaschist zu erkennen geben.
Ich erinnere mich noch lebhaft an den Augenblick, in dem ich erstmals verstand, dass es den Faschismus gab. Es war Mitte der sechziger Jahre, ich war etwa fünf Jahre alt. Der Fernseher war eingeschaltet, und es begann gerade eine Dokumentation über die Befreiung des KZs Bergen-Belsen. Meine Mutter, deren Vater ein polnischer Jude war, sprang auf und schaltete den Apparat aus. »Das werden wir uns nicht anschauen!«, schrie sie.
Sie war im Jahr 1935 zur Welt gekommen und hatte ihre Kindheit in dem Wissen verbracht, dass sie sterben würde, sollten die Deutschen England erobern. Später wurde mir klar, dass sie nicht mich, sondern sich selbst vor den Bildern schützen wollte. Aber es gelang ihr nicht. Wenige Augenblicke lang sahen wir einen Bulldozer, der einen Haufen ausgemergelter Körper in eine Grube schob.14
Mittlerweile ist allgemein bekannt, dass in den ersten Nachkriegsjahrzehnten sowohl die Erinnerung an den Faschismus als auch die Versuche zu seiner Erforschung teilweise aktiv unterdrückt wurden. Im Kino lernten wir, dass das NS-Regime Menschen in von Stacheldrahtzäunen umgebene Lager gesteckt und manchmal getötet hatte, aber die Opfer, die ich als Kind in Filmen sah, waren zumeist keine Juden, sondern britische Kriegsgefangene.15
Dann kam das Tauwetter: In den siebziger Jahren stellten Fernsehserien wie Holocaust und Filme wie Cabaret das Bild, das sich die breite Öffentlichkeit von den Nationalsozialisten 22gemacht hatte, auf den Kopf. Die Menschen, die diese Schreckenstaten verübt hatten, wurden nicht länger nur als KZ-Wärter in Knobelbechern dargestellt – jetzt waren sie ganz normale Deutsche: die Vermieterin, die Putzfrau, der bisexuelle Kabarettstar.
Schließlich begann in den achtziger Jahren eine lange Zeit, in der der Faschismus in der Popkultur kommerzialisiert wurde. Eine Generation, die nichts zu befürchten hatte und nicht unter posttraumatischem Stress litt, konnte nach Belieben Filme, Romane, Serien, Komödien und sogar Pornos konsumieren, die in der Welt des Faschismus angesiedelt waren.
Gleichzeitig wuchs die Gedenkstätte in Auschwitz, und in aller Welt entstanden Denkmäler und Holocaustmuseen, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit neuen Dokumenten aus den dortigen Archiven füllten.
Die Folge ist, dass wir heute mehr als jede frühere Generation darüber wissen, was der Faschismus angerichtet hat, als er an der Macht war. Aber viele Leute wissen besorgniserregend wenig darüber, wie die Faschisten an die Macht kamen. In den zahlreichen Filmen und Serien wird uns fast nie gezeigt, wie es möglich war, dass sich Millionen Menschen mit Begeisterung an der Ermordung von Juden, Roma, Homosexuellen und Sozialisten beteiligten, dass sie sich schon früher vorgestellt hatten, das zu tun, obwohl sie ihre Stimme zu jener Zeit anscheinend einfach Protestparteien gaben.
Deshalb konzentriere ich mich in diesem Buch nicht auf die Regime, sondern auf den Prozess, der den Faschismus an die Macht bringt, und frage: Wie gelang es den rechtsextremen Parteien, aus der Isolation auszubrechen? Welche psychologischen Merkmale nutzten sie aus? Und warum gelang es der Linken nicht, sie aufzuhalten? Wenn wir Antworten 23auf diese Fragen finden, können wir Strategien entwerfen, um zu verhindern, dass es erneut geschieht.
Um den Faschismus zu verstehen, brauchen wir eine Theorie. Eine Sammlung von Fakten wird nicht genügen. Aber das Auftauchen des heutigen Rechtsextremismus macht es erforderlich, dass fast alle Faschismustheorien, die in den letzten sechzig Jahren entwickelt wurden, überarbeitet werden.
Bis in die achtziger Jahre konnte man mit Fug und Recht behaupten, der Faschismus sei das gewesen, was in den dreißiger Jahren geschehen sei, und die überlebenden rechtsextremen Gruppen seien lediglich Nachwehen jener Zeit. In den neunziger Jahren konnte man argumentieren, es sei ein neuer Rechtspopulismus aufgetaucht, der jedoch nicht mit dem Faschismus gleichgesetzt werden könne. Doch heute sind wir Zeugen einer realen und bedrohlichen faschistischen Wiedergeburt. Und während sich dieser moderne Faschismus anderer Organisationsformen und einer anderen Sprache bedient, schöpft er aus denselben philosophischen Quellen wie seine frühere Version.
»Warum geschah es ein Mal?« ist eine ganz andere Frage als »Warum geschieht es erneut?«. Die zweite Frage führt uns zu einer weiteren: Werden wir den Faschismus immer von Neuem besiegen müssen, solange es das kapitalistische System gibt? Ich fürchte, die Antwort ist ja.
Die am wenigsten überzeugenden Theorien des Faschismus sind jene, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt wurden und auf bestehenden Disziplinen beruhten. Die Psychiater erklärten das Phänomen als Massenpsychose, die Politikwissenschaftler entwickelten im Kalten Krieg die Theorie des »Totalitarismus«, die Faschismus und Kommunismus im Grunde gleichsetzt. Die Moralphiloso24phen beschrieben ihn als das »radikale Böse«, und die Anthropologen stuften ihn als »politische Religion« ein. Es gab keine Kohärenz, sondern nur ein Gewirr von konkurrierenden Thesen.
Der Marxismus stellte zumindest in seiner orthodoxen Form in den zwanziger Jahren eine falsche Theorie des Faschismus auf. In den dreißiger Jahren war die marxistische Faschismustheorie unausgegoren, und im letzten Jahrzehnt wurde sie inkohärent. Der klassische Marxismus betrachtete den Faschismus als Agenten der Finanzelite, dessen Mission darin bestehe, die organisierte Arbeiterbewegung der Zwischenkriegszeit zu zerschlagen, um eine Revolution abzuwenden. Doch heute gibt es kein revolutionäres Proletariat und keine Massenarbeitslosigkeit; und keine ernst zu nehmende Fraktion der Hochfinanz will oder braucht den Faschismus.
Und trotzdem ist er zurück.
Seit den siebziger Jahren haben die Historiker die Disziplin der »vergleichenden Faschismusstudien« entwickelt, und die Sozialwissenschaftler bieten verhaltensbezogene Erklärungen an. Ich werde mich in diesem Buch kritisch mit ihren Erkenntnissen auseinandersetzen, weil dies angesichts der plötzlichen Rückkehr der Bedrohung keine akademische Frage mehr ist.
Unsere Aufgabe besteht darin, eine neue Theorie des Faschismus zusammenzusetzen, die auf der Arbeit von Wissenschaftlern beruht, aber in erster Linie von Aktivisten gestaltet und angewandt wird. Sie muss nicht nur auf der Theorie, sondern auch auf der Erfahrung beruhen und geeignet sein, sofort auf die Bedrohung zu reagieren.
Wir brauchen mehr als eine Definition, weil Definitionen keine Erklärungen sind. Eine Checkliste der gemeinsamen Merkmale der historischen faschistischen Parteien wird nicht 25erklären, warum die eine als irrelevante Sekte endete, während es die andere schaffte, den europäischen Kontinent zu erobern. Auch ist es schwierig, anhand einer Definition einen Prozess zu beschreiben, in dem Personen, Parteien und Bewegungen, die nicht faschistisch waren, den Faschismus übernahmen.
Doch da das Bedürfnis nach definitiven Erklärungen ausgeprägt ist, werde ich meine persönliche anbieten: Der Faschismus ist Furcht vor der Freiheit, geweckt durch eine Ahnung von Freiheit.
Er ist die gewaltsame Mobilisierung von Menschen, die nicht frei sein wollen, rund um das Projekt der Zerstörung der Freiheit. Er ist, wie der Historiker und Antifaschist Enzo Traverso schreibt, »eine Revolution gegen die Revolution«.16
Die Menschen glauben seit je an die Möglichkeit der Selbstemanzipation. Diese war der Subtext aller humanistischen Religionen, das explizite Projekt der Aufklärung und das erklärte Ziel des Marxismus. Der Faschismus versucht, sie zu verhindern.
Die Nationalsozialisten setzten sich das Ziel, den gesamten menschlichen Fortschritt seit der Französischen Revolution von 1789 rückgängig zu machen und die historische Zeit so vollkommen einzufrieren, dass nie wieder eine Moderne, eine Aufklärung, ein Fortschritt möglich sein würde. Und genau das hat auch die extreme Rechte der Gegenwart vor.
Auf der Suche nach dem, was Menschen dazu bewegt, die Freiheit abzulehnen und zu verhindern, werde ich erklären, warum es nicht genügt, kontingente Faktoren wie Wirtschaftskrisen oder Klassengegensätze zu analysieren, auf die sich die Linke traditionell konzentriert.
Gegenwärtig gibt es keine faschistische Partei, die eine reale Chance auf die Macht hat, aber das könnte sich ändern. Bis 26zur Mitte des Jahrhunderts werden verschiedene Prozesse vom Klimawandel bis zur Deglobalisierung größeren Druck erzeugen als die Entwicklungen, welche die fragilen Demokratien des 20. Jahrhunderts zerstörten. Auf der anderen Seite sind wir der Freiheit möglicherweise näher, als uns scheint, wenn wir diese Herausforderungen gemeinsam mutig in Angriff nehmen.
Dieses Buch ist rund um drei Themen strukturiert. Diese sind: die Ideologie und Praxis des modernen Faschismus; der Prozess, in dem die ursprünglichen Faschisten ihre Bewegungen aufbauten und die Macht ergriffen, und seine Ähnlichkeit mit der gegenwärtigen Entwicklung; sowie die Suche nach funktionierenden Methoden des Widerstands gegen den Faschismus.
Es handelt sich hier weder um eine kritische theoretische Abhandlung noch um eine politikwissenschaftliche Arbeit oder eine akademische Geschichte des Faschismus. Dieses Buch wird bei Partys von Postmodernen nicht von Nutzen sein, es sei denn, man will es jemandem an den Kopf werfen. Auch enthält es keine erschöpfende Darstellung der rechtsextremen Organisationslandschaft; diese mutiert und wandelt sich so rasch, dass man die Websites von Aktivisten und NGOs zurate ziehen muss, um das Bild zu aktualisieren.
Die einfachste Methode, um den Faschismus zu stoppen, besteht darin, den eigenen Körper – nicht den Internetavatar – zwischen die Faschisten und ihr Ziel zu stellen. Ich habe das getan und weiß, dass es eine sehr wirksame Methode sein kann.
Aber der physische Widerstand, der seit den zwanziger Jahren die wichtigste Waffe der Antifaschisten ist, funktioniert nur, wenn er Teil einer umfassenderen politischen Strategie 27ist. Wenn die Faschisten Waffen tragen, von Präsidenten aufgehetzt werden und Rückendeckung vom größten Nachrichtensender des Landes erhalten, werden wir etwas Wirksameres als unseren persönlichen Mut brauchen: eine Theorie, eine Strategie und viele gleichgesinnte Menschen.
In diesem Buch erkläre ich, wie wir dorthin gelangen.
1
Was wollen die Faschisten des 21. Jahrhunderts?
Wir wollen ihn Hans nennen, denn die Forscherin nennt seinen Namen nicht: Er ist der erste zum Nationalsozialismus konvertierte Einwohner eines österreichischen Dorfes. Hans, ein Vollwaise, ist in einer Gemeinde im gebirgigen Vorarlberg aufgewachsen. Die Menschen in diesem Dorf sind gläubige Katholiken. Als Halbwüchsiger ist Hans Mitte der zwanziger Jahre aufgrund seiner niedrigen Herkunft ein Außenseiter im Dorf. Er verrichtet einfache Arbeiten in der Pfarrei und ist ständigem Gespött ausgesetzt. »Er wurde hart rangenommen: sehr viel Arbeit und wenig Freude, ein ständiges Gefühl, zur Last zu fallen.« Hans hat keine Zukunft, seine Lage ist ausweglos.
Im Jahr 1929 lernt er einen deutschen Touristen kennen, der sich gleichermaßen für Bergwanderungen und den Nationalsozialismus begeistert. »›Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen‹«, erklärt Hans später. »›Ich sah, wie man mich bisher getäuscht hatte und wozu die Moral diente, die man mir einimpfte … Ich sah auch, wo mein Platz war …‹«
Im Handumdrehen ist Hans zum Nationalsozialismus bekehrt. Er nimmt an geheimen Treffen mit ein paar Freunden teil und besucht bald größere öffentliche Versammlungen. Der Priester verstößt ihn, aber die Dorfbewohner leihen ihm jetzt bereitwillig Geld, weil ihnen gefällt, was er zu sagen hat. Er ist »ein guter Redner, wenn der Haß ihn treibt«, hält die Forscherin fest.
32Es kommt der Schwarze Freitag an der Wall Street; die Wirtschaft bricht zusammen; die nationalsozialistische Ideologie findet wachsenden Zulauf: Es wird »eine Atmosphäre der Erwartung« erzeugt, wie Lucie Varga schreibt; die Verwirklichung eines tausendjährigen Traums scheint näher zu rücken. Es dauert nicht lange, da sind nur noch drei von 38 Familien im Dorf gläubige Katholiken – die übrigen haben ihren Glauben durch die nationalsozialistische Religion ersetzt. Für Hans erhält die Welt mit der Bekehrung zum Faschismus einen neuen Sinn:
Er war nun kein Ausgestoßener mehr, er hatte wieder seinen Platz in einer sozialen Gemeinschaft gefunden. […] [D]er Neubekehrte gehörte nun zum deutschen Volk. Allein schon diese Zugehörigkeit machte ihn zu einem Herrn. Er war der Mehrzahl der Dorfbewohner überlegen, er war der Auserwählte, der Eingeweihte. Durch seine politische Arbeit würde das Gesicht der Welt verändert.1
Die Geschichte von Hans kennen wir dank Lucie Varga, einer jüdischen Historikerin aus Wien, die im Jahr 1935 angesichts der Ausbreitung des Nationalsozialismus in Österreich unter falscher Identität eine Forschungsreise unternahm, um dem neuen Phänomen auf den Grund zu gehen. Für ihre Studie wandte sie Techniken an, deren sich die Ethnografen bei der Untersuchung fremder Kulturen bedienen: Sie nahm nichts für bare Münze, achtete auf Nuancen und unausgesprochene Sinninhalte, entschlüsselte die Sprache, das Verhalten und die Bildsprache, denen sie begegnete, und löste sich von ihrem Vorverständnis.2
Für die Menschen in den Alpentälern, stellte Varga fest, existierten im Wesentlichen zwei Arten von Zeit: das »Vorher« und das »Jetzt«. Vor der Weltwirtschaftskrise war das Leben gut gewesen. Jetzt war es unerträglich. Vorher hatten 33die Leute an den Katholizismus geglaubt, der Priester hatte zur Erntezeit die Felder gesegnet und es gab eine ewige Ordnung. Jetzt gab es Not und Unordnung, und die Menschen begegneten der Kirche mit Feindseligkeit. Das ideologische Gerüst ihres Lebens war eingestürzt. Für Menschen wie Hans hatte der Nationalsozialismus das Vakuum gefüllt: »Der Fortschrittsoptimismus der Dorfbewohner, ihr politischer Chiliasmus, ihr Mut der Verzweiflung – all das kann sich jederzeit wieder ändern und in lebensmüde Apathie, in pessimistischen Fatalismus umschlagen. Wohin wird das führen? Wir können nur beobachten. Wir sind keine Propheten.«3
Varga erlebte das ganze Ausmaß der Konsequenzen nicht. Sie starb im Jahr 1941 auf der Flucht vor der Gestapo in Frankreich, weil sie sich ohne Geld und mit gefälschtem Ausweis kein Insulin beschaffen konnte, um ihren Diabetes zu behandeln. Die Familie, die ihr Zuflucht gewährt hatte, wurde nach Auschwitz deportiert.
Im Gegensatz zu Varga wissen wir, wie die Geschichte endete. Mehr als eine Million Österreicher dienten in Hitlers Armeen. Einer von ihnen war Josef Vallaster, ein Landarbeiter aus dem Tal, in dem Varga ihre Studie durchgeführt hatte. Wie Hans wurde er als Teenager angeworben und verwandelte sich in einen fanatischen Nationalsozialisten.
Im Jahr 2007 aufgetauchte Akten beweisen, dass Vallaster ein »Heizer« in der Euthanasieeinrichtung Hartheim wurde, wo er die Vergasung von 18 000 geistig und körperlich behinderten Menschen überwachte, bevor er befördert und mit derselben Funktion im Vernichtungslager Sobibor betraut wurde, wo er bei der Ermordung von 250 000 Juden half. Im Jahr 1943 wurde er bei einem Aufstand der KZ-Insassen getötet. Auf einer (mittlerweile entfernten) Gedenktafel für die 34Kriegsopfer seines Heimatdorfs wurde er jahrelang als »Opfer« genannt.4
Rund 108 000 Österreicher – ein Zehntel derer, die im Krieg gekämpft hatten – wurden nach dem Krieg von den Sondergerichten, welche die Besatzungsmächte eingerichtet hatten, wegen Kriegsverbrechen belangt; 28 000 wurden vor Gericht gebracht, die Hälfte von ihnen verurteilt. Aber da die Kriegsverbrechertribunale ihre Tätigkeit einstellten, als im Jahr 1948 der Kalte Krieg begann, mussten sich die meisten Personen, denen Verbrechen vorgeworfen wurden, nie vor Gericht verantworten. All jene, die zu Haftstrafen verurteilt worden waren, wurden Mitte der fünfziger Jahre begnadigt.5 Zu dieser Zeit wollte sich kaum noch jemand daran erinnern, wozu ein plötzlicher Absturz in den »fatalistischen Pessimismus« führen kann.
Auch wir haben gelernt, die historische Zeit in »Vorher« und »Jetzt« zu unterteilen. Für die Angehörigen meiner Generation in Nordengland bedeutet »Vorher« die Zeit vor Margaret Thatchers Regierungsantritt im Jahr 1979: eine Zeit des Wohlstands, steigender Löhne, guter Arbeitsplätze, einer stabilen Gemeinschaft und der Zukunftshoffnungen. Für die Generation X und die Millennials ist »Vorher« die Zeit vor der Finanzkrise von 2008, als es den Anschein hatte, als würde sich der Vormarsch der digitalen Technologie, der Globalisierung und des liberalen Weltverständnisses ewig fortsetzen. Für die heutigen Teenager kann »Vorher« die Zeit vor Trump, vor den Buschbränden in Australien, vor der Covid-Pandemie bedeuten.
Aber das »Jetzt« ist für uns alle dasselbe. Zu Beginn des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts erleben wir eine mehrschichtige Disruption der Normalität, in der jede weite35re Krise die Desorientierung infolge der vorhergehenden verschärft.
Inmitten dieser Situation ist ein neuartiger Faschismus entstanden. Seine organisierten Formen wandeln sich derart schnell, dass jedes Buch zu diesem Thema Gefahr läuft, rasch zu veralten. In diesem Kapitel werde ich versuchen, drei Fragen zu beantworten: Was tut die moderne extreme Rechte normalerweise? Was versucht sie zu erreichen? Und warum sollten wir uns vor den Konsequenzen fürchten?
Wie Varga interessiere ich mich nicht nur für das, was Rechtsextremisten sagen, sondern auch für das, was sie damit meinen: für den Subtext der Videos, die sie ins Netz stellen, für die Memes, die sie verbreiten, für die Markenkleidung, die sie tragen. Wir müssen den symbolischen Charakter ihrer Gewalt verstehen, um zu ergründen, was sie zu erreichen versuchen.
So wie seinerzeit im von Varga erkundeten Alpental dient die rechtsextreme Ideologie auch in der Gegenwart vor allem als Ersatzglaubenssystem, als aktive Ideologie, die auf den Ruinen eines gescheiterten und passiven Systems errichtet wird. In unserem Fall ist diese gescheiterte Ideologie die Religion des Marktes – und mit ihr auch der Glaube mancher Leute an die Demokratie.
Obwohl die heutigen faschistischen Organisationen klein sind, findet die faschistische Ideologie sehr viel breitere Zustimmung, als vielen von uns bewusst ist. Betrachtet man die Aktivitäten der Rechtsextremisten in ihrer Gesamtheit, so kann man sie als von einem gemeinsamen Skript ausgehende Improvisationen betrachten, anstatt eine Abfolge unzusammenhängender, vergeblicher Gesten darin zu sehen. Sie dienen nicht dazu, die Macht zu ergreifen – zumindest nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt –, sondern dazu, wieder und wieder dieselbe Geschichte zu erzählen.
36Natürlich ist der Faschismus nicht die einzige Bedrohung für die freiheitliche Demokratie. Die weltweite Phase der Instabilität, die 2008 begann, hat zahlreiche Rechtspopulisten an die Macht gebracht. In Ungarn, Polen, Indien, Brasilien und der Türkei haben solche Parteien durch die Aushöhlung der demokratischen Freiheitsrechte und der Unabhängigkeit der Justiz ihre Machtposition zementiert. In Italien, der Slowakei, der Schweiz und Österreich haben sie sich an Koalitionsregierungen mit konservativen Parteien beteiligt.6 In anderen Ländern, darunter Schweden, Finnland, Deutschland, Frankreich und Spanien, haben Rechtspopulisten bei Wahlen zweistellige Stimmenanteile erreicht, obwohl sie gegenwärtig von den Parteien der Mitte ausgegrenzt werden. In Großbritannien und den USA operieren rechtspopulistische Bewegungen (Vote Leave und die Trump-Bewegung) als »Schattenparteien« innerhalb der Konservativen Partei und der Republikanischen Partei und lenken diese auf einen Kollisionskurs mit dem Rechtssystem und der Verfassung.
Die extreme Rechte glaubt, dass sie die Populisten dank zunehmender Instabilität von der »illiberalen Demokratie« weiter zum vollkommen ausgereiften Ethnonationalismus treiben kann. Wenn wir das verhindern wollen, müssen wir uns bewusst machen, wie der moderne Faschismus wirklich funktioniert. Beginnen wir mit einigen Schnappschüssen aus aller Welt im Jahr 2020, um das Muster der Aktivitäten und Absichten zu verstehen, das sich aus den Interaktionen von Faschismus, Populismus und Staat ergibt.
Am 12. Dezember 2019 verabschiedete das indische Parlament ein Gesetz, mit dem allen illegalen Einwanderern die Staatsbürgerschaft zugestanden wurde – allen mit Ausnahme von Muslimen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes wurde die 172 Millionen Menschen zählende muslimische Minderheit formal diskriminiert. Viele sahen in diesem Schritt ein Signal dafür, dass sich die von Premierminister Narendra Modi geführte nationalistische Hindu-Partei BJP anschickte, die größte Demokratie der Welt in einen Ethnostaat zu verwandeln.7
Das neue Gesetz löste Proteste aus. An mindestens fünfzig Universitäten und an zahlreichen Orten gingen Studenten auf die Straße. Muslimische Frauen begannen mit friedlichen Straßenblockaden, bei denen sie Passagen aus der säkularen Verfassung des Landes vortrugen.
Es war vor allem eine Parole zu hören: »Hum kya chahte, azadi!« – »Wir wollen Freiheit!« Dieser Slogan hatte seinen Ursprung in der zwischen Indien und Pakistan umstrittenen Bergregion Kaschmir, deren Bevölkerung zu 97 Prozent muslimisch ist. Dort hatte die indische Zentralregierung im August 2019 das Kriegsrecht verhängt. Im Verlauf der Proteste gegen das Migrantengesetz verwandelte sich der Slogan in einen universellen Ausdruck des Widerstandsgeists, in einen Ruf nach Freiheit von religiöser Intoleranz, vom Kastensystem – und für einige linke Studenten auch vom Kapitalismus.
Dies löste eine brutale Gegenreaktion der extremen Rechten aus. Regierungsfreundliche Fernsehsender und Websites fachten eine Anti-azadi-Bewegung an.8BJP-Politiker riefen dazu auf, Demonstranten zu erschießen, oder drohten, sie mit einem »chirurgischen Luftschlag« auszulöschen. Am 3823. Februar 2020, kurz vor einem Besuch von US-Präsident Trump, drohte Kapil Mishra, ein prominenter lokaler BJP-Politiker in Delhi, der Polizei in einer Rede, sollte sie die Demonstranten nicht von den Straßen vertreiben, würden es seine Anhänger selbst tun.9 Videos von der Rede verbreiteten sich über Facebook und Whatsapp. Es folgte ein Pogrom.
Mehrere große Lynchmobs, an denen sich jeweils zwischen hundert und tausend Menschen beteiligten, zogen durch den Nordosten von Delhi, töteten mindestens 53 Muslime und verletzten mehr als 250 Menschen so schwer, dass sie ins Krankenhaus gebracht werden mussten. Sie zündeten 22 Moscheen und Koranschulen sowie Hunderte Läden und Häuser an und verbrannten zahlreiche Kopien des Koran. Die Ziele wurden sorgfältig ausgewählt: Häuser und Läden von Hindus blieben unversehrt zwischen den Trümmern stehen. Die Unruhen dauerten drei Tage. Zahlreiche Opfer berichteten, die Polizei habe tatenlos zugesehen oder sich sogar an den Ausschreitungen beteiligt; Menschenrechtsorganisationen legten entsprechende Beweise vor.10
Die Aufrufe zur Teilnahme an dem Pogrom wurden in Whatsapp-Gruppen von Mitgliedern des RSS verbreitet, einer rechtsextremen nationalistischen hinduistischen Bewegung mit Millionen Mitgliedern, die vor hundert Jahren von Bewunderern Mussolinis gegründet worden war.11 Obwohl sich die Angehörigen des RSS nicht in ihren Khaki-Uniformen zeigten, war ihr Schlachtruf »Jai sri ram!« (»Ruhm dem Gott Ram!«) aus dem Mund zahlreicher Angreifer zu hören. »Bruder, die Leute vom RSS sind gekommen, um uns zu unterstützen«, hieß es in einer der Whatsapp-Gruppen, die genutzt wurden, um das Massaker zu organisieren.12
Teenager machten Selfies und posteten Videos von ihrer 39Beteiligung an den Attacken, womit sie offenbar ihren Status innerhalb der Bewegung erhöhen wollten. Viele Morde wurden nicht im Detail untersucht, aber im Fall eines muslimischen Mannes, der beim Verlassen seines Hauses erschossen worden war, wurden insgesamt 16 RSS-Aktivisten verhaftet.13
In diesem Ausbruch kollektiver Gewalt kamen alle herkömmlichen Methoden des modernen Faschismus zum Einsatz. Die Angreifer setzten soziale Medien und Messenger-Apps ein, um zur Gewalt aufzurufen und sich anschließend mit ihren Taten zu brüsten. Die Gewalt hatte politische Symbolkraft und sollte nicht nur den Muslimen, die in Reichweite waren, Schaden zufügen, sondern auch die muslimische Bevölkerung insgesamt einschüchtern. Sie wurde von gewählten rechtspopulistischen Politikern angefacht, aber von rechtsextremen Fußsoldaten in die Tat umgesetzt. Und sie erfüllte einen übergeordneten politischen Zweck.
Trump, der am zweiten Tag der Unruhen in Indien eintraf, überhäufte Modi mit Lob. Er erklärte, Modis Regierung setze sich »wirklich sehr für die religiöse Freiheit ein«; das Blutbad, das nur elf Kilometer vom Ort der Pressekonferenz entfernt stattfand, erwähnte er mit keinem Wort. »Wir haben ausführlich darüber gesprochen, und ich glaube wirklich, dass das ist, was er will.«14 Die BJP belohnte Trump für seine Loyalität, indem sie ihre Netzwerke mobilisierte, um ihn bei der Präsidentenwahl im November 2020 zu unterstützen, so wie sie es im Dezember 2019 in Großbritannien für die von Boris Johnson geführte Konservative Partei getan hatte.15 Zwar hat die hinduistische Gemeinde in den USA nur vier Millionen Mitglieder, die nicht alle Anhänger der BJP sind, aber in Texas leben fast eine halbe Million Hindus, und in Georgia, North Carolina und Florida, wo der Wahlausgang 40sehr knapp war, ist die hinduistische Bevölkerungszahl sechsstellig.16
Überall auf der Welt speist sich der Rechtsextremismus in erster Linie aus der Angst, dass Menschen, deren Freiheit nicht als wünschenswert betrachtet wird, die Freiheit erlangen und so neu definieren könnten, was sie bedeutet. Hört man den Angreifern aufmerksam zu, so wird diese Angst deutlich erkennbar. Während der Mob auf muslimische Straßenverkäufer einprügelte, skandierte er: »Da habt ihr azadi, wir geben euch azadi!«17 Als die entfesselte Menge eine Moschee in Brand setzte und den Gläubigen im Inneren Säure in die Augen sprühte, verspotteten die Angreifer ihre Opfer mit dem Ruf: »Das ist azadi!« An einem Punkt ließen Polizisten die Hosen herunter und zeigten einer Gruppe muslimischer Frauen ihre Genitalien mit dem Ruf: »Ihr wollt azadi? Wir werden euch azadi geben.«18
Die Psychologen, die den Faschismus in den dreißiger Jahren studierten, sahen sein vorrangiges Motiv in der »Furcht vor der Freiheit«. Das Pogrom im Nordosten Delhis liefert ein gutes Anschauungsbeispiel dafür. Die muslimischen Demonstranten verwendeten das Wort »Freiheit« in einem kaum definierten und umfassenden Sinn. Ihre Angreifer erwiderten dies mit dem Zuruf: Die einzige Freiheit, die ihr haben werdet, ist die, vergewaltigt, misshandelt oder getötet zu werden.
Gewalt zwischen Religionsgemeinschaften ist nichts Neues in Indien. Sie wurde jahrhundertelang von den Kolonialherren als Teil der Strategie »Teile und herrsche« geschürt und ist tief im Kastensystem verwurzelt.19 Nach der Unabhängigkeit im Jahr 1947 wurden die Spannungen zwischen den Glaubensgemeinschaften durch eine säkulare Verfassung, ein starkes Justizsystem und eine demokratische politische 41Kultur in Schach gehalten, in der die säkulare Kongresspartei die beherrschende politische Kraft war. Aber seit den achtziger Jahren verstärkte eine Kombination von Korruption, Verstädterung und wachsender Ungleichheit die Rivalität zwischen den Religionsgruppen und ermöglichte den Aufstieg der BJP zu einer maßgeblichen Oppositionspartei, die mit Modi an der Spitze im Jahr 2014 schließlich an die Macht kam.
Die als Hindutva bezeichnete nationalistische hinduistische Kultur existiert seit Jahrzehnten, und die RSS und andere extremistische Basisgruppen sind eine Symbiose mit der BJP eingegangen, deren Grundlage eine quasireligiöse Philosophie ist, die den Aktivisten in täglichen Lektionen eingeschärft wird. Sämtliche Formen von rechtsextremer Politik streben im Grunde eine solche Symbiose an.
Nach Modis Regierungsantritt stellte sich die Frage, ob die Judikative, das Wahlsystem und die Verfassung dem neuen Machthaber Grenzen aufzeigen könnten oder ob er Indien in einen hinduistischen Staat mit einer dauerhaften Herrschaft der BJP umwandeln würde. Wenn die Botschaft des Massakers im Februar 2020 lautete, dass die Muslime den Wunsch nach Freiheit aufgeben sollten, so lautete der »Subtext«, dass das säkulare Fundament, auf dem die indische Regierung seit der Unabhängigkeit ruht, zu dem Zeitpunkt, der den Verfechtern von Hindutva genehm wäre, zerstört werden würde. Diese Bedrohung genügt, um einen langen Schatten über das 21. Jahrhundert zu werfen.
Im März 2020 ermutigte die türkische Regierung im Verlauf eines diplomatischen Konflikts mit der EU Tausende Geflüchtete, die Grenze zu Griechenland zu überrennen, womit ein Wiederaufflammen der sogenannten »Flüchtlingskrise« von 2015 drohte, in deren Verlauf mehr als 1,5 Millionen Migranten nach Europa gekommen waren.
Während die griechischen Sicherheitskräfte verzweifelt versuchten, der massenhaften Ankunft von Geflüchteten Herr zu werden, gründeten Einwohner der Grenzstadt Volos eine Facebook-Gruppe mit der Bezeichnung »Verband der Jäger illegaler Einwanderer«. Die Teilnehmer posteten Schnappschüsse der Schusswaffen, die sie einzusetzen gedachten, um »die Stadt von Einwanderern zu säubern« und die Grenze zu verteidigen. Ioannis Lagos, der früher der Führung der faschistischen Partei Goldene Morgenröte angehört hatte und mittlerweile als unabhängiger Abgeordneter im Europaparlament saß, traf begleitet von in Tarnanzüge gehüllten »Freiwilligen« ein, um an der Grenze zu patrouillieren.20
Es dauerte nicht lange, da kamen Kontingente rechtsextremer Gruppierungen aus ganz Europa. Ein prominenter Teilnehmer war Martin Sellner, der Sprecher der Identitären Bewegung Österreich. Sellner geriet wieder einmal ins Schlaglicht der Medien, nachdem bekannt geworden war, dass er eine Spende von einem Mann erhalten hatte, der im März 2019 im neuseeländischen Christchurch 51 Menschen in zwei Moscheen ermordete.21 Sellner bezog am Grenzzaun mit einem Spruchband Position, auf dem die Geflüchteten aufgefordert wurden, nach Hause zu gehen.22 Ebenfalls anwesend war Jimmie Åkesson, der Parteichef der rechtsextremen Schwedendemokraten, die bei der Parlamentswahl im Jahr 2018 auf 4317,5 Prozent der Stimmen gekommen war. Er verteilte unter den Geflüchteten Broschüren mit derselben Botschaft: Geht heim.23
Abseits der Kameras schlossen sich europäische Rechtsextremisten griechischen Dorfbewohnern an, die in der Nacht in Traktorkonvois aufbrachen, um Jagd auf Migranten zu machen. Italienische Zeitungen veröffentlichten Fotos, auf denen bewaffnete Zivilisten zu sehen waren, die eine Gruppe von Geflüchteten »bewachten«, denen sie die Schuhe weggenommen hatten.24
Dies war eine Mobilisierung der extremen Rechten Europas. Im Oktober 2020 bereitete sich Lagos auf einen langjährigen Gefängnisaufenthalt vor, nachdem er wegen der Leitung einer kriminellen Organisation verurteilt worden war. Seine Form des Untergrundfaschismus repräsentiert die Vergangenheit der extremen Rechten, während Sellner und Åkesson ihre Zukunft sein sollen: Sie sind aalglatte, präsentable und auf die Beteiligung an Wahlen ausgerichtete Politiker, die mit symbolischen Gesten wie jener an der Grenze kommunizieren.
Die Botschaft lautete buchstäblich: »Europa ist voll, geht nach Hause.« Der Subtext war noch beängstigender: Die extreme Rechte träumt im Grunde von einem ethnoreligiösen Bürgerkrieg in Europa, in dem weiße Christen Geflüchteten und Muslimen gegenüberstehen. Das Grenzgebiet zwischen Griechenland und der Türkei ist eines der wichtigsten Schlachtfelder in diesem Krieg. Die Konfrontation an der Grenze sollte in kleinem Maßstab demonstrieren, wie der Bürgerkrieg aussehen könnte.
Am 3. Juni 2020 tauchte die rechtsextreme Aktivistin Sara Winter begleitet von fünfzig bewaffneten Gefolgsleuten vor dem Sitz des Obersten Gerichtshofs Brasiliens auf. Die Gruppe, die ihre Unterstützung für den rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro bekundete, bezeichnete sich selbst als »die 300 Brasilianer« – eine Anspielung auf die kleine spartanische Streitmacht, die sich 480 vor Christus in der Schlacht bei den Thermopylen dem persischen Heer entgegengestellt hatte. Die Teilnehmer bauten Zelte auf, griffen Journalisten an, warfen Knallkörper auf das Gebäude und gingen schließlich zum Sturmangriff über. Sie drangen bis zum Dachgeschoss vor, während die Polizei nur hilflos zuschauen konnte.25
In einem Youtube-Video versprach Winter, eine 27-jährige ehemalige Prostituierte, die sich zur militanten Abtreibungsgegnerin gewandelt hatte, potenziellen Rekruten, sie würden Teil einer rechtsradikalen Guerilla werden und in »subversiven Techniken« unterwiesen. Der Auftritt war Teil einer Welle von Protesten gegen den Obersten Gerichtshof, der zu jener Zeit versuchte, Ermittlungen gegen Präsident Bolsonaro wegen einer vermuteten Einmischung in eine polizeiliche Untersuchung seiner Geschäfte einzuleiten.
Winters erklärtes Ziel war es, Brasilien zu »ukrainisieren« – das heißt, sie wollte den Kongress und das Höchstgericht in einer Revolution nach dem Vorbild der Euromaidan-Proteste im Jahr 2013 zu Fall bringen.26 Auf Twitter bedrohte sie einen Richter mit den Worten: »Wir werden Ihnen das Leben zur Hölle machen. Wir werden herausfinden, welche Orte Sie aufsuchen. Wir werden die Putzfrauen finden, die für Sie arbeiten. Wir werden alles über Ihr Leben in Erfahrung bringen.«27
45Winter selbst entspricht nicht der Vorstellung, die wir uns vom typischen Faschisten machen, doch ihre Gruppe passt perfekt zur Typologie der faschistischen Miliz. Die Angehörigen waren bewaffnet und maskiert und trugen brennende Fackeln vor sich her. Sogar ihren Namen, ein Pseudonym, hatte Winter bei einem britischen Faschisten im Zweiten Weltkrieg entlehnt. Aber Sara Winter war nicht das größte Problem der bedrängten brasilianischen Justiz. Unter den Demonstranten, die sich im Juni 2020 vor dem Sitz des Obersten Gerichtshofs versammelt hatten, um dessen Auflösung zu fordern, war auch Präsident Bolsonaro höchstpersönlich.
Bolsonaro verdankte seinen Aufstieg zur Macht einem Einbruch der Rohstoffpreise und der Löhne, der nach 2008 ein Jahrzehnt des Wachstums und der Verbesserungen der Lebensumstände der Armen beendete, sowie der Erosion der Unterstützung für die herrschende linke Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT), deren Führung Mitte der zehner Jahre in den Strudel eines Korruptionsskandals geriet. Ihren Höhepunkt erreichte die Krise im Jahr 2016 mit der Amtsenthebung der damaligen Präsidentin Dilma Rousseff. Millionen rechter Demonstranten gingen auf die Straße, und die Richter schickten auch den legendären PT-Führer Luiz Inácio Lula da Silva ins Gefängnis.
Die Anti-Rousseff-Bewegung mobilisierte all jene, die durch das Umverteilungsprogramm der Linken Vermögenseinbußen erlitten hatten: Grundbesitzer, Großbauern, die Finanzelite und Teile der städtischen Mittelschicht. Aber sie trieb auch Arme auf die Straße, die sich betrogen fühlten, weil die globale Rezession weitere Sozialreformen unmöglich machte.28 Und jetzt konnte die rechte Elite neben ihren traditionellen Propagandakanälen – den evangelikalen Kirchen, den Zeitungen und den Untergrundpublikationen, in denen 46die Errichtung eines Militärregimes gefordert wurde – auch die sozialen Medien einsetzen, darunter insbesondere Youtube, was es ihr erleichterte, eine rechtsextreme Volksideologie für die Massen zu entwickeln.
Im Jahr 2019 fanden Journalisten der New York Times heraus, dass der Algorithmus von Youtube, dessen Regeln für die Videoempfehlungen nie offengelegt worden sind, systematisch das rechtsextreme brasilianische Videouniversum förderte und erweiterte und seine Verschmelzung mit einer bereits existierenden Subkultur von Impfgegnern (antivaxxers) ermöglichte, die Verschwörungstheorien aufstellten. Dabei wurde die Praxis des linchamento normalisiert: Onlinelynchmobs griffen Ärzte, Lehrer, Journalisten und linke Politiker an und riefen teilweise zu körperlichen Attacken gegen diese Personen auf. Einer der wichtigsten Verfechter des linchamento war Präsident Bolsonaro.29
Lange vor Ausbruch der Covid-Pandemie wurde Brasilien zu einem Labor, in dem getestet wurde, was geschieht, wenn die Algorithmen der sozialen Medien auf Irrationalität und Hass beruhende Ideologien belohnen, verstärken und zusammenbringen. Sogar in den Schulen änderte sich die Atmosphäre, und die Lehrer mussten feststellen, dass Schüler, die auf Youtube rechtsextremer Propaganda ausgesetzt gewesen waren, plötzlich grundlegende wissenschaftliche Fakten in Frage stellten. Das Resultat war Bolsonaros Wahlsieg im Jahr 2018. Nun konnte er sich daranmachen, die Judikative und die Legislative einzuschüchtern und zu untergraben, wobei er wiederholt Gewalt schürte und zu einem Militärputsch aufrief.
Ist Bolsonaro ein Faschist? Nicht, wenn es nach den meisten von Politikwissenschaftlern angebotenen Definitionen geht. Aber wenn er ein Rechtspopulist ist – und damit in die47selbe Kategorie gehört wie der Brite Nigel Farage oder der Italiener Matteo Salvini –, so ist er dem äußersten Rand des Populismus zuzurechnen.
Das Hauptproblem ist weder Sara Winter noch Jair Bolsonaro. Das entscheidende Problem ist die politische Desintegration und Polarisierung, die diese Personen zu ihrem Vorteil nutzen. Ein Viertel von Rio de Janeiro, der zweitgrößten Stadt Brasiliens, wird von zur »Selbstverteidigung« gebildeten »Nachbarschaftsmilizen« kontrolliert, die von der Polizei bewaffnet und ausgebildet werden und bereit sind, linke Politiker zu töten, die ihnen in die Quere kommen.30 Allein im Jahr 2019 töteten Bürgerwehren, welche die Interessen von Landwirten, Bergbauunternehmen und Holzfällern verteidigen, in der Amazonasregion 24 Umweltaktivisten.31
Als Brasilien im Jahr 2020 von Covid-19 heimgesucht wurde, musste Bolsonaro lediglich die vorhandene Maschinerie in Gang setzen: Parteien, evangelikale Kirchen, Offiziersnetzwerke, rechtsextreme und paramilitärische Gruppen. Im Widerspruch zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen bezeichnete Bolsonaro das Virus als Auslöser einer »milden Grippe«, und obwohl er selbst erkrankte, begann er, die von verzweifelten Provinzgouverneuren verhängten Ausgangssperren zu verurteilen. Er führte seine Anhänger bei Kundgebungen vor Militärstützpunkten an, bei denen er die Armee dazu aufrief, die Lockdowns zu beenden – einmal traf er tatsächlich hoch zu Ross ein. Mittlerweile zählt Brasilien zu den Ländern mit den meisten Corona-Opfern: Die Krankheit hatte dort bis Anfang des Jahres 2022 bereits 620 000 Menschen getötet.32
Sara Winters Angriff auf den Obersten Gerichtshof sollte ein PR-Stunt sein. Die Polizei löste die Kundgebung schließlich auf und riss das Zeltlager ab. Winter wurde verhaftet, ihre 48