Klare, lichte Zukunft - Paul Mason - E-Book

Klare, lichte Zukunft E-Book

Paul Mason

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Beschreibung

Stellen Sie sich vor, Sie geben die Kontrolle über große Teile Ihres Lebens an ein Computerprogramm ab, von dem es heißt, es regele das Zusammenleben effektiver als jeder Staat. Was vielen als undenkbar erscheinen mag, erweist sich als bittere Realität, wenn man »Computerprogramm« durch »Markt« ersetzt. Ging der Kapitalismus bislang mit liberalen Freiheitsrechten einher, so nimmt er unter Herrschern wie Putin oder Trump zunehmend autoritäre Züge an. Können diese nun auch noch auf die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz und digitaler Überwachung zurückgreifen, ist der Mensch als autonomes Wesen in Gefahr.

Um die Werte der Aufklärung in die Zukunft zu retten, legt Paul Mason eine radikale Verteidigung des Humanismus vor. Ausgehend von Karl Marx’ Frühschriften entwirft er ein Bild vom Menschen, das ihn als ein selbstbestimmtes und zugleich gemeinschaftliches Wesen zeigt. Mason begleitet uns an die Orte vergangener und gegenwärtiger Kämpfe um Würde und Gerechtigkeit, von der Pariser Kommune über das von der Sparpolitik gebeutelte Griechenland bis hin zum Protest indigener Aktivisten auf der Inselgruppe Neukaledonien. Die Erben der Frauen und Männer auf den Barrikaden von damals, so Mason, sind die vernetzten Individuen von heute.

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Paul Mason

Klare, lichte Zukunft

Eine radikale Verteidigung des Humanismus

Aus dem Englischen von Stephan Gebauer

Suhrkamp

Meine Lebenserfahrungen haben meinen Glauben an die klare, lichte Zukunft der Menschheit nicht zerstört, sondern im Gegenteil gefestigt.

Leo Trotzki1

Inhalt

Einleitung

Teil I Die Geschehnisse

1 Der Tag null

2 Eine allgemeine Theorie von Trump

Teil II Das Selbst

3 Das neoliberale Selbst

4 Die Illusion der Handlungsmacht

5 Der Zusammenbruch

6 Auf dem Weg nach Kekistan

7 Es genügt nicht, Arendt zu lesen

Teil III Die Maschinen

8 Die Entmystifizierung der Maschinen

9 Warum brauchen wir eine Theorie des Menschen?

10 Die denkende Maschine

11 Die Offensive gegen den Humanismus

12 Der Aufstand der Schneeflocken

Teil IV Marx

13 Der Löwenmensch

14 Was ist vom Marxismus übrig?

Teil V Reflexe

Zwischenspiel

15 Wir müssen die Zukunft wiederherstellen

16 Wir müssen reflexartige Reaktionen auf die Gefahr entwickeln

17 Wir müssen uns weigern, den Maschinen die Kontrolle zu überlassen

18 Wir müssen uns den Ideen von Xi Jinping widersetzen

19 Wir dürfen uns nie geschlagen geben

20 Wir müssen das antifaschistische Leben führen

Danksagung

Anmerkungen

Einleitung

Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, werde ich Sie auffordern, sich zu entscheiden: Wollen Sie die Kontrolle des Menschen durch die Maschine akzeptieren oder sich ihr widersetzen? Wenn Ihre Antwort ist, dass Sie sich widersetzen wollen, stellt sich eine weitere Frage: Mit welcher Begründung wollen Sie die Rechte des Menschen gegen die Logik der Maschine verteidigen?

Im 21. Jahrhundert sieht sich die Menschheit mit einem neuartigen Problem konfrontiert. Dank der rasanten Entwicklung der Informationstechnologie ist das Wissen sehr asymmetrisch verteilt, und das hat zu einer sehr asymmetrischen Machtverteilung geführt. Sowohl Unternehmen als auch Staaten lernen rasch, wie sie uns mittels der auf unseren intelligenten Geräten laufenden Algorithmen steuern können: Sie wissen, was wir tun und denken, und können unsere nächsten Schritte vorhersehen und unser Verhalten beeinflussen. Auf der anderen Seite haben wir nicht einmal das Recht, zu erfahren, welche Daten sie über uns sammeln und was sie damit tun.

Und das ist lediglich der Albtraum der Gegenwart. Angesichts der zu erwartenden Entwicklung der künstlichen Intelligenz (KI) kann es durchaus sein, dass wir die Kontrolle über die intelligenten Maschinen in der Zukunft vollkommen verlieren werden.

Ein Algorithmus ist einfach eine von Menschen entwickelte Abfolge von Anweisungen zur Lösung eines Problems. Ein Beispiel: Wenn ich am Flughafen meinen Pass vorlege, wissen die Sicherheitsbeamten, dass sie mich durchlassen können, wenn meine Fingerabdrücke den im System gespeicherten entsprechen. Gibt es eine Abweichung, so werden sie mich zur weiteren Befragung festhalten.

Ein Computerprogramm ist ein Algorithmus, der ohne menschliche Eingriffe funktioniert. In gewissem Sinn ist es einfach die jüngste Stufe in einem langen Prozess der fortschreitenden Automatisierung. Eine der erfolgreichsten Strategien der vergangenen zwei Jahrhunderte bestand darin, die menschlichen Arbeitskräfte aus industriellen Prozessen »herauszunehmen« und sie zu Beobachtern von Maschinen zu machen. So haben die Maschinen zeitweilige und begrenzte Autonomie erlangt. Das, was wir mit Computern und Informationsnetzen tun, ist lediglich eine Erweiterung dessen, was wir mit der Windmühle, der Baumwollspinnmaschine und dem Verbrennungsmotor taten.

Aber sobald sich die Maschinen selbst Anweisungen geben können, besteht die Gefahr, dass der Mensch dauerhaft aus dem Prozess »herausgenommen« wird und die Kontrolle abgibt.

Millionen Menschen sind sich der Gefahren der algorithmischen Kontrolle bewusst. Aber sie nehmen an, dies sei ein Problem für Ethikkomitees, Technologiekonferenzen und wissenschaftliche Fachzeitschriften – oder es könne ohnehin erst von der nächsten Generation gelöst werden. In Wahrheit hängt es direkt mit der wirtschaftlichen, politischen und moralischen Krise zusammen, die wir gerade durchleben.

Ich will erklären, warum das so ist.

Nehmen wir an, ich sage Ihnen, dass es eine Maschine gibt, welche die Geschicke Ihres Landes besser lenken kann als die Regierung, eine Maschine, die logischer als jeder Mensch denken und autonom laufen kann. Nehmen wir an, ich fordere Sie auf, von nun an alle wichtigen Entscheidungen in Ihrem Leben dieser Maschine zu überlassen. Nehmen wir an, Sie können ein glücklicheres Leben führen, wenn Sie Ihr Verhalten ändern, um die Entscheidungen der Maschine vorwegzunehmen. Ich hoffe, dass Sie diese Vorstellung ablehnen.

Versuchen Sie jetzt, die Maschine durch »den Markt« zu ersetzen. Seit dreißig Jahren erlauben Millionen Menschen den Marktkräften, ihr Leben zu lenken, ihr Verhalten zu prägen und ihre demokratischen Rechte außer Kraft zu setzen. Es gibt sogar eine Religion zur Anbetung der Macht und Kontrolle dieser Maschine. Diese Religion ist die Disziplin der Wirtschaftswissenschaften.

Indem wir den Markt in den vergangenen dreißig Jahren zu einem autonomen, übermenschlichen Weltgeist erhoben haben, haben wir die Grundlage dafür geschaffen, dass wir uns irgendwann im kommenden Jahrhundert damit abfinden werden, den Maschinen die Kontrolle zu überlassen.

In der Ära der freien Marktwirtschaft lernten wir, die Unterwerfung des Menschen unter die Marktkräfte zu akzeptieren. Wir behandelten Begriffe wie Bürgerrechte, Moral und »Handlungsmacht« so, als wären sie irrelevant in einer von Konsumentscheidungen und kreativer Finanztechnik beherrschten Welt.

Doch das System des freien Marktes ist implodiert. Das von Selbstsucht, Hierarchie und Konsumismus beherrschte Denken funktioniert nicht mehr. Die Folge ist, dass die Religion des Marktes wieder der Verehrung älterer Götter weicht: Viele Menschen wenden sich dem Rassismus, dem Nationalismus, der Frauenfeindlichkeit und dem Kult um mächtige Diebe zu.

Auf dem Weg ins dritte Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zertrümmert ein Bündnis ethnischer Nationalisten, Frauenhasser und autoritärer Politiker die Weltordnung. Gemeinsam sind ihnen die Geringschätzung für die universellen Menschenrechte und die Furcht vor der Freiheit. Sie lieben die Vorstellung von der Maschinenkontrolle, und wenn wir sie lassen, werden sie intelligente Maschinen einsetzen, um ihren Reichtum und ihre Macht zu sichern und zu verhindern, dass jemand sie zur Rechenschaft zieht.

Es ist noch nicht zu spät, dem Chaos entgegenzuwirken, die Versuche zur Einführung neuer biologischer Hierarchien auf der Grundlage von Rasse, Geschlecht und Nationalität zu unterbinden und die Übernahme der Kontrolle durch die Maschinen zu verhindern. Aber wir hören überall Argumente dafür, dass wir uns den Maschinen unterwerfen sollten.

Die Vorstellung, die Menschheit sei »bereits überwunden«, ist tief im modernen Denken verwurzelt und beherrscht die Vorstellungen der Alt-Right ebenso wie die Theorien der akademischen Linken. Sosehr Sie sich persönlich bemühen mögen, Ihr Leben an »menschlichen Werten« auszurichten: Die Vordenker des Silicon Valley und der Kommunistischen Partei Chinas sind sich darin einig, dass die menschlichen Werte unbegründet sind, dass es so etwas wie eine menschliche Natur ebenso wenig gibt wie eine logische Grundlage für eine Vormachtstellung des Menschen gegenüber der Maschine und dass es keine Begründung für die Notwendigkeit universeller Menschenrechte gibt.

Rückblickend gewinnen wir den Eindruck, dass die Ideologie des freien Marktes die Einstiegsdroge zu einem umfassenderen Antihumanismus war. Und wir werden bald herausfinden, welche Schäden diese härtere Droge anrichten kann.

»Konkurriere und eigne dir an«, lautete das erste Gebot der Religion des freien Marktes. In der Ära der Deglobalisierung und des rechten Nationalismus wird das erste Gebot lauten: »Konkurriere, eigne dir an, lüge, kontrolliere und töte.« Wenn wir die neue Technologie der intelligenten Maschinen nicht der menschlichen Kontrolle unterwerfen und diese Maschinen mit menschlichen Werten programmieren, werden die Werte Wladimir Putins, Donald Trumps und Xi Jinpings die Grundlage für ihre Funktionsweise sein.

Daher habe ich mein Buch aus einem Akt des Widerstands heraus geschrieben. Meine Hoffnung ist, dass auch Sie sich auflehnen werden, wenn Sie es gelesen haben. Das kann alles vom Kampf gegen Diktatoren über die Einrichtung menschenbezogener Projekte in Ihrer Nachbarschaft bis zur Auflehnung gegen die Maschinenlogik im Alltagsleben umfassen.

Um wirksamen Widerstand leisten zu können, brauchen wir eine Theorie der menschlichen Natur, die sich im Kampf mit der freien Marktwirtschaft, der Anbetung der Maschinen und dem Antihumanismus der akademischen Linken behaupten kann.

Wir brauchen eine radikale Verteidigung des menschlichen Wesens.

Teil I Die Geschehnisse

Was der Mob wollte und was Goebbels so schlagkräftig zum Ausdruck brachte, war der Zugang und Eingang in die Geschichte überhaupt, selbst um den Preis der eigenen Vernichtung.

Hannah Arendt1

1 Der Tag null

Ross kommt angerannt, seine Kamera läuft. Er tippt mich an die Schulter und öffnet den Mund, aber ich zeige auf die an meinem Helm montierte GoPro und forme leise die Lippen zu dem Wort »live« – womit ich ihm zu verstehen gebe, dass er nichts sagen soll, was später gegen uns verwendet werden könnte. Vor Kurzem haben wir gemeinsam die Unruhen in Istanbul gefilmt. Das hier ist etwas anderes.

Augenblicke später begegne ich Brandon, der sich ebenfalls ins Getümmel gestürzt hat. Wie ich berichtet er seit 2011 über eine Serie von Protestkundgebungen und Unruhen: Kairo, Athen, Istanbul. Jetzt klatschen wir uns im Vorbeilaufen kurz ab, während irgendwo Fensterscheiben bersten. Ein Geländewagen steht in Flammen. Blendgranaten blitzen auf, Tränengasschwaden hängen über der Straße.

Etwa tausend ganz in Schwarz gekleidete und maskierte junge Leute sind im Stadtzentrum ausgeschwärmt und liefern sich Verfolgungsjagden mit der Bereitschaftspolizei. Und der Zufall will es, dass wir drei einander inmitten dieses Getümmels auf wenigen Quadratmetern des städtischen Schlachtfelds begegnen: Ross, Brandon und ich sind Veteranen der Berichterstattung über Länder, die den Bach runtergehen.

Es ist der 20. Januar 2017. Der Ort ist Washington, D. ‌C. Der soziale Krieg, der seit geraumer Zeit an den Rändern des globalen Systems tobt, hat jetzt auch sein Zentrum erreicht. Wir sind nur zwei Straßenzüge vom Weißen Haus entfernt. Donald Trump ist seit wenigen Minuten Präsident.

Die Polizisten stehen dem wachsenden Aufruhr ratlos gegenüber: Sie sind für Situationen ausgebildet, in denen die Leute entweder ihren Anweisungen gehorchen oder erschossen werden. Heute können sie keinen Gehorsam erwarten, und sie dürfen nicht schießen. Also hetzen die vom militarisierten Nichtstun geschwächten und unter dem Gewicht sinnloser Ausrüstung stöhnenden Uniformierten atemlos den Demonstranten hinterher. Als eine junge Frau, die ein Fahrrad schiebt, ins Stolpern gerät und im Fallen drei Polizisten mit sich reißt, eilen einige Kollegen herbei, um die Fahrerin und ihr Rad niederzuknüppeln, während andere versuchen, ihr aufzuhelfen. Der Soundtrack ist klassische Krawallmusik: Sirenen, aus Funkgeräten knisternde Befehle, das Bersten einer eingeschlagenen Fensterscheibe in einer Starbucks-Filiale, und junge Amerikaner, die »No facist USA!« skandieren.

Schließlich greift die Polizei geschlossen an. Aus zwei Zentimeter dicken Schläuchen spritzt mit Tränengas versetztes Wasser. Einige Jugendliche in schwarzen Sturmhauben weigern sich, den Rückzug anzutreten. Sie bilden einen Keil, spannen schwarze Regenschirme auf, um sich zu schützen, und greifen die Polizeiphalanx an. Ein nicht maskierter Demonstrant liegt bäuchlings auf der Straße, als ein Polizist einen Taser auf ihn richtet. Der etwa zwanzigjährige Mann hat einen blonden Lockenkopf, und in seinem Gesicht ist keine Andeutung von Furcht zu sehen. Er schaut den Polizisten an und sagt ruhig in die auf ihn gerichteten Kameras: »Fuck Donald Trump. Fuck Donald Trump.«

Als sich die Aufrührer zerstreuen, beginnt die Polizei, kleine Gruppen von Demonstranten durch die Stadt zu jagen. Die Intensität nimmt zu: Wir laufen vorbei an der American Development Bank, an Joe's Stone Crab, an den seelenlosen Bürogebäuden, in denen die Lobbyisten zuhause sind. Wir hetzen durch die zersplitterte Landschaft der Normalität, und während dieser panischen Flucht vor einem langsamen, roboterhaften Feind fühle ich mich in eine Filmszene versetzt. Aber ich kann mich nicht erinnern, welche Szene es ist.

Am Abend vor Trumps Vereidigung treffe ich einen 72-jährigen Farmer aus Tennessee. »Was halten Sie davon?«, fragt er, wobei er mit dem Kopf eine Geste in Richtung der Worte »Fuck Trump« macht, die jemand am Franklin Square mit Kreide auf den Boden gemalt hat. Er trägt ein dickes rotes Cowboyhemd und macht ein gequältes Gesicht. Er sieht wieder zu den Demonstranten hinüber, die sich um eine Thrash-Metal-Band gesammelt haben, und murmelt: »Die wollen nicht arbeiten. Die sind krank.« Das klingt sonderbar, denn die meisten dieser Demonstranten sind offensichtlich Mittelschichtkinder mit Hochschulabschlüssen und Jobs.

»Wissen Sie, was deren Klamotten kosten?«, fährt er fort. »Fünfzig Dollar für eine Baseballkappe, hundertfünfzig für ein Paar Turnschuhe.« Auch diese Bemerkung klingt eigenartig, denn die meisten Demonstranten – die überwiegend Anarchisten sind – tragen weder Baseballkappen noch Markenschuhe. »Sie wollen nur Geld«, sagt er in angewidertem Ton und streckt mir eine Hand wie ein Bettler entgegen. Er macht ein Gesicht, als hätte er Hundescheiße gerochen.

Erst jetzt wird mir klar, dass er in Wahrheit nicht die Demonstranten meint, sondern ihr Bild im Geiste mit dem der Menschen verschmilzt, an die sie ihn erinnern: arme Schwarze in Tennessee. Die Wut lässt seine Augen hervortreten: »Die kommen aus dem Supermarkt in T-Shirts für zwanzig Dollar und Turnschuhen für hundertfünfzig …« Der Mann kennt sich gut aus mit den Preisen der bevorzugten Kleidung junger Afroamerikaner.

Als ich etwas zu entgegnen versuche, wechselt er das Thema und kommt auf den Klimawandel zu sprechen – den es seiner Meinung nach nicht gibt. »Weil meine Kühe furzen, soll ich jetzt eine Methansteuer zahlen?« Er erklärt mir, dass sich dort, wo heute die Antarktis ist, einst ein Regenwald befand und dass dort fossilisierte Knochen von Kamelen in der Erde liegen, was beweist, dass der Klimawandel vorübergehend ist: »Es ist ein ewiger Kreislauf.«

Während sich die Stadt für den Amtsantritt des neuen Präsidenten rüstet, begegne ich an jeder Straßenecke Leuten wie diesem Farmer. Trump hat ihnen eine Stimme gegeben, und die amerikanischen Medien haben ihnen die Erlaubnis erteilt, ihrem stärksten Gefühl freien Lauf zu lassen: dem Hass. Ein von Selbstmitleid erfüllter Rassist nach dem anderen erzählt mir seine Geschichte, und mir wird klar, womit ich es hier zu tun habe: mit Menschen, die ihre Fähigkeit zum logischen Denken verloren haben und alle Ungerechtigkeiten und Widrigkeiten in ihrem Leben mit einer eingebildeten Bedrohung durch Schwarze, Homosexuelle und befreite Frauen erklären.

Progressive Kommentatoren raten uns, wir sollten uns bemühen, die Motive dieser Leute zu verstehen: Sie seien wirtschaftlich abgehängt worden und vom gesellschaftlichen Wandel überfordert. Man sagt uns, wir sollten Verständnis für sie zeigen, weil diese Menschen im Mittleren Westen ein enttäuschendes Leben führen, während jene, die ein erfülltes Leben genießen, diese Regionen nur im Flugzeug überqueren oder dort bestenfalls einmal auf der Durchreise in einem Motel am Straßenrand haltmachen.

Ich bevorzuge eine harschere Form des Verständnisses, beruhend auf Vernunft, Logik und Wissenschaft.

Wenn ich aufgefordert werde, die Probleme der »weißen Arbeiterklasse« zu verstehen, antworte ich mit der Überzeugung eines Mannes, der als weißer Angehöriger der Arbeiterklasse in einer rauen englischen Bergbaustadt aufwuchs, dass es so etwas wie eine weiße Arbeiterklasse nicht gibt: Dies ist eine Identität, die von den Reichen erfunden wurde, um die Armen zu unterdrücken, so wie die Identitäten des »Kuli« und des »Wilden« in der Kolonialzeit von Siedlern erfunden wurden, die eine Rechtfertigung brauchten, um ihre Opfer wie minderwertige Menschen behandeln zu können.

Stellen wir uns dem Problem: Wenn wir uns Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit wünschen, müssen wir Leute wie den Farmer, der von Kamelen in der Antarktis erzählt, als Feinde betrachten. Diese Leute haben im mächtigsten Land der Welt einen Mann an die Macht gebracht, der sich seiner sexuellen Übergriffe rühmt, einen Rassisten, Steuerbetrüger und Gauner. Damit haben diese Leute wissentlich dafür gestimmt, das als Globalisierung bezeichnete multilaterale System zu zerstören, die im vergangenen halben Jahrhundert erzielten Fortschritte im Kampf für Minderheiten- und Frauenrechte ungeschehen zu machen und den Rechtsstaat durch die Herrschaft einer kleptokratischen Dynastie zu ersetzen.

Und solche Leute sind in aller Welt auf dem Vormarsch. Da sind die Patriot-Prayer-Demonstranten in Portland, die dazu aufrufen, Einwanderer »mit dem Kopf gegen den Beton zu schmettern«. Da sind die Trolle der türkischen Regierungspartei AKP, die Journalistinnen mit koordinierten Vergewaltigungsdrohungen einschüchtern. Da sind die Pöbelhaufen, die in Russland Homosexuellenmärsche attackieren. Da sind die Neonazis, die im deutschen Bundestag vom Rednerpult islamfeindliche Tiraden loslassen. In Indien lynchen »Kuh-Hüter« Muslime, während sich Premierminister Narendra Modi – der indische Trump – weigert, die Übergriffe zu verurteilen. In Brasilien marschieren die Fußsoldaten des Ende 2018 zum Präsidenten gewählten Faschisten Jair Bolsonaro auf, der einst vor laufender Kamera zu einer linken Abgeordneten sagte, sie sei es nicht wert, vergewaltigt zu werden, und die Nachfahren entflohener Sklaven sollten sich nicht vermehren.

Der geistige Abfall, den diese Leute produzieren, verseucht das Denken und die Timelines rationaler Menschen in aller Welt.

Meinungsforscher bezeichnen die Geisteshaltung dieser Leute als »autoritären Populismus«.1 Kennzeichnend dafür sind die Ablehnung a) der Menschenrechte, in denen sie die Rechte anderer sehen, b) der Zuwanderung, die sie als Verschmutzung »ihrer« Kultur betrachten, und c) aller Formen des Multilateralismus in Politik und Wirtschaft, der den Handlungsspielraum eines in ihren Augen mit gutem Recht repressiven Staates einschränkt. Wäre ihr Weltbild damit vollständig, so könnten wir uns mit der Erklärung trösten, es handle sich lediglich um ein Aufleben der reaktionären Neigungen, die stets in Gesellschaften schlummern, die rasante Veränderungen bewältigen müssen.

Aber wir haben es mit einer tiefer verwurzelten Feindseligkeit gegenüber der Wissenschaft, der Logik und der Rationalität zu tun, gegenüber jenen Dingen, die in den vergangenen fünfhundert Jahren die Grundlage der auf der Marktwirtschaft beruhenden Gesellschaften gewesen sind. Wie wir sehen werden, wurde dieser Angriff auf die Vernunft von einem Teil der krisengeschüttelten Elite theoretisch vorbereitet – ob das den Aktivisten der neuen Rechten nun vollkommen bewusst ist oder nicht.

Der Vormarsch der gelernten Dummheit in der Weltpolitik ist umso erschreckender, als er in eine Zeit fällt, in der Informationen freier zugänglich sind als je zuvor in der Geschichte. Wir müssen diese Situation verstehen und – sofern es möglich ist – Wege finden, um möglichst viele konservativ denkende Personen dazu zu bewegen, sich für Rationalität, Mäßigung und die Normen des demokratischen Verhaltens zu entscheiden.

Wenn sie nicht überzeugt werden können, müssen wir Widerstand gegen sie leisten. Sie haben einer auf Tatsachen beruhenden Politik, dem wissenschaftlichen Denken und einem auf Regeln statt auf Gewaltanwendung beruhenden globalen System den Krieg erklärt. Jene, die diese Werte verteidigen wollen, müssen sich zur Wehr setzen.

Um das tun zu können, brauchen wir mehr als nur Fakten. Wie der Intellektuelle Tzvetan Todorov in seiner Auseinandersetzung mit dem Kampf gegen den Totalitarismus im 20. Jahrhundert schrieb, brauchen wir dafür sowohl Erinnerung als auch Hoffnung. Aber woran sollen wir uns erinnern, und worauf können wir hoffen?

Vor nicht allzu langer Zeit, in den frühen neunziger Jahren, glaubten vollkommen rationale Personen, das »Ende der Geschichte« sei gekommen: Die freiheitliche Demokratie und der marktwirtschaftliche Kapitalismus stellten in ihren Augen die perfekte Ordnung dar, weshalb ihnen zukünftige Umwälzungen unmöglich schienen.

Im Jahr 2008 wurde die Welt aus dieser Illusion gerissen. Die durch den Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers ausgelöste Finanzkrise hat sich zu einer Legitimitätskrise des marktwirtschaftlichen Systems ausgeweitet, und die Zweifel an diesem System liefern nun Argumente für einen Angriff auf Demokratie und Menschenrechte und beschwören neue Gefahren für die geopolitische Ordnung herauf.

In den Vereinigten Staaten herrscht Trump. Mit dem Brexit hat der Zerfall der Europäischen Union begonnen. In den sozialen Medien breiten sich Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, der Glaube an eine Überlegenheit der weißen Rasse und eine Opferrolle des männlichen Geschlechts aus. In der Türkei sitzen Hunderte Journalisten im Gefängnis. Auf den Philippinen jubelt der Präsident über das von den Todesschwadronen angerichtete Blutbad. Im syrischen Bürgerkrieg, der ausbrach, weil Jugendliche Losungen gegen den Diktator Baschar al-Assad auf Hausmauern schmierten, sind mittlerweile 470 ‌000 Menschen getötet und 10 Millionen vertrieben worden.2 Das chinesische Regime schickt sich an, seine 1,4 Milliarden Bürger im kommenden Jahrhundert einer lückenlosen digitalen Überwachung zu unterwerfen.3 Dies ist keine fantastische dystopische Darstellung aus einem Science-Fiction-Roman: Es ist die Wirklichkeit, in der wir leben.

Früher beneidete ich meine jüngeren Journalistenkollegen, die in einer Welt zuversichtlicher Gewissheit lebten und an den Eliteuniversitäten gelernt hatten, dass die Ära der systemischen Krisen der Vergangenheit angehörte. Ich hingegen hatte mit Anfang zwanzig in Thatchers Großbritannien gelebt und war Zeuge einer Zeit der Konflikte, der Rezession und des sozialen Zerfalls geworden. Meine jungen Kollegen, so schien es, würden nur coolen, gleichmäßigen, technokratischen Fortschritt kennenlernen.

Mittlerweile habe ich Mitleid mit ihnen. Sie müssen jeden Morgen in ihren Newsfeeds mit ansehen, wie dramatische, bis vor Kurzem undenkbare, mit keiner Theorie erklärbare Ereignisse die Welt erschüttern: Trump fliegt nach Moskau, um mit Putin gemeinsame Sache gegen das FBI zu machen. Die altehrwürdige Österreichische Volkspartei kündigt über Nacht das Bündnis mit den Sozialisten auf und schließt sich mit den Neofaschisten zusammen. In China bricht Parteichef Xi Jinping nach drei Jahrzehnten mit der Konsensregierung und schwingt sich zum Alleinherrscher auf. Private Nachrichtendienste, von deren Existenz wir nie gehört hatten, manipulieren Wahlen im Auftrag des Meistbietenden.

Da wir die Entfaltung dieser neuen Weltunordnung in Echtzeit auf unseren mobilen Geräten verfolgen können, löst sie ein bipolares Verhalten aus: Wir reagieren extrem empfindlich auf das Chaos, verharren jedoch in Resignation, wenn wir vor der Frage stehen, was wir dagegen unternehmen können.

Auch der Liberalismus, die ehemals dominierende Ideologie der westlichen Welt, ist mittlerweile bipolar. Viele gebildete Personen reagieren mit Begeisterung auf die technologische Entwicklung und sind zugleich verzweifelt über die geopolitischen Vorgänge: Dunkle Vorahnungen bezüglich dessen, was nach Trump kommen dürfte, mischen sich mit unternehmerischen Vorhaben, die nur in einer umweltfreundlichen, von Hochtechnologie und Automation geprägten Zukunft verwirklicht werden können. Versucht man dieser bipolaren Einstellung auf den Grund zu gehen, so stößt man auf die Annahme, trotz allem stehe uns eine »vierte industrielle Revolution« bevor, die alles wieder ins Lot bringen werde.

In diesem Buch erkläre ich, warum ich überzeugt bin, dass es nicht so sein wird. Um das Potenzial neuer Technologien zur Förderung des menschlichen Wohlergehens nutzen zu können, muss es etwas Menschliches geben, das verteidigt werden kann. Aber sämtliche gegenwärtigen Krisen – seien sie wirtschaftlicher, geopolitischer oder technologischer Natur – haben ihren Ursprung in der Tatsache, dass die Bedeutung des Menschseins ausgehöhlt wird.

Seit den achtziger Jahren zieht die Ideologie des freien Marktes unser Recht in Zweifel, eine Identität zu besitzen, die mehr ist als ein Komplex wirtschaftlicher Bedürfnisse. Jetzt, da die Globalisierung unter Druck gerät, wird selbst die Vorstellung von universellen und unveräußerlichen Rechten angefochten. Gleichzeitig beginnt die Technologie unsere Fähigkeit zu autonomem Handeln frei von digitaler Kontrolle und Überwachung zu untergraben: Wir werden einer algorithmischen Kontrolle unterworfen, die wir nicht sehen, geschweige denn verstehen dürfen.

Nichts von alledem geschieht zufällig: Wie ich in diesem Buch zeigen werde, haben die offen antihumanistischen Theorien heute größeren Einfluss als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in den vergangenen zweihundert Jahren.

Ich glaube, dass wir trotz einer von Furcht und Grausamkeit beherrschten Gegenwart immer noch erreichen können, was der russische Revolutionär Leo Trotzki einmal als »lichte Zukunft« der Menschheit bezeichnete. Aber wir müssen nicht nur die Ursachen der Wirtschaftskrise entmystifizieren und unser Verständnis von Demokratie vertiefen, sondern auch das Konzept der Menschlichkeit verteidigen und neue praktische Schlüsse daraus ableiten.

Nachdem wir am Tag von Trumps Amtsantritt der Polizei entkommen waren, fiel mir ein, woran mich jene Szene erinnert hatte: an einen Zombiefilm.

Der erste derartige Film kam bereits im Jahr 1932 in die Kinos, aber das Genre blieb bis in die sechziger Jahre eine Randerscheinung.4 In den meisten frühen Zombiefilmen war das Ungeheuer ein auferstandener Schwarzer karibischer Herkunft, der weiße Frauen vergewaltigen wollte. Es liegt auf der Hand, mit welchen Ängsten diese Filme spielten.

Erst in Die Nacht der lebenden Toten aus dem Jahr 1968 lernten wir den modernen Untoten kennen: Er war eine zum Leben erweckte Leiche, die darauf programmiert war, Menschen zu töten und zu verspeisen. Dieses Ungeheuer war einfach unser gewöhnlicher weißer Nachbar, der verrückt geworden war. Mit ihm begann ein weltweiter Siegeszug des Zombiegenres. Allein im Jahr 2010 wurden 27 Zombiefilme produziert, von Big Tits Zombie (Japan) bis zu Santa Claus vs. the Zombies (USA). Aus Videospielen ist der Zombie mittlerweile nicht mehr wegzudenken – er ist der vorhersehbare, hirnlose Gegner, der sich umso schneller vermehrt, je mehr von seinen Artgenossen man tötet. Es gibt Zombiefestivals und Zombieaufmärsche, bei denen blutverschmierte Teilnehmer Geld für wohltätige Zwecke sammeln. Der Zombie ist ein Tropus, eine allgemein anerkannte semantische Figur, die Regeln und Konventionen unterworfen ist, die es uns erlauben, sie mit zahlreichen anderen Vorstellungen zu verknüpfen: So erhalten wir Filme wie Kung Fu Zombie, Biker Zombies from Detroit, La Cage aux Zombies und World War Z.

Warum wenden wir kollektiv derart viel Konzentration, Emotion und geistige Energie für die Auseinandersetzung mit dem Zombie auf? Was wollen wir uns damit sagen, und was wollen wir damit über uns sagen?

Die menschlichen Kulturen kennen seit jeher Mythen und Legenden über Untote oder halbmenschliche Wesen, und diese Figuren sind normalerweise Metaphern für ein tief empfundenes menschliches Bedürfnis. Aber der Zombie ist einzigartig. Er ist kein Vampir: Die Beziehung zwischen dem Vampir und seinem Opfer ist eine Metapher für unzulässige sexuelle Anziehung, und der Vampir ist im Gegensatz zum Zombie ein vernunftbegabtes Wesen. Zombies sind auch keine Geister: Der Geist ist eine Metapher für Trauer, und ein Geist kann uns nicht töten. Genauso wenig sind Zombies Werwölfe, denn diese stehen metaphorisch für Geisteskrankheit oder soziopathische Gewalttätigkeit – und zum Werwolf wird ein Mensch nur vorübergehend, während ein Zombie immer ein Zombie bleibt.

Der Zombie besitzt eine übermenschliche Fähigkeit, die ihn von den herkömmlichen Ungeheuern der westlichen Folklore unterscheidet: Er vermehrt sich automatisch. Ein einzelner Werwolf kann die Bevölkerung Londons nicht dezimieren, und ein einsamer Vampir wird Transsylvanien nicht entvölkern. Hingegen genügt ein Zombie, um in einem Prozess der exponentiell steigenden Opferzahlen oder Infektionen eine ganze Gesellschaft auszulöschen.

Worin besteht also die tief empfundene Angst, aus der sich die Metapher des Zombies speist? Die wahrscheinlichste Antwort lautet: Es ist die Angst, das einzubüßen, was uns menschlich macht, das heißt unsere Vernunft, unsere Fähigkeit, Wahrheit und Lüge voneinander zu unterscheiden, unsere Fähigkeit, in anderen menschlichen Wesen Mitglieder unserer eigenen Spezies zu erkennen, die folglich dieselben Rechte haben wie wir. Die Angst, unsere Handlungsmacht und unsere Freiheit zu verlieren.

Diese Befürchtungen sind rational. Wir sind mit dem gefährlichsten Angriff auf den Humanismus konfrontiert, seit dieser in den Tagen Shakespeares und Galileis entwickelt wurde. Der Humanismus ist seit mehr als vierhundert Jahren die Grundlage der abendländischen Vorstellung von der Zivilisation und der Ausgangspunkt des wissenschaftlichen Denkens und des Konzepts des gesellschaftlichen Fortschritts. Aber seit dem späten 20. Jahrhundert regt sich in verschiedenen Gesellschaftssektoren Widerstand gegen den Humanismus.

Die strategische Bedrohung geht von der Technologie aus. Es ist durchaus möglich, dass die künstliche Intelligenz noch in diesem Jahrhundert so ausgereift sein wird, dass sie die Fähigkeiten der menschlichen Gehirne in ihrer Gesamtheit übersteigen wird. Gleichzeitig sind dank der rasanten Fortschritte im Bioengineering mittlerweile Modifikationen an menschlichen Individuen möglich, und sollten die entsprechenden Tabus aufgehoben werden, stehen uns unumkehrbare Eingriffe in den Genpool der Menschheit bevor. Diese Möglichkeiten wecken bei Menschen, die über die Zukunft nachdenken, einen ausgeprägten Antihumanismus: Sie eignen sich eine defätistische Haltung gegenüber dem Wert der menschlichen Individualität an und beginnen zu glauben, der Homo sapiens sei eine Spezies, die von der Evolution überflüssig gemacht werde.

Zweitens bestärken die Entwicklungen in Neurowissenschaften und Informationstheorie viele Menschen in der Überzeugung, dass unser Verhalten unausweichlich vorbestimmt ist, dass unser Gehirn lediglich eine biologische Maschine ist, deren Bewegungen und Reaktionen vom »Betriebsprogramm« der DNA gesteuert werden, die nur durch die physische Umgebung modifiziert wird und Teil eines Universums ist, das ebenfalls mehr und mehr wie das Produkt eines gewaltigen »Computers« wirkt. Obwohl beide Vorstellungen in der Wissenschaft umstritten sind, sind die Regale der Flughafenbuchhandlungen rund um den Erdball mit Bestsellern gefüllt, die den Nuancen keine Bedeutung beimessen und eine klare Botschaft enthalten: Wir sind bereits Automaten, die nicht zur Freiheit fähig sind.

Drittens müssen wir uns der demografischen Tatsache stellen, dass mittlerweile die Mehrheit der Weltbevölkerung in Ländern lebt, in denen die kulturellen Fundamente des Humanismus nicht solide sind. Als im Jahr 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet wurde, gab es 2,4 Milliarden Menschen auf unserem Planeten. Ein Viertel der Weltbevölkerung lebte in entwickelten, demokratischen Ländern, deren gesellschaftliche Eliten mit der Tradition der Aufklärung aufgewachsen waren. Mittlerweile ist die Zahl der Erdenbürger auf 7,5 Milliarden angeschwollen – und die Mehrheit dieser Menschen lebt nicht in stabilen demokratischen Gesellschaften, sondern in Systemen, die ihren Bürgern grundlegende Menschenrechte vorenthalten. Noch schlimmer ist, dass die offiziellen Ideologien dieser Staaten zutiefst antihumanistisch sind, darunter die Mischung von Konfuzianismus und Rechnungswesen, die vom chinesischen Regime als »Marxismus« propagiert wird, der hinduistische Chauvinismus des Modi-Regimes in Indien und der großrussische Nationalismus des Putin-Regimes.

Und dann ist da der Feldzug gegen den Humanismus, der in den vergangenen vier Jahrzehnten im Namen der freien Marktwirtschaft geführt wurde. Indem uns das als Neoliberalismus bezeichnete Wirtschaftsmodell neue Routineabläufe, Einstellungen und Werte aufgezwungen und zur Voraussetzung für das Überleben gemacht hat, indem es uns auf zweidimensionale ökonomische Geschöpfe reduziert hat, hat es unsere verhaltensmäßigen und intellektuellen Verteidigungsmechanismen gegen verschiedene antihumanistische Eingriffe geschwächt.

Der Wendepunkt, an dem all diese Gefahren deutlich zutage traten und verstärkt wurden, war Trumps Wahlsieg, der einer globalen Welle des rechten Populismus zusätzlichen Auftrieb verschaffte.

Trump warf sich wie eine Abrissbirne gegen die multilateralen Institutionen, auf denen der globalisierte freie Markt beruht: Er attackierte den UN-Menschenrechtsrat, die Welthandelsorganisation, die Europäische Union und das nordamerikanische Freihandelsabkommen Nafta. Indem er die Berichterstattung der Medien als »Fake News« verleumdete und die Suche nach Konsenslösungen in Diplomatie und Innenpolitik durch große Gesten und Unberechenbarkeit ersetzte, versuchte Trump nicht nur, die nach 1989 errichtete Weltordnung zu zerstören: Er tat alles, um Chaos heraufzubeschwören.

Trumps Reaktion auf den Gewaltausbruch in Charlottesville im Jahr 2017 war ein Freibrief für die Verfechter einer neuen Form von Faschismus in den USA. Die Alt-Right lehnt die Vorstellung von universellen Menschenrechten rundweg ab, sät unablässig Zweifel an der Gültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse und attackiert Einrichtungen wie die Universitäten oder die öffentlichen Medien, die versuchen, die objektive Wahrheit zu bestimmen.

In seinem Krieg gegen die liberalen und demokratischen Werte setzte Trump Maschinen ein, deren Zweck darin besteht, die menschliche Entscheidungsfreiheit und Vernunft zu untergraben: Dank der Daten, die Facebook Cambridge Analytica zur Verfügung stellte, gelang es Trump und seinen russischen Verbündeten, die Meinungen und das Wahlverhalten vieler Amerikaner zu manipulieren.

Sollte sich dieses neue Bündnis von autoritären Politikern und technologisch beschlagenen Faschisten durchsetzen, so werden viele Menschen jenem Farmer aus Tennessee ähnlich werden: Sie werden zu Wesen mit leerem Blick, gedankenlos gehorsam, ohne jede Handlungsmacht, das Verhalten von Facebook-Algorithmen gesteuert, die politischen Vorstellungen nicht mehr als eine Wiederholung der Abendnachrichten auf Fox News. Sie werden zu politischen Zombies.

Das wichtigste Angriffsziel der autoritären Rechten ist die Möglichkeit, dass die Wahrheit existiert. Trump und seine Nachahmer wollen die Menschen davon überzeugen, dass nichts wahr ist, dass alle Presseberichte manipuliert sind, dass alle Bilder von Krieg und Folter mit Photoshop bearbeitet wurden, dass alle Terroranschläge »unter falscher Flagge« durchgeführte Operationen von Geheimdiensten sind, dass alle Opfer von Krieg und Folter nur »Krisenschauspieler« sind.

Sie wollen uns glauben machen, dass die Rechtsstaatlichkeit tatsächlich ein Angriff des »tiefen Staats« auf den Volkswillen ist, dass die professionellen Medien »Volksfeinde« und die Oppositionsparteien »Saboteure« sind. Autokraten wie Wladimir Putin und Narendra Modi gehen schon seit Längerem nach diesem Drehbuch vor und müssen weniger Rücksicht auf demokratische Prinzipien nehmen als Trump. Aber Trump hat diese Methode auch in den Demokratien salonfähig gemacht. Sein Erfolg in den ersten zwei Jahren seiner Amtszeit hat ähnlichen Bestrebungen in Brasilien, Ungarn, Italien und anderen Ländern Auftrieb verschafft.

Wir haben immer noch nicht begriffen, was für eine Katastrophe sich um uns herum abspielt. Dies ist keine vorübergehende zyklische Entwicklung in der Politik, sondern eine globale Attacke auf die erkenntnistheoretischen Methoden, auf das wissenschaftliche Denken und auf eine an den Fakten orientierte politische Entscheidungsfindung – auf die moderne Denkweise, die ihren Ursprung im frühen 17. Jahrhundert hat.

Obendrein sind wir mit einer Krise des Denkens bei der Linken konfrontiert. Wenn wir uns die obszönen Behauptungen der Internettrolle ansehen – der jüngste Terroranschlag des »Islamischen Staates« wurde angeblich von der CIA inszeniert, ein verstümmeltes syrisches Kind wird als »Krisenschauspieler« diffamiert –, müssen wir uns vor Augen halten, dass die Grundlagen für diesen Angriff auf die Rationalität von jener linken akademischen Strömung gelegt wurden, die als Postmodernismus bezeichnet wird.

Der Physiker Hermann Weyl beschrieb eine Theorie als Sammlung von Ideen, die es uns erlauben, »über den eigenen Schatten zu springen« und anhand von Worten und Zahlen darzustellen, was physisch nicht sichtbar ist.5Die Postmodernisten erwiderten: »Wie kann man über seinen Schatten springen, wenn man keinen mehr hat?«6 Jean Baudrillard, der diese Worte im Jahr 1994 schrieb, war überzeugt, unsere Bereitschaft, das vom Kapitalismus vorgegebene Leben im Rhythmus von Geld und Eigennutz zu führen, habe unsere Menschlichkeit ausgehöhlt. Wir seien nur noch Manifestationen der wirtschaftlichen Kräfte, unfähig, einen Schatten auf die Welt zu werfen, außerstande, über die von den Massenmedien inszenierte Realität hinauszublicken.

Die akademische Linke hatte die menschliche Hilflosigkeit theoretisch abgehandelt, lange bevor die Rechte sie in ein Projekt verwandelte. Eine Theorie, die in den fünfziger Jahren entwickelt wurde, um die Passivität der Arbeiterklasse zu erklären, hat eine wachsende akademische und philosophische Bewegung ins Leben gerufen, die als Posthumanismus bezeichnet wird. Er ist eine Begründung für unsere Unterwerfung unter die Maschinen und in der extremsten Ausprägung für unsere freiwillige Selbstauslöschung als Spezies. Eines der Ziele dieses Buches ist es, der posthumanistischen Industrie die Geschäftsgrundlage zu entziehen.

Um die Vernunft zu verteidigen, müssen wir verteidigen, worauf sie beruht: Erfahrung und sorgfältige Beobachtung können in unserem Verstand eine überprüfbare Wahrheit erzeugen.

Wenn Sie Ihr Leben einem Flugzeug anvertrauen, das Sie 12 ‌000 Meter über dem Boden befördert, so tun Sie das, weil Sie glauben, dass es unabhängig von Ihren Sinneswahrnehmungen eine reale Welt gibt, in der physikalische Gesetze gelten, welche die Flugzeugingenieure verstanden haben. So komplex diese Welt auch sein mag, so zufällig vieles darin sein mag: es wäre ein Rückschritt, würden wir den Glauben an die vierhundert Jahre alte wissenschaftliche Methode aufgeben, die der Luftfahrtingenieur anwendet.

Um die neuen Religionen des Irrationalismus und Fatalismus zu entzaubern, müssen wir uns auf eine Denkweise besinnen, die aus der Mode gekommen ist. Wir müssen den Menschen wieder in den Mittelpunkt unserer Weltsicht rücken – nicht die Maschine, nicht die Natur und nicht irgendwelche Untergruppen der Menschheit, die besondere Privilegien genießen, sondern unsere gesamte Spezies.

Nach dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg war der Humanismus der Rettungsring, an den sich die Überlebenden klammerten. Nach Trumps schockierendem Wahlsieg wandte sich eine neue Generation einmal mehr den großen humanistischen Autoren der antifaschistischen Ära zu, darunter George Orwell, Primo Levi und Hannah Arendt. Aber sobald wir über die Ähnlichkeiten und die tröstenden Zitate hinausgehen, wird klar, dass ihr Weltbild den Annahmen des modernen progressiven Denkens widerspricht.

Der Humanismus kam aus der Mode, weil er das Produkt einer weißen, eurozentrischen Kultur war, welche die koloniale Unterdrückung und die männliche Vormachtstellung rechtfertigte. In den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts rief der schwarze Psychiater und Schriftsteller Frantz Fanon zur Entwicklung eines »neuen Humanismus« auf, der nicht durch den Rassismus der kolonialen Vergangenheit belastet sein würde. Aber dazu kam es nicht. Stattdessen gaben Politiker, die sich als Humanisten bezeichneten, den Befehl zu verheerenden Attacken auf Menschenleben, von Vietnam bis zum Irak. Der Anthropologe Claude Lévi-Strauss fasste die wachsende Abneigung der gelehrten Welt gegen das humanistische Denken zusammen, als er im Jahr 1979 erklärte, nicht nur der Kolonialismus, sondern auch der Faschismus und seine Vernichtungslager seien die »natürliche Fortsetzung« des jahrhundertelang praktizierten Humanismus gewesen.7

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts weckten neue Erkenntnisse in Neurowissenschaften, Genetik und Anthropologie Zweifel an den herkömmlichen wissenschaftlichen Theorien zur Einzigartigkeit des menschlichen Wesens. Fundamentalistische Umweltschützer gelangten zu dem Schluss, es wäre besser für den Planeten, wenn unsere Spezies überhaupt nicht existierte, und radikale Tierschützer fügten hinzu, je früher die Menschheit ausgerottet werde, desto besser.8

Die Verteidigung von Vernunft und Wissenschaft kann nur gelingen, wenn wir zu einem Humanismus zurückkehren, der sich von jenem unterscheidet, den Arendt, Levi und ihre Generation verfochten. Eine alternative, radikalere Form des Humanismus in der Tradition von Vernunft und Aufklärung zielt auf die völlige Befreiung des Menschen einschließlich der Befreiung von den Identitäten, die uns von Armut, Rassismus und Sexismus aufgezwungen werden.

Es gibt nur einen humanistischen Denker, der den Realismus – die Vorstellung, dass die Welt auch unabhängig von unseren Sinnen existiert – mit einer Definition der menschlichen Natur verknüpft, die auch angesichts der modernen Erkenntnisse auf den Gebieten der Kognitionsforschung und der künstlichen Intelligenz Bestand hat. Dieser Denker ist Karl Marx. Trotz aller Mängel seiner Theorien und aller in seinem Namen begangenen Verbrechen war Marx der einzige große Philosoph, der, würde er heute leben, maskiert an Kundgebungen wie der in Washington teilnähme. Er würde verstehen, was dieser Protest bedeutet: Wir befinden uns in der Stunde null im Kampf um neue Hoffnung.

2 Eine allgemeine Theorie von Trump

»Die Globalisierung ist tot. Die amerikanische Supermacht wird sterben.«1 Diese Worte schrieb ich, zwei Stunden nachdem Donald Trumps Wahlsieg feststand, in einer Kolumne für die Zeitung The Guardian. Trump hatte meiner Meinung nach triumphiert, »weil Millionen gebildeter Angehöriger der amerikanischen Mittelschicht ihre Seele erforscht und dort, nachdem alle Schichten der Selbsttäuschung abgeschält waren, einen Menschen gefunden haben, der an die Überlegenheit der weißen Rasse glaubt. Dazu kommt ein unerschlossenes Reservoir der Frauenfeindlichkeit.«

Möglicherweise war das eine extreme These zu einem Zeitpunkt, als die Mainstream-Kommentatoren erklärten, Trumps Sieg sei ein Unfall gewesen, das Ergebnis von Hillary Clintons Fehlern im Wahlkampf in vier Swing States. Die Experten glaubten, Trump werde rasch von der gewaltigen föderalen Bürokratie in die Schranken gewiesen und vom Rechtsstaat an die Kette gelegt werden.

Aber Trumps Wahlsieg war Teil eines Musters. Es war der dritte Tsunami, der innerhalb von anderthalb Jahren über die liberale politische Mitte hinwegraste. Im Juni 2015 hatten sich die Griechen an den Urnen dafür entschieden, die EU herauszufordern, obwohl das Land nach dem Zusammenbruch des nationalen Bankensystems eine Geisel der Finanzmärkte war. Im Juni 2016 hatte sich eine Mehrheit der britischen Wähler für das Ausscheiden des Landes aus der EU entschieden. Und nun hatten die Amerikaner Trump zum Präsidenten gewählt.

Ich hatte seit der Finanzkrise von 2008 gewarnt, dass ein großes Land aus dem auf Regeln und gemeinsamen Normen beruhenden multilateralen System ausscheiden würde, wenn wir die freie Marktwirtschaft nicht überwinden würden. Ein Ende des multilateralen Systems würde der Globalisierung den Garaus machen. Die Financial Times bezeichnete diese Warnungen als »irritierend schrill«.2 Wie sich herausstellen sollte, waren sie nicht schrill genug.

Trumps Wahlsieg war nicht nur ein bedeutsames Ereignis in der politischen und Wirtschaftsgeschichte der Welt, sondern er öffnete einen Riss im intellektuellen Fundament, auf dem die Weltordnung beruht. Die meisten Leute können diesen Riss noch immer nicht sehen.

Selbst wenn Trump angeklagt oder seines Amtes enthoben wird oder einfach einer Überdosis Cheeseburger zum Opfer fallen sollte: Sein Wahlsieg hat die Welt unumkehrbar verändert. Er hat dem auf Regeln beruhenden globalen System den Kampf angesagt, einen Handelskrieg mit China angezettelt, die Vereinigten Staaten aus dem Pariser Klimaschutzabkommen zurückgezogen, das Atomabkommen mit dem Iran zunichtegemacht, rechtsextreme Gewalt gerechtfertigt, zur Gewalt gegen die Medien aufgerufen und das systematische Lügen zum Grundsatz von Politik und Diplomatie gemacht.

Seine »America First«-Strategie soll nicht nur in den Vereinigten Staaten Arbeitsplätze schaffen und das Wirtschaftswachstum auf Kosten Chinas und Mexikos ankurbeln, sondern auch die bestehende globale Machtstruktur erschüttern und zum Vorteil der USA und Putin-Russlands umbauen. Zu seinen taktischen Manövern gehört es, Nordkorea einen atomaren Präventivschlag anzudrohen und Kleinkinder von ihren illegal eingewanderten Eltern zu trennen. Und bisher hat er Erfolg gehabt.

Um die angestrebte neue Ordnung Wirklichkeit werden zu lassen, richtet Trump Chaos an: Auf empörende Äußerungen folgen Dementis, Verlautbarungen werden mit Tweets widerrufen, bei internationalen Verhandlungen wird auf Diplomaten, Berater, schriftliche Aufzeichnungen und professionelle Vorbereitung verzichtet.

Um uns in diesem Chaos zurechtzufinden, brauchen wir eine Theorie, die erklärt, wie sich der neue rechte Autoritarismus entwickelt hat, wer davon profitiert und welches seine Ziele sind. Eine solche Theorie fehlte den meisten progressiv gesinnten Menschen am Abend von Trumps Wahlsieg. Sie begriffen, dass diese Monstrosität möglicherweise das Ende der progressiven Politik und des geordneten globalen Systems bedeutete, aber sie verstanden nicht, dass es die liberale Ordnung war, die Trump und die Aktivisten, die ihn zum Präsidenten machten, hervorgebracht hatte.

Selbst wenn wir die Ursachen des Phänomens Trump kennen, verfügen wir lediglich über eine Theorie der Abrissbirne. Um wirklich zu verstehen, was vor sich geht, müssen wir die fragilen Strukturen untersuchen, die unter den Schlägen der Abrissbirne erbeben. Diese Strukturen umfassen nicht nur die globale Wirtschaftsarchitektur, sondern auch die Ideologien des Liberalismus, des Globalismus und der universellen Menschenrechte.

Der Grund für die Schwächung dieser Ideen ist, dass sie einer untauglichen Wirtschaftsstruktur aufgepfropft wurden. In den drei Jahrzehnten des Aufstiegs und Niedergangs des als Neoliberalismus bezeichneten Systems bestand ein großer Teil seiner intellektuellen Architektur in Abläufen und Ritualen, die keine innere Überzeugung erforderten. So wie in den Jahren vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion taten die Leute auch im neoliberalen System nur noch so als ob, während sie im Grunde ihres Herzens wussten, dass dieses System gescheitert war.

Um die Ordnung und Vorhersehbarkeit der Welt wiederherzustellen, müssen wir das Wesen wiederfinden, das in der neoliberalen Ära verloren gegangen ist: das dreidimensionale menschliche Wesen, das an Mäßigung, Freundlichkeit, wechselseitige Verpflichtung und Demokratie glaubt, jenes menschliche Wesen, das eigenständig denken kann und meint, was es sagt. Es liegt auf der Hand, dass dies keine leichte Aufgabe ist.

Donald Trump gab seine Präsidentschaftskandidatur am 16. Juni 2015 im Trump Tower in New York bekannt. In einer wirren und anscheinend aus dem Stegreif vorgetragenen Rede erläuterte er die wesentlichen Bestandteile seines politischen Programms. Er attackierte die mexikanischen Einwanderer: »Sie bringen Drogen, sie bringen Kriminalität, sie sind Vergewaltiger, und einige, nehme ich an, sind auch gute Leute.«3 Er versprach, die Vereinigten Staaten wieder groß zu machen. Um das zu erreichen, werde er die amerikanischen Unternehmen zwingen, Arbeitsplätze ins Land zurückzuholen, und China und Mexiko mit harten Handelssanktionen belegen. Er werde die amerikanische Außenpolitik im Nahen Osten neu ausrichten, den Iran isolieren und die Position Saudi-Arabiens festigen. Er werde die unter Obama erlassene Gesetzgebung zur Krankenversicherung, mit der zwanzig Millionen arme US-Amerikaner in das Gesundheitssystem geholt worden waren, rückgängig machen, Milliarden in die Wiederherstellung der verfallenden Infrastruktur des Landes investieren und gleichzeitig (auf wundersame Art) die Staatsschulden verringern.

Die etablierten Kräfte konnten über dieses Programm nur lachen. Wie nicht anders zu erwarten, gingen Antirassisten mit gutem Recht gegen diesen Kandidaten auf die Barrikaden. Die Meinungsforscher stellten fest, dass nur 6,5 Prozent der als Republikaner registrierten Wähler Trump ihre Stimme geben wollten. Aber nur sechs Wochen später kam Trump in den Umfragen auf zwanzig Prozent, doppelt so viel wie sein engster Rivale Jeb Bush, und ließ gleich eine ganze Schar bleichgesichtiger christlich-fundamentalistischer Mitbewerber hinter sich.4 Zu jenem Zeitpunkt war es kaum jemandem bewusst, aber mit seiner rassistischen, misogynen, wirtschaftsnationalistischen und elitenfeindlichen Rhetorik hatte Trump eine wirkungsvollere populistische Botschaft formuliert als alle anderen Populisten. Die Kandidaten des Establishments hatten dem nur wenig entgegenzusetzen.

Rückblickend hätten wir damals, als Trumps Anhängerschaft wuchs, folgende Frage stellen sollen: Welche Fraktion der Reichen und Mächtigen wird sich auf seine Seite schlagen? Aber zu jener Zeit schien diese Frage sinnlos. Der Grund dafür war, dass die freie Marktwirtschaft in den USA eine politische Monokultur hervorgebracht hatte, in der die Vorstellung, verschiedene Sektoren der Elite könnten die Parteipolitik nutzen, um einander zu bekämpfen, anachronistisch wirkte. Die liberale Wirtschaftselite widmete sich seit dreißig Jahren den Finanzen, den globalen Konzernen, der Extraktion fossiler Brennstoffe und den Technologiemonopolen. Diese Elite bevorzugte eine Mitte-rechts-Regierung, aber die parteipolitischen Unterschiede spielten letzten Endes keine Rolle. Die meisten Großunternehmen spendeten Kandidaten beider Parteien Geld.

Zwar hatten sich im Jahr 2015 Zehntausende ruinierte Kleinunternehmer und entlassene Arbeiter der rechten Tea-Party-Bewegung angeschlossen und riefen nach einem Ende der Globalisierung, der Menschenrechte und der Einwanderung. Aber diese Forderungen widersprachen den Interessen der Wirtschaftselite so vollkommen, dass sie nur bei schrulligen Figuren wie Charles und David Koch Unterstützung fanden, die bereit waren, für ein aussichtloses libertäres Projekt 400 Millionen Dollar aus dem Fenster zu werfen.

Diese Tatsachen prägten die Konsenseinschätzung der Meinungsforschung. Im April 2016 nahm ich an einer Sitzung mit dem Clinton gewogenen politischen Berater Stan Greenberg teil, der den Korrespondenten des Guardian versicherte, bei der kommenden Präsidentenwahl zeichne sich ein »Erdrutschsieg« Clintons ab, der die Republikaner zerstören werde. Greenberg begründete diese Prognose mit der Entstehung einer »neuen amerikanischen Mehrheit«, die Afroamerikaner, Hispanics, Millennials und alleinstehende Frauen umfasse; diese Gruppen stellten 54 Prozent des Wahlvolks und ihr Anteil wachse weiter. Daher sei es unmöglich, dass die Republikaner mit einem gesellschaftlich konservativen Programm bei der Wahl die Oberhand behielten. Die Aktivisten am rechten Rand der Republikaner versuchten nicht einmal, die Wahl zu gewinnen, erklärte uns Greenberg: Sie wollten lediglich den Kern der Partei dafür bestrafen, dass sie Obama nicht habe stoppen können.5

Trump sicherte sich die Nominierung der Republikaner, indem er eine neuartige konservative populistische Bewegung aufbaute. Das Wachstum dieser Bewegung spaltete die herrschende Klasse, die sich entscheiden musste, wo ihre geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen lagen. Und diese beiden Entwicklungen ermöglichten es Trump, ein zeitweiliges Bündnis zwischen dem Mob und der Elite zu schmieden, wie es Hannah Arendt beschrieben hatte. Dieses Bündnis wollte die wirtschaftliche und politische Ordnung zerstören, die in den Augen ihrer Anhänger vollkommen und dauerhaft war.

Im Jahr 2012 besuchte ich eine Versammlung der Tea Party in Phoenix im US-Bundesstaat Arizona. Die Teilnehmer waren eine Schar angenehmer Spinner, die in der analogen Ära stecken geblieben waren. Vor Beginn der Versammlung hatte ich die Kollegen, die mich begleiteten, aufgefordert, die Ansichten dieser Leute zu respektieren. Am Ende des Treffens standen die Leute Schlange, um mir Akten und CDs, um die sie Zettel mit handschriftlichen Notizen gewickelt hatten, zu übergeben. Darunter war eine dicke Akte über die Kontroverse um Obamas Geburt, eine sorgfältig recherchierte Zeitreihe zu der Katastrophe in der amerikanischen Botschaft in Bengasi, wo kurz zuvor vier amerikanische Angestellte getötet worden waren, sowie die üblichen wirren Theorien, welche die Existenz des Klimawandels leugneten. Nachher nahm ich die CDs, Akten und Broschüren, in denen all ihre verrückten Obsessionen beschrieben waren, und ließ mich von meinem Kameramann dabei filmen, wie ich sie in einen Mülleimer warf. Ich möchte erklären, warum ich das tat.

Anfangs hatte ich die Tea Party ernst genommen. Im Jahr 2008 berichtete ich über die Massenmobilisierung rechter Wähler, die den Kongress dazu bewog, Präsident Bushs Vorhaben eines 780-Milliarden-Dollar-Rettungspakets für die Banken zu Fall zu bringen. Andere Kommentatoren taten die Tea Party als astroturf (Kunstrasen) ab, als fingierte Graswurzelbewegung. Aber in meinen Augen war sie authentisch: Sie wurde durch berechtigte Wut auf die Wall Street motiviert, die dafür sorgte, dass die Normalbürger für die Finanzkrise bezahlen mussten. Mit wachsender Faszination verfolgte ich, wie die Tea Party den Parteiapparat der Republikaner von unten eroberte. Ich besuchte die Kundgebungen dieser Leute und ertrug ihre mürrischen Blicke, weil mir klar war, dass die bestehende Ordnung nicht überleben würde. Ich wollte herausfinden, was danach kommen würde.

Im Jahr 2012 hatte es allerdings den Anschein, als hätte sich die Tea Party in eine Sackgasse manövriert – diesen Eindruck teilten auch viele Teilnehmer an jener Versammlung in Phoenix. Da die Republikaner den gemäßigten Mitt Romney zu ihrem Präsidentschaftskandidaten gekürt hatten, wollten die meisten der Anwesenden nicht zur Wahl gehen. Zwar hatte Paul Ryan, der an Romneys Seite für das Amt des Vizepräsidenten kandidierte, ein alternatives Budget vorgelegt, das Steuersenkungen, Kürzungen der Gesundheits- und Sozialprogramme und eine Verringerung der staatlichen Bürokratie vorsah. Aber der Tea Party ging es nie nur um wirtschaftliche Fragen. Diese Bewegung war auch eine Revolte evangelikaler Christen gegen das moderne Leben, eine Revolte misogyner Männer gegen die Befreiung der Frau, eine Revolte gegen Einwanderung, Homosexuellenrechte und Diversität und vor allem eine Revolte gegen Präsident Obama, denn vielen dieser Leute passte seine Hautfarbe nicht.

Von Romneys Niederlage im November 2012 bis zu dem Augenblick im Juni 2015, als Trump in seinem Tower eine goldene Rolltreppe hinunterfuhr, war die Tea Party in dem politischen Ghetto gefangen, das ich in Phoenix besucht hatte, denn neben dem heiligen Amerika gibt es seit jeher ein profanes Amerika. In einigen Staaten sieht man entlang den schier endlosen Autobahnen nichts anderes als die Neonschilder von Pornokinos und Spirituosenläden sowie die Flagge der Konföderierten. In diesen Regionen würden die Jesus-Eiferer nie breiten Zuspruch erhalten. Ihre moralischen Grundsätze erlaubten es den Evangelikalen nicht, sich unter die Leute zu mischen, die in Trumps Casinos gebannt vor den einarmigen Banditen hockten oder in einer Filiale der Fast-Food-Kette Hooters den Kellnerinnen auf die Brüste starrten.

Die Evangelikalen waren unbeirrbar nette Menschen – selbst wenn sie vor Abtreibungskliniken verängstigten Frauen Plastikfötusse vor die Nase hielten. Sie hatten moralische Grenzen. Trump löste dieses Problem für die amerikanische Rechte: Er sprach die nicht netten Leute an, die amoralischen Figuren und die »Shitposter«, wie sich die im Internet aktiven Rechten selbst nennen.

Jeder Hollywoodfilm hat einen Text und einen Subtext. Der Subtext, der nie zu hören ist, weckt bei den Zuschauern den Wunsch, beim Verlassen des Kinos in den Krieg zu ziehen, den Planeten zu retten oder sich scheiden zu lassen. Donald Trump besitzt wie alle Demagogen ein angeborenes Talent dafür, Text und Subtext durcheinanderzubringen.

Der »Text« des Trump-Wahlkampfs war das Leben dieses Mannes: ein Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär – begleitet von Vorwürfen der Vergewaltigung und häuslicher Gewalt, von Trump selbst eingestandenen sexuellen Übergriffen und einem 25-Millionen-Dollar-Betrug auf Kosten von Collegestudenten. Zum Millionär wurde er durch Immobilienspekulation und enge geschäftliche Verflechtungen mit russischen Oligarchen und Ölscheichs. Indem die Republikanische Partei Trump zu ihrem Präsidentschaftskandidaten kürte, schrieb sie einen schockierenden neuen Subtext: Die Reichen müssen nicht einmal mehr den Anschein einer weißen Weste wahren, um Machtpositionen einnehmen zu dürfen.

Sobald der Wahlkampf begonnen hatte, führte Trump einen zweiten, nicht weniger schockierenden Subtext in das öffentliche Leben ein: die Botschaft, dass Fakten keinerlei Bedeutung haben. Im Juli 2015 beleidigte er Senator John McCain, der aus seiner Abneigung gegenüber dem neuen Präsidenten keinen Hehl machte, mit folgender Behauptung: »Er ist kein Kriegsheld. Er ist ein Kriegsheld, weil er in Gefangenschaft geriet. Ich mag Leute, die sich nicht gefangen nehmen ließen.«6

Die Bemerkung löste große Empörung aus. Daraufhin leugnete Trump einfach, diese Worte gesagt zu haben. Die Beleidigung, ihre virale Verbreitung über die sozialen Medien und das anschließende Dementi erzählten zwischen den Zeilen eine Geschichte, die sich von da an oft wiederholen sollte: Nichts von dem, was Trump von sich gibt, ist buchstäblich gemeint oder sollte ernst genommen werden. Keine seiner Äußerungen sollte an normalen Maßstäben für Wahrhaftigkeit oder Anstand gemessen werden. Mit seiner Bereitschaft zur unverhohlenen Lüge hob sich Trump von allen seinen Amtsvorgängern im Weißen Haus ab und fand Aufnahme in die Gruppe der herausragenden Kleptokraten des 21. Jahrhunderts: Putin, Erdoğan, Orbán und Netanjahu.

Bei Trumps Wahlkampfauftritten wurde eine dritte Schicht von Subtexten eingeführt. In der Tea Party wurde (zumindest vor laufender Kamera) normalerweise versucht, unverhohlenen Fanatismus zu vermeiden. Trump machte Schluss mit derartigen Freundlichkeiten und gab Rassisten, Sexisten und Islamfeinden grünes Licht: Von nun an durften sie ihrem aufgestauten Hass freien Lauf lassen. Bei seinen Wahlkampfauftritten versammelten sich wiedergeborene Christen, Amoralisten aus der Alt-Right-Bewegung und pornosüchtige rechtsextreme Fanatiker. Es herrschte eine Atmosphäre, in der das Publikum jedes Mal »Fotze!« schreien durfte, wenn Trump den Namen Hillary Clinton erwähnte.

Trump ist kein Faschist, und dasselbe gilt für die meisten Leute, die an seinen Wahlkampfveranstaltungen teilnahmen. Aber er nutzte eine Dynamik zwischen Redner und Publikum, die Erich Fromm während Hitlers Aufstieg theoretisch ergründete: Im Jahr 1941 schrieb Fromm, psychologisch sei die Bereitschaft, sich dem Naziregime zu unterwerfen, »vor allem die Folge einer inneren Ermüdung und Resignation«, eines Zustands, der »selbst in demokratischen Ländern für das Individuum sehr bezeichnend ist«.7 Woher im reichsten Land der Welt und in einer Gesellschaft von überschäumender kultureller Kreativität eine solche »innere Ermüdung und Resignation« rührt, ist eine der grundlegenden Fragen, die wir beantworten müssen, wenn wir erfolgreich Widerstand gegen diese neue Rechte leisten wollen.

Menschen, das verstand Trump, die die Nase voll haben, wollen keine vernünftigen Argumente und keine Prinzipien hören. Auch brauchen sie die Art von Freiheit nicht, welche die libertäre Rechte anbietet. Im Gegenteil: Sie fürchten die Freiheit. Sie wollen einen Führer, der sich über die Logik und die Wahrheit erhebt und ihnen sagt, dass alle ihre Vorurteile berechtigt sind. Es ist kein Geheimnis, warum die Leute, die zu Trumps Wahlkampfveranstaltungen strömten, sein Angebot annahmen. Aber warum nahm es auch ein Teil der Elite an? Was erhoffte sich dieser Teil der Gesellschaft von Trump?

Als der Wahlkampf um die Nominierung für den Präsidentschaftskandidaten der Republikanischen Partei anlief, investierten die Milliardäre, die Trump schließlich ins Weiße Haus bringen würden, ihr Geld zunächst noch in den Rechtsaußen Ted Cruz. Der Hedgefonds-Chef Robert Mercer, der später Trumps großzügigster Geldgeber werden sollte, spendete Cruz elf Millionen Dollar, und vier Mitglieder der Fracking-Dynastie Wilks gaben dem Senator aus Texas insgesamt fünfzehn Millionen Dollar. An der Spitze von Cruz' Lobbygruppe Keep the Promise (einem sogenannten Super-PAC, einem Political Action Committee) stand Kellyanne Conway, die später als Beraterin des Präsidenten Trump ins Weiße Haus wechselte.

Aber Cruz ging die Luft aus, während Trump in Schwung kam. Als Cruz im Mai 2016 aus dem Rennen um die Präsidentschaftskandidatur ausstieg, übernahm Mercers Gruppe kurzerhand die Wahlkampforganisation von Trump. Im August setzte die Gruppe Steve Bannon – in dessen rechtspopulistische Nachrichtenwebsite Breitbart News Mercer bereits zehn Millionen Dollar gesteckt hatte – als Chefstratege ein und machte Conway zur Wahlkampfmanagerin.

Nun schloss sich auch eine Nischengruppe von Wirtschaftsbossen mit eher traditionellen konservativen Vorstellungen Trumps Lager an, darunter der Casino-Magnat Sheldon Adelson, der Unternehmensplünderer Carl Icahn und Wilbur Ross, ein weiterer Unternehmensplünderer, der in den achtziger Jahren so wie Icahn an der Rettung von Trumps Casino-Unternehmen beteiligt gewesen war. Diese Männer sind aus demselben Holz geschnitzt wie Trump. Zu ihnen gesellten sich ein paar libertäre Technologiemilliardäre wie der PayPal-Gründer Peter Thiel, der im Jahr 2009 erklärt hatte: »Ich glaube mittlerweile nicht mehr, dass Demokratie und Freiheit miteinander vereinbar sind.«8

Die Koch-Brüder, die prominentesten Vertreter der Wirtschaftselite in der Tea Party, blieben aus ideologischen Gründen auf Distanz zu Trump. Aber sie überhäuften Republikanische Kandidaten mit Millionen, mobilisierten eine Armee von Stimmenwerbern und schleusten Schlüsselpersonen in Trumps Team ein, darunter den Gouverneur Mike Pence aus dem US-Bundesstaat Indiana. Die Kochs hatten das Experiment finanziert, mit dem Pence Indiana in ein Laboratorium für einen grausamen freien Markt verwandelt hatte, und nun machten sie ihn zum Vizepräsidenten.

Doch obwohl Trumps Rückhalt in der Elite wuchs, floss der Großteil der Spenden von amerikanischen Milliardären weiterhin in die Wahlkampfkasse von Hillary Clinton. Trump hatte das Glücksspiel, die Ölindustrie und die Tabakkonzerne auf seiner Seite. Aber Clinton genoss die Unterstützung fast des gesamten Silicon Valley, von Hollywood, des Großteils der Wall Street und der großen Mehrheit der S&P-500-Unternehmen. Sogar die Erbin des Walmart-Imperiums, das die Gewerkschaften in die Knie gezwungen hatte, hatte sich dem Clinton-Lager angeschlossen.

Nach Trumps Wahlsieg beeilten sich natürlich die meisten Wirtschaftsführer, einen Kniefall vor ihm zu machen, sich einen Platz in seinen Beratungsgremien zu sichern und sich einen Anteil an den Deregulierungsgewinnen zu sichern, die der neue Präsident der Wirtschaft versprach. Aber jene, die direkte Macht erhielten, stammten weiterhin aus dem kleinen rechtskonservativen Kreis, der das Projekt vorangetrieben hatte. Der Schulprivatisiererin Betsy DeVos wurde das Bildungsministerium anvertraut. Wilbur Ross wurde im Alter von 79 Jahren zum Handelsminister ernannt. Rex Tillerson, der an der Spitze von Exxon Mobil Forscher finanziert hatte, die den Klimawandel leugneten, bekam das Außenministerium. Robert Mercers Tochter Rebekah wurde in Trumps Übergangsteam berufen, und Jared Kushner, der Schwiegersohn des Präsidenten, wurde Chefberater und vertritt Trumps Geschäftsinteressen im Weißen Haus.

Es ist eine übertriebene Vereinfachung, von einer »Übernahme der US-Politik durch die Großkonzerne« zu sprechen, wie es die linke Autorin Naomi Klein tut.9 Vielmehr war es eine Übernahme durch eine Minderheitsfraktion der Wirtschaftselite, deren Angehörige aus Privatunternehmen stammten, die nicht von der Börsenaufsicht überwacht wurden und sich daher der öffentlichen Kontrolle entzogen und einander überlappende Ziele verfolgten: eine umfassende Deregulierung, einen Handelskrieg zur Stärkung heimischer Industrien und einen radikal verkleinerten Staat. Diese Leute – von Adelson bis zum Uber-Gründer Travis Kalanick – waren entschlossen, den Staat zu kapern, um ihren Unternehmen Gefälligkeiten, Verträge und privatisierte Vermögenswerte zu sichern. Sie mussten sich nicht den Spielregeln unterwerfen, die für börsennotierte Unternehmen galten, die sich unter für alle Konkurrenten gleichen Bedingungen auf dem Markt behaupten mussten.

Seit den frühen neunziger Jahren hatten diese Spielregeln etwas hervorgebracht, das Ähnlichkeit mit dem hatte, was Karl Marx einst als »kapitalistischen Kommunismus« bezeichnet hatte.10 Das Spiel funktioniert so: Da börsennotierte Unternehmen regelmäßig über ihre Finanzen Auskunft geben müssen, wird die durchschnittliche Gewinnmarge in einem Wirtschaftssektor vorhersehbar, insbesondere, wenn es sich um einen reifen Sektor handelt. Das Finanzsystem beginnt, wie ein Beteiligungsmechanismus zu funktionieren; jeder, der über Kapital verfügt, kann an den Gewinnen teilhaben. In der Zeit, als die Vereinigten Staaten eine industrielle Supermacht waren, machten Gewinne aus Finanzgeschäften nur 15 Prozent der gesamten US-Unternehmensgewinne aus. Bis Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts hatte sich dieser Anteil auf 40 Prozent erhöht.11 Solange sich jedermann ein Stückchen vom Kuchen sichern konnte und der Staat jene bestrafte, die sich nahmen, was ihnen nicht zustand – wie im Fall der Bilanzfälschungen beim Energiekonzern Enron oder im Analystenskandal, als 2002 herauskam, dass gleich mehrere Wall-Street-Banken betrügerische Aktienanalysen vorgelegt hatten –, hatten nur wenige Reiche etwas gegen die Vormachtstellung des Finanzkapitals einzuwenden.

Gleichzeitig war den Unternehmen bewusst, dass es in ihrem gemeinsamen Interesse war, dass der amerikanische Staat sie weltweit vertrat. Seit 1979 drängte die US-Regierung unermüdlich weniger mächtigen Ländern Deregulierung und Freihandel auf und borgte sich unablässig zu für die Vereinigten Staaten vorteilhaften Bedingungen Geld bei diesen Ländern. Die Globalisierung diente den Interessen der amerikanischen Wirtschaft, und die US-Regierung setzte ihre Macht ein, um sie der Welt aufzuzwingen, selbst wenn das zu einer Verarmung der traditionellen amerikanischen Industrieregionen führte. Das war die Abmachung.

Dann kam die Finanzkrise. Als klar wurde, welches der langfristige Preis für die Stabilisierung des Finanzsektors war – ständige staatliche Eingriffe, Bankenregulierung und eine gewaltige Staatsverschuldung –, entzogen die Reichen Amerikas sowohl der Globalisierung als auch der vom Finanzsystem gewährleisteten Chancengleichheit für die Unternehmen auf dem amerikanischen Markt ihre politische Unterstützung. Angesichts der wirtschaftlichen Stagnation, der neuen Belastungen, die der Klimaschutz den rohstoffintensiven Industrien aufbürdete, und der durch strengere Vorschriften geschmälerten Gewinne des Bankensektors kündigte ein Teil des amerikanischen Kapitals den politischen Konsens auf.

Statt der Globalisierung forderte dieser Sektor nun einen »nationalen Neoliberalismus«: Die freie Marktwirtschaft sollte nicht länger eine gutartige globale Strategie zum Wohl aller Reichen in der Welt sein, sondern nur noch der Bereicherung der amerikanischen Elite dienen, wenn nötig auf Kosten der Reichen im Ausland. Was den Finanzkuchen anbelangte, so beanspruchte diese Gruppe das Recht, sich als erste ihr Stück herauszuschneiden und sich auf Kosten aller anderen weitere Stücke zu nehmen. Trump war nicht der Kandidat, den sich diese Leute ausgesucht hatten: Das war Cruz. Aber Cruz erwies sich als Blindgänger.

Trumps atemberaubende Inkompetenz und seine verbale Brutalität beherrschen den politischen Alltag so vollkommen, dass viele Leute glauben, er sei die Krise. Aber in gewisser Weise ist er einfach nur das zufällige Gesicht der Krise.

Im Februar 2016 fand das letzte Superbowl-Finale der liberalen Ära statt. In den Werbepausen bekamen die Zuschauer die vertraute Mischung von ausländischen Autos und amerikanischen Kohlenhydraten zu sehen. In der Halbzeitpause trat Beyoncé auf, begleitet von einer Tanztruppe, deren Kostüme an die Outfits der Black Panthers im Jahr 1968 erinnerten. Die Anspielung auf die Black-Lives-Matter-Bewegung war unmissverständlich: Beyoncé stellte den Gegensatz zwischen der schlechten alten Zeit und der Gegenwart dar. Die Vereinigten Staaten waren nun eine multiethnische Demokratie, deren Wirtschaft sich erholte und die reif genug war, die Polizei davon abzuhalten, nach ihrem Gutdünken auf schwarze Bürger zu schießen. Das war der Subtext.

Dank der wirtschaftlichen Erholung, die im Frühjahr 2009 begonnen hatte, waren mittlerweile 17 Millionen neue Arbeitsplätze entstanden.12 Der Dow-Jones-Index, der im März 2009 unter die Marke von 7000 Punkten gefallen war, hatte sich wieder auf 17 ‌000 Punkte erholt und stieg weiter. Das Bruttoinlandsprodukt war auf 18 Billionen Dollar gestiegen und hatte sich damit seit Beginn des Aufschwungs um vier Billionen Dollar erhöht. Obendrein standen die Vereinigten Staaten kurz davor, wichtige Handelsabkommen zu unterzeichnen: Die Transpazifische Partnerschaft (TPP) und die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) waren geeignet, den Markt für amerikanische Güter und Dienstleistungen weiter zu vergrößern.

Warum sollte ein Teil der Elite all das im Namen des Wirtschaftsnationalismus aufs Spiel setzen? Warum kämpften die Unternehmen, die ein vitales Interesse an der Fortsetzung der Globalisierung und der parteiübergreifenden Wirtschaftspolitik hatten, nicht für eine klare Alternative? Um die erste Frage beantworten zu können, müssen wir uns die Koalition ansehen, die sehr unterschiedliche Unterstützer Trumps zusammengebracht hatte: Robert Mercer, die Koch-Brüder und Stephen Bannon.

Mercer hält keine öffentlichen Reden. Aber aus Gerichtsakten und Aussagen ehemaliger Mitarbeiter können wir auf seine Vorstellungen schließen: Er glaubt, die Gefahr von Atomwaffen werde überschätzt, die Verstrahlung Hiroshimas habe die Überlebenden gesünder gemacht, Afroamerikanern sei es besser gegangen, als sie noch keine umfassenden Bürgerrechte genossen, und der Klimawandel werde die Lebensbedingungen auf der Erde verbessern. Kollegen berichten, Mercer habe ihnen gegenüber erklärt, der Staat mache »die Starken schwach, indem er ihnen durch Steuern ihr Geld wegnimmt«.13