Fear Street 20 - Blutiger Kuss - R.L. Stine - E-Book

Fear Street 20 - Blutiger Kuss E-Book

R.L. Stine

4,4

Beschreibung

Zum Sterben schöne Ferien: April kann es kaum erwarten, den Sommer mit Matt am Meer zu verbringen. Doch alles läuft schief: Ihr Freund lässt sie links liegen und am Strand wimmelt es von Fledermäusen. Erst als sie Gabri kennenlernt, scheint sich das Blatt zu wenden. Gabri geht mit ihr auf den Jahrmarkt und abends am Meer spazieren. Dass Matt sie vor ihm warnt, tut sie als lächerlich ab. Schließlich würde niemand im Ernst glauben, dass Gabri ein Vampir ist – oder?  Der Horror-Klassiker endlich auch als eBook! Mit dem Grauen in der Fear Street sorgt Bestsellerautor R. L. Stine für ordentlich Gänsehaut und bietet reichlich Grusel-Spaß für Leser ab 12 Jahren. Ab 2021 zeigt Neflix den Klassiker Fear Street als Horrorfilm-Reihe!

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1

Jessicas Sandalen klapperten auf den Holzplanken des Bürgersteigs, als sie an den kleinen Läden und Restaurants vorbeieilte. Vor dem Strandkaufhaus, dem größten Klamottenladen von Sandy Hollow, blieb sie stehen und warf einen Blick ins Schaufenster.

Auf einem handgeschriebenen Schild war zu lesen: Bikinis nur zur Hälfte.

Jessica gluckste in sich hinein. Sollte das ein Witz sein? Gab es jeweils nur ein Unter- oder ein Oberteil zu kaufen?

Jessica ließ ihren Blick über die Badeanzüge im Fenster wandern.

Die Sonne war inzwischen hinter den niedrigen, schindelgedeckten Häusern entlang der Hauptstraße verschwunden. Aus der Pizzeria auf der anderen Straßenseite drangen laute Stimmen und Gelächter.

„Wie aufregend!“ dachte Jessica. „Endlich ist wieder Sommer! Eine neue Saison. Neue Leute.“

Sie strich ihr kupferfarbenes Haar zurück, das sich leuchtend von ihrem schwarzen Baumwollpulli abhob, und öffnete die Tür.

Sie ging an den Badeanzügen und Pareos vorbei zu einem Ständer mit bunten Sommerröcken, Oberteilen und leichten Kleidern. Ich brauche etwas, das sexy, aber nicht zu auffällig ist, überlegte Jessica und zog einen Rock mit rot-gelbem Blumendruck und passendem Top heraus, den sie sofort wieder zurückhängte.

Bevor sie weitersuchen konnte, hörte sie Schritte auf dem Holzboden und eine Stimme hinter ihr begrüßte sie mit einem munteren „Hallo!“ Als Jessica sich umdrehte, war sie verblüfft, Lucy Franks zu sehen, ein Mädchen aus der Stadt, das sie schon seit Jahren kannte.

Sie begrüßten sich. „Arbeitest du hier?“, fragte Jessica, deren Blick zurück zum Kleiderständer wanderte.

„Ja, aber nur abends“, antwortete Lucy strahlend. „Die Stadt füllt sich langsam. Bin ich froh!“

„Ich auch“, sagte Jessica und hielt ein braunes Top hoch.

„Nicht deine Farbe“, sagte Lucy hilfsbereit. Dann fügte sie hinzu: „Dein Haar sieht super aus. Meins ist die reinste Katastrophe. Wegen der Feuchtigkeit habe ich ständig diese blöden Löckchen.“

„Aber die feuchte Luft ist gut für die Haut“, erwiderte Jessica, hängte das braune Top zurück und fuhr mit der Hand über den Kleiderständer. Jessicas Haut war makellos glatt und cremeweiß und bildete einen reizvollen Kontrast zu ihren dunkelbraunen Augen und den vollen roten Lippen. Die langen rötlichen Haare, die ihre hohen Wangenknochen umrahmten, verliehen Jessica etwas Dramatisches und ließen sie fast wie eine Filmschauspielerin aussehen.

„Es ist cool, dass endlich wieder Leben in die Stadt kommt“, sagte Lucy, während sie einen Stapel mit T-Shirts in Übergröße zusammenlegte. „Sandy Hollow ist so öde im Winter!“

„Stimmt, es ist fast, als würde man irgendwo in der Antarktis leben“, bestätigte Jessica.

„Und was hast du diesen Sommer vor?“, fragte Lucy.

„Wahrscheinlich einfach ein bisschen chillen“, erwiderte Jessica. „Was hältst du von diesem Teil?“ Sie griff nach einem kurzen blauen Sommerkleid, bei dem die Träger im Nacken gebunden wurden.

„Wonach suchst du denn?“, erkundigte sich Lucy und kam zu Jessica hinüber. „Eher was Schickeres?“

„Nein, bloß nicht zu elegant“, sagte Jessica und hielt nachdenklich das Kleid hoch. „Ich habe morgen Abend ein Blind Date.“

Lucy kicherte. „Ein Blind Date? Wow! So was gibt’s also noch?“

Jessicas dunkle Augen leuchteten auf. „Ich bin mehr oder weniger dazu überredet worden. Die Freundin einer Freundin meinte, da wäre dieser nette Typ und …“

„Wie heißt er?“, wollte Lucy wissen. „Kenne ich ihn vielleicht?“

„Gabriel Martins“, antwortete Jessica. „Aber alle nennen ihn nur Gabri.“

Lucy schüttelte den Kopf. „Noch nie gehört.“ Sie nahm Jessica das dunkelblaue Kleid aus der Hand und betrachtete es. „Probier’s mal an. Es wird dir wahrscheinlich super stehen, bei deiner Größe und mit deinen schönen, langen Beinen. Du siehst echt aus wie ein Model.“

Jessica lachte. „Hey, Lucy, du weißt aber, wie man den Umsatz steigert.“

Lucy wurde rot. „Nein. Ich mein’s ernst, Jessica, wirklich.“ Sie gab ihr das Kleid zurück und Jessica ging in die Umkleidekabine, um es anzuprobieren. Es passte perfekt.

„Hier draußen ist ein Spiegel, wenn du einen brauchst“, rief Lucy zu ihr herein.

„Nicht nötig. Es sitzt optimal“, erwiderte Jessica.

Nachdem sie das Kleid gekauft hatte, trat sie hinaus auf die Hauptstraße. „Endlich wieder Sommer!“, dachte Jessica glücklich, als sie nach erfolgreicher Mission die Straße überquerte und sich auf den Heimweg machte.

Gabri Martins war hochgewachsen und sehr schlank, mit einem blassen, schmalen Gesicht. Seine glatten schwarzen Haare trug er aus der Stirn gestrichen. Er hatte dunkle Augen und ein breites, freundliches Lächeln, das nicht so recht zu seinem ernsten Gesicht zu passen schien.

„Mann, sieht der gut aus“, dachte Jessica, als Gabri ihr in schwarzen Jeans und einem blassblauen T-Shirt vor dem einzigen Kino im Ort entgegenkam.

Jessica war als Erste beim Kino gewesen. Sie fühlte sich unsicher und wusste nicht, wie sie ihn überhaupt erkennen sollte. Während die Schlange der lachenden, plappernden Sommergäste ins Gebäude strömte, hatte Jessica unter dem Vordach gewartet und nervös an ihrem neuen Kleid herumgezupft. Warum hatte sie sich bloß zu einem Blind Date überreden lassen?

Nach einer Weile stellte sie fest, dass sie die Einzige war, die noch wartete. Der Film hat bestimmt schon angefangen, dachte sie mit einem Blick auf die große Uhr vor dem Supermarkt. Gabri taucht bestimmt nicht mehr auf.

Doch dann stand er plötzlich vor ihr, warf ihr sein offenes, freundliches Lächeln zu und alle Nervosität schmolz dahin. „Entschuldige, ich bin ein bisschen spät dran“, sagte er, nahm ihren Arm und führte sie nach drinnen.

Im Kino war es warm und dunkel. Jessica stolperte im Gang, weil ihre Augen sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Gabri konnte sie gerade noch festhalten, bevor sie hinfiel.

„Na, super, Jessica!“, schimpfte sie im Stillen. „So hinterlässt man einen bleibenden Eindruck. Was bist du nur für eine tollpatschige Kuh!“

Sie setzten sich in eine der vorderen Reihen. Jessica ertappte sich dabei, dass sie alle paar Sekunden zu ihrem Begleiter hinüberschaute. Sie war viel zu abgelenkt, um sich auf den Film konzentrieren zu können. Gabris Augen schienen im flackernden Licht der Kinoleinwand zu glühen. Obwohl es sich um eine Komödie handelte, sah er mit unbewegter Miene zu.

Ungefähr nach der Hälfte der Vorstellung beugte er sich zu ihr herüber und flüsterte: „Gefällt dir der Film?“

„Nicht besonders“, antwortete sie ehrlich.

„Dann lass uns gehen“, sagte er und lächelte sie auffordernd an.

Wenig später standen sie vor dem Kino. Die Luft roch frisch und salzig. Schmale Wolkenfetzen huschten über den Vollmond.

Swanny’s, eine Eisdiele gleich neben dem Kino, war bis obenhin voll mit Teenagern. Draußen hatte sich bereits eine lange Schlange gebildet.

„Sollen wir uns etwas holen?“, fragte Gabri und zeigte auf die Schlange.

Jessica schüttelte den Kopf. „Nein, nur wenn du etwas möchtest.“

„Warum gehen wir nicht einfach an den Strand?“, schlug er vor. „Dort ist es ruhiger und wir können reden.“ Seine dunklen Augen hielten ihren Blick gefangen. Fast kam es ihr vor, als hätte er sie hypnotisiert.

„Äh, ja … warum nicht?“, brachte sie schließlich heraus und musste sich zwingen wegzuschauen.

„Er muss mich für einen schüchternen Trampel halten“, dachte Jessica bedrückt. „Dabei bin ich normalerweise so selbstbewusst. Warum fühle ich mich in seiner Gegenwart bloß so unbeholfen und unsicher?“

Sie gingen die Dune Lane entlang, die sich von der Stadt durch die hohen, grasbewachsenen Dünen bis zum Strand schlängelte. Es war nur ein kurzer Spaziergang, ungefähr zehn Minuten. Der tiefstehende, helle Mond schien sich mit ihnen zu bewegen und ihnen den Weg zu weisen.

Nachdem sie die Düne hinuntergerutscht waren, zogen sie ihre Schuhe aus. Der weiche Sand fühlte sich feucht und kühl unter Jessicas Füßen an. Sie genoss dieses Gefühl, die frische, salzige Luft und das weiße Licht des Mondes. Und vor allem genoss sie es, dies alles mit jemandem zu teilen.

Jessica holte tief Luft und schloss die Augen. „Es riecht so gut“, sagte sie glücklich und schlang die Arme um ihren Oberkörper, als wollte sie sich selbst umarmen.

„Ist dir kalt?“, fragte Gabri. Seine Stimme klang besorgt.

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass er sie anstarrte. „Dein Kleid ist toll“, sagte er. „Ich dachte nur, dass du vielleicht darin frierst. Also, ich …“

Jessica schüttelte den Kopf. „Weißt du, was ich jetzt am liebsten tun würde? Rennen!“

Bevor er antworten konnte, war sie schon losgeflitzt. Ihre nackten Füße wirbelten den nassen Sand auf, das Donnern der Wellen brauste in ihren Ohren und die Meeresbrise wehte ihr das kupferfarbene Haar aus dem Gesicht.

Es dauerte eine Weile, bis sie merkte, dass Gabri direkt neben ihr war und mit ihr Schritt hielt. Er flog genauso mühelos über den Sand wie sie. Seine dunklen Augen suchten ihre, während er die Arme seitlich ausstreckte, als wollte er im nächsten Moment abheben.

Jessica wandte sich vom Wasser ab und lief nun durch den tieferen Sand. Gabri folgte ihr grinsend, mal einen Schritt vorneweg, mal einen Schritt hinterher, aber immer an ihrer Seite.

Schließlich ließen sich die beiden in eine Düne fallen. Wie kleine Kinder kullerten sie lachend durch den Sand und das hohe Gras streichelte sanft ihre Haut.

Als sie nach einer Weile immer noch lachend, aber kein bisschen außer Atem, wieder aufstanden und sich den Sand aus den Sachen klopften, nahm Gabri ihre Hände.

Und zog sie zu sich heran.

Im Licht des Vollmonds sah er unglaublich gut aus.

Sie wusste, dass er sie küssen würde.

Und sie wollte es.

Er sagte kein Wort. Das musste er auch nicht. Diese dunklen Augen, der intensive, hypnotische Blick. Dieser Blick sagte alles.

Ehe Jessica wusste, wie ihr geschah, hatte Gabri die Arme um sie geschlungen.

Sein Gesicht kam näher. Immer näher.

Sie blickte in seine Augen und verfiel ihrem Zauber.

Plötzlich öffnete er den Mund.

Und die spitzen Fangzähne kamen zum Vorschein.

Hell und scharf leuchteten sie im Mondlicht.

Sanft, ganz sanft, hob Gabri Jessicas Kinn an.

Und grub seine Zähne tief in ihre blasse, zarte Kehle.

2

Jessica stöhnte auf. Sie stemmte die Hände gegen Gabris Schultern und schubste ihn weg.

„Hey!“, rief er, erschrocken über ihre Kraft. Seine spitzen Vampirzähne schimmerten im Mondlicht.

„Du Idiot!“, fauchte Jessica und schubste ihn noch einmal. „Ich bin auch eine Unsterbliche!“

„Was?“ Verblüfft taumelte Gabri einen Schritt zurück.

Jessicas Augen wirkten plötzlich riesengroß und glühten rot in der Dunkelheit. Ihre Fangzähne glitten heraus.

„Woher soll ich das wissen?“, fragte Gabri mit verkniffener Miene.

Das Glühen verschwand aus Jessicas Blick. „Und ich hab mir extra ein neues Kleid gekauft“, murmelte sie frustriert.

„Du hättest ja auch was sagen können“, maulte Gabri und verschränkte die schlanken Arme vor der Brust.

„Ach, und was, bitte schön?“, erwiderte Jessica hitzig. „Hi. Nett, dich kennenzulernen. Ich bin ein Vampir, und du?“

Gabri stieß einen genervten Seufzer aus und versetzte dem Sand einen Tritt, um Jessicas spöttischem Blick auszuweichen.

„Wie konnte ich nur so blöd sein, mich auf ein Blind Date mit einem Einheimischen einzulassen?“, murmelte sie.

„Du hast mir den ganzen Abend verdorben!“, quengelte Gabri weiter, die Arme immer noch trotzig verschränkt.

„Oooch, du Armer! Du kannst einem echt leidtun“, entgegnete sie höhnisch. „Ist das deine Masche? Dass jemand anders für dich Blind Dates mit armen, ahnungslosen Mädchen arrangiert? Kriegst du nicht mal alleine eine Verabredung auf die Reihe?“

„Halt einfach die Klappe“, knurrte Gabri und starrte aufs Wasser. „Ich glaub’s einfach nicht. Zuerst hast du so süß und unschuldig getan.“

Jessica lachte. „Ich bin süß“, sagte sie und fügte hämisch hinzu: „Leider wirst du das jetzt nicht mehr herausfinden.“

Gabri schnaubte frustriert. „Aber ich brauche diesen besonderen Saft!“, rief er aus und wandte sich zu ihr. „Ohne ihn werde ich umkommen.“

„Hey, wo hast du denn den Text her? Aus einem alten Horrorfilm?“, höhnte Jessica und schüttelte amüsiert den Kopf. Sie fasste sich an die Stirn und wiederholte mit übertrieben hoher, verzweifelter Stimme seine Worte: „Ohne diesen Saft werde ich umkommen.“

„Du bist nicht witzig“, sagte er leise. „Du bist fies. Richtig fies.“

Eine heftige Bö vertrieb die Wolken, die vor dem Mond hingen, und am Strand wurde es plötzlich so hell, als hätte jemand einen Scheinwerfer eingeschaltet. In dem kalten weißen Licht wirkte Gabri um hundert Jahre gealtert. Sein Gesicht ist das eines Teenagers, genau wie meins, dachte Jessica, während sie ihn unauffällig musterte. Aber seine Haut ist so bleich und spröde und viel zu fest über die Wangenknochen gespannt. In diesem Licht wirken seine Augen alt – uralt und böse.

„Hör mal, Gabri“, sagte Jessica in sanfterem Ton. „Ich brauche diesen ‚Saft‘ auch. Es war ein langer, kalter Winter.“

Sie unterbrach sich und warf herausfordernd ihre Mähne über die Schultern, als eine Gruppe Jugendlicher mit Kühltaschen und Boogie-Boards an ihnen vorbeilief. Ein Junge, der ein Stück hinter den anderen ging, blieb bei ihrem Anblick einen Moment wie angewurzelt stehen, bevor er hastig den Anschluss an seine Kumpel suchte.

„Das Kleid scheint gar nicht so schlecht zu sein“, sagte Jessica und strich es mit beiden Händen glatt. Mit ihrem Blick folgte sie dem Jungen, der sie angestarrt hatte. „Frisches Blut“, murmelte sie hungrig.

„Frisches Blut“, wiederholte Gabri so leise, dass seine Stimme beinahe vom Wind übertönt wurde. „Frisches Blut – den ganzen Strand rauf und runter. Und ich gerate ausgerechnet an dich.“

„Tja, so was kann einen echt aussaugen, was?“, gluckste Jessica.

Gabri runzelte ärgerlich die Stirn.

„Hey, du Idiot. Das war ein Witz!“, rief sie und schubste ihn aus Spaß in die Düne. „Hast du denn überhaupt keinen Sinn für Humor?“

„Mach das ja nicht noch mal!“, sagte er mit einem drohenden Unterton in der Stimme. Plötzlich hob er vom Strand ab und schien wie ein Drachen schwerelos über ihr zu schweben. „Wenn es um Blut geht, habe ich nicht den geringsten Sinn für Humor.“

„Er versucht mir Angst einzujagen“, dachte Jessica. „Aber da kann er sich auf eine Überraschung gefasst machen. So leicht bin ich nicht zu erschrecken. Und wenn er mich angreift, reiße ich ihn in Stücke.“

Sie und Gabri zogen sich in den Schatten zurück, als zwei Jungen an ihrer Düne vorbeigingen. Die beiden wollten offenbar zu einer Gruppe von Kids, die unten am Strand ein kleines Lagerfeuer entzündet hatte.

„Frisches Blut“, hauchte Gabri, seine Stimme nur ein leises Flüstern. „Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Vielleicht ist der Abend doch nicht verschwendet.“

„Und, was hast du vor?“, fragte Jessica. Sie gab sich keine Mühe, den Spott in ihrer Stimme zu verbergen. „Noch ein Blind Date abmachen?“

Gabri ignorierte sie. „Ich habe Durst“, flüsterte er voller Verzweiflung. „Großen Durst!“ Er hob die Arme über den Kopf und begann, sich wie ein Balletttänzer um die eigene Achse zu drehen.

In diesem Moment trieben dunkle Wolken über den Mond und tauchten die Dünen in völlige Finsternis. Das Donnern des Ozeans wurde lauter und der Wind fegte in heftigen Böen über den Strand.

Verborgen von dem hohen Strandhafer wirbelte Gabri schneller und immer schneller um seine eigene Achse. Als sich die Wolken kurz darauf verzogen, das bleiche Licht des Mondes wieder schien, der Ozean sich beruhigte und der Wind sich legte, hatte er sich in eine schwarz und purpurrot schimmernde Fledermaus verwandelt. Die dunklen Augen des Tiers fixierten Jessica eindringlich, das aufgerissene Maul enthüllte spitze Fangzähne, die mit weißem Geifer bedeckt waren.

Er zischte sie an und stürzte sich auf ihr Gesicht, sodass Jessica gezwungen war, zurückzuweichen und sich mit den Armen zu schützen. Fauchend schlug er mit den Flügeln und stieg steil in die Luft, bis ihn der nachtschwarze Himmel verschluckte.

Im nächsten Moment verwandelte sich auch Jessica in eine Fledermaus und schoss in die Höhe, um ihrem geflügelten Gefährten Gesellschaft zu leisten.

„Ich bin durstig. So durstig“, dachte sie.

Ich brauche das Blut auch.

Ich brauche es unbedingt.

Monica Davis trug ihre Sandalen in der Hand und sank beim Gehen mit den Füßen in den feuchten Sand ein.

„Mir ist kalt“, jammerte ihre Freundin Elly und joggte mit hochgezogenen Knien hinter Monica her, als könnte sie das aufwärmen.

„Ich finde, die Luft fühlt sich gut an“, sagte Monica mit geschlossenen Augen. Die Gischt spritzte auf ihre lockigen blonden Haare.

„Oh!“, schrie Elly und packte Monica am Arm. „Sind das da etwa Fledermäuse?“

Monica keuchte erschrocken auf, als plötzlich zwei dunkle Umrisse über ihnen schwebten. „Lauf!“, kreischte Elly und zerrte Monica am Ärmel.

Doch ihre Freundin hielt sie zurück. „Nachts gibt es jede Menge Fledermäuse am Strand“, beruhigte sie Elly lächelnd. „Sie leben dort drüben. Siehst du?“ Monica zeigte auf eine dunkle, bewaldete Insel draußen im Meer, die hinter einem kleinen Anleger zu sehen war. Ihre Silhouette hob sich gegen den purpurfarbenen Horizont ab.

„Wohnt dort jemand?“, fragte Elly. „Man sieht gar kein Licht.“

„Ich glaube, es gab da früher mal Strandhäuser“, antwortete Monica. „Aber da man nur per Boot auf die Insel kommt, lebt dort bestimmt niemand mehr. Nur Fledermäuse.“

„Sie sind so unheimlich“, murmelte Elly. Sie hielt sich dicht bei ihrer Freundin, den Blick unverwandt auf die beiden Fledermäuse gerichtet, die nebeneinanderherzufliegen schienen.

„Ach, was. Die sind völlig harmlos. Sie flattern einfach nur durch die Gegend“, sagte Monica leise.

Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, stürzte sich eine der beiden Fledermäuse auf Elly.

Ihr blieb nicht mal die Zeit aufzuschreien oder auszuweichen.

Sie sah funkelnde rote Augen.

Hörte das Rauschen des Windes, einen schrillen Pfiff und einen Angriffsschrei.

Dann spürte sie, wie das Tier ihre Haare packte und dabei an ihrem Gesicht vorbeistrich. Heiß und feucht. Haarig. Widerlich klebrig.

Es kratzte sie.

Schlug mit den Flügeln gegen ihre Wange.

„Hilf mir!“, kreischte sie. „Oh, Monica – bitte tu doch was!“

3

„Hilfe! Monica!“

Elly wedelte hysterisch mit den Armen und versuchte, den Angreifer zu vertreiben.

Monica war im ersten Moment vor Schreck wie erstarrt, stürzte dann aber los, um ihrer Freundin zu helfen.

Als sie auf Elly zulief, sauste auch die zweite Fledermaus im Sturzflug herab. Monica schrie auf und hob die Hände, um sich zu schützen.

Sie spürte einen kalten Luftzug, als das geflügelte Wesen an ihr vorbeischoss.

Zu Monicas großer Verblüffung griff die zweite Fledermaus die erste an. Sie stürzte sich auf sie, zischte angriffslustig und versuchte, sie von Elly wegzutreiben.

Vor Wut laut kreischend, wehrte sich die erste Fledermaus gegen den Angriff. Doch die zweite schnappte und drängelte mit funkelnden roten Augen so lange, bis sie die erste verjagt hatte.

Während die beiden Mädchen noch mit offenem Mund dastanden, schossen die beiden Fledermäuse in die Dunkelheit davon.

„Alles in Ordnung?“, fragte Monica und umarmte ihre Freundin. Elly zitterte am ganzen Leib. „Ich denke schon“, murmelte sie mit unsicherer Stimme.

„Lass uns von hier verschwinden“, sagte Monica.

So schnell sie konnten, liefen sie zurück zu der kleinen Siedlung von Sommerhäuschen am nördlichen Ende des Strands.

Monica wurde bewusst, dass der ganze Angriff höchstens zehn Sekunden gedauert hatte.

Doch diese zehn Sekunden hätte sie am liebsten aus ihrer Erinnerung gestrichen.

„Was war bloß mit diesen Fledermäusen los?“, fragte sie sich, den Blick auf den blauschwarzen Himmel gerichtet.

Am südlichen Strandende, ein ganzes Stück hinter den Sommerhäusern und den grasbewachsenen Dünen, ragte eine hohe Felsklippe ins Meer. Im Schatten des riesigen Granitfelsens, der verlassen und still dalag, landeten zwei Fledermäuse. Sie wirbelten mit atemberaubender Geschwindigkeit um die eigene Achse, veränderten ihre Gestalt und traten sich kurz darauf als Junge und Mädchen gegenüber.

„Was sollte das?“, knurrte Gabri. Er warf Jessica einen finsteren Blick zu und stemmte wütend die Hände in die Hüften.

„Mir blieb keine andere Wahl“, erwiderte sie hitzig, ohne sich einschüchtern zu lassen.

„Aber ich bin so durstig!“, rief er. „Nur ein Schluck …“

„Nein“, sagte sie fest.

„Was geht dich das eigentlich an …?“, begann er.

Mit einer ungeduldigen Bewegung warf sie sich das lange Haar über die Schulter. „Hast du gesehen, was am Strand los war?“, schnaubte sie. „Deinen Angriff haben jede Menge Leute beobachtet.“ Sie gab ihm keine Chance, etwas zu erwidern. „Willst du etwa alle aufschrecken, bevor der Sommer überhaupt begonnen hat? Benutz doch mal dein Gehirn, Gabri! Oder ist das auch schon ausgetrocknet?“

Gabri fauchte sie wütend an. Es war ein erschreckendes Geräusch, das eher von einem Tier als von einem Menschen zu stammen schien. Seine Fangzähne glitten heraus.

Doch Jessica wich nicht zurück. „Ein bescheuerter Angriff wie dieser reicht aus, um das ganze frische Blut zu verscheuchen. Womöglich sperrt die Stadt den Strand, bis das Fledermausproblem gelöst ist.“

Gabri wandte sich ärgerlich ab, weil er nicht zugeben wollte, dass sie recht hatte und dass er sich blöd verhalten hatte. „Sie war so süß, so reif“, murmelte er.

„Du bist ein Volltrottel“, sagte Jessica abfällig. „Hab ich das schon erwähnt?“

Er drehte ihr den Rücken zu und starrte die Felsen an, die zum Kliff hin steil anstiegen. „Ich hab die Nase voll von deinen Beleidigungen“, zischte er mit bitterer Stimme.

„Das war keine Beleidigung. Das war ein Kompliment“, witzelte sie.

Mit wutverzerrtem Gesicht fuhr er zu ihr herum. „Wie alt bist du eigentlich?“, fragte er.

„Was?“ Lachend erwiderte sie: „Jedenfalls alt genug, um schlauer zu sein als du.“

Sein brennender Blick zog sie in seinen Bann. Sie versuchte, ihm auszuweichen, aber es gelang ihr nicht. „Du hältst dich wohl für besonders clever, was?“

Sie nickte.

„Und du denkst sicher, du bist besser als ich.“

Jessica nickte noch einmal.

Wieder versuchte sie, sich von ihm abzuwenden. Aber die Macht seines Blicks war einfach zu stark.

Sie starrten sich eine Ewigkeit an, verbunden durch uralte, unsichtbare Kräfte.

„Was hältst du von einem kleinen Wettkampf?“, fragte er schließlich.

„Einem Wettkampf?“ Gegen ihren Willen fühlte sie sich zu ihm hingezogen.

„Genauer gesagt, einer Wette“, fügte er hinzu, während sich ein seltsames Lächeln auf seinem gut aussehenden Gesicht ausbreitete.

„Ich gewinne sowieso“, sagte sie mit flacher Stimme und ausdrucksloser Miene. Nur ihre Augen wirkten lebendig.

Sein Lächeln verschwand wieder. „Nein, du wirst verlieren.“

„Und worum geht es?“, fragte sie leise, während sein Blick sie immer mehr gefangen nahm. Und dann schrie sie: „Hör endlich auf, mich so anzustarren, Gabri!“

Zu ihrer Erleichterung wandte er gehorsam den Blick ab. Doch das kaum merkliche Lächeln, das seine Mundwinkel umspielte, verriet, wie sehr er es genoss, Macht über sie zu haben. „Willst du die Wette jetzt hören oder nicht?“, fragte er mit scharfer Stimme.

„Na klar.“ Sie trat neben ihn und lehnte sich gegen einen Felsen. Er fühlte sich an ihrem Rücken kühl an. Und beruhigend.

„Wir brauchen beide Blut“, sagte er und ließ seine Finger durch ihr langes Haar gleiten. „Und zwar dringend.“

„Komm auf den Punkt“, fuhr Jessica ihn an.

Ohne auf ihre Ungeduld einzugehen, kämmte er weiter ihre Mähne mit seinen langen, schlanken Fingern. „Warum testen wir nicht aus, wer von uns beiden besser darin ist, es sich zu beschaffen?“ Seine Finger, die sich langsam und rhythmisch durch ihre Haare bewegten, verursachten ihr eine Gänsehaut. „Warum finden wir nicht heraus, wer von uns beiden für diese jungen Menschen anziehender ist, wer mehr Erfolg bei ihnen hat?“

Jessica erschauerte, dann griff sie nach seinem Arm und entfernte sanft seine Hand aus ihrem Haar. „Was schlägst du vor, Gabri?“, fragte sie, ohne ihn loszulassen.

„Ich werde ein Mädchen in meine Gewalt bringen, bevor dir das Gleiche mit einem Jungen gelingt“, antwortete Gabri, dessen Gesicht beim Gedanken an diese Herausforderung aufleuchtete.