Fear Street 8 - Falsch verbunden - R.L. Stine - E-Book

Fear Street 8 - Falsch verbunden E-Book

R.L. Stine

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Beschreibung

Es sollte nur ein Spiel sein. Chuck, Deena und Jade haben jede Menge Spaß damit, anonyme Anrufe zu machen. Doch was so harmlos begann, wird schnell tödlicher Ernst. Denn Chuck ruft in der Fear Street an. Das hätte er besser nicht tun sollen, denn er hat einen Mörder am Apparat ... Der Horror-Klassiker endlich auch als eBook! Mit dem Grauen in der Fear Street sorgt Bestsellerautor R. L. Stine für ordentlich Gänsehaut und bietet reichlich Grusel-Spaß für Leser ab 12 Jahren. Ab 2021 zeigt Neflix den Klassiker Fear Street als Horrorfilm-Reihe!

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Vorwort

Pläne schmieden. Das konnte er am besten. Das war schon immer so gewesen. Er sah etwas, das er wollte, und überlegte sich, wie er es Schritt für Schritt erreichen konnte.

Klar hatte er oft Fehler gemacht. Manchmal hatte er auch Pech gehabt. Hin und wieder hatten sich ihm andere in den Weg gestellt. Seinen perfekten Plan ruiniert.

Diesmal würde ihm das nicht passieren.

Das hier war der beste Plan, den er je gehabt hatte. Der konnte gar nicht schiefgehen. Den durfte keiner durchkreuzen.

Während er in der Dunkelheit saß und ihn in Gedanken immer wieder durchging, verzog sich sein Gesicht zu einem verächtlichen Grinsen. Schade, dass er das tun musste. Er wollte doch niemandem wehtun.

Aber hatte er eine andere Wahl? Schließlich musste er an sich denken. Wenn es sonst keiner tat! Das hatte er schon früh gelernt, angefangen bei seinen Eltern.

Von nun an würde alles so laufen, wie er es wollte.

Er hatte sich einen genialen Plan zurechtgelegt. Nach außen hin schien alles ganz normal.

Aber jemand würde eine große Überraschung erleben.

Eine tödliche Überraschung.

Er musste bloß Geduld haben. Geduld haben und abwarten, bis der richtige Zeitpunkt gekommen war. Dann würde er handeln …

1

Die erste Septemberwoche

Die grüne, zähe Masse breitete sich aus wie etwas, das aus der Tiefe eines fauligen Moors aufgestiegen war. Sie setzte sich zitternd im Waschbecken fest, als wollte sie sich von hier nicht mehr verdrängen lassen oder plante einen Angriff.

Deena Martinson fasste mit einer Hand in das Keramikbecken und knetete die gelatineartige Masse langsam mit den Fingern durch.

„Igitt!“, sagte sie. „Bist du sicher, dass du dir das Zeug in die Haare schmieren willst?“

„Mach schon!“, antwortete ihre Freundin Jade Smith. Jade saß graziös auf einem Holzhocker vor dem Badezimmerspiegel; ein Handtuch lag auf ihren Schultern und ihr frisch gewaschenes, rotbraunes Haar hing ihr in feuchten Strähnen herunter.

„Ich weiß zwar, dass deine Mutter Frisörin ist“, meinte Deena, „aber das Zeug sieht aus wie das grüne Monster aus unserem letzten Kinofilm, das ganz Cincinnati aufgefressen hat. Und wie es sich erst anfühlt – widerlich!“

„Stell dich nicht so an“, sagte Jade. „Meine Mutter nimmt es immer für ihre eigenen Haare und es hat eine Superwirkung. Ihr Haar glänzt und hat Fülle.“

„Bist du sicher, dass es nicht voller kleiner grüner Monster mit rötlich leuchtenden Augen ist?“, witzelte Deena. Sie fing an, das Gel auf dem langen Haar der Freundin zu verteilen, das bald darauf schleimig-grün war und leicht nach Wackelpudding roch.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte sie, als sie damit fertig war.

„Jetzt lassen wir es trocknen“, sagte Jade. „Willst du es nicht auch ausprobieren? Wir könnten dir eine Igelfrisur verpassen.“

Deena befühlte ihr eigenes Haar, das so fein wie das eines Babys war. Es war ziemlich kurz, ziemlich blond und ziemlich glatt. Sie konnte es nur als Stufenschnitt tragen. Ihre Mutter sagte immer, mit ihrer Frisur würde sie wie ein Engel aussehen. Sie war zwar nicht sicher, ob ihr die Vorstellung behagte, doch eine Igelfrisur klang auch nicht besser. „Nee, danke“, sagte sie. „Ich habe schon genug Probleme mit meinen Haaren, ohne die ‚Geheimformel XYZ‘ – oder wie das Gel heißt – auszuprobieren.“

„Ich würde es wenigstens mal versuchen“, meinte Jade, aber sie drängte die Freundin nicht weiter, es schien ihr ziemlich egal zu sein. Sie klang sogar etwas gelangweilt – genauso gelangweilt wie Deena.

„Eine tolle Beschäftigung für Samstagabend“, sagte Deena und seufzte.

„Ja, ich geb’s zwar nicht gern zu“, erwiderte Jade, „aber ich bin froh, wenn am Montag die Schule wieder anfängt. Es wird schön sein, die anderen wiederzusehen und auf Partys und Sportveranstaltungen zu gehen.“

„Na ja“, meinte Deena.

„Das klingt ja nicht besonders begeistert.“

„Ach, ich weiß einfach nicht, was in nächster Zeit auf mich zukommt“, sagte Deena. „Alles wird anders werden.“

„Was meinst du damit?“

„Ich habe vorhin erfahren, dass mein Bruder Chuck zu uns ziehen wird.“

„Dein Bruder? Du hast doch gar keinen Bruder“, sagte Jade.

„Mein Halbbruder. Er ist aus Dads erster Ehe. Ich hab ihn bloß ein paar Mal gesehen. Er wechselt fürs letzte Schuljahr nach Shadyside über.“

„Wirklich?“ Jade war hellhörig geworden – das wurde sie immer, wenn es um Jungs ging.

„Reg dich ab, Jade. Chuck bringt einen bloß in Schwierigkeiten. Das ist auch der Grund, warum er herkommt. Eigentlich sollte er letztes Jahr den Highschool-Abschluss in Central City machen, aber er ist von der Schule geflogen. Seine Mom und mein Dad haben beschlossen, dass er in einer Kleinstadt wie Shadyside besser aufgehoben ist.“

„Rausgeflogen?“, fragte Jade. „Was hat er denn nur angestellt?“

„Ich bin nicht sicher“, sagte Deena. „Es hatte was mit den Leuten zu tun, mit denen er sich herumgetrieben hat. Einmal ist er sogar verhaftet worden. Er hat von klein auf Schwierigkeiten gemacht.“

„Klingt interessant“, meinte Jade und grinste frech.

„Ach, du würdest sogar Freddy Krüger interessant finden“, erwiderte Deena ironisch und ging in ihr Zimmer hinüber.

„Aber die Jungs in der Schule sind so leicht zu durchschauen“, sagte Jade und folgte ihr. „Das schreibt sich L-A-N-G-W-E-I-L-I-G, mit Großbuchstaben.“ Sie nahm das Handtuch von den Schultern, schüttelte ihr feuchtes Haar und drehte eine Pirouette; dabei bewunderte sie in dem großen Spiegel an Deenas Kleiderschrank ihre Figur. Sie trug einen rosa-weiß karierten Jogginganzug mit kurzen Ärmeln. Deena hatte zwar irgendwo gehört, dass Rothaarigen Rosa nicht stehen sollte, aber Jade sah in jeder Farbe des Regenbogens toll aus – und das wusste sie auch. Sie war überhaupt ganz schön eingebildet. Doch Deena musste zugeben, dass Jade auch genügend Grund hatte, sich was einzubilden.

„Was machen deine Haare?“, erkundigte Deena sich, um das Thema zu wechseln.

„Das Zeug muss noch einwirken“, antwortete Jade. Sie unterdrückte ein Gähnen, setzte sich auf Deenas Bett und betrachtete eingehend ihre perfekt gestylten Fingernägel. Sie sah sich im Zimmer um; ihr Blick blieb an einem himmelblauen Plastikobjekt auf dem Nachtkästchen hängen.

„Was ist das?“

„Mein neues Telefon“, sagte Deena. „Als mein Dad zum Vizepräsidenten der Telefongesellschaft befördert wurde, haben wir die neuesten Apparate bekommen.“

„Cool“, sagte Jade und nahm es in die Hand. „Es sieht ein bisschen aus wie das Cockpit eines Flugzeugs oder so was Ähnliches. Wofür sind die vielen Tasten?“

„Damit kann man Telefonnummern speichern“, antwortete Deena. „Man drückt auf eine Taste, und das Telefon wählt die Nummer automatisch. Mit diesem Knopf kann man das Mikrofon stumm schalten. Und damit“, sie zeigte auf einen Schalter am Mobilteil, „stellt man den Lautsprecher an, sodass alle im Zimmer das Gespräch mithören können.“

„Tatsache?“, fragte Jade. „Das klingt nach potenziellem Spaß. Ich hab ’ne Idee. Wessen Nummern hast du denn eingespeichert?“

„Noch nicht viele. Bloß die meiner Oma, die unserer Nachbarin MrsWeller und deine natürlich.“

„Meine? Ehrlich? Wie wähle ich sie?“

„Du brauchst bloß die Drei zu drücken.“

„Okay. Meine kleine Schwester Cathy passt heute Abend auf unsere kleinen Geschwister auf.“ Sie drückte die Drei und schaltete grinsend den Lautsprecher ein.

„Hallo“, sagte sie und hielt sich dabei die Nase zu, sodass sie erkältet klang. „Könnte ich bitte Miss Cathy Smith sprechen?“

„Am Apparat“, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. Durch den Lautsprecher klang sie dumpf und weit weg, als käme sie aus der Tiefe eines Brunnens.

„Hier spricht das Einkaufszentrum in der Division Street“, sagte Jade. „Miss Smith, ich muss Sie leider informieren, dass Sie zur ungepflegtesten Kundin des Monats gewählt worden sind.“

„Was?“, kreischte Cathy aufgebracht. „Ich war heute gar nicht dort!“

„Sie sind aber eindeutig identifiziert worden“, widersprach Jade. „Sie haben genau eine Stunde, um Ihren Preis abzuholen: ein Dutzend verblühte Margeriten.“

„Ein Dutzend was?“, ertönte Cathys unglückliche Stimme. Doch dann wurde sie misstrauisch. „Moment mal. Ich weiß, wer das ist. Das ist … Jade, das finde ich überhaupt nicht witzig –“

„Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie sprechen“, sagte Jade sachlich und drückte sich die Nase noch fester zu. „Hier ist die –“

„Mich kannst du nicht verarschen“, fuhr Cathy fort. „Such dir das nächste Mal jemanden aus, der so blöd ist wie du!“ Sie knallte geräuschvoll den Hörer auf die Gabel.

„Mist!“, sagte Jade. „Ich sollte es lieber bei irgendjemandem probieren, der meine Stimme nicht so gut kennt. Der nie erwarten würde, dass ich – ich hab’s! Deena, such doch mal Henry Ravens Nummer raus!“

„Henry Raven?“, fragte Deena. „Der ist doch ein Blödmann! Der hat nichts als seinen Computer im Kopf. Warum willst du mit dem telefonieren?“

„Pass auf“, sagte Jade. „Oder vielmehr: Hör zu – das wird gut!“ Sie nahm das Telefonbuch und gab eine siebenstellige Nummer ein. Erst ertönte das Klingeln eines Telefons, dann ein Klicken und schließlich die unverwechselbar langweilige Stimme von Henry Raven.

„Hallo?“

„Hallo, Henry, bist du das?“ Jade sprach so leise, dass es fast ein Flüstern war, und Deena fand, dass ihre Stimme geheimnisvoll und verführerisch klang.

„Ja, hier ist Henry. Wer ist da?“

„Du kennst mich nicht, Henry“, hauchte Jade, „aber ich beobachte dich schon seit Langem.“

„Wer ist da?“

„Mich macht deine Art an, Henry –“

„Soll das ein dummer Scherz sein?“

„Ich scherze nicht, Henry“, sagte Jade. „Ich meine es ernst. Du bist genau der Typ Mann, nach dem sich ein Mädchen wie ich sehnt …“

Am anderen Ende der Leitung entstand ein Schweigen. Plötzlich stotterte Henry: „Such dir ’nen anderen Typ! Ich habe keine Zeit für so was!“ Dann knallte er den Hörer auf die Gabel.

Die beiden Mädchen ließen sich laut lachend aufs Bett sinken.

„Hast du das gehört? Er hat keine Zeit für so was!“ Deena konnte nicht aufhören zu kichern.

„Das ist sogar besser gelaufen, als ich gedacht habe“, meinte Jade, als sie sich endlich beruhigt hatte. „Jetzt bist du dran.“

„Ich?“, fragte Deena erschrocken.

„Klar. Du hast mich richtig verstanden. Wir suchen uns –“

„Jade, nein!“, sagte Deena. „Ich kann mich noch nicht mal mit Leuten unterhalten, wenn ich ihnen gegenüberstehe!“

„Das ist es ja gerade“, erwiderte Jade. „Es ist viel leichter, wenn sie nicht wissen, wer du bist. Warte mal“, sie blätterte in Deenas Adressenbuch. „Wie wäre es mit Rob Morell?“

„Rob Morell?“, wiederholte Deena keuchend. „Für den schwärmen doch alle!“

„Na und? Er gefällt dir, nicht wahr?“

„Klar gefällt er mir“, sagte Deena, „aber als er letztes Jahr in meinem Geometriekurs war, wusste ich nie, was ich zu ihm sagen sollte.“

„Also, hier ist deine große Chance“, meinte Jade.

„Aber was ist, wenn er herausfindet, dass ich es bin?“

Jade ignorierte Deenas Protestschreie, gab die Nummer ein und hielt ihrer Freundin den Hörer hin.

„Aber was soll ich sagen?“, kreischte Deena entsetzt.

„Was dir ganz spontan einfällt.“

„Hallo?“, krächzte Deena mit dünner Stimme. Dann holte sie tief Luft und fuhr mit tiefer Stimme fort: „Könnte ich bitte Rob Morell sprechen?“

Einen Augenblick später ertönte eine verschlafene Jungenstimme über den Lautsprecher: „Hallo?“

„Hallo, Rob?“, flüsterte Deena so verführerisch wie möglich. „Was macht ein so gut aussehender Typ wie du am Samstagabend zu Hause?“

„Ich habe ein paar Videos ausgeliehen“, sagte Rob. „Wer spricht da überhaupt?“

„Deine heimliche Verehrerin“, antwortete Deena. Die Worte flogen ihr einfach zu.

„Meine was? Wie heißt du?“

„Das kann ich dir nicht sagen, weil es sonst kein Geheimnis mehr wäre.“ Deena staunte über sich selbst. Bis jetzt waren die Worte ihr so leicht gefallen, als würde sie sie aus einem Drehbuch ablesen.

„Wenn du mir deinen Namen nicht nennen willst, kannst du mir vielleicht sagen, wie du aussiehst“, meinte Rob. Er klang plötzlich nicht mehr schläfrig. Er klang interessiert!

Deena schloss die Augen und lehnte sich auf dem Bett zurück.

„Wie ich aussehe?“, wiederholte sie. „Nun, ich bin ungefähr einssechzig groß, wiege fünfzig Kilo und habe blondes, hüftlanges Haar. Meine Augen sind grün, und ich habe einen Schmollmund. Die meisten sagen, ich sehe aus wie Kim Basinger.“

„Hey, vielleicht könnten wir uns ja mal treffen!“, sagte Rob.

„Das würde ich gerne“, erwiderte Deena. „Du bist genau mein Typ.“

„Wie wär’s mit heute Abend?“, schlug Rob vor. „Oder morgen? Kann ich deine Telefonnummer haben?“

„Ich muss jetzt Schluss machen“, sagte Deena. „Aber ich melde mich bald wieder.“

Sie beugte sich vor, legte auf und sah Jade einen Moment lang an. Dann ließen sie sich nach hinten aufs Bett fallen und kreischten vor Lachen. „Er hat es geschluckt!“, rief Deena. „Ich glaube es einfach nicht! Er hat angebissen!“

„Du warst spitze!“, sagte Jade. „Du bist ein echtes Naturtalent. Jetzt bleibt er sicher den nächsten Monat zu Hause und lauert neben dem Telefon!“

„Du hattest recht“, gab Deena zu. „Es war wirklich einfach. Viel leichter, als persönlich mit jemandem zu reden.“

„Habe ich doch gleich gesagt. Wen sollen wir als Nächstes anrufen? Wie wär’s mit –“

„Heute nicht mehr“, meinte Deena und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Es wird langsam spät, meine Eltern können jeden Augenblick zurückkommen.“

„Was ist mit morgen?“, schlug Jade vor.

Deena schüttelte den Kopf. „Morgen Abend fahre ich mit meinem Dad zum Flughafen, um meinen Bruder Chuck abzuholen.“

„Grüß ihn schön von mir“, sagte Jade.

„Er kennt dich doch gar nicht.“

Jade strahlte ihre Freundin an. „Noch nicht“, meinte sie. „Aber meine innere Stimme sagt mir … dass sich das bald ändern wird.“

2

Auf dem Weg zum Flughafen war Deena ziemlich nervös. Langsam gefiel ihr die Vorstellung, einen Bruder zu Hause zu haben. Ihr wurde klar, dass ihr das möglicherweise große Vorteile einbringen würde – zum Beispiel konnte er sie seinen Freunden vorstellen. Dann fiel ihr wieder ein, was sie alles über Chucks Probleme gehört hatte. Plötzlich spürte sie ein dumpfes Gefühl in der Magengrube – vielleicht würde das Ganze doch nicht so positiv sein.

Auch ihr Vater wirkte angespannt, sogar noch mehr als sie. Ihr erster Eindruck von Chuck war vielversprechend. Sie hatte ihn das letzte Mal gesehen, als er ungefähr zehn war, und in der Zwischenzeit hatte er sich natürlich sehr verändert. Er war groß, und sein T-Shirt und die engen Jeans brachten die kräftigen Muskeln eines Sportlers zur Geltung. Er hatte dichtes, blondes Haar und strahlend blaue Augen. Deena wusste sofort, dass Jade ihn als Supertypen bezeichnen würde. Doch als sie näher kamen, hatte sie das Gefühl, dass mit dem Bild des gut aussehenden, netten Jungen von nebenan etwas nicht stimmte.

Zum einen war da sein Gesichtsausdruck. Deena konnte nicht genau sagen, was sie darin las. Es schien eine Mischung aus Verbitterung und Verachtung zu sein.

Als Deenas Vater ihm die Hand hinstreckte, tat Chuck so, als würde er es nicht merken. MrMartinson wirkte etwas verunsichert und lächelte nervös. „Chuck, du kennst doch deine kleine Schwester Deena noch.“

Chuck warf ihr einen Blick zu, als sei sie eine Kröte oder eine sonstige Form primitiven Lebens. „Hallo, Kid“, sagte er.

Kid? Dieses Jahr würde ätzend werden, wie Deena schlagartig klar wurde. Doch im nächsten Augenblick lächelte Chuck sie an; er hatte ein komisches, schiefes Lächeln, das einen ganz anderen Menschen aus ihm machte. Zögernd erwiderte sie sein Lächeln und fragte sich, was wohl als Nächstes kommen würde.

Auf dem Rückweg nach Hause wurde es noch verwirrender. Deena saß auf dem Rücksitz und hörte der Unterhaltung zwischen ihrem Vater und Chuck zu – wenn man das als Unterhaltung bezeichnen konnte. Denn eigentlich war es nur ihr Vater, der redete. Chuck grunzte lediglich hin und wieder. Einmal sagte er: „Mann, ist das ätzend. Ich sehe nicht ein, warum ich nicht zurück auf die Highschool in Central City kann.“

„Weil sie dich nicht wieder aufnehmen“, erwiderte MrMartinson. „Wie du selbst weißt, haben deine Mutter und ich mehrmals versucht, mit ihnen zu reden.“ Zum ersten Mal klang Deenas Vater irritiert, wenn nicht sogar verärgert. Deena hoffte, mehr darüber zu erfahren, warum Chuck von der Schule geflogen war. „Eines sollte dir klar sein –“, fing ihr Vater an.

Doch er wurde von einem ohrenbetäubenden Quietschen unterbrochen.

Als ein lauter Knall folgte, stieß Deena einen Schrei aus.

Glas splitterte. Noch ein Knall.

Eine Hupe ertönte, dann noch eine zweite. Jemand schrie laut auf.

Noch mehr quietschende Reifen.

Mit vor Schreck aufgerissenen Augen und offenem Mund trat MrMartinson auf die Bremse. Sein elfenbeinfarbener BMW schlitterte auf einen Haufen quer stehender Autos zu und blieb erst wenige Zentimeter hinter dem Vordermann stehen. Deena hörte, wie die Autos hinter ihnen ins Schleudern kamen.

„Raus aus dem Auto!“, schrie MrMartinson.

Hastig kletterten sie aus dem Wagen und brachten sich auf dem mit Gras bewachsenen Seitenstreifen in Sicherheit.

Über ihnen glitzerten Millionen von Sternen am klaren Nachthimmel. Chuck ging zu der Menschenmenge hinüber, die um die demolierten Autos herumstand. Neugierig folgte Deena ihm.

„Hey – kommt zurück!“, brüllte ihr Vater. Chuck beachtete ihn nicht und ging weiter. Deena zögerte, drehte sich kurz zu ihrem Vater um und lief dann hinter Chuck her.

An der Spitze der zusammengeprallten Autos stand ein roter Plymouth gegen die Mittelleitplanke gequetscht. Er war wie eine Ziehharmonika zusammengepresst und aus der Motorhaube stieg Rauch auf. Während Deena und Chuck darauf starrten, schossen Flammen unter dem Auto hervor und züngelten schnell zu den Türen hoch.

„Vorsicht!“, schrie jemand. „Es brennt!“

Die Menschenmenge wich zurück. Deena schaute voller Entsetzen zu, wie sich das Feuer allmählich ausbreitete. Sie machte noch ein paar Schritte rückwärts, um von dem brennenden Auto wegzukommen. Plötzlich fiel ihr auf, dass Chuck nicht mehr neben ihr war. Er stand ganz vorne in der Menge und starrte wie hypnotisiert in die Flammen.

Ein herzzerreißender Schrei ertönte: „Tuffy ist noch da drin!“

Deena drehte sich um und sah einen Jungen, der aus einer Platzwunde an der Stirn blutete. „Tuffy!“

„In dem Wagen ist ein Hund!“, rief jemand. Und jetzt konnte Deena im Rückfenster das Gesicht eines kleinen, schwarz-weißen Hundes erkennen. Er sprang auf und ab und bellte hysterisch.

Die Flammen krochen höher und höher.

Unvermittelt löste sich jemand aus der Menschenmenge und rannte auf das brennende Auto zu.

„Nein!“, brüllte ein Mann. „Es geht gleich in die Luft!“

Die Gestalt lief jedoch unbeirrt weiter.

Deena erkannte zu ihrem Entsetzen, dass es Chuck war.

„Chuck! Chuck! Komm zurück!“, schrie sie gellend.

Doch es war schon zu spät.

Das Auto explodierte und verwandelte sich in einen riesigen roten und orangefarbenen Feuerball.

3

Auch wenn es nach Mitternacht war, als sie endlich nach Hause kamen, und auch wenn am nächsten Morgen die Schule anfing – Deena konnte einfach nicht schlafen. Sie lag in ihrem Bett und dachte über all das nach, was an dem Abend passiert war.

Während die Menschenmenge in entsetztem Schweigen auf den Feuerball starrte, war Chuck mitten aus dem Rauch und dem Flammenmeer aufgetaucht. In diesem Augenblick hatte MrMartinson sie eingeholt. „Was ist los?“, fragte er.

Keiner antwortete. Alle starrten auf Chuck. Sein Gesicht und seine Hände waren mit Ruß verschmiert und sein Hemd hing ihm in Fetzen herunter. Er trottete zurück an den Straßenrand und trug den schwarz-weißen Hund auf dem Arm.

„Tuffy! Tuffy!“, schrie der kleine Junge.

„Chuck! Um Himmels Willen!“, stieß MrMartinson erschrocken aus.

Einen Augenblick lang ignorierte Chuck alle Umstehenden. Er streichelte das kleine Tier und redete beruhigend auf es ein. Nach ein paar Minuten blickte er auf und übergab den Hund seinem Besitzer. „Hier, Kid“, sagte er.

Die Mutter des Jungen, die auf der Wange einen großen blauen Fleck hatte, umarmte Chuck spontan. „Oh, vielen Dank“, sagte sie. „Du weißt ja gar nicht, wie sehr Timmy an dem Hund hängt. Du bist ein richtiger Held!“

„Ist schon in Ordnung“, sagte Chuck, er wirkte verlegen. „Ich hab früher auch einen Hund gehabt.“

Deena betrachtete ihren Halbbruder mit neuem Respekt. Er stand mit seinem komischen Grinsen da und hatte noch nicht mal einen Kratzer abbekommen, obwohl er in ein brennendes Auto gesprungen war.

Und jetzt, da sie in ihrem Bett lag, erinnerte Deena sich wieder genau daran, wie alle Umstehenden Chuck bewundernd angeblickt hatten. „Er muss echt mutig sein“, dachte sie.

„Oder verrückt.“

Am nächsten Morgen beschloss Deena, Chuck zu zeigen, wie stolz sie auf ihn war, und ihm das Gefühl zu vermitteln, dass er zu Hause war. Ihr Vater war schon zur Arbeit gegangen und ihre Mutter war wie immer spät dran.

Deena hatte keine Zeit für ein ausgiebiges Frühstück, daher füllte sie bloß zwei Schüsseln mit Cornflakes und frischen Heidelbeeren. Sie hatte ihre schon fast geleert, als Chuck in die Küche kam; er gähnte verschlafen.

„Hi Chuck“, sagte sie fröhlich. „Ich hab dir Cornflakes gemacht. Wenn wir uns beeilen, haben wir vor dem Unterricht noch ein bisschen Zeit. Ich könnte dich dann den anderen vorstellen.“

Einen Augenblick lang starrte Chuck sie wortlos an. „Vergiss es, Kid“, sagte er dann. „Ich brauche keine Hilfe, ich komme allein zurecht.“

„Aber ich wollte doch bloß …“ Deena hielt inne. Ihre Wangen glühten, als hätte er sie geohrfeigt. Er goss etwas Milch in seine Schüssel, ohne sich darum zu kümmern, ob sie überschwappte oder nicht.

Ein paar Minuten später betrat Deenas Mutter die Küche. Sie machte sich gerade einen Ohrring ans Ohr. „Beeilt euch!“, sagte sie. „Ich fahre euch noch schnell bei der Schule vorbei.“

Schweigend stand Chuck auf und leerte seine Schüssel in den Ausguss. Deena starrte ihn an. Was war bloß los mit ihm? War er wirklich verrückt?

Als Deena mittags in die Cafeteria ging, hatte sie Chucks Auftritt vom Morgen schon fast vergessen. Es war schön, wieder hier zu sein. Kurz nachdem sie ihr Tablett gefüllt und einen freien Platz gefunden hatte, schlenderte Rob Morell mit ein paar Jungen des Leichtathletikteams herein. Er bemühte sich, so cool wie immer zu wirken.