Fear Street 3 - Die Stiefschwester - R.L. Stine - E-Book

Fear Street 3 - Die Stiefschwester E-Book

R.L. Stine

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Beschreibung

Es geht wieder los. Rosalie hat das Gefühl, verfolgt zu werden. Bildet sie sich das alles nur ein, oder weiß ihr alter Feind Pylart über jeden ihrer Schritte Bescheid? Eines Nachts schreckt Rosalie hoch - zu entsetzlich waren die Stimmen, die sie gehört und die Bilder, die sie im Traum gesehen hat: Ambrose verzweifelt, Ambrose gefesselt, Ambrose entführt. Und bald wird aus ihrer Angst schreckliche Gewissheit, denn sie findet heraus, dass ihr Freund tatsächlich in den Fängen des so mächtigen wie skrupellosen Pylart ist. Wenn sie Ambrose retten will, bleibt ihr nur ein einziger Weg, um sich unbeobachtet durch Paris zu bewegen , doch der führt weit unter die Erde, an den Ort, der ihr schon einmal beinahe zum Verhängnis geworden wäre: in die Welt unter der Welt. Der Horror-Klassiker endlich auch als eBook! Mit dem Grauen in der Fear Street sorgt BestsellerautorR. L. Stine für ordentlich Gänsehaut und bietet reichlich Grusel-Spaß für Leser ab 12 Jahren. Ab 2021 zeigt Neflix den Klassiker Fear Street als Horrorfilm-Reihe!

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1

„Meine Haare sind einfach schrecklich!“

Emily Casey betrachtete ihr verzweifeltes Gesicht im Spiegel und warf die Haarbürste durch das Zimmer.

„Du bist nur so ausgeflippt, weil Jessie und Rich kommen“, sagte Nancy, die bäuchlings auf dem Bett lag und in einer alten Zeitschrift blätterte.

„Nein, ich finde meine Haare wirklich schrecklich“, beharrte Emily. Grollend kam sie rüber zum Bett und hob die Haarbürste vom Teppich auf. „Sie sehen aus wie eine Portion Spagetti“, sagte sie, während sie vor dem großen Spiegel an der Schranktür wieder ihre Haare bürstete.

„Woher weißt du denn, wie verknäulte Spagetti aussehen?“, fragte Nancy. „Du isst doch gar keine Spagetti. Du isst überhaupt kaum etwas.“

„Und warum bin ich dann so fett?“, jammerte Emily und strich sich die Haare aus dem Gesicht.

„Du bist nicht fett“, sagte Nancy und blätterte weiter. „Du bist nur nicht so zierlich wie Mama und ich. Du hast eben breitere Knochen. Du bist groß. Du bist …“

„Fett“, ergänzte Emily düster. Sie wusste genau, dass sie nicht wirklich dick war. Ihr war nur nach Jammern zu Mute. Wahrscheinlich hatte Nancy Recht. Vielleicht war sie nur so launisch, weil ihre neue Stiefschwester und ihr Stiefbruder heute einziehen würden. Sie konnte es nicht leiden, wenn Nancy Recht hatte.

„Ich finde es ätzend, dass du immer alles besser wissen musst“, sagte sie. „Warum klingst du nur immer wie eine große Schwester?“

„Als Nächstes beschwerst du dich über deine großen Hände“, prophezeite Nancy, machte die Zeitschrift zu und warf sie auf den Boden.

„Meine Hände?“

„Klar, dass sie zu groß sind. Das kommt unweigerlich danach. Zuerst deine Haare, dann deine Größe, dann deine großen hässlichen Hände.“

Emily seufzte. „Mein Haar ist einfach zu dünn. Es fällt nie richtig und hat keinerlei Spannkraft. Es hat gar nichts. Hör auf, dich über mich lustig zu machen.“

„Wozu hat man denn sonst eine große Schwester?“

„Weiß ich nicht“, sagte Emily trotzig, dann lachte sie.

„Du siehst gut aus“, sagte Nancy. „Wo hast du den kurzen Rock her? Aus meinem Schrank?“

„Nein, das ist meiner, glaube ich.“ Emily machte den Reißverschluss zu und zupfte die schwarzen Strumpfhosen zurecht, die sie drunter trug.

„Seit wann trägst du überhaupt Röcke?“, fragte Nancy, richtete sich auf und setzte sich auf die Bettkante.

„Ich wollte eben schick aussehen, du weißt schon, einen guten Eindruck machen.“

„Du bist ja richtig nervös“, sagte Nancy mit einem selbstgefälligen Lächeln.

Sie stand auf und ging rüber zum Spiegel. Ihre Designerjeans betonten ihre zierliche jungenhafte Figur, und das grüne Turtleneck-Sweatshirt passte einfach fantastisch zu ihrem kupferroten Haar. Im Gegensatz zu Emilys war Nancys Haar glatt und weich und fiel immer so, wie es sollte.

„Mama hat sogar einen Kuchen gebacken“, sagte Emily. „Ich glaube, sie ist auch aufgeregt.“

„Der Kuchen schmeckt wahrscheinlich nach Zement.“ Wie sie so nebeneinander standen, sahen die beiden Mädchen gar nicht wie Schwestern aus.

„Wie kannst du bloß so cool sein?“, fragte Emily, während sie die Zeitschrift aufhob und sie zurück auf das Regal zu den anderen legte. „Findest du es nicht auch aufregend, dass wir eine neue Schwester und einen Bruder bekommen?“

„Wir haben sie doch schon kennen gelernt“, sagte Nancy. Sie ging zum Fenster hinüber und blickte hinunter auf den Rasen, der sanft zur Fear Street hin abfiel. Es war ein sonniger Tag, warm für Dezember. Die spindeldürren Schatten der kahlen Bäume warfen ihr bizarres Muster auf die gelbe Tapete.

„Na und?“, rief Emily hitzig. „Sie kommen heute, um hier einzuziehen. Ich meine, für immer!“

„Ich geh sowieso aufs College nächstes Jahr“, sagte Nancy. „Außerdem zieht Jessie zu dir ins Zimmer. Du bist es also, die sich einschränken muss.“

Emily starrte ihre Schwester an, diese Worte überraschten sie. Emily war so aufgeregt gewesen, eine gleichaltrige Schwester zu bekommen, dass sie es nie als eine Einschränkung empfunden hatte.

Vielleicht war es eine Einschränkung. Vielleicht war es ja wirklich ein Opfer, ihre Privatsphäre einschränken und die Hälfte ihres Zimmers aufgeben zu müssen.

Sie hatte Jessie ein paarmal getroffen, und sie hatten sich jedes Mal prima verstanden. Aber das war nicht das Gleiche, als wenn Jessie jetzt bei ihnen lebte. Was, wenn sie sich als echte Nervensäge entpuppte?

Nein, das war Blödsinn, beschloss sie schnell. Nancy war so negativ. Emily würde sich von ihrer Schwester nicht noch nervöser machen lassen, als sie sowieso schon war.

„Einen Stiefvater zu bekommen, das ist die große Veränderung“, sagte Nancy und sah angestrengt aus dem Fenster, als ob sie es vermeiden wollte, Emily anzusehen.

Nancy hatte nie über Hugh Wallner sprechen wollen, den Mann, den ihre Mutter vor drei Monaten geheiratet hatte. Emily wusste, dass Nancy ihn eigentlich nicht leiden konnte. Emily mochte ihn auch nicht besonders. Er war so anders als ihr Vater. Beide Mädchen hatten wählen müssen, ob sie ihren alten Familiennamen behalten oder seinen annehmen wollten. Beide hatten sich dafür entschieden, ihren alten zu behalten. Das hatte ihren neuen Stiefvater sicher gekränkt, ein bisschen bestimmt. Aber er war meistens ernst und zurückhaltend und ließ es sich nicht anmerken.

„Solange Mama glücklich ist“, dachte Emily. Und ihre Mutter schien als MrsWallner sehr glücklich zu sein.

Emily setzte sich auf das neue Bett, das in der Nähe des Fensters stand, das Bett, in dem Jessie schlafen würde. Sie strich über das blau-rote Muster des Bettbezugs. Die Matratze fühlte sich neu und hart an. „Jessie ist in Ordnung“, sagte sie. „Sie und ich haben uns prima amüsiert bei Mamas Hochzeit.“

„Sie ist irgendwie ganz hübsch“, sagte Nancy. Sie machte niemals eindeutige Komplimente.

Plötzlich hörte man ein schnelles stampfendes Geräusch im Flur. Tiger, Emilys kleiner weißer Terrier, kam ins Zimmer gerast, mit Höchstgeschwindigkeit, wie immer. Er japste und schnaufte laut.

„Bleib unten!“, rief Emily.

Aber sie war nicht schnell genug. Der kleine Hund sprang ihr in den Schoß, stellte sich auf die Hinterbeine und streckte sich, um ihr das Gesicht zu schlecken.

„Nicht! Meine Haare! Bring mir nicht meine Haare durcheinander!“

Aber das verstand der Hund nicht. Als Emily Tiger endlich weggezogen hatte, stand ihr Haar auf der linken Seite wieder kerzengerade ab.

„Oh Tiger, ich liebe dich!“ Emily hob ihn hoch zu ihrem Gesicht und rieb ihre Nase an seiner. „Obwohl du meine Frisur zerstört hast.“

Sie setzte ihn zu Boden. Tiger wedelte mit seinem Stummelschwanz wild hin und her, dann trollte er sich aus dem Zimmer und lief die Treppe runter.

„Hey, da sind sie!“, rief Nancy und drehte sich zu Emily. „Was ist denn mit deinen Haaren passiert?“

„Sag, dass ich gleich runterkomme“, bat Emily mit einem Seufzer und wühlte in der Kommodenschublade nach ihrer Haarbürste.

„Sie sehen wirklich aus wie verknäulte Spagetti“, sagte Nancy beim Rausgehen. „Vielleicht solltest du einen Hut aufsetzen?“

„Danke für deine aufmunternden Worte, Nance.“

„Ich tu, was ich kann.“ Nancy verschwand.

„Los, kommt rein, kommt rein!“ Emily hörte, wie ihre Mutter Jessie und Rich begrüßte. „Ihr seht beide fantastisch aus. Wir sind alle so aufgeregt. Wo ist Emily?“

„Das Flugzeug hatte natürlich Verspätung, wie immer“, grummelte MrWallner.

„Na, jetzt seid ihr hier. Das ist doch am wichtigsten“, sagte Emilys Mutter.

Emily stand oben auf der Treppe und lauschte den aufgeregten Stimmen. Ihr Herz schlug laut.

„Es wird alles prima klappen“, dachte sie. „Es wird sogar richtig toll werden!“

Sie holte tief Luft und lief die Stufen runter, immer zwei auf einmal nehmend. „Hallo!“ Sie stürmte vorwärts, um Jessie zu umarmen. Jessie zog gerade ihren pflaumenfarbenen Mantel aus. Vor lauter Aufregung umarmte Emily den Mantel.

Beide Mädchen lachten.

„Trotzdem hallo!“, sagte Emily. „Du siehst toll aus!“

Jessie war ein sehr hübsches Mädchen. Alles an ihr war klein und zierlich, außer ihren Augen, die unglaublich groß und von einem hellen Blau waren. Sie hatte lange, wellige strohblonde Haare, eine schöne hohe Stirn und zarte helle Haut. Sie erinnerte Emily an alte Gemälde von Engeln, die sie im Museum gesehen hatte. Jessie trug einen blauen Pulli, den sie offensichtlich gewählt hatte, weil er gut zu ihren Augen passte, und ausgewaschene Jeans.

„Danke“, sagte sie zu Emily und gab ihrem Vater den Mantel. „Du siehst auch gut aus.“ Sie hatte eine sanfte leise Stimme, die genau zu ihrem Aussehen passte. Ihre Augen wanderten zu Emilys Haaren und verweilten dort einen Moment. Dann wandte sie sich an MrsWallner.

„Es ist schön, hier zu sein“, sagte sie überschwänglich. „Ich bin ganz begeistert von diesem Haus.“

Sie umarmte MrsWallner herzlich. Emily sah, dass ihre Mutter davon aufrichtig gerührt war.

„Hey, Rich ist auch noch da“, unterbrach Nancy Jessies Begrüßung.

„Aber wie könnten wir Rich vergessen“, sagte MrsWallner und strahlte Rich an. „Wie könnte ich so einen gut aussehenden jungen Mann vergessen? Auch wenn er eher der große Schweiger ist.“ MrsWallner zwinkerte, offensichtlich selbst erfreut über ihren kleinen Scherz.

Rich, der sonst ebenso blass war wie seine Schwester, wurde knallrot.

„Na, irgendjemand muss ja der Ruhige sein hier im Haus“, witzelte Nancy.

Alle außer Rich lachten. Er sah immer noch verlegen aus. Offensichtlich war es ihm peinlich, so im Mittelpunkt zu stehen. Er war dünn und drahtig und sehr schlaksig. Seine Haare waren blond wie die seiner Schwester, nur kurz. Er hatte einige Pickel am Kinn und riesige Füße. Mit seinen weißen Turnschuhen sah er aus wie ein Hase in einem Comic.

„Dreizehnjährige sind echt seltsam“, dachte Emily. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie es war mit dreizehn, obwohl das bei ihr erst drei Jahre her war. Sie hatte alle Erinnerungen daran verdrängt.

„Was liest du da?“, fragte Emily ihn.

Er hielt ein Buch in der Hand. Verlegen hob er es hoch und zeigte es ihr.

„Dieser Junge schleppt ständig ein Buch mit sich herum“, sagte MrWallner und schüttelte beinahe missbilligend den Kopf.

„Es – es ist Stephen King“, murmelte Rich so leise, dass Emily ihn kaum verstehen konnte.

„Friedhof der Kuscheltiere, das hast du doch auch gelesen, Nancy“, sagte Emily.

Nancy rümpfte die Nase. „Stephen King lese ich längst nicht mehr.“

„Jetzt, da sie in die Oberstufe geht, liest sie gar nichts mehr“, sagte Emily kichernd zu Jessie.

Jessie lachte, obwohl es wirklich kein guter Witz gewesen war.

„Ich freue mich, dass wir hier sind“, sagte Jessie mit ihrer flüsternden Stimme zu MrsWallner. „Ich bin sicher, dass wir uns hier sehr wohl fühlen werden.“

„Da bin ich auch sicher“, erwiderte MrsWallner.

„Es ist toll, dass ich jetzt eine Schwester in meinem Alter habe“, sagte Jessie zu Emily gewandt. „Wir können zusammen lernen und überall gemeinsam hingehen. Du musst mir Shadyside zeigen, und wir können zusammen kochen. Kannst du kochen? Und wir können die Kleider austauschen und …“

„Ich glaube kaum, dass wir das tun können“, sagte Emily plötzlich verlegen. Jessie war so viel zierlicher als sie.

„Es wird einfach fantastisch werden!“, rief Jessie und umarmte Emily.

„Ich habe einen Kuchen gebacken und belegte Brote gemacht“, sagte MrsWallner. „Ihr müsst doch hungrig sein nach dem Flug.“

„Ich bin wirklich am Verhungern“, sagte MrWallner und hielt sich mit beiden Händen den Bauch. „Das Warten auf Flughäfen schlägt mir immer auf den Magen.“

Er war groß und muskulös mit einer beginnenden Glatze und einem Kranz dunkler Haare rund um den Kopf. Auf Emily wirkte er immer ein bisschen verstimmt und unzufrieden, so als hätte er ständig eine Magenverstimmung.

„Ich bin sicher, Jessie und Rich würden vor dem Essen gern hochgehen, ihre neuen Zimmer sehen und auch gleich ein bisschen auspacken“, sagte MrsWallner und beachtete ihren Mann nicht.

„Das ist ein guter Vorschlag“, entgegnete Jessie und nahm ihren riesigen Koffer auf.

„Komm, lass mich den tragen“, sagte Emily und bereute dieses Angebot sofort, denn sie konnte den Koffer kaum heben.

„Ich bringe den Koffer später rauf“, schlug MrWallner vor und ging in die Küche.

Nancy zeigte Rich sein Zimmer, einen schmalen Raum, der bis vor ein paar Tagen noch die Rumpelkammer am Ende des Flures gewesen war.

„Mach schon, Jessie“, sagte Emily fröhlich. „Ich zeig dir unser Zimmer.“

„Klasse!“ Jessie lächelte MrsWallner zu. „Wir sind in ein paar Minuten wieder unten. Ich bekomme auch langsam Hunger.“

„Ich decke schon mal den Tisch“, sagte MrsWallner und folgte ihrem Mann in die Küche. „Hey, Hugh, iss nicht alles auf, wir wollen auch noch was!“

Jessie ging hinter Emily die Stufen, die unter ihren Schritten immer wieder knarrten, nach oben.

„Tadaa! Das ist es!“, sagte Emily und schob Jessie hinein. Jessie runzelte die Stirn, während sie ihren Blick in dem Raum umherwandern ließ. „Ziemlich klein“, murmelte sie.

„Was?“ Emily war sich nicht sicher, ob sie richtig gehört hatte. Jessie sprach so leise.

Mit immer noch gerunzelter Stirn ging Jessie hinüber zum Fenster, lehnte sich auf das Fensterbrett und sah hinaus. „Fear Street, was für ein Name!“

„Es ist eine ziemlich interessante Gegend hier“, sagte Emily.

„Wie lange wohnst du schon in dieser Bruchbude?“, fragte Jessie und drehte sich zu Emily um. Es klang mehr wie ein Vorwurf als eine Frage.

„Äh … ungefähr seit sechs Jahren, glaube ich“, antwortete Emily und dachte nach, wie alt sie war, als sie hierher gezogen sind. „Meine Eltern mögen alte Häuser, ich meine, mochten. Papa war sehr geschickt. Er reparierte gerne alles Mögliche.“

„Und ist deine Mutter immer so fröhlich und lebhaft wie heute?“, fragte Jessie, darum bemüht, schnell das Thema zu wechseln. Sie rollte mit den Augen. „Ich kann nur sagen: wow!“ Sie trat vom Fenster zurück, setzte sich auf Emilys Bett und legte sich hin, den Kopf in die Hände gestützt.

„Hoppla“, dachte Emily. Jessie war ja ganz anders, sobald die Erwachsenen nicht mehr in der Nähe sind. Sie war unten so nett und höflich gewesen, aber jetzt war sie ein ganz anderer Mensch. Wie war sie wirklich?

„Mama ist nur ein bisschen aufgeregt“, antwortete Emily. Sie fühlte sich unbehaglich.

Jessie setzte sich auf und nahm Maxie, Emilys geliebten alten Teddy, in die Hand. „Du siehst deiner Mutter gar nicht ähnlich“, sagte sie und musterte Emily von oben bis unten.

„Sie starrt auf meine großen Hände“, dachte Emily. Sie verschränkte ihre Hände hinterm Rücken und ging hinüber zum Schreibtisch. „Nein, aber meine Schwester sieht genau aus wie sie, ganz genauso.“

„Mir hat rotes Haar nie gefallen“, sagte Jessie und zog eine Grimasse. Dann sah sie rüber zu Emily. „In dem Schrank ist nicht mehr viel Platz. Wo soll ich meinen Kram unterbringen?“

Sie musste den argwöhnischen Ausdruck in Emilys Gesicht bemerkt haben, denn sie entschuldigte sich sofort. „Tut mir Leid. Bitte vergiss alles, was ich hier oben gesagt hab. Ich bin einfach so nervös.“

„Ich bin auch nervös“, gab Emily zu. „Du musst dich nicht entschuldigen.“

„Doch, muss ich. Es war dumm von mir. Aber das ist alles ziemlich viel gewesen. Es war echt schrecklich.“

Emily drehte den Schreibtischstuhl um und sah Jessie an. „Wieso, was meinst du denn?“

„Sobald Mutti herausgefunden hatte, dass Papa wieder heiratet, konnte sie es gar nicht erwarten, Rich und mich zu ihm abzuschieben. Es ist nicht besonders cool, herausfinden zu müssen, dass deine eigene Mutter dich nicht bei sich haben will.“

„Das tut mir Leid“, sagte Emily sanft.

„Rich und ich waren wie Jo-Jos“, erzählte Jessie verbittert und starrte auf den Teppich. „Wir sind unser Leben lang immer zwischen den beiden hin und her geschoben worden.“ Sie warf den Teddybären von einer Hand in die andere. „Außerdem habe ich ja alle zurücklassen müssen, all meine Freunde. Auch meine beste Freundin, Debra. Debra und ich sind wirklich eng befreundet – ich vermisse sie jetzt schon.“

„Das kann ich mir vorstellen“, sagte Emily mitfühlend. „Ich habe nie richtig darüber nachgedacht, wie schwer das alles für dich sein muss.“

„Tja, Pech“, sagte Jessie, die Emily immer noch nicht anschauen konnte.

„Ich werde versuchen, alles zu tun, um …“, fing Emily an, aber das vertraute Tapsen von Hundepfoten unterbrach sie. Tiger platzte ins Zimmer, sprang aufs Bett und leckte Jessie das Gesicht ab.

„Uuuuh! Geh weg!“, schrie Jessie und schob Tiger von sich fort. „Hör auf!“ Sie schubste ihn heftig weg. Der kleine Terrier jaulte verwundert auf, als er zu Boden fiel. „Dieser grässliche Hund macht meinen neuen Pullover ganz haarig!“, schrie Jessie. „Bring ihn hier raus!“

„Tiger, raus!“, befahl Emily. Das ließ sich der Hund nicht zweimal sagen. Seinen Stummelschwanz hoch erhoben drehte er sich beleidigt um und trottete hinaus.

„Er ist wirklich ein lieber Kerl“, sagte Emily. Sie war verärgert über Jessies überzogene Reaktion.

„Ein furchtbares Vieh!“, sagte Jessie und untersuchte ihren Pullover nach Hundehaaren.

„Er haart nicht besonders“, sagte Emily.

„Er hätte ihn fast zerrissen“, schimpfte Jessie. „Weißt du, was dieser Pullover gekostet hat?“

„Er ist sehr hübsch“, sagte Emily ein wenig verlegen. Um das Thema zu wechseln, fragte sie: „Du musst doch jetzt Hunger haben. Wollen wir wieder zu den anderen runtergehen?“

„Ja, lass uns etwas essen.“ Jessie werkelte immer noch mit Emilys altem Teddy herum.

„Den hab ich zu meinem ersten Geburtstag bekommen“, sagte Emily. „Er war immer mein liebstes Kuscheltier.“

„Wirklich?“ Jessie zwickte den Bären in die Nase. „Er sieht schon ziemlich mitgenommen aus, oder?“ Sie lachte, ein flüsterndes, hohes Lachen.

„Er ist mir immer noch wichtig“, erwiderte Emily.

„Ich glaube, ich nehme dieses Bett, Emily. Ich kann es nicht leiden, direkt unter dem Fenster zu schlafen.“

„Aber das ist schon immer mein Bett gewesen“, protestierte Emily. „Wir haben dieses neue Bett unter dem Fenster extra für dich gekauft.“

„Tja, ich glaube, dann haben wir ein Problem.“

2

Jessie lachte erschrocken und hoch.

Emily war zu geschockt, um ein Wort herauszubringen. Passierte das alles wirklich?

Jessie erstickte ihr Lachen schnell. „Es tut mir echt Leid“, sagte sie und blickte auf den Teddy. Seinen Kopf hatte sie in der linken, seinen Körper in der rechten Hand. Graues Füllmaterial fiel durch den offenen Hals. „Es war ein Versehen, echt.“ Sie sah zu Emily, wie um zu sehen, ob sie ihr glaubte.

Emily glaubte ihr nicht. „Du hast Maxie den Kopf abgerissen“, sagte sie. Aus irgendeinem Grund klang das eher wie eine Frage, nicht wie ein Vorwurf.

„Nein, er ist einfach abgegangen“, versicherte Jessie. „Wirklich! Ich hab ihn kaum angefasst. Du glaubst mir doch, oder?“

Mit ihren großen blauen Augen sah sie Emily eindringlich an, als ob sie sie auffordern wollte zuzustimmen, dass es ein Unfall war. Emily erwiderte nichts. Ein Schatten fiel in das Zimmer. Draußen hatte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben. Es wurde so schnell dunkel im Zimmer, dass es Emily fast unheimlich wurde. Sie hatte das seltsame Gefühl, dass Jessie diese Dunkelheit verursacht hatte. Emily erschauderte, ihr war plötzlich kalt.

Es war natürlich dumm, aber dieses Bild von Jessie, die in dem düsteren Zimmer auf Emilys Bett saß mit dem entzweigerissenen Maxie im Schoß, blieb Emily noch sehr, sehr lange im Gedächtnis.

Der Schatten hob sich wieder.

„Hey, Leute!“ Nancy kam ins Zimmer. Sie hatte ein paar Kassetten in der Hand. „Wie geht’s? Willst du die zurück, Emy? Ich hab sie mir letzte Woche ausgeborgt und …“ Sie brach mitten im Satz ab. „Hey, was ist denn mit Maxie passiert?“

„Es war ein Versehen!“, verteidigte Jessie sich. „Wirklich!“ Sie stand schnell auf, ging zu Nancy hinüber und hielt ihr die beiden Teile des Teddys hin. „Er ist einfach kaputtgegangen.“ Ihre Stimme zitterte.

Nancy legte die Kassetten auf den Tisch und nahm Jessie den kaputten Teddy aus der Hand. „Vielleicht kann man ihn ja wieder nähen?“, meinte sie und sah Emily an.

„Vielleicht“, sagte Emily zweifelnd.

Nancy wechselte das Thema: „Hey, dein Bruder ist aber ein Stiller“, sagte sie zu Jessie. Sie reichte Emily den Teddy.

„Erzähl mir was Neues“, antwortete Jessie trocken „Klar, Rich ist still, aber wenn man ihn besser kennt, ist er nur noch ruhig.“

Nancy lachte. Auch Jessie lachte über ihren eigenen Scherz, nur Emily war nicht nach Lachen zu Mute.

„Jessie hat ja richtig gemeine Züge“, dachte sie. „Jetzt ist sie eben mal ein paar Minuten hier und schon zieht sie über ihren eigenen Bruder her.“

Aber vielleicht beurteilte sie Jessie da zu hart. Schließlich hatte Jessie nur einen Scherz gemacht. Und vielleicht war die Geschichte mit ihrem Teddy wirklich nur ein Versehen gewesen. Maxie war schließlich nicht mehr der Jüngste. Sollte sie sich nicht eigentlich Mühe geben, damit Jessie sich wohl fühlte als willkommenes Familienmitglied?

„Sie gehört jetzt schließlich zur Familie“, sagte sich Emily. „Ich muss mit ihr auskommen.“

„Es muss ganz schön schwer für Rich sein“, sagte Emily mitfühlend. „Wieder in einer neuen Schule anfangen zu müssen ist hart.“

„Erzähl mir mehr“, sagte Jessie bitter. Dann lachte sie nervös. „Rich wird das schon schaffen, denke ich. Wir beide reden eigentlich gar nicht so viel miteinander. Es ist schwer, an ihn heranzukommen. Er lebt irgendwie in seiner eigenen Welt und schleppt immer eins dieser unheimlichen Bücher mit sich herum. Ich bin sicher, er ist der größte Stephen-King-Fan schlechthin. Er schreibt ihm sogar.“

Es wurde wieder dunkel. Der Himmel war jetzt ganz grau, und auch alle Farben im Zimmer waren nur noch als unterschiedliche Grauschattierungen zu erkennen.

„Ich fand Stephen King schon immer grässlich“, sagte Nancy. „Klar, jetzt in der Oberstufe habe ich sowieso keine Zeit mehr, irgendetwas anderes zu lesen als Schullektüre. Und College-Unterlagen natürlich.“