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Wer zuerst die Wahrheit sagt, hat viel zu verlieren ... ***Anrührende Hidden-Lovestory-Romance über die Verarbeitung von Kindheitstrauma*** ***Band 2 der Brighton-Reihe*** ***Wunderschön ausgestattet: Farbschnitt und Character Card in limitierter Auflage*** Amy Albrights Leben ist das reinste Gefühlschaos: Eine Fake-Beziehung, wiederkehrende Panikmomente und ein unerwarteter Kuss mit Fußballtrainer Casper, den sie eigentlich nicht leiden kann. Auch für Casper könnte der Augenblick, in dem Amy wortwörtlich in sein Leben stolpert, unpassender nicht sein. Ein schlimmes Kindheitstrauma droht, ihn einzuholen. Er setzt alles daran, niemanden hinter seine Fassade blicken zu lassen. Die magische Anziehung zwischen Amy und Casper fordert beide heraus und zwingt sie, sich ihren schmerzhaften Schatten zu stellen. In einem Spiel, in dem niemand seine Karten offenlegt, stehen sie vor der Entscheidung: Geben sie der Liebe eine Chance? Romantik und Spice – nach "Say It With A Love Song" lockt Katharina Katz ihre Leser*innen mit einer weiteren umwerfenden Liebesgeschichte ins malerische Brighton: 1. Say It With A Love Song 2. Feel It Like A Heartbeat Die Geschichte von Amy und Casper ist perfekt für dich, wenn du diese Tropes liebst: #Enemies to Lovers #Hidden Lovestory #Sports Romance
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Seitenzahl: 458
Veröffentlichungsjahr: 2025
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eBook: © 2025 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Grillparzerstraße 12, 81675 München
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www.gu.de/kontakt | [email protected]
ISBN 978-3-8338-9716-0
1. Auflage 2025
GuU 8-9716 03_2025_01
DIE BÜCHERMENSCHEN HINTER JOHANNAS PROJEKT
Verlagsleitung: Eva Dotterweich
Projektleitung: Ariane Hug
Lektorat: Katrin Fillies
Covergestaltung: ki36 Editorial Design, München, Bettina Stickel, Anika Neudert
eBook-Herstellung: Evelynn Ruckdäschel
BILDNACHWEIS
Illustrationen: Anja Karboul
Fotos: privat
Syndication: www.seasons.agency
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WARUM UNS DAS BUCH BEGEISTERT
Rauschende Wellen im Ohr, salzige Luft in der Nase – so poetisch und berührend über mentale Gesundheit zu schreiben, das kann nur Katharina.
Eva Dotterweich, Verlagsleitung
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
wie wunderbar, dass du dich für ein Buch von GU entschieden hast! In unserem Verlag dreht sich alles darum, dir mit gutem Rat dein Leben schöner, erfüllter und einfacher zu machen. Unsere Autorinnen und Autoren sind echte Expertinnen und Experten auf ihren Gebieten, die ihr Wissen mit viel Leidenschaft mit dir teilen. Und unsere erfahrenen Redakteurinnen und Redakteure stecken viel Liebe und Sorgfalt in jedes Buch, um dir ein Leseerlebnis zu bieten, das wirklich besonders ist. Qualität steht bei uns schon seit jeher an erster Stelle – jedes Buch ist von Büchermenschen für Buchbegeisterte gemacht, mit dem Ziel, dein neues Lieblingsbuch zu werden. Deine Meinung ist uns wichtig, und wir freuen uns sehr über dein Feedback und deine Empfehlungen – sei es im Freundeskreis oder online. Viel Spaß beim Lesen und Entdecken! P.S. Hier noch mehr GU-Bücher entdecken:
KATHARINA KATZ
Was ich dir mit meinem Buch auf den Weg geben möchte
Bücher zu schreiben, die Herzen höherschlagen lassen und gleichzeitig eine wichtige Botschaft vermitteln, ist für mich ein wahr gewordener Traum. Besonders das Thema mentale Gesundheit ist, gerade für uns Frauen, von großer Bedeutung und verdient so viel mehr Aufmerksamkeit. Danke, dass ihr mich auf dieser Reise in eine Welt voller großer Gefühle und tiefer Gedanken begleitet.
Weitere Bücher der Autorin:
Say It With A Love SongBesuche Katharina auf: www.katharinakatz.de
Und folge ihr auf:
@katharina.katz
@katharina.katz
Danke, alles wieder gut«, lüge ich.
Wie ich in solchen Momenten immer lüge.
Menschen möchten, dass alles wieder gut
ist, wenn sie bei einem meiner Panikmomente
dabei sind. Doch Casper mustert michmit einem wissenden Gesichtsausdruck.
»Ich weiß, dass nicht alles wieder gut ist.
Aber es fühlt sich vielleicht nicht mehr
lebensbedrohlich an?«
Ich nicke und lehne mich leicht vor.
Er ist nah. Sehr nah. Zu nah. Ich sehe jede
kleine Sommersprosse und dann verhaken
sich unsere Blicke. Die Luft zwischen uns
surrt. Wie auf Autopilot, als ob es keine
andere Richtung geben kann, nähern
sich unsere Gesichter.
In meinem Bauch kribbelt es und
mein Herz schlägt viel zu schnell. Caspers
Hand legt sich ganz leicht an meine Wange.
»Wir sollten nicht …«, sagt er leise.
»Ich weiß«, hauche ich und beuge michihm gleichzeitig weiter entgegen.
The Fray – Heartbeat
The Police – Every Little Thing She Does Is Magic
OneRepublic – Secrets
REO Speedwagon – Can‘t Fight This Feeling
Beyoncé & Shakira – Beautiful Liar
Taylor Swift – Lover (Taylor‘s Version)
Lady Gaga – Poker Face
Beyoncé – Single Ladies (Put a Ring on It)
Archer Marsh – Give Me Everything
Harry Styles – Sign of the Times
Lewis Capaldi – Someone You Loved
Little Mix – Secret Love Song
Starship – Nothing‘s Gonna Stop Us Now
Kings of Leon – Use Somebody
Adele – Someone Like You
Oasis – Champagne Supernova
The Kooks – Brighton
James Arthur – Say You Won‘t Let Go
Queen – I Want to Break Free
Liebe Leser:innen,
ich freue mich von ganzem Herzen, dass ihr nun auch mein zweites Buch der Brighton-Reihe in den Händen haltet. Egal, ob ihr das erste Buch gelesen habt oder nicht: Ich bin sicher, dass euch die Geschichte von Amy und Casper mitreißen wird.
Ein wichtiger Hinweis vorab: Es ist möglich, dass mein Buch Aspekte enthält, die euch belasten. Deshalb findet ihr auf > eine Info zu sensiblen Themen. Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte. Die psychologischen Ratschläge in meinem Buch, die dazu dienen, meinen Charakteren das Leben zu erleichtern, wurden von Pia Kabitzsch sorgfältig geprüft. Pia ist Psychologin, Speakerin und Bestseller-Autorin. Danke für deine Unterstützung, liebe Pia!
Ich wünsche euch viel Freude beim Lesen – passt gut auf euch auf!
Eure Katharina & euer GU-Team
PROLOG
Der Moment, in dem Verliebtsein zu Liebe wird, ist wie die Entspannungsphase des Herzens zwischen zwei Schlägen. Das Blut fließt in die Herzkammern und mit dem nächsten Schlag wird es in unseren Kreislauf gepumpt. In der ersten Phase des Verliebtseins fühlt man nur die Herzschläge. Padong. Padong. Padong. Aber erst die Pausen zwischen all der Aufregung, zwischen dem Geflittere und Geflirre, zeigen, ob sich die Herzkammern füllen. Und ob mit dem steten Padong. Padong. Padong genug Leben durch unseren Körper fließt, um aus Verliebtsein Liebe wachsen zu lassen.
TEIL 1
Auch während Ruhephasen arbeitet das Herz stärker als der Beinmuskel eines Läufers bei einem Sprint. Es schlägt etwa einhunderttausend Mal am Tag. Das sind durchschnittlich drei Milliarden Herzschläge im Leben.
KAPITEL 1
Ein plötzlicher Schmerz durchzieht meinen Körper, breitet sich von meinem Fuß in Richtung Kopf aus. Schwarze Punkte tanzen vor meinem Gesicht. »FUCK! Verdammte Scheiße, so eine absolute Oberkacke! Ich habe euch gleich gesagt, ich bin nicht für Absatzschuhe gemacht.« Ich reibe mir meinen geschundenen kleinen Zeh und schleudere die hohen goldenen Riemchensandalen mit einem letzten erbosten Blick in die Ecke des gemütlichen Wohnzimmers. Polly nimmt empört ihre Schuhe hoch und hält sie wie ein kleines Hundebaby im Arm. Ihre roten Locken bedecken die goldenen Mistdinger wie eine Decke, als sie sich darüber beugt, um zu schauen, ob sie durch meine rabiate Ausziehaktion eine Macke abbekommen haben.
»Mann, Amy, die waren teuer! Die habe ich mir von meinem ersten Gehalt gekauft, also bitte beweise ein bisschen mehr Feingefühl.« Polly versucht, böse zu schauen, sieht dabei jedoch eher aus wie ein Quokka, nicht umsonst mehrfach zum süßesten Tier der Welt gewählt. Mit ihren großen grünen Augen und dem Mund, den immer ein Lächeln umspielt, ist Polly kaum in der Lage, vorwurfsvoll zu gucken. Als ich gerade etwas erwidern will, prustet es neben mir plötzlich los. Emilie schnappt nach Luft und bittet zwischen zwei Lachsalven: »Hört auf, ich sterbe gleich.«
So schnell stirbt es sich nicht. Und es tut echt weh. Aber wie immer, wenn ich mit den beiden zusammen bin, ist meine Wut binnen Sekunden verraucht und ich stimme in ihr Gekicher ein. Polly schunkelt ihre Schuhe und Emilie kriegt sich gar nicht mehr ein vor Lachen. Ich beobachte die beiden und bin einmal mehr froh, dass ich sie meine Freundinnen nennen darf.
Emilie und Polly wohnen nun schon seit zwei Jahren zusammen in ihrer kleinen WG in der Nähe des Churchill Square, wo wir uns auch heute Abend treffen. Emilie ist damals aus Deutschland für ein Praktikum nach Brighton gekommen und in Pollys WG gelandet. Die beiden waren von Anfang an ein Herz und eine Seele, nur mein Bruder Jake hat Emilie den Start in England eher schwerer als leichter gemacht. Er war damals als Drummer der Band B.Heights ein echter Mädchenschwarm, groß, dunkelhaarig und ziemlich selbstverliebt. Doch als er Emilie traf, war irgendwas anders. Mit ihr war er wieder mehr wie der Jake, den ich kannte, und nicht so sehr der coole Drummer-Arsch, der seine Probleme mit reihenweise Mädels überdeckt. Sein einziger Kommentar zu meiner ausgezeichneten Analyse seiner Persönlichkeit war übrigens: »Du bist schon richtig in deinem Psychologiestudium, aber konzentriere dich doch bitte auf Leute, mit denen du nicht verwandt bist, okay?«
Seit Jake letztes Jahr dann endlich kapiert hat, dass Emilie wahrscheinlich das Beste ist, was ihm in seinem ganzen Leben passieren wird, sind auch wir Freundinnen. Und als Freundin merke ich ganz genau, wie schwer es Emilie manchmal fällt, dass Jake jetzt in London Songwriting studiert und sie sich nur noch an den Wochenenden sehen. Sie wäre wahrscheinlich mit ihm gegangen, hätte sie nicht gleichzeitig ein Wahnsinnsangebot in der Chocolaterie Bittersweet bekommen, in der sie während ihres Auslandspraktikums gearbeitet hat. Inzwischen läuft es sogar so gut, dass sie in der Chocolaterie mit eingestiegen ist und mit ihrer ehemaligen Chefin Carol überlegt, eine zweite Filiale des Bittersweet zu eröffnen. Aber heute Abend ist Emilie nicht in London oder in der Backstube, sondern hat mich zu ihrem Projekt erkoren.
Die kleine Wohnküche der beiden liegt voller Kleider, Schuhe, Gürtel und Taschen. Die Küchenzeile, in der Emilie sonst ihre Backkreationen testet, wurde kurzerhand zum Kosmetikstudio umgebaut. Bereits seit gefühlten Stunden cremen, pudern und schminken die beiden an mir herum. Meine Haare wurden auf Wickler gedreht, ausgedreht, geföhnt und weiß der Geier, was sonst noch alles damit angestellt wurde. Mehr als meine üblichen zwanzig Bürstenstriche auf jeden Fall. Ich seufze, während ich mich auf die bequeme Couch fallen lasse und meine schmerzenden Zehen massiere. »Vorsicht, dein Kleid zerknittert doch völlig!«, ruft Polly und zieht mich hoch. »Das Outfit soll wenigstens bis zum Ball halten. Du willst doch einen großen Auftritt hinlegen, oder?«
Der Ball. Die beiden kennen kein anderes Thema mehr. Seit ich ihnen verraten habe, dass ich heute Abend mit meinem Freund Raj zu dem großen Sportlerball des FC Brighton ins elitäre Ellington Grande Hotel gehen werde, drehen die beiden durch. Dabei ist alles daran völlig absurd. Ich bin wirklich die Letzte, die auf so einen Ball gehen sollte. Ich kann nicht tanzen, also, klar kann ich im Club meine Hüften schwingen, aber ich befürchte, das ist nicht die Art tanzen, die heute Abend angesagt ist. Ich laufe in Heels wie ein Storch im Salat und ich verstehe von Fußball ungefähr so viel wie vom texanischen Linedance. Nichts. Und trotzdem stehe ich geschminkt, gepudert und gestylt hier und die Mädels huschen um mich herum. Denn heute Abend werde ich zum ersten Mal als Rajs neue Freundin auftreten.
Amy Albright, die neue Freundin von Raj Yadev, dem Außenverteidiger des FC Brighton. Freundin, wie das klingt. Ich atme tief ein und langsam wieder aus. Eine Atemtechnik, die ich mir über die Jahre beigebracht habe, wenn mir eine Situation zu viel wird. Tief ein, langsam aus. Polly wedelt mit ihrer Hand vor meinen Augen herum. »Hallo? Jemand zu Hause? Du kannst nicht barfuß gehen! Hier, probier die an.« Mit einer hochgezogenen Augenbraue mustere ich die hohen Pumps, die zumindest vorn geschlossen sind, und steige dann widerwillig hinein. Sie quetschen mir zwar auch die Zehen, aber ich kann immerhin darauf laufen, ohne direkt hinzufallen. Ich gehe probeweise ein paar Schritte und dann vorsichtig die Treppenstufen zur Eingangstür hinunter, wo an der Garderobe ein großer Spiegel angebracht ist.
Vor mir steht eine Frau, die mir vage bekannt vorkommt. Die blonden Haare sind zu weichen Wellen frisiert, die mir auf einer Seite über die Schulter fallen und auf der anderen von einer eleganten Spange gehalten werden. Das dunkelgrüne Kleid mit den zwei schmalen Trägern fällt fließend bis auf den Fußboden, wo es weit auffächert. Ich drehe mich ein bisschen und hebe einen Fuß, um den Schuh zu begutachten. Polly und Emilie haben ganze Arbeit geleistet, ich sehe aus wie jemand, der auf einen eleganten Ball geht. Ich sehe aus wie jemand, der einen Freund in der dritten Fußballliga haben könnte, ein Freund, der vielleicht mit der Mannschaft in diesem Jahr aufsteigt. Ich sehe nur sehr entfernt aus wie Amy Albright, die in Jeans und T-Shirt lebt und Bier lieber aus Flaschen trinkt als fancy Drinks aus kleinen Gläsern. Vielmehr sehe ich aus wie eine Version von mir, die ihrem Freund Raj einen Gefallen tun und möglichst gut in diese neue Welt passen will. Spiegel-Amy verzieht ihr Gesicht zu einem vorsichtigen Lächeln, das jedoch eher einer Grimasse gleicht. Die Amy im Spiegel wird heute Abend am Arm von Raj durch das elegante Hotel schweben und niemand wird ihr ihr kleines Geheimnis ansehen. Ich straffe die Schultern und lächle mir erneut zu, diesmal mit etwas mehr Überzeugung. »Wird schon«, flüstere ich.
»Und, wie findest du dich?«, höre ich Emilie von oben.
»Ich sehe aus wie jemand, der auf einen Ball geht«, rufe ich und bin mir nicht ganz sicher, ob das positiv oder negativ gemeint ist.
»Na, dann haben wir doch alles richtig gemacht!«, entgegnet Polly und ich höre das Lachen in ihrer Stimme. Ich reiße mich von meinem Spiegelbild los und steige die fünf Treppenstufen wieder nach oben.
»Wann kommt Raj dich eigentlich abholen?«, fragt Emilie, während sie einen großen Schluck Kaffee trinkt. »Ich bin irgendwie richtig gespannt.«
»Warum?«, frage ich alarmiert und blicke sie prüfend an. Sie ahnt doch wohl nichts? »Du kennst Raj doch!«
»Ja, aber nur als Kumpel von Jake. Jetzt lerne ich Raj, Amys neuen Boyfriend, kennen, das ist was ganz anderes!«
Ich atme aus, ich habe während ihrer ganzen Antwort die Luft angehalten. Wie gern würde ich den beiden davon erzählen, was wirklich los ist. Aber ich habe es Raj versprochen. Wir ziehen das gemeinsam durch.
Unten hupt es. Erleichtert, aus dem Gespräch entfliehen zu können, schnappe ich mir meine kleine Handtasche und werfe den Mädels noch einen Luftkuss zu. »Viel Spaß, und morgen wollen wir alles wissen«, ruft Emilie mir hinterher. Ich schließe schnell die Haustür hinter mir und umgehe so eine Antwort.
KAPITEL 2
»Meine Damen und Herren, herzlichen Dank für Ihr zahlreiches Erscheinen zum diesjährigen Sportlerball – wir als Club freuen uns sehr, die Veranstaltung heute Abend hosten zu dürfen und …« Scheiße! Im vom Duschnebel noch leicht beschlagenen Spiegel starrt mir mein hilfloses Selbst entgegen. Leere. In meinem Kopf herrscht absolute Leere. Mein Blick gleitet über das kleine Regal unter dem Spiegel. Einsam steht meine Zahnbürste neben meiner Gesichtscreme und meinem Nassrasierer. Früher quoll es über von Cremes, Tiegeln und Döschen. Jetzt wirkt auch das Regal seltsam leer. Fast so leer wie der Rest meiner Wohnung, in der seit einigen Wochen die Hälfte der Sachen fehlen. Ich wische mit einer Hand über den beschlagenen Spiegel und versuche, meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Doch mein Kopf hat andere Pläne. Die einzelne Zahnbürste starrt mich förmlich an. Ich bin jetzt ein Ein-Personen-Haushalt. Eine Zahnbürste. Ich habe sogar nur noch einen Topf. Mit einem Topf kann man nichts anfangen. Nicht einmal Nudeln mit Tomatensoße kann man mit einem Topf kochen. Aber die anderen Töpfe gehörten ihr. Genau wie das Sofa und der Duschvorhang und alle Handtücher, außer die kratzigen, alten, die meine Mutter mir beim Auszug mitgegeben hat, damit ich »Kyras schöne Handtücher nicht beim Fußball versaue«. Jetzt sind Kyras schöne Handtücher weg. Und ich habe rote Haut von den kratzigen und nur einen Topf und mein Kopf ist leer.
Ich habe diese Rede so oft geübt, ich habe sie mir auf mein Handy eingesprochen und vorm Schlafengehen angehört und trotzdem hänge ich. Ich hänge und ich darf nicht hängen, weil diese Rede wichtig ist und sitzen muss. Auch ohne Spickzettel, Netz und doppelten Boden. Ich schließe die Augen und sage mir die ersten Sätze noch einmal leise vor mich hin. Finde den Anschluss. Finde den Anschluss! Aber da ist nichts. In meinem Kopf herrscht absolute Leere. PENG! Ich erschrecke mich selbst von dem Geräusch, obwohl es doch meine flache Hand war, die gerade mit Wucht gegen den Spiegel geschlagen hat. Früher wäre Kyra jetzt hereingestürmt und hätte mich gefragt, was das soll, und mir gesagt, ich solle mich mal wieder einkriegen. Aber Kyra ist nicht mehr hier. In meinem Schlafzimmer wirkt das große Doppelbett wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Wie ein Scherz, bei dem die Pointe schlecht gealtert ist. Dabei lief es mit Kyra schon lange nicht mehr gut. Ich konnte ihr nicht erzählen, was mich wirklich bewegt. »Weil sie nicht die richtige war«, sagt eine kleine Stimme in meinem Kopf. »Und das wusstest du auch eine ganze Weile. Du wolltest es nur nicht wahrhaben.« Jetzt starrt mich nur mein Spiegelbild aus dem chromumrandeten Spiegel an. Ein Spiegelbild, das vor ziemlich genau acht Wochen noch Teil eines Pärchens war. Und meistens weiß ich, dass es besser ist, dass Kyra weg ist. Doch an Tagen wie heute, an denen ich nervös bin, aufgeregt, unsicher, wäre es schön, wenn es in der Wohnung nicht ganz so leise wäre. So leise, dass mir die Stille in den Ohren dröhnt. »Du bist allein«, schreit die Stille. Und der tobende Mob in meinem Kopf skandiert: »Und ein Idiot! Und ein Idiot!« Schnell stelle ich den Föhn an, durchbreche die Stille und höre nur noch das laute Pusten der heißen Luft auf meinen Locken. Als ich den Stecker wieder rausziehe, sind die Stimmen verstummt. Lärm hilft, sie zu übertönen, das war schon immer so. Ich wähle in meinem Handy The Clash aus. Achtzigerjahre-Punk schallt aus der kleinen Box in meinem Bad. Und ich entspanne mich ein wenig. Niemand da, der ins Bad will. Niemand da, der irgendetwas von mir will.
Schnell knete ich meine Locken mit dem guten Haarzeug, das ich auf einer Sponsorenveranstaltung geschenkt bekommen habe. Ein paar Locken hängen mir wie immer in die Augen. Ich wische das Wasser auf den schwarzen Bodenkacheln auf, das durch den fehlenden Duschvorhang aus der ebenfalls schwarzen Badewanne gespritzt ist, greife in das kleine Regal über dem Waschbecken und nehme den Nassrasierer heraus. Gründlich rasiere ich mein Gesicht, trage Aftershave und Creme auf. Ich spanne die Muskeln im Oberkörper an und mustere mich: Das tägliche Training lohnt sich. Auch wenn ich nicht mehr aktiv spiele, habe ich meinen Lebensstil beibehalten. Mehrmals die Woche mindestens sieben Kilometer joggen, beim Krafttraining der Jungs aus meinem Team selbst auch die Hanteln heben und immer den Fokus auf einer proteinreichen Ernährung. Zufrieden lasse ich die Arme wieder sinken. In den letzten Jahren habe ich fünfzehn neue Tattoos auf meinem Körper gesammelt. Eine Eule breitet ihre Schwingen über meiner Brust aus, auf meinen Armen schlängeln sich Schlangen um alte Seefahrermotive. Ich mag den Look. Manch einer hat mich deswegen und wegen meiner Locken schon mit Jaden Smith verglichen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass wir beide eine Leidenschaft für sehr bunte Trainingsanzüge mit teuren Sneakern haben. Meine Kohle, die ich als Spieler verdient habe, ist größtenteils in meinen Kleiderschrank oder als Ink auf meine Haut geflossen. Ein guter Look gibt mir Sicherheit. Aber heute kann ich nicht in einem meiner geliebten Trainingsanzüge auflaufen. Heute bin ich Casper Brynt, der jüngste Trainer der Liga, erfolgreich und ständig unter Beobachtung.
Ich atme tief ein und aus und ein und aus. Mehr Druck sorgt für totale Blockade. Ich habe alles dafür getan, dass diese Rede sitzt, ich muss jetzt einfach nur ruhig bleiben. Wenigstens wird Kobe da sein. Kurz überlege ich, meinen großen Bruder anzurufen. Aber ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass seine Schicht schon begonnen hat. Kobe wäre die Rede noch einmal mit mir durchgegangen. So wie er früher mit mir alle Referate für die Schule so lange wiederholt hat, bis ich sie auswendig konnte. Er war derjenige, der mir die Sketchnotes-Technik gezeigt hat, die er in einem seiner Kurse an der Uni gelernt hat. Er hat mir gezeigt, dass es Programme gibt, die Sprache zu Text machen und umgekehrt. Gemeinsam haben wir mich durch diese schreckliche Schulzeit gebracht. Und ich bin ihm bis heute dankbar dafür. Er hat sich nie für mich geschämt, obwohl er der große Überflieger war: Einser-Kandidat, Stipendien an den besten Unis, er hätte überall hingehen können. Und doch ist er in meiner Nähe geblieben. Ich war nie an einer Uni, habe nie eine Vorlesung besucht. Für mich gab es immer nur den Sport. Bis es ihn plötzlich nicht mehr gab. Schnell schüttele ich den Gedanken ab. Ich bin jetzt ein anderer Mensch, ich bin Casper Brynt, Trainer des FC Brighton, potenzieller Aufstiegskandidat und zum ersten Mal hat die Mannschaft unter meiner Führung Interesse von zwei Scouts erregt. Ich bin jemand. Ich bin gut. Und ich werde diese verdammte Rede hinkriegen, so wie ich immer alles irgendwie auf meine Art hinbekommen habe.
Als ich eine halbe Stunde später in das Taxi steige, lächle ich mir selbst im Rückspiegel zu. Ich bin jetzt wieder der erfolgreiche Fußballtrainer, der »sexiest man in Brighton Football 2023«, wie die Lokalzeitung Brighton News einmal titelte. Ich streiche mein weißes Hemd glatt, den oberen Knopf lasse ich offen, so kann man die Schwingen der Eule auf meiner Brust erahnen. Der flaschengrüne Anzug unterstreicht den dunklen Ton meiner Haut und passt gut zu meinen Augen – Kyras Worte, nicht meine. Auch wenn Kyra weg ist, gibt mir der Anzug noch immer ein gutes Gefühl. Wie das Kostüm von Superman, das Clark Kent anzieht und in dem er die Welt rettet, so ziehe ich diesen Anzug an und bin … jemand anders.
Wie sehr hätte ich mir als Kind diesen Anzug gewünscht. Alles hätte geholfen, um nur einen Tag nicht mehr im Mittelpunkt des Spotts zu stehen. Kinder können so grausam sein, wenn sie Schwäche wittern. Und bei mir krochen Angst und Schwäche aus jeder Pore. Ich ziehe die Schultern nach hinten und drücke meinen Rücken durch. Ich bin aber nicht mehr dieser kleine, schmächtige, verunsicherte Junge, der einfach nur dazugehören wollte. Die deprimierenden Zeiten liegen lange hinter mir. Ich habe mein Leben von damals einfach gelöscht. Kontakte, Social-Media-Konten, nichts erinnert mehr an den Casper von früher. Und niemand von ihnen hat etwas in meinem Leben verloren. Allein die Vorstellung, einer von ihnen könnte mit der Presse über mich reden. Über Dumm-wie-Brot-Casper. Wie in diesen schrecklichen Talkshows, in denen sie dann ganz furchtbar überrascht sind, wie aus dem ehemaligen Loser so ein erfolgreicher Kerl werden konnte. Ich kann sie förmlich hören: »Das hätte ich nie gedacht. Wie hat er denn überhaupt den Schulabschluss geschafft?« Das wüsstet ihr Idioten gern, was? Ich balle die Hände zu Fäusten, bis mich die Realität wieder einholt. Heute geht es nicht um den alten Casper. Heute geht es um etwas viel Größeres.
»Ellington Grande Hotel, bitte«, sage ich zu dem Taxifahrer und lehne mich in den Ledersitz zurück.
KAPITEL 3
»Ellington Grande Hotel, bitte«, sagt Raj zu dem Taxifahrer und lässt sich in den Ledersitz neben mir fallen. Er sieht gut aus. Schwarzer Anzug, helles Hemd, eine Fliege im gleichen Grün wie mein Kleid. Seine schwarzen Haare hat er nach hinten gekämmt, wodurch seine hohen Wangenknochen, die dunkle Haut und die schwarzen, mandelförmigen Augen noch besser zur Geltung kommen. »Hi«, sagt er und dreht sich zu mir um.
»Hi«, sage ich und fühle mich zum ersten Mal in meinem Leben befangen in Rajs Gegenwart. Seit ich denken kann, gehört er zu Jakes engsten Freunden, auch als wir noch in London gelebt haben, haben wir ihn oft in Brighton besucht, waren gemeinsam am Strand, haben ein Bier zu viel getrunken. Ich war zwar »nur« Jakes kleine Schwester, aber wie selbstverständlich immer dabei. Zwischen uns war immer eine besondere Nähe, aber nie mehr. Wir hatten Spaß zusammen, erzählten uns kleine Geheimnisse und teilten im Alter von sechs Jahren einen sehr unschuldigen Kuss, den wir beide als extrem widerlich empfanden und woraufhin wir nie wieder einen zweiten Versuch starteten. Dabei sieht Raj gut aus. Er ist etwas größer als ich, sportlich-drahtig und ich weiß, dass ihn mindestens eine meiner Schulfreundinnen als Crush bezeichnet hatte. Trotzdem war da nie auch nur der Hauch eines Funkens zwischen uns.
Bis zu dem Nachmittag am Strand vor ein paar Wochen. Ich war eigentlich mit Jake verabredet, doch der hatte last minute abgesagt, irgendwas war im Tonstudio, das er dringend fixen musste. Genervt wollte ich schon wieder umdrehen, als Raj mir auf die Schulter tippte. »Hey, wenn du Lust hast, lass uns doch trotzdem zusammen an den Strand gehen, ist doch perfektes Beach-Wetter. Ich freue mich sogar, dich mal nur für mich zu haben.« Ein Kribbeln machte sich zwischen meinen Schulterblättern breit und wahrscheinlich spürte ich schon da, dass sich an dem Tag irgendetwas verändern würde.
Die folgenden Stunden waren richtig schön. Wir aßen Pommes, spritzten uns im knietiefen Wasser nass, fielen irgendwann erschöpft nebeneinander auf die Decke und sahen den Wolken am Himmel beim Vorbeiziehen zu. Doch es lag etwas in der Luft, das spürte ich ganz genau. Nur konnte ich es nicht greifen. Während die Wolken am Himmel träge dahinzogen, wurden meine Augenlider langsam schwer. Um uns herum leerte sich der Strand langsam, die Familien brachen zum Abendessen auf und die Badegäste zogen in die Hotels, um sich fürs Dinner fein zu machen. Nur wir blieben liegen, sahen weiter den Wolken zu. Das Kribbeln zwischen meinen Schultern hatte sich inzwischen auf meinen ganzen Körper ausgebreitet. Obwohl ich ruhig auf der Decke lag, fühlte ich eine merkwürdige Anspannung. Rajs Finger tasteten sich zart zu meinen vor. Er nahm meine Hand und verknotete unsere Finger ineinander. Mein Herz begann zu rasen, was passierte hier? Bitte nicht! Ich mag Raj! Aber nicht so! Ich wollte gerade etwas sagen, aber mein Mund war plötzlich unfassbar trocken. Wollte er etwa …? Wie sollte ich jetzt …? Und was mache ich, wenn er versucht, mich zu küssen? Wie sollte ich Raj sagen, dass ich nicht so fühle, ohne ihn zu verletzen? In meinem Kopf ging alles drunter und drüber, da murmelte er leise: »Amy, ich muss dir was sagen.« Ich setzte schon an, um ihm zuvorzukommen, doch er drückte meine Hand und fuhr fort. »Hör mir bitte einfach zu. Wenn du mich unterbrichst, schaffe ich es vielleicht nicht, es dir zu sagen. Aber es muss raus. Bitte, Amy.«
Ich nickte, was Raj nicht sehen konnte, weil wir immer noch nebeneinander lagen.
»Ich glaube, ich bin schwul.«
Ich blieb einfach liegen, mein Kopf versuchte, die neue Information zu verarbeiten. Langsam beruhigte sich auch mein Herzschlag und ich konnte wieder atmen. Wir starrten beide weiter in die Wolken, bis ich schließlich Worte fand: »Puh, ich dachte für einen kurzen Moment …«
»Was?«, fragte er, ebenfalls ohne mich anzusehen.
»Nichts. Gar nichts. Never mind. Du GLAUBST, du bist schwul? Wie … also, hast du …?«, fragte ich stattdessen und blinzelte gegen das helle Licht.
»Nein, ich glaube es nicht, ich bin mir sicher. Viel zu lange habe ich versucht, in eine Norm zu passen. Dieser perfekte indische Junge in einer heilen indischen Familie zu sein. Aber ich bin nicht, wie meine Eltern mich gerne hätten. Ich finde es aufregend, wenn Damian Hartung in Maxton Hall sein Hemd auszieht, ich will wissen, wie es sich anfühlt, David Beckham zu küssen oder meinetwegen einen Mann, der nicht ganz so unerreichbar ist.«
Ich lachte kurz auf wegen des Vergleichs und weil ich sehr erleichtert war. »Aber Raj, das ist doch schön, oder?«
»Sag mal, spinnst du?« Mit einem Ruck richtete er sich auf und starrte auf mich herunter.
Ich legte die Hand über meine Augen, um ihn besser sehen zu können. »Nicht, dass ich wüsste. Ich hatte schon Angst, du würdest mir deine Liebe gestehen. Was ist denn los?«, fragte ich, plötzlich ernst, als ich sah, wie wütend Raj wurde.
»Was los ist?! Ich vertraue dir mein Geheimnis an, das größte überhaupt, und du reagierst so?!«
Ich richtete mich ebenfalls auf. »Raj, so war das nicht gemeint! Ich wollte mich nicht über dich lustig machen. Ich wusste nur nicht, dass es noch eine so große Sache ist, schwul zu sein. 2025. In Brighton. Wo in jeder Bar eine Regenbogenflagge hängt und ich selbst von meinem Postboten weiß, dass er lieber mit den Boys flirtet als Girls hinterherzupfeifen.«
»Nicht in den Sportbars«, sagte Raj leise. »Und ganz sicher nicht bei meiner Familie zu Hause.«
»Oh«, erwiderte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte. Raj kommt aus einer eigentlich sehr offenen indischen Familie. Sie leben schon lange in Brighton und seine Schwester datet einen alten Kumpel von Jake und Raj, der rothaarig und sehr irisch ist. »Ist das bei euch ein Thema?«
»Es ist überall in meinem Leben ein Thema, Amy!«, sagte Raj verzweifelt. »Mein Vater hat vor ein paar Tagen einen Flyer für eine Gay-Party in meinem Zimmer gefunden. Und am nächsten Morgen eröffnete er mir, ich sei jetzt alt genug für eine Freundin, und fragte direkt hinterher, ob ich schon jemanden im Blick hätte. Ansonsten könnte er sich bei Bekannten umhören, die hätten wunderschöne indische Töchter im heiratsfähigen Alter. Heiratsfähiges Alter! Amy! Ich habe Panik bekommen!«
»Uff. Verstehe. Klar, das hätte ich auch, wenn meine Eltern mich mit einem der Söhne aus Dads Golfclub verkuppeln wollten.« Ich schüttelte mich, allein schon der Gedanke daran war schwer zu ertragen. »Kannst du ihm nicht einfach sagen, dass du … anderweitig interessiert bist?«, fragte ich vorsichtig.
»Auf keinen Fall!« Rajs Stimme überschlug sich und er schüttelte so heftig den Kopf, dass seine sorgsam frisierten Haare völlig durcheinandergerieten. Dann wurde er still und vergrub das Gesicht in seine Hände. »Aber ich … habe ihnen gesagt, dass da jemand ist …«
»Oh, wirklich? Aber, das ist jetzt eine Frau? Ich komme da gerade nicht ganz mit!« Verwirrt musterte ich Raj. Dieser legte sich zurück auf die Decke und schloss die Augen. In seiner dunklen Sonnenbrille spiegelte sich die immer tiefer wandernde Sonne.
»Ich habe ihnen gesagt, da sei jemand, den ich mag, aber ich wisse noch nicht, ob sie mich auch so mag.«
Wieder klopfte mein Herz verräterisch. Als ob es geahnt hätte, was dann folgte. »Und mag sie dich so, wie du es dir erhoffst?«, hakte ich vorsichtig nach.
»Das versuche ich gerade herauszufinden«, antwortete Raj und drehte sich auf die Seite. Er nahm seine Sonnenbrille ab und zog mich zu sich auf die Decke. Einen Moment lang lagen wir nebeneinander und sahen uns in die Augen. Etwas kalter Wind vom Meer strich mir ums Gesicht und einige Haare flatterten in Rajs Richtung. Es wurde langsam kühl und ich fröstelte. Raj sah mich weiter unverwandt an. »Amy, ich … ich habe keine Ahnung, wie man so ein Gespräch führt. Ich … also …«, er atmete aus. Dann beugte er sich zu mir rüber, sodass unsere Gesichter ganz nah beieinander lagen. »Amy, ich habe meinen Eltern gesagt, dass ich Gefühle für dich habe. Was auch irgendwie stimmt, denn das, was ich für dich empfinde, ist das Nächste an Liebe zu einer Frau, was ich jemals empfinden werde. Du bist meine älteste Freundin, wir haben gelacht und du weißt so viel von mir wie sonst niemand auf der Welt. Ich liebe dich, aber ich bin nicht verliebt in dich, ich begehre dich nicht, aber ich mag es, dir nah zu sein.«
Ich schluckte. Ich wusste genau, was Raj meinte. Auch ich fühlte dieses Band zwischen uns und auch ich hatte mich in stillen Momenten gefragt, warum es sich mit Raj manchmal so anders anfühlt. »Und was möchtest du jetzt von mir?«, fragte ich, und meine Stimme klang kratzig.
»Weißt du, ich habe gerade erst für mich rausgefunden, dass es nicht an mir und den Frauen liegt, dass es nie wirklich funkt, sondern daran, dass ich schwul bin. Dass ich auf Männer stehe. Aber ich habe so eine Panik, erwischt zu werden, beim Fußball verhöhnt zu werden. Die Jungs sind gnadenlos. Was musste ich mir schon für Sprüche anhören, weil ich auf den Vereinspartys nie mit irgendwelchen Girls rummache.«
Raj fährt sich durch seine schwarzen Haare, die jetzt ganz verwuschelt aussehen. Ich widerstehe dem Reflex, sie ihm aus der Stirn zu streichen. Stattdessen sehe ich Raj weiter in die Augen, warte, was dieses Gespräch mit mir macht.
»Ich brauche Zeit, um rauszufinden, wer ich bin und was ich will. Ohne das Brennglas der anderen darauf zu haben. Ich brauche jemanden, der mir Zeit und Luft verschafft. Ich brauche eine Freundin, die alles mit mir tut, was ein Paar eben tut, wenn andere dabei sind. Die aber weiß, dass es nicht echt ist, und die nichts von mir erwartet.«
Ich schwieg. Wir schauten uns weiter in die Augen und ich zitterte inzwischen, weil die Sonne endgültig untergegangen war und ich in T-Shirt und Shorts einfach nicht warm genug angezogen war. Als Raj mein Zittern bemerkte, setzte er sich auf und zog seinen Trainingshoodie aus seiner Sporttasche. Er warf ihn mir zu und ich zog ihn schnell über. Der Pullover roch so vertraut nach seinem Parfüm, nach dem Waschmittel seiner Mutter, nach Heimat. Als ich den Kopf durch den Halsausschnitt schob, wusste ich plötzlich, was ich sagen wollte. »Ich mach’s.«
Raj sah mich entgeistert an.
»Ich spiele deine Freundin. Für diesen Sommer. Danach trennen wir uns.« Das Wort »trennen« setzte ich mit jeweils zwei Fingern in der Luft in Anführungszeichen. »Keiner datet in der Zeit jemand anderen, zumindest nicht so, dass irgendjemand etwas davon mitbekommt. Ich will weiter mit dir befreundet sein können, ohne dass uns unsere Freunde hassen, weil sie denken, einer von uns wäre fremdgegangen. Und wir müssen Jake davon erzählen.«
Raj hatte zunächst begeistert genickt, doch dann verdüsterte sich seine Miene. »Warum Jake?«
»Weil er dich sonst in die Mangel nehmen würde und wir seine ganze Großer-Bruder-Nummer zu spüren bekommen würden. Und nicht zuletzt, weil er bestimmt sauer wäre, wenn er doch irgendwann erfahren würde, dass wir ihn angelogen haben.«
»Okay.«
»Okay.«
Wir standen etwas verlegen voreinander. »Ich würde dich gern umarmen, ist das okay für dich?«, fragte er und drückte mich gegen seine Brust. Alles roch wieder nach Raj und nach zu Hause, aber plötzlich auch ein bisschen nach Abenteuer und Neuanfang.
»Ich hoffe, du küsst inzwischen besser als mit sechs«, murmelte er mir in die Kapuze des Hoodies.
»Ey! Na, hör mal!«, lachte ich und boxte ihm leicht gegen die Schulter.
Ein Hupen holt mich zurück in die Gegenwart. »Du Idiot, jetzt fahr doch, es ist grün!«, brüllt der Taxifahrer.
»Du siehst wunderschön aus, Amy«, sagt Raj und drückt meine Hand. »Ich bin ziemlich nervös.«
»Ich auch«, gebe ich zu. »Heute wird es das erste Mal ernst. Vielleicht hätten wir das mit dem Küssen noch mal üben sollen«, ich lache leise auf. Der Taxifahrer wirft mir durch den Rückspiegel einen neugierigen Blick zu.
In dem Moment biegen wir auf die große Straße an der Seafront ab und das imposante Gebäude des Ellington Grande Hotels taucht vor uns in der Dunkelheit auf. »Zu spät«, murmelt Raj.
»Wird schon«, murmele ich zurück.
Der Taxifahrer bekommt ein großzügiges Trinkgeld und Raj hilft mir galant aus dem Wagen. Dann nimmt er meine Hand, nur an einem leichten Zittern und den kalten Fingern kann ich ablesen, wie nervös er wirklich ist. Ich atme noch einmal tief durch, drücke seine Hand und wenige Augenblicke später betreten wir gemeinsam das Foyer.
KAPITEL 4
Ich schlage die Tür des Taxis zu und atme noch einmal tief durch. Das Hotel sieht von außen beeindruckend aus. Es ist ein altes viktorianisches Gebäude. Hohe Säulen halten das kleine Vordach, darunter steht ein Page in Uniform, der anreisenden Menschen das Gepäck abnimmt. Der Eingang ist beleuchtet und davor liegt ein dunkelroter Teppich. Er reicht vom Gebäude bis zur Straße. Wie eine Zunge, denke ich.
»Casper Brynt! Wie geht es dir, Mann?« Jemand schlägt mir schwer die Hand auf die Schulter. Als ich mich umdrehe, steht vor mir Timothy Pine, Trainer der Eastbourne Riders, und damit mein direkter Konkurrent um die Meisterschaft. Wenn man es so sehen will. Wir klatschen unsere Handflächen aneinander und geben uns eine dieser sehr männlichen Umarmungen, bei denen man sich kaum berührt.
»Timothy Pine, was machst du denn hier, Alter?« Ich kann den Kerl nicht ausstehen.
»Na, ich lass mir doch einen Abend mit heißen Miezen in tief ausgeschnittenen Kleidern nicht entgehen! Und deine Rede natürlich, wird bestimmt legen-wait-for-it-dairy.«
Oh Mann. Ernsthaft? Barney Stintsonts Punch Line aus How I Met Your Mother ist so alt, die hat schon nen Bart. Passt aber zu Timothy, der geht auch steil auf die vierzig zu und wir haben in etwa so viel gemeinsam wie eine Salatgurke und Vanilleeis. Nichts nämlich.
»Haha, na, darauf kannst du wetten«, lache ich trotzdem und schlage ihm erneut auf die Schulter. Manchmal hasse ich mein Leben. Und die Leute, mit denen ich mich umgeben muss. Timothy Pine ist einer von ihnen. Seit ich als Trainer bekannt gegeben wurde, stößt es ihm sauer auf, dass ich mit gerade mal 23 Jahren Trainer des FC Brighton geworden bin. Etwas, worauf er selbst Jahrzehnte hingearbeitet hat. Ich möchte dieses Gespräch auf jeden Fall so schnell wie möglich beenden. Timothy ist genau der Typ, der mich in der Schule fertiggemacht hätte. Ich deute irgendwo in die Menge und murmele etwas von »jemanden gesehen« und dann verabschiede ich mich und hoffe, Timothy den Rest des Abends einfach aus dem Weg gehen zu können.
Ich straffe die Schultern, ziehe mein Sakko noch einmal glatt. Auf in den Kampf. Lächelnd schiebe ich mich durch die Menge, grüße hier, scherze da und steuere dabei zielgerichtet die Bar an. Ich brauche jetzt erst einmal einen Drink. Ich habe mich lange auf diesen Abend gefreut. Es ist eine große Ehre für unseren Club, diesen Sportlerball hosten zu dürfen, Brighton zu repräsentieren. Es ist etwas Besonderes für mich, die Hosting-Rede zu halten. Nach meiner Zeit als aktiver Spieler, nach dem großen Karriere-Aus, hätte ich nicht gedacht, dass ich eines Tages wieder hier stehe.
Der Raum ist schon ziemlich gut gefüllt, es finden sich immer mehr Gäste ein. Nicht mehr lange und alle Augen werden auf mich gerichtet sein. »Mein Name ist Casper Brynt und ich bin Trainer des FC Brighton. Ich heiße Sie alle heute Abend herzlich willkommen und kann es nicht erwarten, mit Ihnen das Glas zu erheben, um auf den diesjährigen Sieger des Local Derbys anzustoßen. Ach, das Spiel ist erst am Sonntag, da habe ich mich wohl vertan. Erheben Sie Ihr Glas auf einen wunderbaren Abend und neue Feind- oder Freundschaften.« Dann werden hoffentlich alle unter Gelächter ihre Gläser heben und ich kann den Rest der Rede halten. Diese ersten Sätze setzen den Ton, entscheiden über den Verlauf der Rede. Die richtig gesetzten Pausen, die feine Betonung. Meine Hand fährt wie automatisch in meine Jackentasche und tastet nach den Moderationskarten. Meine Sicherheitskarten, wie Kobe sie immer nennt. Sie sind noch da.
Ich lehne mich an den Bartresen und lasse den Blick durch den Raum gleiten. Das große Foyer ist nicht weniger gediegen als der Rest des Hotels, in der Kaminecke lodert ein großes Feuer, obwohl wir bereits Frühling haben und es draußen viel zu warm für ein Feuer ist. Geht wohl um die Stimmung. Vielleicht ist es auch gar nicht echt. In der Mitte des Foyers sind runde Tische aufgebaut, darauf thronen lange Kerzen in Kronleuchtern und edle Gestecke auf weißen Tischdecken. Über den Stuhllehnen hängen ebenfalls weiße Hussen. Alles hier schreit: Das ist ein fancy Event, wir haben Geld! Klar, im Fußball haben die Vereine Geld. Zumindest in unserer Liga. Und es ist wichtig, das zu zeigen. Darum wird so ein Sportlerpreis auch in einem eleganten Fünfsternehotel verliehen. Manchmal fehlen mir die einfachen Grillpartys mit Würstchen und Dosenbier.
Die junge Barkeeperin ist gerade an der anderen Seite des Tresens damit beschäftigt, ein Tablett mit Weingläsern zu beladen, die zu den runden Tischen gebracht werden, an denen bereits einige Leute Platz genommen haben. Ich werde mit drei Spielern aus meiner Mannschaft zusammensitzen. Pro Team drei Spieler. Ich habe die besten aus der zurückliegenden Saison mitgenommen, sehe aber zwischen all den Menschen in tadellos gebügelten Anzügen keinen von ihnen. Sie sehen alle aus wie Pinguine. Dressierte Pinguine, die tanzen, wenn es von oben verlangt wird. Ich hatte schon immer ein Autoritätsproblem. Besonders mit meinen Lehrern. Ich schüttele meinen Kopf, Gedanken an diesen Teil meiner Vergangenheit kann ich jetzt gar nicht gebrauchen.
»Was kann ich dir Gutes tun?«, höre ich in dem Moment eine tiefe Stimme, die ich überall heraushören würde.
»Kobe.« Eine kleine Welle der Erleichterung durchflutet mich. Ich drehe mich zu meinem Bruder um, der in seinem schicken Hemd und der Fliege eher wie ein Gast aussieht als wie jemand, der hinter der Bar steht. »Was machst du …?« Dann schlage ich mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Entschuldige, klar, ist dein Job, hier zu sein. Ich habe nur nicht damit gerechnet, dass du heute selbst hinter dem Tresen stehst.«
»War auch nicht so geplant, als Barchef habe ich eigentlich andere Aufgaben. Aber heute gab es Ausfälle und, tja, da bin ich!« Er grinst mich mit diesem Kobe-Grinsen an, dem schon früher niemand widerstehen konnte. Manchmal wird uns gesagt, wir sehen uns ähnlich, aber ich finde das nicht. Klar, wir sind beide groß, haben die gleichen dunkelbraunen Augen, aber Kobe hat noch mehr kleine Sommersprossen und Grübchen in den Wangen. Außerdem wirkt er immer viel erwachsener, obwohl er nur ein Jahr älter als ich ist, trotzdem kam er mir schon immer reifer und weiser vor. Kobe interessiert sich für Weine, für Bücher und ist der feingeistige Typ. Ich liebe Fußball, zu laute Musik und diese schrecklichen Tattoos – wie unsere Mom sie nennt. Für sie war ich immer der wilde, liebenswerte Junge, der nicht lange still sitzen konnte.
Ich versuche, meinen Bruder anzulächeln, aber ich merke selbst, dass es ziemlich verkrampft aussieht. Kurz zuckt der Gedanke durch meinen Kopf, wie viel besser Kobe diese Rede geschrieben hätte, wie pointiert und smart er popkulturelle Referenzen eingebaut hätte. Einfach weil er alles im Leben so viel besser kann, weiß und macht als ich. Meine Hände fangen an zu schwitzen, ich fahre mit einer Hand erneut in die Tasche meines Sakkos, in der meine Notizen für die Rede stecken. Ich ziehe die Karten heraus. Sie in den Händen zu halten, gibt mir Sicherheit.
»Casper, ist alles okay?«, fragt Kobe, als die Gesprächspause länger wird. Er sieht mich besorgt an und legt mir eine Hand auf den Arm. »Wird schon mit der Rede. Du hast die sicher super drauf!«
»Ich bin nervös«, gestehe ich.
Kobe lehnt sich vor und wirft einen Blick auf die Karten in meiner Hand. »Du hast deine Sketchnotes dabei, du bist smart und lustig, Casper. Nicht ganz so gut wie ich, aber für einen kleinen Bruder bist du echt ganz okay!« Er schlägt mir lachend auf die Schulter und zwinkert mir zu. So war es immer mit uns, Kobe und ich sind Rivalen und lieben uns doch über alles. Er ist einer der wenigen, die mich damals nicht fallengelassen haben, als ich mit einem Fehler meine ganze Karriere ins Wanken gebracht habe. Noch eine Sache, über die ich wirklich nicht nachdenken sollte. Kobe war immer der Star in unserer Familie – und ich eben der kleine wuselig-wilde Bruder, der nichts auf die Reihe kriegt. Aber als ich von einem Fußballscout entdeckt wurde und auf das Ardingly College, einem Fußballinternat zwischen Brighton und London gelegen und mehr als renommiert, wechseln durfte, wurde alles anders. Da wurde mir am Esstisch zugehört. Da ging es nicht mehr nur um Kobe-Superstar, Kobe-Schulsprecher, Kobe-Eliteuni-Stipendiat. Als ich entdeckt wurde, war ich jemand. Ich war Casper Brynt, zukünftiger Nationalspieler für England.
Bis ich auch das nicht mehr war.
»Was willst du trinken, mein Lieber?«, unterbricht Kobes Stimme meine düsteren Gedanken. »Heute ist hier unglaublich viel los. Ich muss weitermachen. Aber ich höre mir deine Rede nachher an, versprochen.« Er lächelt mir zu.
»Klar, sicher! Ich muss auch zu meinen Jungs. Mach mir doch einfach einen Gin Tonic. Danke dir!«
Kobe reicht mir meinen Drink über den Tresen und nickt mir noch einmal zu, während ich mir meine Karten mit den Sketchnotes durchschaue. »Mein Name ist Kobe Brynt …« Ich lache bitter auf. Schön wäre es. »Mein Name ist Casper Brynt …« Ich stocke. Verdammt! Leere. Da ist wieder diese verdammte Leere in meinem Kopf. Ich weiß nicht, was jetzt kommt, wie es weitergeht. Ich muss kurz raus. Einmal tief durchatmen. Das wird alles, Casper, mache ich mir selbst Mut. Ich schnappe mir meinen Drink, drehe mich um und sehe aus dem Augenwinkel noch etwas Grünes auf mich zuschießen. Dann ist es auch schon zu spät.
KAPITEL 5
Ich weiß nach exakt 2,5 Sekunden, dass ich hier nicht hingehöre. Das Hotel ist pompös, hat ein riesiges Foyer, mit Kronleuchtern, Wandteppichen, Pagen und Kellnern, die wie stille Geister mit schwarzer Fliege durch den Raum zu schweben scheinen und die Gäste mit allem verwöhnen, was sie brauchen oder auch nicht brauchen. Die Gäste selbst sind unisono unfassbar elegant und chic. Die meisten Männer tragen schwarze Anzüge, die Frauen bodenlange Abendkleider, hohe Absätze und viel Schmuck. Ich zuppele an meinem Kleid herum. Ich weiß, dass es wunderschön ist, aber es fühlt sich so fremd an, als wäre ich in die Haut eines anderen Menschen geschlüpft. Raj hält mir galant seinen Arm hin und ich hake mich dankbar unter, denn auch das Laufen auf den elenden Pumps von Polly gleicht eher einem Eiertanz. Dabei hat sie mir die Dinger als »superbequem, praktisch wie Sneaker mit Hacken drunter« verkauft, was so was von eine Lüge war.
Auf einem großen Board stehen die Namen der Gäste sowie die Tischnummer, an der sie sich einfinden dürfen. Neben Raj wurden noch zwei weitere Spieler mit ihren Freundinnen und der Trainer seiner Mannschaft an dem aufwendig eingedeckten Tisch platziert. Vier der sieben Plätze sind bereits belegt. Raj begrüßt seine Spielerkollegen mit einem klatschenden Handschlag. Die Freundinnen mustern mich von oben nach unten und ich muss dem Drang einer Übersprungshandlung widerstehen, um die peinliche Stille zu überbrücken. »Hi, ich bin Amy«, stelle ich mich vor.
Die junge Frau mit den sehr schwarz gefärbten Haaren und den sehr vollen Lippen schiebt ihr Kaugummi gelangweilt mit der Zunge von einer Wange in die andere und antwortet: »Stella, ich gehöre zu meinem Baby Kevin.« Meine Mundwinkel zucken. Zucken wieder. Ha! Habe sie unter Kontrolle. Ich nicke Stella zu und schlucke meinen Lachanfall tapfer herunter.
»Und meinen Boo kennst du sicher. Ihn kennt ja jeder hier«, albern lächelnd zeigt die andere Frau auf den blonden bulligen Kerl neben sich, der gerade mit Raj eine dieser albernen Begrüßungszeremonie aufführt. Mein Blick sieht wohl ahnungslos aus, jedenfalls fühlt sie sich genötigt zu ergänzen: »Kilian.« Als meinerseits immer noch die erwartete Reaktion ausbleibt, ergänzt sie: »Der Torwart. Er wurde gerade von einem Scout angesprochen, vielleicht spielt er bald in der zweiten Liga!« Ich versuche, angemessen beeindruckt zu gucken, und lasse mich neben Raj auf meinen Stuhl fallen. Wie die Partnerin von »Boo« oder Kilian heißt, habe ich zwar nicht erfahren, aber das scheint für sie auch nicht so wahnsinnig relevant zu sein. Neugierig mustert sie mich. »Und du und Raj? Ihr seid jetzt ein Paar?«
Ich ziehe die Augenbrauen hoch und nicke. »Jepp, ich und Raj.«
»Und wie lange seid ihr schon …?«
»Ach, so ganz genau …«
»Seit drei Wochen«, unterbricht Raj mich und verpasst mir unter dem Tisch einen Tritt gegen das Schienbein. Ich beiße mir auf die Lippe, um nicht laut aufzustöhnen. Das tat weh, verdammt! »Amy und ich kennen uns nur schon viel länger und da fällt es natürlich schwer, genau zu sagen, wann man sich verliebt hat. Aber offiziell ein Paar sind wir seit drei Wochen. Der 5.5. ist unser Jahrestag.« Raj sieht verliebt zu mir rüber und gibt mir einen Kuss auf die Wange.
Puh, er trägt aber auch dick auf. Eifrig nicke ich und merke schon jetzt, dieser Abend wird kein Kindergeburtstag. »Entschuldigt mich, ich muss mir kurz die Nase pudern«, sage ich zuckersüß und ernte von Raj schon wieder einen Blick. Er soll sich mal nicht so haben. Er kann diesen Zirkus hier unmöglich ernst nehmen.
»Amy, wärst du so nett, uns eine Runde Drinks von der Bar mitzubringen, wenn du zurückkommst? Das kannst du doch, hast du samstags im Tide ja auch immer gemacht«, sagt die Freundin von »Boo« und sieht mich herausfordernd an.
Oh nein, nicht mit mir, Zuckerpuppe. Ich wusste gleich, sie kommt mir bekannt vor, und jetzt ist der Groschen gefallen. »Klar, gern. Für dich wie immer? Einen Drink und einmal die Telefonnummer des nächstbesten reichen Kerls an der Theke?«, frage ich in Anspielung auf die Abende, die sie mit ihren Freundinnen im Tide Night Club verbracht hat. Immer auf der Suche nach einem berühmten, vermögenden oder wenigstens extrem begehrten Kerl. Nicht nur einmal ist sie im Club bei meinem Bruder Jake abgeblitzt. Das war natürlich vor ihrer Zeit mit »Boo«, aber ich kann mir die kleine Spitze trotzdem nicht verkneifen. Zu meinem großen Glück hat im selben Moment die Musik eingesetzt und nur Raj hat mich verstanden. Er zieht mich zu sich herunter und raunt: »Amy! Echt jetzt? Du hast es doch versprochen. Bitte, versuch es wenigstens.«
Also nicke ich und machen den Daumen hoch als Zeichen, das ich die Drinks mitbringen werde. Dann verschwinde ich in Richtung Toiletten.
Als sich die schwere Tür hinter mir schließt und ich im sanften Licht der eleganten Hotelwaschräume stehe, atme ich durch. Ich wasche meine Hände und ziehe meinen Lippenstift nach. Einfach nur, um noch ein bisschen was zu tun zu haben und nicht direkt zurückzumüssen. Mit einem lautstarken Klapp! öffnet sich die Tür der ersten Toilettenkabine. Eine blonde Frau tritt neben mich an die Waschbecken.
»Oh Darling, was für ein tolles Kleid!«, sagt sie und mustert mich von Kopf bis Fuß.
Vielleicht sind hier doch nicht nur Idioten, denke ich und lächle sie an.
»Ich bewundere dich dafür, dass du es mit deiner Figur trägst, wirklich! Das sieht man ja nicht mehr besonders oft, so richtig echte Kurven.«
»Äh. Danke?«, antworte ich, sprachlos angesichts dieser Unverschämtheit und starre noch sekundenlang auf die sich langsam schließende Holztür. Was war das denn?! O Raj, du schuldest mir was! Ich werfe mir noch einen Blick im Spiegel zu und straffe meine Schultern. Das Kleid steht mir fantastisch, meine Kurven werden genau richtig betont und diese dumme Kuh soll sich gehackt legen. Mit einem Hüftschwung, der sich gewaschen hat, verlasse ich die Toilettenräume und mache mich auf den Weg an die Bar. Die können mich hier echt alle mal.
Ich schiebe mich durch die gleichförmige Menge aus Männern in schwarzen Anzügen und bin froh, als ich endlich an dem langen Mahagonitresen lehne. Eine junge Barkeeperin kommt sofort auf mich zu. »Amy! Was machst du denn hier?«, fragt sie.
»Chloe! Ich könnte dich das Gleiche fragen! Arbeitest du nicht mehr im Tide Night Club?«
»Nein, ich habe meinen neuen Chef bei einem Event kennengelernt und er hat mich abgeworben. Die Bezahlung ist besser und die Schichten sind kürzer. Und mal unter uns …«, sie lehnt sich verschwörerisch zu mir vor, »das Trinkgeld ist der Hammer! Wir suchen noch, komm, ich stell dich direkt meinem Chef vor!«
Ehe ich ablehnen kann, dreht sie sich um und winkt einem großen Typen, der bisher mit dem Rücken zu uns stand. Als er auf uns zukommt, ist klar: Hier werde ich wohl nicht anfangen. »Kobe, hi«, sage ich und meine Stimme ist einen Tick zu hoch.
»Hi, Amy, was machst …«
»Ihr kennt euch?«, fragt Chloe sichtlich enttäuscht.
»Ja. Na ja, über Ecken«, antwortet Kobe ausweichend.
Ecken ist gut, denke ich. Kobe ist der Ex-Freund von Emilie, die jetzt mit meinem Bruder Jake zusammen ist. Die Sache ist damals nicht so supergut auseinandergegangen. Jedenfalls ist Kobe seitdem nicht mehr im Tide aufgetaucht. Und ich weiß nicht so genau, wie er heute zu ihr steht. Oder zu mir.
»Ja, ähm, wie geht es dir denn so?«, frage ich. Wow, Amy. Krasser Einstieg ins Gespräch. Wetter wäre noch eine Option gewesen.
»Ganz gut, aber ich bin heute extrem busy, du siehst ja, was hier los ist. Außerdem habe ich da gerade jemanden gesehen. Wir sehen uns, Amy!« Und schon ist er weg. Verschwunden ans andere Ende der Bar, wo er jemanden begrüßt, den ich nicht erkennen kann.
»Hattet ihr mal was miteinander?«, fragt Chloe neugierig.
»Was?! Nein! Wie kommst du denn darauf?«
»Na, ihr habt euch beide so weird benommen. Hätte ja sein können. Aber ich muss jetzt weitermachen, was kann ich dir bringen?« Ich bestelle Gin Tonic für alle am Tisch und eine Bloody Mary für mich. Ich kann Gin nicht ausstehen. Aber für die Leute hier scheint es der Drink zu sein. Während ich auf die Getränke warte, lasse ich den Blick durch den Saal schweifen. An unserem Tisch ist noch immer ein Platz frei, zwei, wenn man meinen mitzählt. Aber auch die anderen Tische sind noch nicht voll besetzt. Viele Gäste schieben sich durch den Saal, Küsschen hier, Küsschen da, eine komische Welt. Ich sehe zu Raj hinüber und frage mich einmal mehr, wie dieser coole Junge vom Strand, mit dem ich Kirschkernweitspucken geübt und heimlich die erste Zigarette geraucht habe, der Würstchen vom Feuer liebt und Bier aus der Flasche, hier klarkommt. Wie sehr muss er sich verstellen? Nicht nur unsere Beziehung ist Fake. Der ganze Raj ist wie eine andere Version von sich selbst. Eine Version, die ich nicht unbedingt lieber mag.
»Fünf Gin Tonic und eine Bloody Mary?«, fragt Chloe.
»Ja, danke«, murmele ich und nehme das volle Tablett entgegen. Als ich mich umdrehe, muss ich einer Frau ausweichen, die sich an mir vorbeischiebt. Etwas zu schwungvoll ziehe ich das Tablett zur Seite, versuche noch, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, und stolpere drei Schritte vorwärts. Geschafft! Das Tablett ist wieder stabil. Doch im nächsten Moment renne ich gegen eine Wand. Eine Wand, die überraschend schnell nachgibt. Eine Wand in einem weißen Hemd und einem dunkelgrünen Sakko. Wie in Zeitlupe sehe ich, dass meine Bloody Mary ins Schwanken gerät. Ich versuche noch, das Glas zu halten, aber es ist zu spät. Während alle fünf Gin-Tonic-Gläser stehen bleiben, verteilt sich der rote Tomatensaft über dem weißen Hemd und dem dunkelgrünen Sakko. Entsetzt sehe ich hoch und treffe auf einen Blick aus dunkelbraunen Augen, bei dem jeder andere wahrscheinlich tot umgefallen wäre.
Oooh nein, das darf nicht passiert sein. Bitte nicht. Mein Kopf reagiert sofort, nur mein Körper bleibt wie erstarrt. Und so blicke ich nur von der roten Soße auf dem weißen Hemd zu dem leeren Glas auf meinem Tablett. Ich habe für einen Moment das Gefühl, die Musik wäre verstummt und die Menschen um mich herum eingefroren. Als hätte jemand auf eine Stopp-Taste gedrückt. Doch dann ist der Moment vorbei und ich werde erschlagen von einer Welle aus Lärm: Stimmen, Musik und ein sehr attraktiver Kerl in einem inzwischen sehr dreckigen Hemd, der vor mir steht und mich anbrüllt.