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Warum Burnout ein strukturelles, kein individuelles Problem ist Burnout wird ein immer wichtigeres Phänomen in Wirtschaft und Gesellschaft, die Kosten belaufen sich auf Milliardenbeträge. Bisher gilt Burnout als Problem des Einzelnen, doch der steht in Wahrheit am Ende einer Kette von Fehlentwicklungen: das inhumane Prinzip Multitasking, die Entgrenzung des Arbeitslebens, die Illusion des Zeitmanagements, schlecht ausgebildete Chefs und fragwürdige Werte. Burnout geht alle an: Führungskräfte und Unternehmenslenker, die Auswege suchen aus der "Weiter-so-Mentalität" und nicht zuletzt den "normalen" Arbeitnehmer. Das Buch analysiert die unternehmerischen und gesellschaftlichen Missstände und zeigt, wie wir eine menschlichere und damit letztlich produktivere Arbeitswelt schaffen können.
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Seitenzahl: 314
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MARKUS VÄTH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Lektorat: Dr. Sandra Krebs, GABAL Verlag GmbH
Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen | www.martinzech.de
Umschlagfoto: © c/fotolia.com
© 2013 GABAL Verlag GmbH, Offenbach
Das E-Book basiert auf dem 2011 erschienenen Buchtitel "Feierabend hab ich, wenn ich tot bin" von Markus Väth, © 2011 GABAL Verlag GmbH, Offenbach
ISBN Buchausgabe: 978-3-86936-231-1
ISBN epub: 978-3-86200-907-7
Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.
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Vorwort
1 | Die alltägliche Überforderung
Missverständnis Arbeitsgesellschaft
Kollektiver Erfolgsgeilheitswahn
Der moralische Blackout
Der einsame Reiter
2 | Die Burnout-Industrie
Eschers Treppe
Vom Kopf auf die Füße
Die volkswirtschaftliche Katastrophe
Burnout in den Medien
3 | Mythos Multitasking
Das digitale Pokerspiel
Wissen, was wichtig ist
No brain, no gain
Weibliche Überlegenheit?
4 | Illusion Zeitmanagement
Technik für die Schallmauer
Herzinfarkt und Spaß dabei
Äpfel und Birnen
Surfen auf der Welle
Vom Rattenrennen zur Schneckenpost
5 | Information Overload
Autopilot unter Volllast
Spielzeug für das Großhirn
Die Qual der Wahl
6 | Die Entgrenzung der Arbeit
Arbeit als Daseinszweck
Satan’s little helper
Die Gesichter der Arbeit
Grenzen als neue Freiheit
7 | Das Chef-Problem
Schnappschuss Führung
Sonne, Mond und Sterne
Kein Spielraum, nirgends
Ende der Fahnenstange
8 | Markt und Moral
Von Bäumen und Mathematik
Der Code des Grauens
Viel Lärm um nichts?
Edel sei der Mensch, …
9 | Der Cooldown – eine Utopie?
Anmerkungen
Quellenverzeichnis
»I heat up, I can’t cool down
You got me spinnin’ ’round and ’round
’Round and ’round and ’round it goes
Where it stops – nobody knows«
Steve Miller Band, »Abracadabra«
Das Telefon klingelt. Am anderen Ende eine Stimme, zögernd: »Sie sind mir empfohlen worden. Ich glaube, ich habe Burnout. Ich pack’s nicht mehr. Können wir einen Termin vereinbaren?«
So oder ähnlich beginnt meist die Kontaktaufnahme mit mir als Psychologe und Coach. Auf meiner braunen Ledercouch – ein bisschen Klischee muss sein – sitzen sie dann: Geschäftsführer, Consultants, Abteilungsleiter, Spezialisten. Aber auch »ganz normale« Arbeitnehmer, Programmierer, Sachbearbeiter, Lehrer, Mitarbeiter gemeinnütziger Organisationen. Sie alle eint die selbst gestellte Diagnose Burnout. Man hat gelesen, gegoogelt, und der Nachbar habe das Problem ja auch.
Bei manchen stimmt die Selbsteinschätzung sogar: Sie haben sich aufgrund von persönlichen Umständen, Erfahrungen und Denkmustern tatsächlich in einen Burnout verstrickt. Löst man die individuellen Probleme, bessert sich bei diesen Menschen auch die Burnout-Symptomatik.
Nicht Sie haben ein Problem. Ihre Firma hat eins!
Immer häufiger muss ich nach eingehender Betrachtung des Falles und der Persönlichkeit des Klienten jedoch sagen: »Nicht Sie haben ein Problem. Ihre Firma hat eins!« Wie bei einer Kette, deren schwächstes Glied reißt, kann man das Glied – in diesem Fall den Mitarbeiter – reparieren oder austauschen. Das ist der Status quo in der heutigen Burnout-Behandlung. Oder man sorgt dafür, dass weniger Gewicht an der Kette zieht. Das wäre die intelligentere und langfristigere Lösung.
Mittlerweile versuche ich, diesen strukturellen Burnout gemeinsam mit den Firmen an der Wurzel zu packen. Das kann funktionieren, wenn der unter Burnout Leidende zum Management gehört und gewillt ist, entsprechende Veränderungen im Unternehmen herbeizuführen. Bei »normalen« Angestellten stößt man naturgemäß schnell an Grenzen. Der Betroffene hat in der Regel keine Gestaltungsmacht in seiner Firma. Er kann keine Geschäftsprozesse verändern, keinen Wertewandel initiieren, keine Informations- und Trainingsmaßnahmen einleiten.
In solchen Situationen verarzte ich den Klienten so gut wie möglich. Trotzdem bleibt dies letztlich Symptombekämpfung. Es ist wie in den sozialpsychiatrischen Tagesstätten: Die Berater können sich ein Bein ausreißen; abends gehen die Kids wieder nach Hause zu ihren Drogenfreunden und ihrer kaputten Familie und nichts ändert sich. Ein für alle Beteiligten frustrierendes, ressourcenfressendes und unproduktives Phänomen. Daher wird es Zeit, mithilfe einer öffentlichen Debatte den individuellen vom strukturellen Burnout zu trennen und beide wirksam anzugehen.
Burnout ist ein Massenphänomen – und ein Massenmarkt.
Burnout ist ein Massenphänomen – und ein Massenmarkt. Ärzte registrieren landauf, landab eine Zunahme von psychischen Störungen, Depressionen und Burnout. Die Umfrage eines großen deutschen Karriereportals ergab, dass sich über 50 Prozent aller Fach- und Führungskräfte in Deutschland permanent überfordert fühlen. In der Presse werden Ursachen und Therapien diskutiert. Eine ganze Industrie aus spezialisierten Ärzten, Therapeuten, Coachs und Programmen zum betrieblichen Gesundheitsmanagement ist erblüht.
Für den Einzelnen ist Burnout ein sehr persönliches Thema, das verbunden ist mit Leid – und dem Eingeständnis von Schwäche. Nicht umsonst kostet es Betroffene oft große Überwindung, sich bei Beratungsstellen, Kliniken, Therapeuten oder Coachs zu melden – und sich damit einzugestehen, dass es tatsächlich Dinge gibt, die größer sind als man selbst. Die man nicht mehr managen kann. Die einen wegreißen wie eine Springflut.
Burnout bedeutet: Ich kann nicht mehr! Ich schaffe nicht, wovon ich glaube, dass ich es schaffen sollte. Der Zusammenbruch im Burnout ist die Kapitulation vor dem »Höher, schneller, weiter«-Zerrbild unserer Zeit. Und vor den eigenen, zu hoch gesteckten Ansprüchen. Die Niederlage trifft den Dahingerafften ins Mark, zielt auf den Kern des modernen Selbstverständnisses: Praesto, ergo sum. Ich leiste, also bin ich.
Umso wichtiger ist es, sowohl die Ursachen von Burnout als auch wirksame Schritte zu benennen, die ihm vorbeugen beziehungsweise ihn eindämmen. Und genau hier läuft einiges verkehrt. Wir haben uns auf Burnout als Problem des Einzelnen eingeschossen. »Herr Müller war schon immer so perfektionistisch«, heißt es dann. Von »Burnout-Persönlichkeiten« ist die Rede, die sich wiederum selbst managen sollen: mit Seminaren zu Zeitmanagement, Stressmanagement, E-Mail-Management, Die-nächste-Mode-kommt-bestimmt-Management. Die Katze beißt sich in den Schwanz, während die Burnout-Industrie von Umsatzhoch zu Umsatzhoch springt.
Die Wahrheit ist: Für den Einzelnen gibt es oft nichts zu managen. Weil Burnout in vielen Fällen nicht allein sein Problem ist. Der tatsächliche Burnout Einzelner ist nur das Ende einer Kette von Fehlentwicklungen, blinden Flecken in Unternehmen und gesellschaftlichen Tabus, die nicht mehr hinterfragt werden: das inhumane Prinzip Multitasking, falsch verstandenes Zeitmanagement, fehlende Medien- und Kommunikationskompetenz bei Mitarbeitern und Führungskräften, die Entgrenzung des Arbeitslebens und eine damit verbundene Auflösung von Rollenmustern, überforderte, schlecht ausgebildete Chefs und ein unverbindlicher, komplex-diffuser Umgang mit Werten in unserer Gesellschaft im Allgemeinen und in Unternehmen im Besonderen.
Die Prävention von Burnout fängt bei jedem Einzelnen als Privatperson an und hört bei Führungskräften auf. Unternehmen bedeutet Führen. Auch Chefs und Manager haben ihren Anteil am kollektiven Burnout. Sie sitzen an den Schlüsselstellen der möglichen Veränderung und sind doch meist selbst Getriebene und damit Teil des Problems. Nicht aus bösem Willen, sondern systembedingt. Es geht um eine Überwindung des eigenen Schattens, um die Veränderung einer Tretmühle, die sie als Manager selbst mitgestaltet haben.
Das alles verlangt neben einer umfassenden Aufklärung einen persönlichen Leidensdruck, Mut und die Gelegenheit, selbst aktiv zu werden. Andernfalls bleibt die Bekämpfung von Burnout ein Symptom-Ringelpiez, der die unterliegenden organisatorischen und strukturellen Bedingungen in Unternehmen nicht wahrnimmt, geschweige denn wirksam bekämpft. Show für die Galerie.
Das werden wir uns so bald nicht mehr leisten können. Nicht nur die Humanität verlangt, dem Burnout endlich wirksam entgegenzutreten. Auch der demografische Faktor sorgt dafür, dass wir Arbeitsausfälle durch Burnout noch empfindlicher spüren werden. Im Sinne von Ethik und Ökonomie müssen wir daher die wahren Ursachen von Burnout diskutieren und angehen – auf gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und individueller Ebene.
Dies bedeutet eine Verlagerung der Diskussion weg von der Bringschuld des Einzelnen und seiner individuellen Therapie. Burnout geht alle an: Führungskräfte und Unternehmenslenker, die Auswege aus der »Weiter so«-Mentalität suchen. Politiker, die in der öffentlichen Debatte neue Impulse setzen wollen. Wissenschaftler, die den strukturellen Aspekt von Burnout weiter erschließen möchten. Und nicht zuletzt den »ganz normalen« Arbeitnehmer, der müde und erschöpft nach neuen Wegen und Möglichkeiten sucht, damit er nicht mehr sagen muss: »Feierabend hab’ ich, wenn ich tot bin.«
P.S.
Alle Personennamen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig. Die in Einzelfällen geschilderten Problemstellungen beruhen auf tatsächlichen Geschehnissen, sind jedoch generalisiert und verfremdet worden.
Sabine Meister zog ihren Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Wohnungstür. Durch den Flur ging sie beschwingt in die Küche. Dienstag. Eigentlich ein guter Tag. Sie setzte ihre Tasche ab, öffnete den Kühlschrank, ließ kurz ihren Blick schweifen, nahm sich eine Limo und schaltete den Rechner an. Sie arbeitete bei einem Versicherungskonzern und seit sie vor zwei Jahren befördert worden war, legte sie immer noch eine kleine Abendeinheit ein. Nichts Großartiges, ein paar Mails, Dokumente etc.
Sie hatte leichte Kopfschmerzen, achtete aber nicht darauf. Sie war hart im Nehmen und das machte sie stolz. Nicht ohne Grund hatte sie sich beruflich so weit hochgearbeitet. »Nur die Harten kommen in den Garten«, hatte ihr Vorstand einmal – nicht mehr ganz nüchtern – zu ihr gesagt. »Worauf du deinen Porsche verwetten kannst«, dachte sie lächelnd. »Stress ist mein zweiter Vorname.« Sie wollte noch kurz Martin anrufen, erinnerte sich aber seltsamerweise nicht mehr an seine Nummer. Egal. Würde ihr schon wieder einfallen.
Sabine Meister setzte sich an ihren Rechner, warf die Post auf den Schreibtisch und öffnete ihren E-Mail-Eingangsordner. Nach ein paar Sekunden füllte sich der Bildschirm mit neuen Nachrichten. Zuerst hatte sie das Gefühl, irgendetwas stimme nicht. Und dann traf sie die Erkenntnis wie ein Schock: Sie erkannte die Namen der E-Mail-Absender, wusste aber nicht mehr, wer sie waren. Christian Ruthe, verflixt, Christian Ruthe. Wo hatte sie den noch mal getroffen? Ruthe war einer ihrer engsten Mitarbeiter, doch das wusste sie in diesem Moment nicht. Genauso wenig wie sie den Namen ihres Chefs erkannte oder den ihrer besten Freundin, die sie fragte, ob sie sie am Wochenende besuchen könne.
Eine Woge der Panik ergriff sie. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Zitternd stand sie auf und ging im Zimmer umher, um sich zu beruhigen. Zuerst dachte sie an einen Schlaganfall, aber sie war völlig klar. Sie zählte bis 20 – auch das klappte. Nur ihr Gedächtnis schien mit einem Mal ausgesetzt zu haben. Völlig verwirrt schaltete Sabine Meister ihren Rechner aus, legte den Kopf in die Hände und versuchte, ihren Atem wieder unter Kontrolle zu bringen. Morgen würde sie als Erstes ihren Hausarzt anrufen.
Im Jahr 1992 fiel ein Sänger namens Jon Bon Jovi in New York vor seinem Publikum auf die Knie und schmetterte ins Mikrofon: »I sleep when I’m dead!« – »Ich schlafe, wenn ich tot bin!« Die Menge raste. In den abschließenden Trommelwirbel rief er seinen Fans zu: »You can quote me on that one!« – »Da könnt ihr mich ruhig zitieren!« Gern geschehen.1
Anders als Prominente in der Öffentlichkeit – von denen manche (wie Keith Richards von den Rolling Stones) tatsächlich aussehen, als würden sie erst schlafen, wenn sie tot sind – plagen uns »normale« Menschen meist profanere Dinge. Wir schlafen nicht erst, wenn wir tot sind – aber viele von uns haben erst Feierabend, wenn sie tot sind. Das ist jedenfalls die Bekenntnislage bei vielen Arbeitnehmern, die im Laufe der Zeit einen immer größeren Druck verspüren, mehr zu leisten, pausenlos präsent zu sein und Höchstleistungen abzuliefern.
Wir sehnen uns nach Einfachheit.
Wir schleppen uns mit einem ständigen Gefühl der Ermüdung und des Nicht-Hinterherkommens durch den Alltag, sind Getriebene unserer Uhren und Terminkalender. Wir fühlen, dass etwas nicht mehr stimmt, dass die Dinge in unserer Arbeitsgestaltung aus dem Ruder gelaufen sind. Etwas ist gesellschaftlich aus der Balance und ins Rutschen geraten, das wir aber nicht benennen können. Dafür haben wir einen untrüglichen Instinkt entwickelt, eine Art Schwarmintelligenz. Leider geht dieser Schuss, diese kollektive Denkanstrengung, meist nach hinten los. Statt uns zu fragen, wie wir unsere Arbeitswelt als Ganzes neu strukturieren können, packen wir den Wellness-Werkzeugkoffer aus, nehmen Moorbäder, Yogastunden und Seminare zur Zeitgestaltung. Wir sehnen uns nach Einfachheit und der schlichten Eleganz eines überschaubaren Tagwerks.
Die Realität sieht anders aus. Der Chef macht Druck, von Politik und Medien werden wir praktisch jeden Tag in Angst gehalten, unseren Job zu verlieren, wir stolpern dahin in unserem Jonglierspiel, um die bunten Bälle der Anforderungen aus komplexer Arbeit, Beziehung, Kindern und ein bisschen sozialem Leben in der Luft zu halten.
Ein mir bekannter Trainer, seines Zeichens Schweizer Staatsbürger, mokierte sich einmal über eine Neujahrsrede von Angela Merkel. »Schauen Sie sich das mal an«, meinte er, halb fasziniert, halb angewidert. »Diese Frau spielt mit den Ängsten der Bürger. Es werde ›ein schweres Jahr‹ und ›man müsse den Gürtel enger schnallen‹. Kein Optimismus, nirgends. Nur ein Häufchen Ängstlichkeit. Also entweder sie ist wirklich so verzagt – dann tun mir die Deutschen leid – oder sie ist verdammt gerissen, die Leute so in Angst zu halten. Denn gucken Sie sich mal Obama an: Yes – we – can. Das ist der wahre Geist. Anpacken. Den Leuten Mut machen. Merkel dagegen – da seid ihr Deutschen wahrlich nicht zu beneiden.«
Es wird Zeit, sich zu besinnen.
Es wird Zeit, sich zu besinnen. Zeit, auf unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft und uns selbst zu blicken, auf unsere Werte und Denkmuster. Damit wir keine buddhistischen Klöster mehr besuchen müssen, um Frieden zu finden, sondern an unseren Arbeitsstätten zu mehr Ausgeglichenheit kommen. Es geht um eine nicht nur an Zahlen orientierte Arbeitswelt. Es geht um Menschlichkeit, vernünftige Produktivität, Grenzziehungen und eine Sinnstiftung, die den Menschen und das Unternehmen befruchtet – damit beide nicht im Burnout verbrennen.
Es gibt eine hübsche, sehr bekannte Werbung für einen Tampon. »Die Geschichte der Menstruation ist eine Geschichte voller Missverständnisse«, flötet die gutaussehende Schauspielerin und lässt den Rollladen hinter der Präsentationswand herunter. Ein durch mannigfaltigen Kabarettgebrauch mittlerweile ebenso viel zitierter wie legendärer Satz.
Früher arbeitete man, weil man musste. Nicht, um sich zu verwirklichen.
Dass die individuelle Arbeit ein sinnstiftendes und damit die Existenz des Einzelnen entscheidend prägendes Moment sein sollte, ist ein relativ junges Phänomen der letzten 100 Jahre. Früher arbeitete man, weil man musste. Nicht, um sich zu verwirklichen. Im griechischen Altertum galt Arbeit als Strafe der Götter. Die Griechen strebten nach einem Ideal aus Grundbesitz, Wohlstand und Tugenden. Arbeit wurde nur im sportlichen und militärischen Bereich geleistet und war im Übrigen Sache der Sklaven. Die Griechen nahmen mit ihrer Teilung der arbeitenden Sklavenbevölkerung von der der Muße frönenden Bürgerschicht die Entwicklung der europäischen Ständegesellschaft vorweg. Auch in der Sprache drückt sich der historische Zwangscharakter von Arbeit aus: Die Franzosen verwenden für »Arbeit« das Wort »travail«, das sich vom lateinischen »tripalus« ableitet – dem »Dreipfahl«, einer Vorrichtung, mit der man widerspenstige Pferde bändigte.2
Noch im 17. Jahrhundert dozierte der englische Philosoph John Locke: Arbeit nur um der Arbeit willen ist gegen die menschliche Natur. Arbeit muss getan werden, um Essen auf dem Tisch zu haben, für Geld, für Kleidung und ein Heim. Arbeit hieß seinerzeit, mit der Sonne aufzustehen, sein Tagwerk zu verrichten und abends müde auf den Strohsack oder das Bett zu fallen. Ohne Perspektive, Karriereplanung oder Rentenabsicherung. Allein die Adligen konnten aus diesem Mechanismus ausbrechen: Sie mussten gar nicht arbeiten, sondern konnten sich der Kunst, der Wissenschaft oder der Religion widmen. Schnöde Arbeit verwirrte den Geist und hielt einen ab von der Betrachtung der schönen Künste, den Studien der Mathematik und den diplomatischen Verpflichtungen. Arbeit bedeutete in der Regel Knochenarbeit und war ein Garant für körperliche Schäden, frühes Altern und einen stillen Tod. Bauern und Handwerker konnten ein Lied davon singen.
Mit der Aufklärung setzte sich ein bislang unbekanntes Phänomen durch und eroberte langsam, aber sicher die Arbeitswelt: das Büro. Der Autor Hajo Eickhoff pointiert scharf, dass im 17. und 18. Jahrhundert »Beamte, mathematisch versierte Kaufleute und Versicherungsexperten, Geistesarbeiter und Kanzleiarbeiter erst zu Büromenschen erzogen werden [mussten]. Denn nicht nur der Mensch ordnet das Büro, sondern das Büro zwingt den Menschen in eine neue Ordnung des Denkens, Fühlens und Verhaltens.« Und weiter: »Eine Begleiterscheinung der Aufklärung ist eine gewisse Verdunkelung und Begrenzung des Menschen, denn Büroarbeit ist Verlust an Licht und an Beweglichkeit. Im Büro ist das Tageslicht vermindert, die frische Luft reduziert, ein strenges Einhalten von Zeit erforderlich und vielfach Bewegung und Beweglichkeit eingeschränkt.«3
Das Büro hat die Arbeitswelt verändert.
Wie erfreulich. So manche Bankfiliale oder Amtsstube verströmt heute noch den Charme eines möblierten, dunklen Erdlochs, aus dem Freude, Sonnenlicht und Kreativität als verbannt erscheinen. Laut Eickhoffs Betrachtungen randalierten damals tatsächlich einige Adlige mit Waffengewalt, weil sie ihren Alltag nicht einem stereotypen Büroablauf unterwerfen wollten. Es wäre wahrhaft ein Schauspiel, flögen heute Schreibtische durch Fenster, geworfen von adrett gekleideten Büromenschen mit Zornesröte im Gesicht.
Noch bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts hinein, nach zwei Weltkriegen und einer Gesellschaft im Schockzustand, war Arbeit ein notwendiges Übel, dem man aus Geldgründen nachging. Legal oder auf dem Schwarzmarkt. Auch die Möglichkeit der Berufswahl war eher gering ausgeprägt. Bauern vererbten ihre Höfe an den Sohn, Handwerksbetriebe gingen an die Kinder über. Ebenso größere Firmen, bei denen man, zum Beispiel bei den Unternehmerfamilien Quandt oder Merck, die Grundlagen und Verläufe der Deutschland AG nachzeichnen konnte. Ein weiteres Gesicht der Arbeitslandschaft waren die »Trümmerfrauen«, die nach 1945 zum Symbol des deutschen Wiederaufbaus wurden. Sie versinnbildlichten harte Arbeit, ohne viel zu fragen, eine aus Leid geborene Schaffenskraft, die sich zu Recht als historische Leistung quasi in den genetischen Code der deutschen Nachkriegsgesellschaft eingeprägt hat.
Erst mit den 68ern und ihrer pädagogischen, intellektuellen und sexuellen Revolution stellte man auch im Bereich der eigenen Arbeitsleistung die Frage nach dem Warum. Eine Verbreiterung der Bildungswege, das dreigliedrige Schulsystem und die zunehmende Definition der eigenen Persönlichkeit durch Arbeit wurden zum Bestandteil des kollektiven Unterbewusstseins nach dem Wirtschaftswunder. Bis in die heutige, schnelllebige Zeit der Job rotation hinein gehört das »Du kannst tun, was du willst«-Mantra zum Selbstkonzept vieler qualifizierter Fachkräfte und Wissensarbeiter. Oder, wie es mein damaliger Studienberater beim Arbeitsamt ausdrückte: »Psychologe? Warum nicht? Wenn schon arbeitslos, dann doch wenigstens in einem Beruf, der Ihnen Spaß macht.« Ich muss zugeben, dass mich diese Begegnung in meinem Verhältnis zur staatlich regulierten Arbeitsvermittlung einigermaßen geprägt hat.
Während der letzten 60 Jahre hat die Bedeutung der Arbeit für das eigene Selbstbild einen enormen Wandel durchlaufen: Man arbeitet nicht mehr (nur) um des Geldes willen, weil man den Betrieb geerbt hat oder weil man einfach nichts anderes machen konnte, als Schornsteinfeger in Obertraubling zu werden. Der Beruf als solcher ist zu einer, wenn nicht gar der entscheidenden Stütze des Selbstkonzepts geworden. Die eigene Arbeitsleistung ist heutzutage Ausweis einer individuellen Sinnstiftung und damit umfangreicher Teil der eigenen Identität.
Heute bilden die 20- bis 30-Jährigen den genauen Gegenpol zu ihrer Eltern- und Großelterngeneration, die nach dem Zweiten Weltkrieg Tritt fassen mussten. Ging es in den späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren vor allem darum, auf dem Schwarzmarkt zu handeln, jeden Job anzunehmen und irgendwie durchzukommen, hat die heutige junge Generation vor allem das Süßwarenladen-Problem: Es gibt so viele Möglichkeiten der Berufswahl, dass wir überwältigt sind und gar nicht wissen, wohin wir zuerst greifen sollen. Weil wir heute so frei wählen können, sind wir für unsere Wahl und deren Ergebnis umso mehr verantwortlich. Darum tun wir alles, was möglich ist – und im Burnout auch darüber hinaus –, um uns und der Welt zu bestätigen, dass unsere Wahl richtig war und wir die Meister unseres Lebens sind. Und weil im Süßwarenladen von Beruf und Karriere sehr viel von unserer Wahl abhängt, überwältigt uns das Angebot bis zur Frustration. Aus Angst, im Leben gleich zu Beginn einen falschen Pfad einzuschlagen, geraten auf diese Weise junge Leute neuerdings in eine Art Schockstarre.
Der Beruf ist zu der entscheidenden Stütze des Selbstkonzepts geworden.
Die junge Journalistin Nina Pauer liefert dazu eine hellsichtige Analyse. »Was uns umtreibt, ist die schizophrene Panik davor, unser Leben falsch zu leben«, schreibt sie. Die heutige Generation der 25- bis 35-Jährigen sei besessen von der Angst, im Leben etwas zu verpassen. Gleichzeitig fürchte sie, sich nirgendwo wirklich zu verwurzeln und damit eine Verpflichtung über ein rasches Dahingleiten im Strom des Lebens hinaus einzugehen. Man binde sich nicht mehr an eine Stadt, einen Partner, einen Verein, eine Kirche. Man unterliege der zwanghaften Vorstellung, ständig mobil sein zu müssen, seine Zelte abbrechen zu können, sich aufzumachen zu einer besseren, passenderen, einträglicheren Lebensperspektive. Pauer nennt das die Jagd nach der »richtigen Version unserer selbst«. Der Segen unseres multioptionalen Lebens sei gleichzeitig dessen Fluch: Alles ist möglich.4
Grundsätzlich ist es zwar nicht schlecht, wenn die Arbeit zum »Glück spendenden Grund« des eigenen Lebens wird, wie Viktor Frankl, Psychotherapeut und Begründer der Logotherapie schreibt. Doch Frankl, der große Denker und Verfechter eines sinnerfüllten Lebens, erkannte genauso die Gefahr, die einer entgrenzten Sinnsuche innewohnt. Im Gegensatz zum Tier, dozierte er, gebe es beim Menschen keinen ursprünglichen Instinkt, der ihm sage, was er tun müsse. Und in unseren modernen Zeiten, in denen sich traditionelle Rollenbilder und soziale Verbindungen zunehmend auflösen, habe er auch keine Vorgabe aus Tradition oder Familie mehr, was er tun solle. Als Ergebnis versage der heutige Mensch darin, zu wissen, was er grundsätzlich wolle.5
In der Konsumwelt findet man ein ähnliches Phänomen: Die Konsumforschung hat herausgefunden, dass der Kunde zwar grundsätzlich Wahlfreiheit will, jedoch ebenso schnell überfordert ist, wenn zu viel Auswahl herrscht. In Studien der Textilindustrie wurde gezeigt, dass Frauen beispielweise maximal acht Hosen miteinander vergleichen können. Bringt der Verkäufer mehr, schlägt die Kauflust in Frust um. Die Wahl scheint nicht mehr beherrschbar und mit angemessenen Mitteln in einer angemessenen Zeit zu bewältigen. Schon die Stellung der Kleiderständer und -tische in einem Kaufhaus kann Frust auslösen, wenn der Kunde vom Angebot visuell überwältigt wird.
In der Arbeitswelt kann sich ebenfalls ein solcher Frust bilden, allerdings in Zeitlupe. Ich beschäftige mich so lange mit Ausbildungswegen und Karrieremöglichkeiten, bis ich mich im Angebot des Aus- und Weiterbildungsdschungels verloren habe. Denn woher will ich wissen, ob der Ausbildungsweg tatsächlich meinen Talenten entspricht? Ob ich es schaffen werde? Halte ich mich für fähig, auch schwierige Situationen zu meistern und unvorhergesehene Probleme zu lösen?
Im Übrigen erkennt man anhand solcher Überlegungen den Unterschied zwischen Optimismus und Selbstvertrauen. Optimismus ist die einfache Hoffnung, es werde schon alles gut. Selbstvertrauen ist die aus der eigenen Erfahrung gewonnene Überzeugung, Probleme angehen und überwinden zu können. Das ist ein enormer Unterschied – nämlich der zwischen Erfolg und bloßem Glück. Niemand hat diesen Gedanken so perfekt verkörpert und transportiert wie der US-Präsident Barack Obama mit seinem Slogan »Yes, we can!« – auf der ganzen Welt längst ein geflügeltes Wort.
Ein solches Selbstvertrauen brauchen wir auch im Hinblick auf unsere Berufswahl. Im Großen und Ganzen jedoch scheint der moderne Mensch Mühe zu haben, seinen ganz speziellen Berufs- und Karriereweg unter den vielen Angeboten zu wählen. Hat er ihn aber erst einmal gefunden, wird er zu einem wichtigen Teil seines Selbstbilds, zu einem sinnstiftenden Korsett, das den Einzelnen durch den Alltag trägt. Management-Coach Maren Fischer-Epe benutzt hierzu das Bild der fünf Säulen der Identität: Arbeit und Leistung, soziales Netz, Körper, materielle Sicherheit, Normen und Werte.6
Der Bereich »Arbeit und Leistung« lässt bei den meisten Menschen keinen Raum für anderes mehr.
Der Bereich »Arbeit und Leistung« spielt bei den meisten Menschen eine so große Rolle, dass dadurch andere Bereiche zu kurz kommen. Wer kennt nicht den Manager, der seine Frau nur alle zwei Wochen sieht, oder die Führungskraft, die über schwerwiegende körperliche Symptome der Überarbeitung klagt. Entsprechend durchschlagend ist hier das Ergebnis eines Burnout. Wie wir später noch sehen werden, kann ein Burnout den eigenen Selbstwert als Arbeitskraft empfindlich stören. Obwohl (oder gerade weil) man also noch in Lohn und Brot steht, brennt man aus. In den Kategorien von Fischer-Epe gesprochen, wächst der Bereich »Arbeit und Leistung« zu einem sogenannten Roten Riesen heran. Rote Riesen heißen in der Astronomie alternde Sonnen, die kurz vor der Explosion stehen. Und ähnlich wie bei Sternen passiert bei Burnout-Betroffenen das, was passieren muss: Sie implodieren und fallen aus dem System heraus.
Noch düsterer sieht es aus, wenn Menschen ihre Arbeit verlieren. Fischer-Epe beobachtet in ihren Studien, wie Führungskräfte durch Arbeitslosigkeit in eine ungewöhnlich große Krise gestoßen werden, die »in ihrem Ausmaß oft nur aus der besonderen Bedeutung dieses Themas für das Selbstwertgefühl« nachzuvollziehen ist.7 Das gilt beileibe nicht nur für Manager und Führungskräfte. Nimmt man Menschen ihre Arbeit als tragende Säule ihrer Identität, wirft man sie zurück auf grundlegende Fragen: Was macht mich eigentlich als Person aus, auch ohne gut bezahlten Job? Bin ich überhaupt noch etwas wert? Verändert sich mein Verhältnis zu meiner Familie, meinem Partner? Viele Arbeitnehmer haben sich diesen Fragen bislang nicht gestellt; als entsprechend belastend werden sie nun erlebt. Bislang war fast jede Situation durch Selbstdefinitionen wie »hart arbeitend«, »Ernährer«, »sozialer Status« geerdet. Im Burnout fällt dieses Korsett weg und man muss zu einem Selbstverständnis jenseits der Arbeitsrolle finden.
Was macht mich als Person aus? Bin ich noch etwas wert?
Als Teil der westlichen Wohlstandsgesellschaft war ich darum verblüfft, als ich 2003 auf einer Reise durch Australien mit der Kultur der Aborigines in Kontakt kam. Die Ureinwohner Australiens kannten bis vor Kurzem das westliche Arbeitskonzept überhaupt nicht. Im Norden des Kontinents, in Darwin, unterhielt ich mich mit einem Veranstalter von Outback-Safaris, der mir diese Mentalität schilderte. Man versuche, die Aborigines in Jobs zu vermitteln – als Angestellte einer Wäscherei, als Touristenführer, Verkäufer etc. »Es funktioniert nicht«, berichtete der Reiseleiter. »Sie begreifen nicht, dass sie dableiben müssen. Wenn sie den Ruf des Walkabout [die Aufforderung, an einer Stammesversammlung teilzunehmen] hören, lassen sie einfach alles stehen und liegen und verschwinden in den Busch. Das Konzept ›Arbeit gegen Geld‹ ist ihnen völlig fremd.«
Es ist erfrischend und erhellend, hautnah eine völlig andere Einstellung zum Thema »Arbeit und Geld« zu erfahren. Geld als symbolisches Tauschmittel für Arbeitsleistung, Erfolg und materiellen Konsum kommt im kulturellen Koordinatensystem der Aborigines nicht vor. Die Ureinwohner Australiens haben seit über 40 000 Jahren ein sehr entspanntes Verhältnis zu dem für sie nebensächlichen Thema »Arbeit« – ganz anders als wir in der westlichen Welt, die wir die Arbeit an sich auf einen Altar heben und aufgrund des mit Arbeit verdienten Geldes lächerliche »Mein Haus, mein Boot, mein Auto«-Vergleiche veranstalten.
Können wir im Gesellschaftsspiel um Karriere, Geld und erkauftes Glück keine neuen Karten mehr zücken, wird es für manche eng. Besonders Männer trifft beispielsweise eine Entlassung in ihrer Rolle als Ernährer, Versorger und Beschützer der Familie hart. Im modernen männlichen Selbstkonzept hat sich das frühzeitliche Beschützen vor dem Säbelzahntiger in die eher materielle Fürsorge für die Familie verwandelt. Entlässt man den modernen Mann, schlägt man ihm die Keule aus der Hand und verstößt ihn aus dem Stamm, in dem er nun mal keine sinnvolle Funktion mehr hat. Es gibt arbeitslose Männer, die ihren Frauen noch monatelang eine heile Arbeitswelt vorspielen: Sie gehen morgens aus dem Haus und tun so, als gingen sie zur Arbeit. Dabei verschwinden sie im Café um die Ecke und tauchen erst abends wieder auf, möglicherweise noch mit erfundenen Geschichten aus dem Kollegenkreis. Daran erkennt man, wie groß das Leid der aus der Gruppe der arbeitenden Bevölkerung Ausgestoßenen ist.
Hast du Arbeit, bist du etwas wert. Wenn nicht, dann nicht.
Burnout, Entlassung und Arbeitslosigkeit sind die neuralgischen Punkte einer Gesellschaft, die Arbeit zu ihrem Daseinszweck erhöht. Hast du Arbeit und leistest du was, bist du was wert. Wenn nicht, dann nicht. Kein Wunder, dass in Deutschland alles, was mit Arbeit zu tun hat, in teilweise hysterisch-neurotischen Tönen diskutiert wird: Hartz IV, Mindestlöhne, Reichensteuer, Managerbezüge. Weil Arbeit praktisch bei jedem Menschen identitätsstiftend und gleichzeitig ein durch Entlassungsdrohung und Burnout potenziell hoch angstbesetztes Thema ist, können wir als Gesellschaft darüber auch nicht ruhig und sachlich diskutieren.
Im Endeffekt leben wir im Spannungsfeld von Arbeit als Lebensinhalt und deren ständiger Bedrohung durch persönliche Sinnkrisen, wirtschaftliche Krisen und Entlassung. Besserung ist erst in Sicht, wenn wir lernen, die Bedeutung der Arbeit für uns selbst und unser geistiges Wohlbefinden deutlich zu reduzieren. Dadurch würden wir mehr für die Prävention von Burnout tun als mit allen gut gemeinten Zeitmanagement-Seminaren zusammen.
Mit 21 Jahren wurde bei Theresa Häuser Hochbegabung diagnostiziert. Sie hatte sich aus Neugier durch ganze Batterien von Intelligenz- und Persönlichkeitstests gewühlt und mehr über sich herausgefunden, als sie wissen wollte.
Was für andere wie ein Sechser im Lotto klingt, war für sie eine enorme Belastung. Natürlich ist es schön, als Hochbegabter Dinge schnell zu begreifen, zu analysieren und auf vielen Gebieten Wissen anzuhäufen. Die Kehrseite der Medaille besteht für die meisten Hochbegabten darin, partout nicht herauszufinden, welchen beruflichen Weg sie denn nun einschlagen sollen. Weil sie bis zu einem mehr als ansprechenden Niveau die meisten Fächer und Gebiete einfach sehr schnell lernen.
Als sie mit Mitte 30 zu mir ins Coaching kam, meinte sie einmal: »Mathematik ist mein schlechtestes Gebiet. Trotzdem hätte ich immer noch Mathematik studieren können. Aber hätte es mich glücklich gemacht?« Solche »Hätte, könnte, würde«-Debatten sind typisch für Hochbegabte. Theresa Häuser hatte schlussendlich nicht Mathematik studiert. Heute hat sie aus der Not eine Tugend gemacht, indem sie auf eine Stromlinienkarriere verzichtete. Sie war bei mehreren Firmen beschäftigt, wechselte einmal die Branche und ist heute, mit knapp 38 Jahren, erfolgreich als Beraterin selbstständig.
Zu meinen Klienten gehören auch Hochbegabte wie Frau Häuser, deren Lebenslauf sich wie aus einem Karrieretraum-Poesiealbum liest, die aber kreuzunglücklich sind. Sie könnten viele Positionen erfolgreich ausfüllen und zweifeln trotzdem stark an sich. Ein ausgeprägtes Jobhopping ist die Folge. Weil sie sich nicht an Feedback von außen orientieren können (weil sie einfach viele Dinge sehr schnell begreifen und beherrschen), müssen sie sich allein auf ihren inneren Kompass verlassen, der ihnen sagen soll, welchen Berufsweg sie nun einschlagen. Und das gestaltet sich meist schwierig. Nach außen erfolgreich, fragen sie sich manchmal ihr Leben lang: War diese Wahl richtig? Oder hätte ich mein Potenzial noch besser nutzen sollen? Wenn ich mit Hochbegabten arbeite, gebe ich ihnen meist einen Satz der Journalistin Mary Schmich mit auf den Weg: »Einige der interessanten Menschen, die ich kenne, wissen mit 22 noch nicht, was sie werden wollen. Und einige der interessantesten wissen es mit 40 auch noch nicht.«8
Die bonbonfarbene Lüge unserer Spaß- und Erfolgsgesellschaft lautet: Du kannst alles schaffen!
Man muss nicht hochbegabt sein, um an seiner Berufswahl zu zweifeln. Auch »ganz normale« Menschen spüren manchmal einen leisen Zweifel, eine Sehnsucht, wie es wohl wäre, wenn sie ihr Leben anders gelebt hätten. Dieser Zweifel wird besonders der heutigen jungen Generation eingepflanzt, egal wie begabt sie ist. Es ist die bonbonfarbene Lüge unserer Spaß- und Erfolgsgesellschaft: »Du kannst alles schaffen!«
Diese Lüge lässt sich mit Blick auf den Unterschied zwischen den Botschaften der Medien und den Nachwuchssorgen von Unternehmen allerdings schnell entlarven. Eine nicht unerhebliche Anzahl junger Menschen unter 20 Jahren glaubt inzwischen ernsthaft, das Berufsleben gleiche einer Castingshow: sich einmal präsentieren, sich seine fünf Minuten Ruhm abholen und dann davon zehren. Dass zu einem Beruf Durchhaltevermögen, Kreativität, soziale Intelligenz und nicht zuletzt eine gehörige Portion Bildung gehören, ignorieren sie. Auf der anderen Seite stehen vor allem mittelständische Unternehmen, die händeringend Nachwuchs suchen. Es würden sich entweder gar keine jungen Leute melden oder nur solche, die zu ungebildet sind, klagen viele Arbeitgeber. Hier eine kleine Anekdotensammlung:
Ein Handwerksmeister erwähnte einmal, dass er bei Auszubildenden inzwischen Dinge wie den mathematischen Dreisatz gar nicht mehr voraussetze. »Hauptsache, der Betreffende kann einigermaßen Deutsch und weiß, wie man die Hand gibt«, lautet sein resigniertes Fazit.
Ein Gymnasiallehrer (!) berichtete mir, seine Schüler würden Begriffe wie »addieren« und »subtrahieren« nicht mehr verstehen. Er sehe sich genötigt, auf die Behelfswörter »hinzunehmen« und »abziehen« auszuweichen.
Ein weiterer Gymnasiallehrer berichtete mir von der Beschwerde eines Schülers. Der Lehrer hatte ihm im Fach Deutsch ein Wort als falsch angestrichen. Doch dieses Wort, so der (deutschstämmige) Schüler, sei nicht »in den 1000 Wörtern Grundwortschatz enthalten«, die er wissen müsse. Und wir reden hier nicht von einer Brennpunkt-Hauptschule, sondern von einem ländlichen Gymnasium, wo angeblich »die Welt noch in Ordnung ist«.
Erfolg und (mediale) Aufmerksamkeit sind die neuen Währungen unserer Gesellschaft. Das bekommen junge Menschen heutzutage von Kindesbeinen an eingetrichtert. Und wieso sollten sie auch daran zweifeln? Ihre Eltern leben ihnen doch das entsprechende Weltbild vor.
Erfolg und (mediale) Aufmerksamkeit sind die neuen Währungen unserer Gesellschaft.
Sichtbarer beruflicher Erfolg ist so ziemlich das Einzige, wodurch wir uns noch unterscheiden. Familie? Fehlanzeige. Die Großfamilie ist tot, die Zahl der Singlehaushalte nimmt zu. 40 Prozent aller Paare, die zusammenleben, wollen nicht heiraten. Es könnte ja was Besseres nachkommen. Religiöse Identität? Gibt’s nicht mehr. Die Mehrheit der Menschen findet ihren Weg in die Kirchen gar nicht mehr beziehungsweise erst bei erneutem Ausbrechen einer Finanzkrise. Wenn’s dick kommt, kriecht man eben doch gern bei Mutti unter. Sozialer Kitt wie Vereine, Verbände oder Ähnliches? Alle diese freiwilligen Institutionen ächzen unter massivem Mitgliederschwund. Einzige Ausnahme sind Fitnessclubs, weil Menschen dort ihre Selbstoptimierung in einem anderen Bereich als dem der Arbeit ausleben und vorantreiben können.
Die jungen Leute merken das alles und richten sich entsprechend aus. Ein Bekannter von mir arbeitet mit Hauptschülern. Er versucht ihnen beizubringen, dass sie für ihren Lebens- und Berufsweg hart arbeiten müssen. Meist ohne Erfolg. Einer der Hauptschüler antwortete auf die Frage, was er denn werden wolle: »Geschäftsführer!« Und er wolle »einen Porsche fahren«. Wie er das denn bezahlen wolle? »Keine Ahnung. Werd’ ich halt Fußballspieler.« Und wenn das nicht klappt? »Scheißegal. Hartz ich eben.«
Immer öfter erleben all die Sozialarbeiter, Lehrer, Jugendbetreuer auf der einen Seite eine Realitätsblindheit bis zum Psychosenverdacht und andererseits eine Gier nach Status und Erfolg – die wir als Gesellschaft den Jugendlichen einpflanzen. Durch Werbung, Materialismus und eine »Du kannst alles schaffen«-Mentalität. Deshalb lassen sich junge Leute, die nicht mal im Ansatz singen können, von Dieter Bohlen in einer Weise demütigen, für die man in einem gestandenen Sadomaso-Studio eine Menge Geld hinlegen müsste. Sogar die so »Erfolgreichen« gehen vielleicht durch eine Saison, werden mit Knebelverträgen ausgepresst und dann gegen den nächsten Trottel ausgewechselt.
Wir sind kollektiv erfolgsgeil.
Diese Art von »Erfolg« ist fragwürdig genug. Doch als Schattenseite einer solchen Entwicklung ist man nicht nur für seinen Erfolg, sondern auch für seinen Misserfolg verantwortlich. Wo Klassen- und Standesbeschränkungen fehlen, wo man in einem weiten Feld und nicht mehr in einem begrenzten Parcours laufen muss, wo keine Kirche und kein soziales Netz mehr Schutz bieten, trifft einen die Wucht des eigenen beruflichen Versagens umso härter. Dieses Versagen muss nicht unbedingt Arbeitslosigkeit bedeuten. Man kann auch erfolglos und unglücklich sein, während man noch Arbeit hat. Gerade Burnout-Betroffene sind sehr gut darin, in ihrem Job Erfolgsziele so zu definieren, dass sie sie gerade nicht erreichen. So »motivieren« sie sich durch ihre Niederlage zu noch größerer Anstrengung.
Egal ob Burnout oder nicht, egal ob Unternehmensberater oder Bandarbeiter: Wir sind zum beruflichen Erfolg verdammt. Das System lässt keinen Spielraum mehr. Deshalb sind wir kollektiv erfolgsgeil. Wie eine Monstranz tragen wir unseren Erfolg vor uns her; er ist Zuckerbrot und Peitsche zugleich, gibt uns Motivation und droht uns gleichzeitig mit gesellschaftlicher und menschlicher Entwertung. Wir müssen gebraucht werden, die Gesellschaft muss unsere Arbeitskraft wollen, sonst zerschellt unser Schiff des Selbstvertrauens an der Klippe des eigenen Versagens.
Das ist auch der Grund, warum viele Langzeitarbeitslose nicht mehr vermittelbar sind. Bis auf wenige Ausnahmen, die sich einen Kern Selbstachtung bewahrt haben, ist besagtes Schiff zerschellt und unwiederbringlich gesunken. Der einzelne Arbeitslose hat in einer Zeit, die Arbeit als Lebensmittelpunkt begreift, seine Existenzberechtigung quasi an der Garderobe abgegeben. Nicht, dass ihm das jemand vorwerfen oder es so formulieren würde. Die Gesellschaft und deren kollektives Bewusstsein bringen ihn dazu, so zu denken. Eine für den Einzelnen dramatische, manipulatorische Meisterleistung.
Wir markieren unser Revier mit den Dingen, die uns die Werbeindustrie als erstrebenswert vorgaukelt.
Mit solchen Überlegungen beschäftigt sich der Arbeitnehmer, der gerade auf seiner Karrierewelle surft oder zumindest noch einen Job hat, nicht. Für ihn geht es vielmehr um die Sicherung des Erfolgs und seine Übersetzung in materielle Zeichen. Das Revier muss markiert werden, am besten mit den Dingen, die uns die Werbeindustrie als erstrebenswert vorgaukelt. Dafür gibt es zahlreiche Möglichkeiten: Autos, Reisen, Möbel, Kleidung, Uhren. Ein schöner Spruch lautet: »Wir kaufen Dinge, die wir nicht brauchen, mit Geld, das wir nicht haben, um Leute zu beeindrucken, die wir nicht mögen.« Neueste Zahlen des Zentralverbands der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) zeigen, dass 2009 allein im deutschen Fernsehen 3,7 Millionen Werbespots gesendet wurden.9 Das sind pro Tag knapp 10 137 und pro Stunde etwa 422. Die deutsche Werbebranche insgesamt machte 2009 einen Umsatz von fast 29 Milliarden Euro. Und diese Zahl beinhaltet bereits einen Rückgang des Umsatzes um 6 Prozent im Vergleich zum Jahr 2008.
Diese Werbung nennt Oliviero Toscani, der Macher hinter den umstrittenen Benetton-Werbekampagnen (in denen schon mal blutverschmierte Hemden mit Einschusslöchern gezeigt werden), schlicht »Verbrechen gegen die Intelligenz«, ein »künstliches und abgeschmacktes Reich, das uns seit bald dreißig Jahren verblödet«. In seinem furiosen Manifest gegen die herkömmliche Werbung rechnet Toscani ab: »Für Zehntausende von Dollar wird ein Supermodel in Szene gesetzt, um frischverliebten Friseusen ohne das nötige Kleingeld und schwärmerischen Sekretärinnen auf der ganzen Welt Parfums zu verkaufen. Sie alle werden heißgemacht auf einen unerreichbaren bürgerlichen Traum. Die Werbung verkauft keine Produkte oder Ideen, sondern ein verfälschtes und hypnotisierendes Glücksmodell. […] Man muss die breite Öffentlichkeit mit einem Lebensmodell blenden, dessen gesellschaftliches Ansehen es verlangt, dass man Garderobe, Möbel, Fernseher, Auto, Haushaltsgeräte, Kinderspielzeug, einfach sämtliche Gebrauchsgegenstände so oft wie möglich erneuert. […] Diese groben Vereinfachungen werden bis zum Erbrechen wiederholt.«10
Werbung soll zum Kaufen verführen. Produkte sollen mit Wohlgefühl assoziiert werden, mit Status, Exklusivität, sichtbarem Erfolg. Vielleicht glauben wir, dass ein solches Zeigen von Erfolg sexy ist. Was jedoch garantiert nicht sexy ist: den anderen mit der Nase auf die Spur des angeblichen eigenen Erfolgs stoßen zu wollen. Zur idealen Plattform für derart ichbezogene Inszenierungen haben sich soziale Netzwerke wie XING, Twitter oder Facebook entwickelt. Dort präsentieren sich manche »Jäger des verlorenen Erfolgs« mit einer Penetranz, als gäbe es kein Morgen.