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Deutschland am Wendepunkt? Wie wir die Zukunft unserer Wirtschaft verspielen und was wir dagegen tun können Deutschland als eine der führenden Industrienationen ist bekannt für Zuverlässigkeit, ausgezeichnete Produkte und eine hohe Arbeitsmoral. Doch jetzt droht der deutschen Wirtschaft die intellektuelle Zahlungsunfähigkeit; immer öfter steht sie blamiert da. Das Land der Dichter und Denker verkommt zum Meister des Halbgaren, der weder Bahnhöfe noch Flughäfen fertig bauen kann und beim Management von Corona und Co. versagt. Die deutsche Wirtschaft verliert an Innovationskraft und droht, in alten Bildungs- und Arbeitsmustern steckenzubleiben: personell, strukturell, technologisch. In seinem neuen Buch denkt der Psychologe Markus Väth Arbeit und Wirtschaft neu und entwickelt Ideen für eine gelingende Arbeitswelt. Der Wechsel von einer ich-zentrierten zu einer wir-zentrierten Gesellschaft, komplexe Arbeitsverhältnisse, aber auch die Frage nach dem Sinn von Arbeit oder der sich verschärfende Fachkräftemangel setzen unsere Wirtschaft zunehmend unter Druck. "Für einen echten Schritt nach vorn reicht eine 'Veredelung' der alten Denk- und Managementansätze nicht mehr", sagt Markus Väth. "Wir brauchen einen echten Musterwechsel hin zu einer Unternehmensführung durch Verantwortung und Vertrauen, hin zu mehr sinnvoller Arbeit und hin zu einer Wertschöpfung durch Wertschätzung. Wir müssen Bildung neu denken und eine Kultur des Digitalen in Wirtschaft und Politik schaffen. Und wir müssen ein Wirtschaftssystem fördern, das auf Gemeinwohl und Innovation ausgerichtet ist." Markus Väth analysiert scharfsinnig die Schwachstellen unseres Arbeits- und Wirtschaftssystems und weist gleichzeitig einen Weg in die Zukunft. Er ist überzeugt: Nur wenn wir unsere Wirtschaft und unser Arbeitssystem gleichzeitig bejahen und reformieren, können wir Deutschlands strukturelle Wirtschaftsprobleme lösen und eine zukunftsfähige Arbeitswelt schaffen.
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Seitenzahl: 313
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Wir übernehmen Verantwortung! Ökologisch und sozial!
Verzicht auf Plastik: kein Einschweißen der Bücher in Folie
Nachhaltige Produktion: Verwendung von Papier aus nachhaltig bewirtschafteten Wäldern, PEFC-zertifiziert
Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland: Herstellung und Druck in Deutschland
MARKUS VÄTH
Wie wir unsere Wirtschaft retten
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© 2022 GABAL Verlag GmbH, Offenbach
Das E-Book basiert auf dem 2022 erschienenen Buchtitel »Musterwechsel. Wie wir unsere Wirtschaft retten.« von Markus Väth © 2022 GABAL Verlag GmbH, Offenbach.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN Buchausgabe: 978-3-96739-087-2
ISBN epub: 978-3-96740-154-7
Lektorat: Claudia Franz, Oberstaufen | [email protected]
Umschlaggestaltung: Buddelschiff, Stuttgart | www.buddelschiff.de
Titelfoto: Photo by Ash from Modern Afflatus on Unsplash
Autorenfoto: © Lena Wenz
Satz und Layout: Das Herstellungsbüro, Hamburg | www.buch-herstellungsbuero.de
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Deutschland am Wendepunkt
KAPITALISMUS: Besser als sein Ruf
Von Ausbeutern und Kostendrückern: Das Narrativ vom bösen Kapitalismus
Am liebsten Vollzeit und Beamter: Was unsere Jobwünsche über uns verraten
Der Kapitalismus sind wir: Wie wir Wirtschaft und Gesellschaft versöhnen
WERTSCHÄTZUNG: Mehr als Geld und warme Worte
Money talks, bullshit walks: Geld als Anerkennung
Von Homeoffice bis Teilzeit: Neue Arbeitstage braucht das Land
Mehr als leere Worte: Wie wir Wertschätzung mit Wertschöpfung verbinden
DIGITALISIERUNG: Die Vermessung des Neulands
Online-Shopping als digitaler Goldstandard: Die zweifelhafte Rolle der Politik
Digitalisierte Arbeitswelt: Zwischen Heilsversprechen und Überforderung
Bleibt alles anders: Wie wir eine Kultur des Digitalen schaffen
SINNVOLLE ARBEIT: Die Kraft des Wozu
Liebe deine Arbeit: Wirtschaft als Purpose-Maschine
Vergebliche Arbeit: Warum sinnvolle Arbeit Wirksamkeit braucht
Wenn arbeiten, dann richtig: Wie wir Bullshit-Jobs verhindern
MANAGEMENT: Neuer Wein in neuen Schläuchen
Verantwortung Fehlanzeige: Die alte Lust am Kästchendenken
Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser: Was fehlendes Vertrauen anrichtet
Prinzipien statt Regeln: Wie wir Unternehmen bauen sollten
BILDUNG: Revolution in der Warteschleife
Ein Leben für die Organisation: Wofür Schule wirklich da ist
Wissensfabrik oder Zukunftswerkstatt: Warum wir Bildung neu denken müssen
Individuell und selbstwirksam: So sieht neue Bildung aus
GEMEINWOHL: Auf dem Weg in die Wir-Gesellschaft
Stakeholder-Value: Musterwechsel in der Wirtschaft
Die neue Lust am Kollektiv: Wenn das Wir politisch wird
Sozialer Kapitalismus: Wie ein Widerspruch die Gesellschaft verändert
Der Autor
Quellenverweise
Im Mediengeschäft gibt es ein Sprichwort: Only bad news are good news. Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Schlechte Nachrichten verkaufen sich besser, versprechen sie doch emotionale Schlagzeilen, Drama, das Außergewöhnliche und nicht zuletzt die Bestätigung der eigenen Ansichten über die Schlechtigkeit der Welt. Als Konsument zeitgenössischer Nachrichten bekommt man jeden Tag sein Päckchen schlechter Nachrichten aus aller Welt ab. Gutes hingegen geht in der Nachrichtenflut oft unter oder wird als nicht berichtenswert von den Redaktionen ausgesiebt. Weil wir das wissen, haben wir uns recht gut auf den überwiegend negativen, manchmal alarmierten Charakter von Nachrichten eingestellt.
Trotzdem tritt ein Thema in den letzten Jahren immer mehr in den medialen Vordergrund, das den Deutschen die Sorgenfalten auf die Stirn treibt: die eigene Unzulänglichkeit, wenn es um unsere politische Kompetenz geht, um Krisenmanagement, wirtschaftliche Innovation oder gesellschaftliche Probleme wie Armut oder Migration. Wir Deutschen, an unseren Ruf als Land der Dichter und Denker ebenso gewöhnt wie an das Dauerabonnement in den Spitzenplätzen der Exportwirtschaft, machen uns bei den großen Themen unserer Zeit zunehmend lächerlich. Selbst ausländische Medien wie die New York Times oder die Neue Zürcher Zeitung fragen sich mittlerweile in schöner Regelmäßigkeit, was in »good old Germany« los ist.
Wir Deutschen machen uns bei den großen Themen unserer Zeit zunehmend lächerlich.
Natürlich gelingen uns kleinere Vorhaben und Initiativen in der Regel immer noch. Aber überall, wo es groß wird, komplex, wo Koordination, Kompetenz und Wille gefragt sind, versagen wir. Der Berliner Flughafen, Stuttgart 21, die elektronische Gesundheitskarte, die digitale Infrastruktur, der Wohnungsnotstand in Ballungsgebieten, die flächendeckend maroden Schulgebäude, der schleppende Ausbau erneuerbarer Energien: Diese und viele andere Beispiele machen gnadenlos klar, dass wir Deutsche es im Gegensatz zu unserer Selbstwahrnehmung »nicht mehr draufhaben«.
Wir leben von unserer politischen, wirtschaftlichen und technologischen Substanz. Autobahnen, Brücken und Tunnel sind vielerorts marode und müssten dringend saniert werden. Wir haben mit der krisengeschwächten Deutschen Bank und der heruntergewirtschafteten Commerzbank keine nationale Bank von Weltrang mehr. Alle großen Energiekonzerne filetieren sich selbst, suchen ihr Heil in der Aufspaltung oder in neuen Geschäftsmodellen. Die Autokonzerne haben viel zu spät die Zeichen der Zeit erkannt und kommen jetzt erst mit den Themen E-Mobilität und autonomem Fahren in die Gänge. Unser Bildungssystem ist nicht im Ansatz auf die beruflichen Anforderungen des 21. Jahrhunderts vorbereitet, sondern bringt standardisierte Fließband-Angestellte für Verwaltung, Fabriken und Büros hervor. All diese Probleme bestanden schon vor der Corona-Krise, manche seit 20 Jahren und länger. Passiert ist wenig bis nichts.
Unser Wohlstand, unsere Zukunft und der soziale Frieden in Deutschland stehen auf dem Spiel.
Mittlerweile ist es fast zu spät. Unser Wohlstand, unsere Zukunft und der soziale Frieden in Deutschland stehen auf dem Spiel. Daher reichen keine kleinen Änderungen mehr, kein Justieren von Stellschrauben oder ein neues Gesetz zur Anpassung von X. Was wir brauchen, ist eine echte Veränderung, ein Musterwechsel in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Ein Musterwechsel tritt dann ein, wenn Menschen, Unternehmen oder die Gesellschaft ihr altes Denken und Handeln in zentralen Punkten über Bord werfen und sich neue Denk- und Handlungsmuster aneignen – weil man erkennt, dass man nur so das Überleben sichert und neue Ziele erreicht.
Ein Beispiel für einen Musterwechsel ist der Übergang zum sogenannten Fosbury-Flop im Hochsprung, benannt nach Richard Douglas Fosbury. Von Sportexperten und der Konkurrenz kritisch beäugt bis verlacht, übersprang Fosbury bei den Olympischen Sommerspielen 1968 als erster Mensch die Hochsprunglatte rückwärts und gewann. In kurzer Zeit wurde der Fosbury-Flop zur Standardtechnik, auch weil die Hochsprung-Gemeinde erkannte: Mit der neuen Technik lässt sich der seit Jahren gültige Weltrekord knacken – was auch geschah. Heute liegt der Hochsprungweltrekord der Männer bei 2,45 Meter, erzielt mit einem Fosbury-Flop.
Was wir brauchen, ist ein gesellschaftlicher Fosbury-Flop. Wir müssen uns eingestehen, dass wir immer noch alte Lösungen für neue Probleme anwenden. Und das ist nicht mehr zielführend. So wie sich die politischen, technologischen und wirtschaftlichen Probleme im Lauf der Zeit wandeln, müssen wir unsere traditionellen Denk- und Handlungsmuster hinterfragen. Wir müssen wie Richard Fosbury den Mut haben, neue Dinge auszuprobieren – auch auf die Gefahr hin, lächerlich auszusehen oder zu scheitern. Sonst wird Deutschland auf Dauer seinen Wohlstand nicht halten können, sondern international immer weiter ins Hintertreffen geraten: wirtschaftlich, technologisch, politisch.
Wie also retten wir unsere Wirtschaft und prägen die Zukunft der Arbeit und unserer Gesellschaft neu? Von der Antwort hängt schließlich einiges ab: Wohlstand, sozialer Frieden, das Selbstverständnis unserer Unternehmen und nicht zuletzt gelingende Arbeitsbiografien in einer Epoche der ökonomischen Dynamik und Unsicherheit.
Für dieses Buch habe ich sieben Ideen zusammengestellt, mit denen wir einen wirksamen Musterwechsel und wirklich neue Denk- und Handlungsmuster herbeiführen können. In einer gesellschaftlichen Perspektive sollten wir einen selbstbewussten, aber auch wohlwollenden Umgang mit unserem kapitalistischen System pflegen, flankiert von einer Kultur des Digitalen, einer revolutionierten Bildung und dem Ziel des Gemeinwohls. In einer wirtschaftlichen Perspektive sollten wir unsere Arbeitswelt um zentrale Prinzipien herum bauen, die ein Gleichgewicht finden zwischen den Ansprüchen ökonomischer Produktivität und der Würde menschlicher Arbeit. Konkret heißt das: Wertschöpfung durch Wertschätzung, sinnvolle Arbeit und New Work als Wirkprinzip von Unternehmen:
1.Auf der Idee des Kapitalismus fußt unser gesamtes Gesellschafts- und Wirtschaftssystem. Die soziale Marktwirtschaft in Deutschland lebt eine gemäßigte Spielart des Kapitalismus – zu Recht. Aber in den letzten 50 Jahren ist der Kapitalismus auch hierzulande zunehmend in die Defensive geraten. Ich analysiere in meiner ersten Idee die beiden Narrative des Kapitalismus, versuche eine faire Bewertung und mache Vorschläge, wie wir mit dem Konzept eines aufgeklärten Kapitalismus neu über ihn nachdenken und uns bereits von der Schule an kompetent und souverän mit diesem zentralen Gesellschaftselement auseinandersetzen können.
2.Eng mit einer Betrachtung eines modernen Kapitalismus sind die Fragen verbunden: Was ist Wertschöpfung überhaupt jenseits des traditionellen betriebswirtschaftlichen Modells? Und wie hängen Wertschöpfung und Wertschätzung für menschliche Arbeit zusammen? In meiner zweiten Idee diskutiere ich zunächst das Thema Wertschätzung in Form von Gehalt und dem damit verbundenen psychologischen Arbeitsvertrag sowie die neue Qualität von Arbeitszeit in einer Post-Corona-Wirtschaft. Darauf aufbauend entwerfe ich auf der Grundlage eines modernen Menschenbildes ein ganzheitliches Modell von Wertschöpfung jenseits betriebswirtschaftlicher Schemata.
3.Wertschöpfung fußt natürlich nicht nur auf Wertschätzung. Moderne Wirtschaft ist beispielsweise ohne eine konsequente Digitalisierung nicht denkbar, und die ist in Deutschland Mangelware. In meiner dritten Idee analysiere ich die zweifelhafte Rolle der Politik, wenn es um Digitalisierung in Deutschland geht, bevor ich mich mit der Psychologie der Digitalisierung beschäftige sowie mit den gesellschaftlichen Sorgen und Versprechungen, die damit verbunden sind. Schließlich entwerfe ich eine Perspektive in Form einer umfassenden Kultur des Digitalen, die über technologische Digitalisierungsdebatten hinausreicht.
4.Im Zentrum jeder vernünftigen Wirtschaft muss – digitalisiert oder nicht – ein möglichst hoher Anteil sinnvoller Arbeit stecken. Nicht nur für gute Arbeitsergebnisse, sondern weil Arbeit ein wichtiger Teil des menschlichen Lebens ist. Daher setze ich mich in meiner vierten Idee damit auseinander, was sinnvolle Arbeit auszeichnet, wie wir den Anteil sinnvoller Arbeit in der Wirtschaft erhöhen und Bullshit-Jobs reduzieren. Dazu gehört auch eine kritische Auseinandersetzung mit der aktuellen Purpose-Bewegung und mit der Bedeutung von Wirksamkeit als entscheidendem Kriterium für berufliche Zufriedenheit.
5.Ob sinnvoll oder nicht: Unser Arbeitsalltag findet in der Regel in kleinen und großen Organisationen statt. Und diese Organisationen werden immer noch nach Management-Prinzipien gestaltet, die nicht mehr zu unserer dynamischen Zeit passen. In meiner fünften Idee setze ich mich daher mit den beiden entscheidenden Merkmalen erfolgreicher Organisationen auseinander – Verantwortung und Vertrauen. Davon ausgehend entwerfe ich ein Modell aus fünf Prinzipien, mit denen sich vom Handwerksbetrieb über den Mittelstand bis hin zur öffentlichen Verwaltung moderne, erfolgreiche Organisationen aufbauen lassen.
6.Neue und alte Unternehmen brauchen natürlich kluge Köpfe und gut ausgebildete Mitarbeiter. Aber an einer zeitgemäßen Bildung hapert es allerorten, nicht nur im Betrieb, sondern bereits in der Schule. In meiner sechsten Idee decke ich auf, wofür Schule tatsächlich da ist und warum wir Bildung endlich vom Kopf auf die Füße stellen müssen. Darauf aufbauend entwerfe ich das Zukunftsbild einer individuellen und selbstwirksamen Bildung, die einen mündigen, kritischen Bürger hervorbringt, der auch in der zukünftigen Arbeitswelt bestehen kann und so den Anforderungen des 21. Jahrhunderts mit allen seinen Unwägbarkeiten entspricht.
7.Schließlich widme ich mich der Rolle der Wirtschaft in unserer modernen Gesellschaft. In meiner siebten Idee setze ich mich mit dem ökonomischen Musterwechsel hin zum Stakeholder-Value auseinander und analysiere den Trend zum Kollektiv-Denken in Gesellschaft und Politik, das einen epochalen Wechsel von einer Ich-zentrierten zu einer Wir-zentrierten Perspektive enthält. Mit diesen Beobachtungen entwerfe ich Möglichkeiten einer sozialen und nachhaltigen Wirtschaft, die von Meinungsfreiheit, demokratischer Beteiligung und Transparenz geprägt ist.
Diese sieben Punkte erscheinen mir als zentral für einen Musterwechsel, der weit über die Wirtschaft hinausreicht und ebenso gesellschaftliche und politische Veränderungen in Gang bringen kann. Und dieser Musterwechsel, dieser gesellschaftliche Fosbury-Flop ist möglich.
Ich möchte Sie ganz herzlich einladen, sich intensiv mit den Ideen in diesem Buch zu beschäftigen. Sie sind das Ergebnis meiner langjährigen Erfahrung als Psychologe, Organisationscoach und Beobachter einer zunehmend anspruchsvollen (Wirtschafts-)Welt. Dieses Buch ist als Startpunkt, als Inspiration zum Weiterdenken und Weiterdiskutieren gedacht. Ich freue mich daher über Lob, Kritik, aber auch über alternative Ideen für unsere Zukunft – gerne per Mail an [email protected] oder über mein Profil beim Business-Netzwerk LinkedIn.
Ich hoffe, Sie haben beim Lesen genauso viel Spaß wie ich beim Schreiben. Dieses Buch versteht sich nicht als klassisches Fachbuch und ist für einen möglichst großen Leserkreis geschrieben. Wo immer möglich, habe ich exotische Fachbegriffe vermieden. Wichtig ist mir ein verständlicher Stil, der trotzdem der Komplexität des Themas gerecht wird. Lassen Sie uns den Musterwechsel in der Wirtschaft verwirklichen. Lassen Sie uns gemeinsam die Zukunft in Angriff nehmen – mit Mut, Ausdauer und Kreativität.
Haben Sie manchmal auch das Gefühl, es wird alles schlechter? Dass beispielsweise die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgeht, dass Klimawandel und Umweltzerstörung unaufhaltsam voranschreiten und dass wir von politischen bzw. religiösen Extremisten unterwandert werden? Nicht wenige Menschen haben diese und viele andere Befürchtungen aus den Bereichen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik längst verinnerlicht. Für sie ist klar, dass eine wie auch immer geartete Zeitenwende vor der Tür steht – eine Furcht, die schon mal in der gesellschaftlich diskutierten Frage endet: Darf man in so eine Welt eigentlich noch Kinder setzen?
Wenn Ihnen diese Fragen auch Angst machen, trösten Sie sich: Sie sind nicht allein. Eine Studie aus dem Jahr 2021 fand diese drei Ängste unter den bedeutendsten Zukunftssorgen der Deutschen: Für 51 Prozent sind die Umweltzerstörung und der Klimawandel das drängendste Problem, 44 Prozent fürchten eine Zweiklassengesellschaft und 41 Prozent die Bedrohung durch Terrorismus. Nur die Angst vor Altersarmut (55 Prozent) und eine generelle Furcht vor Kriminalität (46 Prozent) wurden neben diesen drei Zukunftsängsten von den Befragten als ähnlich wichtig erachtet. Die Studienautoren schlussfolgern, dass Phänomene wie die German Angst und ein typisch deutscher Pessimismus durchaus weiter bestehen, obwohl Deutschland wirtschaftlich stärker und politisch stabiler ist als viele vergleichbare Länder. Frauen sind laut dieser Erhebung übrigens deutlich pessimistischer gestimmt als Männer, und Ältere wiederum pessimistischer als Jüngere.1
Vielleicht liegt der Grund für diese Haltung tatsächlich in der spezifisch deutschen Mentalität eines realistischen Pessimismus. Diese Haltung hat evolutionär durchaus Vorteile: lieber die Risiken einer Sache über- als unterschätzen. Eine solche Haltung lässt uns manchmal übertrieben vorsichtig werden, misstrauisch gegenüber Veränderungen, sei es in unserem persönlichen Alltag, an unserem Arbeitsplatz oder auch bei neuen Technologien. Hollywood zum Beispiel nutzt den realistischen Pessimismus zur Gag-Produktion: Wenn böse Jungs im Film in ein Gebäude einbrechen, geht der Klügere meist als Zweiter. Während der wagemutige Erste eins auf die Mütze bekommt, kann der kluge Zweite entkommen (und seine Gene erfolgreich weitergeben, falls ihm sein stressiges Gaunerleben eine solche Extravaganz gestattet). In den Jahrzehntausenden, die der Mensch nun schon auf dieser Erde verbringt, haben sich eher die Vorsichtigen als die Wagemutigen genetisch durchgesetzt.
Wir Deutschen haben aus unserer fehlenden Abenteuerlust sogar ein Sprichwort gemacht: »Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.«
Wir Deutschen haben aus unserer fehlenden Abenteuerlust sogar ein Sprichwort gemacht: »Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.« Wir gehen als Gesellschaft sozusagen immer als Zweite durch die Tür. Das ist einerseits evolutionär verständlich und kann auch Ausdruck von Höflichkeit sein, doch beim globalen Innovationsrennen um politische Gestaltung oder technologische Vorreiterrollen machen wir Deutsche damit in der Regel leider keinen Stich. Da zählen Wagemut, Improvisationstalent, Kapital und ein fundierter Glaube an sich selbst. Und der Innovationsdruck wächst: Bei digitalen Patententwicklungen beispielsweise, dem jüngsten und kraftvollsten Forschungszweig globaler Innovation, lag Deutschland 2018 mit rund 2000 Patenten abgeschlagen auf dem fünften Platz. Zum Vergleich: Ranking-Sieger USA kam auf rund 11 900 Patente, Japan auf 6700 Patente, China als Nummer drei auf 6300 Patente und Korea auf 4400 Patente. Die USA entwickeln also fast sechsmal so viele Patente wie Deutschland, und das in einer der Schlüsselbranchen der Zukunft.
Die Diskussion um eine unsichere Zukunft ist in Deutschland beileibe nicht neu, genauso wenig wie Debatten über eine mangelnde Innovationskultur. Aber was hat das mit einem Kapitalismus-Narrativ zu tun? Sind das nicht ganz andere Probleme? Vordergründig ja. Die Angst des Rentners vor Altersarmut ist ein Thema der Rentenpolitik und die zunehmende technologische Innovationslücke ist ein Thema des wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritts. Aber wenn uns die Moderne und unsere Erfahrung mit modernen Gesellschaften eins gelehrt hat, dann die Tatsache, dass wir die meisten wichtigen Themen nicht isoliert voneinander angehen können.
Die Betrachtung von Systemen, nicht von deren Einzelteilen, wird zur hohen Kunst der Politik und der Wirtschaft. Wir müssen akzeptieren, dass unsere Gesellschaft ein System aus ganz unterschiedlichen Teilsystemen darstellt, die miteinander interagieren. Dabei ist die Gesellschaft einem einzelnen Menschen nicht unähnlich. Auch ein Mensch ist ein komplexes System, in dem Organe, Zellen, Nervengewebe und vieles mehr miteinander interagieren und so zum Überleben des Gesamtorganismus beitragen. So wie die moderne Medizin gelernt hat, bei Diagnose und Heilung nicht nur das einzelne Organ zu analysieren, sondern die Gesamtsituation des Patienten, sollten wir moderne Gesellschaften auch als Gesamtorganismus betrachten und uns fragen: Gibt es zentrale Bestandteile dieses Systems, die es am Leben erhalten? Gibt es vielleicht sogar eine Basis, welche die moderne Gesellschaft definiert? Im Fall unserer modernen Gesellschaft ist dies die kapitalistische Ordnung. Wenn wir uns also Themen wie Rentenpolitik oder Innovationsdefizite anschauen, kommen wir nicht darum herum, das kapitalistische System als Basis unserer Überlegungen mit einzubeziehen: Viele Themen hängen mit der Darstellung und Beurteilung des Kapitalismus als Grundsystem unserer Gesellschaft zusammen – und damit, wie interessierte gesellschaftliche Gruppen und die Medien das Thema Kapitalismus transportieren.
Schauen wir uns das Beispiel Rente an. Viele Deutsche befürworten unser umlagefinanziertes Rentensystem: Man zahlt in eine staatliche Kasse ein und bekommt als Rente wiederum Geld aus dieser staatlichen Kasse. Dass dieses System vor dem Kollaps steht, wird jedoch ignoriert. Heute versorgen etwa drei arbeitende Bürger einen Rentner. Bereits 2027 werden es nur noch zwei Arbeitende sein, welche die Rente eines Älteren erwirtschaften. Deutschland wird bald global nach Japan die zweithöchste Rentnerquote haben. Auch ein Erweitern der Beitragspflichtigen um Selbstständige oder Beamte brächte wenig, da diese Gruppen ja wiederum Ansprüche auf Rentenzahlungen stellen würden. Mit anderen Worten: Das umlagefinanzierte Rentensystem ist mittelfristig am Ende; spätestens ab 2035 sollte es auf anderen Füßen stehen, beispielsweise mit dem norwegischen Modell eines börsenorientierten Staatsfonds. Da dessen Durchfinanzierungsphase bis zu einer stabilen Auszahlungsleistung an die Bürger allerdings 15 bis 20 Jahre dauert, sollte die deutsche Politik eher heute als morgen über eine zügige Einführung dieses Instruments nachdenken.
Rational gesehen, ist das deutsche Rentensystem in sehr kurzer Zukunft also nicht mehr finanzierbar. Doch die Deutschen tun sich schwer mit alternativen Finanzierungsmodellen. Selbst fondsgebundene Rentenversicherungen oder ähnliche Instrumente, die eine Nutzung des Kapitalmarkts zuließen, sind vielen ein Gräuel – zu unsicher, zu unübersichtlich und vor allem: zu kapitalistisch. Kapitalismus verkörpert für viele, nun ja, die dunkle Seite der Macht. Lieber sehenden Auges gegen die Rentenwand rennen als die – durchaus – risikobehafteten Chancen kapitalistischer Geldwirtschaft nutzen. Das scheint das Motto breiter Bevölkerungsschichten zu sein, denn nur etwa 16 Prozent der Deutschen besitzen Aktien. Das Land der Dichter und Denker verhält sich wie ein Tourist »bei einer Reise in den Urlaub, bei der der Fahrer das Auto höchstens auf Tempo 30 beschleunigt. Dadurch ist ein tödlicher Unfall fast ausgeschlossen, ob die Reisenden aber während ihres Urlaubs am Ziel ankommen, ist fraglich. […] Die Masse legt ihr Geld nach wie vor auf Tagesgeldkonten, zu Zinsen nahe null an – und wundert sich, dass nichts vorangeht.«2
Kapitalismus verkörpert für viele, nun ja, die dunkle Seite der Macht.
Beispiel Digitalinnovationen: Digitale Unternehmen, vor allem Start-ups mit guten Ideen, brauchen auch in Deutschland vor allem eins: Kapital. Seit Jahren setzen sich einschlägige Verbände für eine Verbesserung der rechtlich möglichen Venture-Capital-Finanzierung ein. So wollen sie verhindern, dass vielversprechende Gründungen ins Silicon Valley abwandern oder gleich von IT-Riesen aufgekauft werden. Eine Zahl verdeutlicht das drastisch: Konnten 2018 in den USA 257 Venture-Capital-Fonds rund 54 Milliarden Dollar für die Finanzierung von jungen Unternehmen einsammeln, kamen 17 deutsche Wagnisfinanzierer im gleichen Jahr auf lediglich 1,2 Milliarden Euro. Die USA, die auch hier das Maß aller Dinge sind, pumpen also fast 40-mal (!) so viel Geld in ihre digitale Zukunft wie Deutschland.
Hierzulande herrscht eine Investitionspolitik nach dem Motto: Wasch mich, aber mach mich nicht nass. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Vor allem in der fortgeschrittenen Unternehmensphase von Start-ups, wo es um Skalierung des Geschäftsmodells, um Wachstum und intensives Marketing geht, versagt die zurückhaltende deutsche pessimistische Investitionsmentalität. Stattdessen rufen die Deutschen lieber eine Agentur für Sprunginnovationen und einen Digitalrat ins Leben: Wenn du nicht mehr weiterweißt, gründe einen Arbeitskreis.
Noch ein Beispiel, diesmal aus der Kulturgeschichte: Steve Jobs und Joschka Fischer kommen aus der gleichen Generation. Beide wollten die Welt verändern. Jobs erschuf einen globalen Konzern, der die digitale Welt revolutionierte; Fischer wurde Politiker und international geachteter Staatsmann: »Es ist kein Zufall, dass Apple etwa zur gleichen Zeit wie die Grünen entstand. Palo Alto brachte Steve Jobs und Frankfurt Joschka Fischer hervor. Beide gingen ähnlich radikal zu Werke. Fischer warf Steine, Jobs zertrümmerte Monopole von Microsoft und IBM. Sie unterschieden sich in ihren Mitteln, nicht in ihrem Anspruch auf Veränderung. […] Interessanterweise suchte Apple für seine Kampagne die gleichen Helden aus wie die Grünen in Deutschland: Mahatma Gandhi, Martin Luther King, den Dalai Lama und Albert Einstein.«3
Während Steve Jobs mit Apple ganz selbstverständlich den kapitalistischen Weg technologischer Innovation ging, kann man mit wirtschaftlichem und finanziellem Erfolg bei uns in Deutschland gesellschaftlich nicht reüssieren. Alles jenseits eines kompakten Mercedes oder BMW ist Protz. Der Deutsche erwirbt gesellschaftlichen Respekt nicht durch Geld und Besitz, sondern durch intellektuellen Beitrag, hierarchischen Status oder Society-Prominenz. Deshalb leben Deutschlands Multimillionäre versteckt hinter Grundstücksmauern, während in den USA Reiche von den Veranden ihrer Villen offenherzig herüberwinken. Die USA und Deutschland repräsentieren so etwas wie Extrempole, wenn es um die Beurteilung von Kapitalismus und seine Vor- und Nachteile geht. Weder hier noch dort sind die Diskursanteile im Gleichgewicht. Während in den USA vieles am Kapitalismus zu unkritisch gesehen wird, schlagen wir Deutsche ins andere Extrem und gebrauchen »Kapitalismus« oft gar nicht mehr als Beschreibung, sondern als ideologischen Kampfbegriff mit negativem Einschlag.
Alles jenseits eines kompakten Mercedes oder BMW ist Protz. Der Deutsche erwirbt gesellschaftlichen Respekt nicht durch Geld und Besitz.
Es ist durchaus leicht, kapitalistische Auswüchse zu kritisieren. So hat Deutschland beispielsweise mit etwa 20 Prozent immer noch einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa – von Mini-Jobs über Clickworking bis hin zu Werkverträgen. Zum Vergleich: In allen 28 EU-Ländern (mit Großbritannien) arbeiten im Schnitt nur knapp über 15 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Selbstverständlich muss man die Frage stellen, ob auf Kosten des Profits nicht höhere Löhne ökonomisch machbar und ethisch geboten wären. Darüber hinaus profitiert Deutschland wirtschaftlich von globalen Lieferketten, deren Rentabilität nicht selten auf Ausbeutung, Kinderarbeit und niedrigen Löhnen in den Lieferländern, vor allem in Asien und Lateinamerika, beruht. So unterschiedliche Branchen wie Konsumartikelhersteller, Bekleidungsunternehmen oder Technologie-Firmen profitieren teilweise extrem von diesen Lieferketten. Und nicht zuletzt herrscht in Deutschland akute Wohnungsnot. Laut Fachverbänden müssten bis zu 60 000 Sozialwohnungen gebaut werden – pro Jahr. Hauptverantwortlich für den bereits Jahre anhaltenden Trend sind nicht nur Preissteigerungen für Baumaterial von bis zu 80 (!) Prozent über die letzten 20 Jahre, sondern eben auch die Nutzung von Immobilien als Spekulationsobjekte zahlreicher in- und ausländischer Investoren.
Die Liste ließe sich fortsetzen. Kleine und große gesellschaftliche Probleme, für die der Kapitalismus verantwortlich gemacht wird, kann man jeden Tag in Presse, Funk und Fernsehen begutachten. Und ja, das sind reale Probleme, die wir dringend lösen müssen. Doch es gibt eben auch die andere Seite: Fakten, die eine positive, fast segensreiche Geschichte des Kapitalismus zeigen und ihn historisch nicht nur satisfaktionsfähig machen, sondern zu einer Angelegenheit, die man nicht leichtfertig kaltstellen sollte.
Die sogenannten Entwicklungsländer haben ihren Wohlstand zwischen 1970 und 2018 erheblich vergrößern können. Während sich das weltweite reale Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner in diesem Zeitraum »nur« etwas mehr als verdoppelte, stieg es in Asien um fast das Fünffache. In Subsahara-Afrika gab es ebenfalls eine Steigerung, wenn auch nur um 25 Prozent.4 Der globale Wohlstand wird also teilweise umverteilt – von den alten, westlichen Industrienationen hin zu den neuen, aufstrebenden Weltregionen wie Asien, aber auch Süd- und Mittelamerika.
Auch in puncto Gesundheit hat der Kapitalismus Erfolge vorzuweisen: Der Hunger in der Welt wird immer weiter zurückgedrängt, ja sogar in sein Gegenteil verkehrt. 2014 war das erste Jahr in der Geschichte der Menschheit, in dem weltweit mehr Menschen aufgrund von Übergewicht zu Tode kamen als aufgrund von Hunger: 1,7 Millionen starben an Unterernährung; 4,4 Millionen durch die Folgen von Übergewicht. Ermöglicht wurde diese radikale Wende auch durch die kapitalistische Förderung von Agrartechnologien, Mikrokredite oder Freihandelsabkommen.
Die Lebenserwartung hat sich ebenfalls enorm erhöht: global von durchschnittlich 50,4 Jahren im Jahr 1950 auf 79 Jahre im Jahr 2017.5 Eine Steigerung von fast 60 Prozent innerhalb von knapp 70 Jahren! Auch hier hatte der Kapitalismus seinen Anteil: beispielsweise durch die Erzeugung von Nahrung im industriellen Maßstab, durch Entwicklung von Kapazitäten zur Wasseraufbereitung oder durch umfangreiche Investitionen in medizinische Forschung.
Der globalisierte Kapitalismus hat der Welt viel Gutes gebracht; mitunter wird er sogar in einem positiven Sinn als Ökonomie der Armen für Arme bezeichnet: »Die Beschäftigten in den Unternehmen wissen sehr genau: Damit es ihnen gut geht, braucht es eine effiziente Massenproduktion von Gütern, die sie sich leisten können. Das ermöglicht ihnen nur der Kapitalismus, wie auch das hohe Niveau der Löhne und die meist ordentlichen Arbeitsbedingungen, die sie heute haben. Die sozialistischen Experimente waren dazu […] nicht in der Lage.«6
Allerdings ist es leicht, eigene Ängste und Probleme auf den Kapitalismus abzuwälzen, denn »er ist eine geniale Projektionsfläche zur Erklärung aller möglichen Übel, von der Zunahme psychischer Krankheiten bis zum Wachstumswahn. Diese Kritik prüft nie, ob sie richtig adressiert ist. Dahinter steckt eine Erlösungshoffnung: Es könnte eine bessere Welt ohne Knappheit, Konkurrenzkämpfe und die vermeintlich diabolische Gier geben. Die Botschaft ist viel älter als der Kapitalismus. Seit Aristoteles weist die Philosophie darauf hin, dass Geld den Charakter verdirbt, dass es den Menschen entfremdet. Das ist bis heute populär: Wir alle fühlen uns hilflos ausgeliefert, wenn das Geld am Ende des Monats knapp wird.«7
Unkritischer Kapitalismus kann der Gesellschaft, den Menschen und nicht zuletzt der Wirtschaft selbstverständlich schaden, weil er Vertrauen in die Unternehmen zerstört und somit letztlich die Quelle unseres Wohlstands. Gerade deshalb müssen wir das Bild des Kapitalismus differenzieren – weg vom unreflektierten, negativen Narrativ von Kapitalismus, dem gerade in Deutschland viele Menschen nachzuhängen scheinen. Das kapitalistische Wirtschaftssystem erscheint vielen als mehr oder weniger erträgliches Übel. Es ist notwendig, um die Gesellschaft mit Gütern und Dienstleistungen zu versorgen, aber dabei so beliebt wie der ungezogene Onkel, den man zu Weihnachten einladen muss, mit dem man sich aber nicht gern sehen lassen will, weil er nach Alkoholgenuss gern ausfallend wird.
Über die letzten 100 Jahre formte sich in der westlichen Welt das Narrativ des bösen Kapitalismus: gierig, ungerecht, eine Zumutung für Mensch, Gesellschaft und Natur. Vom »Raubtierkapitalismus« ist manchmal die Rede oder gern auch von Investoren, die wie »Heuschrecken« über arme, notleidende Betriebe herfallen und sie finanziell kahl fressen. Aber es geht auch subtiler: Der 1. Mai ist in Deutschland als Feiertag den Arbeitnehmern gewidmet, meist organisiert von Gewerkschaften und linken Gruppen. Arbeitgeber hingegen muss man nicht feiern, die profitieren ja sowieso von der »Ausbeutung der Massen«. In der Folge werden zum Beispiel Tarifverhandlungen oft zum Kampfgebiet eines Stellvertreterkrieges zwischen den guten Arbeitnehmern und den bösen kapitalistischen Arbeitgebern.
Die Erzählung des guten Kapitalismus gruppiert sich um die Begriffe Wohlstand, Marktwirtschaft und Wachstum. Sie skizziert ein Win-win-Szenario, in dem durch kapitalistische Wirtschaft, Innovation und globalisiertem Handel alle möglichen Gruppen voneinander profitieren. Böser Kapitalismus hingegen drückt sich in Ressourcenverschwendung, sozialer Ungleichheit und globaler Umweltzerstörung aus. Dabei ist dieses negative Narrativ nur die eine Seite einer Medaille, die allerdings in den letzten Jahrzehnten immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. Angefangen von der Ära der US-amerikanischen Reaganomics in den 1980er-Jahren über die Finanzkrisen von 1987, 2000 und 2008 bis zur immer stärkeren Klimabewegung wird der Kapitalismus zur Zielscheibe zahlreicher Projektionen. Aber das Narrativ vom bösen Kapitalismus verwirrt mehr als es erhellt. Vergessen wird gerne, dass der globale Kapitalismus ganze Weltregionen aus der Armut geholt, Millionen Menschen das Leben gerettet und durch Investitionen und Freihandel den globalen Wohlstand in einem kaum vorstellbaren Ausmaß gesteigert hat. Doch diese historischen Argumente dringen in der Regel nicht in unser alltagsgeplagtes Gemüt. Dort dominiert ein dumpfes Unbehagen, festgemacht an durchaus realen Problemen, die auch (aber eben nicht nur) von ökonomisch-kapitalistischen Fehlentwicklungen verursacht werden und so das Bild eines bösen Kapitalismus formen.
Das Narrativ vom bösen Kapitalismus verwirrt mehr als es erhellt.
Das kapitalistische System ist natürlich nicht perfekt. Nicht umsonst gibt es rund um den Globus die unterschiedlichsten Spielarten: von der neoliberalen amerikanischen Variante über die europäischgemäßigte Marktwirtschaft bis hin zum kapitalistischen Sozialismus Chinas. Diese Vielfalt bildet sich in unserer Debatte über einen aufgeklärten reflexiven Kapitalismus allerdings nicht genügend ab. Wir sind dabei, die Errungenschaften des kapitalistischen Systems unkritisch wegzufegen, ohne eine befriedigende Alternative zu präsentieren. Davor warnen nicht nur konservative Denker oder Wirtschaftsführer. Selbst ein ausgewiesener Kapitalismuskritiker wie der Begründer der New-Work-Bewegung, der amerikanische Philosoph Frithjof Bergmann, sprach sich in seiner langen Karriere nie für ein Revival des Sozialismus aus; ihm lag vielmehr eine radikale Anpassung des kapitalistischen Systems am Herzen.
Kapitalismus ist nicht das Problem. Der Knackpunkt ist unsere begrenzte Fähigkeit, unterschiedliche Standpunkte hinsichtlich seiner Probleme und deren Lösungen zu respektieren bzw. einzunehmen. Das Ergebnis ist eine neurotische »Ja, aber«-Gesellschaft: nie im Reinen mit sich selbst, dabei ständig auf Krawall gebürstet. Wir lassen uns von der Komplexität unserer Gesellschaft überfordern und erliegen dem sogenannten Confirmation Bias, dem Bestätigungsfehler. So nennen Psychologen den menschlichen Hang, die eigene Meinung über bestimmte Sachverhalte zu verstärken, indem man gegenteilige Meinungen ausblendet bzw. bekämpft. Man erlangt innere Ruhe, indem man den Diskussionsgegner ignoriert oder mundtot macht. Nichts anderes kommt in den erregten Diskussionen um Cancel Culture oder in den ewigen Twitter-Kriegen zu allen möglichen Themen zum Ausdruck. Nicht das Thema wird so zum Problem, sondern unser Umgang mit ihm.
Barack Obama soll seine Mitarbeiter immer wieder gefragt haben: »What if we are wrong?« – »Was ist, wenn wir falschliegen?« Der amerikanische Ex-Präsident versuchte auf diese Art, sein Team gegen Arroganz und einen zu engen Horizont zu impfen. Denn es gibt immer eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass man selbst falschliegt und der Gegner recht hat. Und es ist ein Signal der Demut, dass man tragfähige Lösungen letztlich immer mit dem gegnerischen Lager finden muss – und nicht in einer emotionalen oder medialen Überwältigung. Social-Media-Blasen sind nichts anderes als der hilflose Versuch, den Bestätigungsfehler einer bestimmten Gesellschaftsgruppe aufrechtzuerhalten, zu verstärken oder zu bekämpfen.
Die »Ja, aber«-Gesellschaft kann nicht mehr in unterschiedlichen, manchmal gegensätzlichen Szenarien denken – und das wirkt sich bei den wirklich wichtigen Themen verheerend aus. Was wir daher für eine konstruktive Debatte über den Kapitalismus brauchen, ist die Fähigkeit zu neuem Denken: weg von »Entweder-oder« und hin zu »Sowohl als auch«. Wir sollten uns in inklusivem Denken üben und nicht in exklusivem Denken. Wir sollten einschließen und nicht ausschließen. Das setzt voraus, dass wir uns nicht auf menschliche Gegner konzentrieren, sondern uns in sachlicher Auseinandersetzung üben, immer mit Augenmerk auf den positiven Seiten des jeweiligen Gegenstands. Wer sich gegenseitig in Grund und Boden schreit, findet zu keinem Thema eine befriedigende Lösung.
Wer sich gegenseitig in Grund und Boden schreit, findet zu keinem Thema eine befriedigende Lösung.
Die Zukunft des Kapitalismus in Deutschland sollte möglichst viele Gewinner produzieren und möglichst wenige Verlierer. Dabei sollten wir weder den Kapitalismus unkritisch preisen noch uns vom Narrativ des bösen Kapitalismus verführen lassen. Immerhin verdankt Deutschland dem kapitalistischen System seinen Wohlstand der letzten 60 Jahre. Der manchmal unversöhnliche Kampf zwischen Kapitalismusbefürwortern und -kritikern verdeutlicht die Hassliebe, das neurotische Verhältnis, das viele Deutsche zur wirtschaftlichen Grundlage ihres Wohlstands pflegen. In den beiden Narrativen des Kapitalismus verbergen sich nicht nur zwei unterschiedliche Erfolgs- bzw. Misserfolgserzählungen, sondern eine tiefe Ambivalenz, ein fehlendes Grundvertrauen in die Basis unserer Gesellschaft. Über diese Grundfesten unseres Gemeinwesens kann und sollte man diskutieren; das betrifft nicht nur den Kapitalismus, sondern auch Dinge wie Demokratie oder soziale Gerechtigkeit. Wichtig ist nur, diese Debatten sachlich und respektvoll zu führen. Und hier sehe ich in der Kapitalismusdebatte eine gewisse ideologische Infizierung – von beiden Seiten.
Aber das latente Misstrauen gegenüber der modernen Gesellschaft zeigt sich nicht nur in der Kapitalismusdebatte. Auch bei anderen, durchaus praktischen Themen schlägt eine gewisse »Ja, aber-Mentalität«, ein Hin- und Hergerissensein zu – zum Beispiel im Hinblick auf unsere Berufswünsche und die Gestaltung der Arbeitswelt. Darum geht es im nächsten Abschnitt.
Mein Schlüsselerlebnis für eine gelungene Berufswahl hatte ich sehr früh in meiner Karriere. Besser gesagt: noch vor irgendeiner Karriere. Nach dem Abitur ging ich zu einem Berater der Arbeitsagentur. Angeleitet von seiner Kompetenz und Erfahrung wollte ich mir das Rüstzeug für eine informierte Entscheidung über meine berufliche Zukunft abholen. Seine Reaktion auf meinen Gedanken, Psychologie zu studieren, werde ich nie vergessen: »Eine sehr gute Wahl! Wenn man schon arbeitslos ist, dann wenigstens in einem Beruf, der einem Spaß macht.« Das sprudelte ernsthaft und völlig unironisch aus ihm heraus – und erschütterte mein Vertrauen in eine staatlich gelenkte Arbeitsmarktpolitik nachhaltig. Inzwischen habe ich trotzdem Psychologie studiert. Arbeitslos war ich in meinem ganzen Leben nur drei Monate lang – und das auch nur, weil ich mich in einer Übergangszeit offiziell beim Arbeitsamt melden musste.
Die damalige Begebenheit machte mir klar, wie folgenschwer eine falsche Entscheidung hinsichtlich des Berufs sein kann. Die Botschaft war klar: »Geh in eine falsche Richtung, und du kommst womöglich nicht mehr auf die Füße.« Aber das waren die Neunziger, wo man noch 20 Jahre oder mehr »beim Daimler« verbrachte und das als völlig normal empfand. So betrug 1995 (als ich mein Studium begann) die durchschnittliche Dauer der Betriebszugehörigkeit in Deutschland über alle Branchen hinweg fast elf Jahre. In der öffentlichen Verwaltung waren es sogar 13 Jahre. Man dachte auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite langfristig. Stellenwechsel erfolgten, wenn man umzog oder mehr Geld bekam. Und der Gedanke, sich selbst zu verwirklichen? Der spielte kaum eine Rolle. Personaler legten Wert auf einen lückenlosen, taggenauen Lebenslauf. Häufige Wechsel wurden kritisch beäugt und waren nicht selten ein Kriterium für die Ablage P. Die Standard-Bewerbungsfrage »Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?« machte damals noch Sinn, weil man die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt im Allgemeinen und die eigene Situation im Besonderen als relativ planbar einschätzte, wenn man im Betrieb keine silbernen Löffel klaute oder sein Auto auf dem Parkplatz des Vorstands abstellte.
Ebenso wenig wie langfristige Arbeitsverhältnisse wurde damals die Dominanz der Vollzeitstelle hinterfragt. Vollzeit wurde als selbstverständlich angestrebt. 37 bis 42 Stunden in der Woche verbrachte der Deutsche im damaligen Normalarbeitsverhältnis. Teilzeit war zumindest bei Männern so verbreitet wie ein knalliges Hawaii-Hemd auf dem Wiener Opernball. Nur drei Prozent aller deutschen Männer arbeiteten in Teilzeit – im Gegensatz zu einem satten Drittel der erwerbstätigen Frauen. Alleinstehende Frauen und verheiratete Mütter waren damals schon Leidtragende des Versorger-Mythos, der die Vollzeitstelle als allein selig machende Variante der deutschen Erwerbsbiografie vermittelte. Insgesamt waren 1995 nur 16 Prozent aller Erwerbstätigen in Teilzeit tätig. Deutschland, einig Vollzeit-Land – das war es jedenfalls für diejenigen, die eine Arbeit hatten.
Teilzeit war zumindest bei Männern so verbreitet wie ein knalliges Hawaii-Hemd auf dem Wiener Opernball.
Damals wie heute aber gilt: Für die allermeisten Berufe braucht man eine solide Ausbildung. So starteten 1995 gemeinsam mit mir 262 000 andere junge Menschen ihr Studium. Das waren etwa 22 Prozent unserer Altersgruppe. Weit mehr, über 500 000 junge Leute, begannen eine Ausbildung. Dieses Verhältnis hat sich in den letzten 25 Jahren umgekehrt. 2020 nahmen fast 489 000 Menschen ein Studium an einer deutschen Hochschule auf. Das ist beinahe eine Verdoppelung der jährlichen Zulassungszahlen aus den 1990ern. Hingegen starteten 2020 nur 246 000 junge Menschen eine Ausbildung. Dies entspricht lediglich der Hälfte der Ausbildungsanfänger von 1995. Diese Zahlen bilden einen Langfrist-Trend ab: mehr Akademisierung, weniger Ausbildung und »Hands-on«-Arbeit. Das ist politisch auch so gewollt. Denn »im Vergleich zu 2005 ist die Arbeitslosigkeit unter Akademikern sogar um ein Fünftel gesunken, obwohl seitdem deutlich mehr Akademiker von den Unis kamen. Für die Arbeitsagentur ist das ein deutliches Zeichen, dass der Arbeitsmarkt die vielen Hochschulabsolventen braucht.«8 Deswegen hält es die Politik »für kontraproduktiv, jetzt auf einmal die Akademisierung in Deutschland zu stoppen und stattdessen die berufliche Bildung aufzuwerten«.9
Ob Ausbildung oder Studium: 1995 hatten wir jungen Menschen alle ein bestimmtes Bildungsmodell gemeinsam. Wir verorteten unsere Ausbildung ganz selbstverständlich auf der damals üblichen Zeitlinie: Schule, Ausbildung bzw. Studium, Beruf, Rente. Innerhalb der beruflichen Laufbahn waren allenfalls Upgrades in Form von Weiterbildungen sozial akzeptiert. »Studienabbrecher« war damals noch ein Schimpfwort und keine Ehrenbezeichnung für Start-up-Gründer. Aus dieser Mentalität heraus ist auch der Spruch meines damaligen Betreuers bei der Arbeitsagentur zu verstehen. Er hielt genau wie ich meine Studienwahl für eine Art Gerichts urteil, eine epische Entscheidung über Sieg oder Niederlage im Kampf um eine erfolgreiche berufliche Zukunft. Ein bisschen wie bei Star Wars, wenn der alte, weise Jedi-Meister Yoda über die zwei Seiten der Macht dozierte: »Folgst du einmal dem dunklen Pfad, auf ewig wird beherrscht davon dein Schicksal.«
»Studienabbrecher« war ein Schimpfwort und keine Ehrenbezeichnung für Start-up-Gründer.
Die Wahl und der Verlauf einer Erwerbsbiografie waren geprägt von einer gewissen Unterkomplexität. Die Schritte Ausbildung bzw. Studium, erste Arbeitsstelle, zweite Arbeitsstelle und so weiter entsprachen einem klaren, auch gesellschaftlich vorgegebenen Ablauf. Dabei erlebte man dieses lineare Korsett in der Regel weniger als individuell beglückend. Vielmehr wurde das Korsett spürbar durch das negative Feedback von außen, wenn man den vorgesehenen Pfad verließ. Karriere machen bedeutete in der Regel: Es gibt mehr Geld und / oder mehr Status. Karriere war in diesem Sinne nichts Dynamisches. Vielmehr erlebte man sich beim Klettern auf der Karriereleiter selbst als wenig überraschend.