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Es sind die schlechten Ideen, die uns bleibende Erinnerungen verschaffen …Ferris ist ein waschechter Wolfswandler, der eigentlich mit nichts ein Problem hat. Denkt er. Denn plötzlich scheint er die Schwierigkeiten wie magisch anzuziehen und sein bisheriges Leben gerät aus den Fugen. Er ist seinen Job los, die Wildtiere Kanadas verhalten sich ungewöhnlich, ein Bärenjunges wird entführt – und sein bester Freund Roderick outet sich als schwul. Doch wo andere frustriert den Kopf in den Sand stecken würden, stachelt dies eher Ferris´ Neugier an, den Dingen auf den Grund zu gehen … Bisher erschienen: Tajo@Bruns_LLC Jonathan@Bruns_LLC Daniel@Bruns_LLC Devon@Bruns_LLC Keyla@Bruns_LLC
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Seitenzahl: 402
Bianca Nias
© dead soft verlag, Mettingen 2017
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© the author
Cover: Irene Repp
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Bildrechte:
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© bobby20 – shutterstock.com
1. Auflage
ISBN 978-3-96089-157-4
ISBN 978-3-96089-158-1 (epub)
Es sind die schlechten Ideen, die uns bleibende Erinnerungen verschaffen …
Ferris ist ein waschechter Wolfswandler, der eigentlich mit nichts ein Problem hat. Denkt er. Denn plötzlich scheint er die Schwierigkeiten wie magisch anzuziehen und sein bisheriges Leben gerät aus den Fugen. Er ist seinen Job los, die Wildtiere Kanadas verhalten sich ungewöhnlich, ein Bärenjunges wird entführt – und sein bester Freund Roderick outet sich als schwul. Doch wo andere frustriert den Kopf in den Sand stecken würden, stachelt dies eher Ferris’ Neugier an, den Dingen auf den Grund zu gehen …
„Wenn der Wind der Veränderung weht,
bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.“
Gedankenverloren stützte Ferris einen Unterarm auf den Tresen und schwenkte das geriffelte Whiskyglas, wodurch die goldbraune Flüssigkeit in Rotation geriet. Der scharfe, aber leicht süße Geruch des Black Velvet, seiner Lieblingssorte, stach ihm in die Nase und ließ nichts von der Wärme und dem milden Aroma erahnen, die sich ausbreiteten, wenn der Schnaps die Kehle hinab rann. Es war bereits sein drittes Glas, und wenn die hier im Foxground nicht sagenhafte sieben Dollar dafür verlangen würden, könnte ihn nichts davon abhalten, sich auch noch ein viertes zu gönnen.
Die urige Bar in der Downtown von Vancouver war seit ein paar Jahren ihr bevorzugter Treffpunkt. Die Betonung lag auf war. Es musste mehrere Wochen her sein, seit er zuletzt mit Judd und Roddy hier versackt war, um irgendwelche Frauen aufzureißen. Wobei es immer ihm überlassen blieb, für seine Freunde die Bräute abzuchecken und klarzumachen.
Mann, obwohl sich Judd sicherlich nirgends verstecken brauchte, brachte sein Kumpel kaum einen Ton raus, sobald ihm ein Mädchen schöne Augen machte. So riesig der Bär war, so schüchtern konnte er sein. Wie er seine neue Freundin Keyla, diese scharfe Granate, ohne seine Hilfe überhaupt angemacht hatte und mit ihr zusammengekommen war, erstaunte Ferris daher noch immer. Anscheinend war es bei den beiden Liebe auf den ersten Blick gewesen.
Judds Schüchternheit wurde eigentlich nur übertroffen von Roddys Eigenart, die Zähne nicht auseinanderzubekommen. Das machte es umso schwieriger, eine Frau davon zu überzeugen, seinem zurückhaltenden Bärenbruder mal was Gutes zu tun. Also, ihm zumindest einen zu blasen. Dabei verschwieg er es lieber, dass sein Kumpel ein Rohr in der Hose hatte, bei dem selbst Hulk vor Neid erblassen würde und ein simpler Blowjob sicherlich mit einigen Schwierigkeiten verbunden war.
Unzählige Male waren sie zusammen pissen gewesen und hatten irgendwann mal als Teenager einen Schwanzvergleich gemacht, daher wusste er genau, dass Roddy nicht bloß große Hände und Füße besaß, sondern überall ausgesprochen gut bestückt war. Und so pflichtbewusst, wie er es als bester Freund nur sein konnte, sorgte er immer dafür, dass Roddy die Bräute abbekam, die aller Voraussicht nach über eine gewisse Erfahrung verfügten, mit solch einem Kaliber überhaupt umgehen zu können. Ohne bei dessen Anblick in Ohnmacht zu fallen oder gar kreischend davon zu laufen.
Zum Glück brauchte er darauf nicht neidisch zu sein. Nicht nur hinsichtlich seiner eigenen Körpergröße von über 1,90 Metern, sondern auch in Bezug auf sein bestes Stück fühlte er sich ausreichend ausgestattet, um die Damenwelt zu beglücken. Was er, im Gegensatz zu seinen Kumpels, auch ausgiebig tat. So schnell entkam ihm keines der Häschen und er hatte selten etwas anbrennen lassen. Die Bären gehörten eher zur Kategorie Ich bleib hier ganz ruhig sitzen und warte, bis mir die Frau meines Lebens über den Weg läuft. Verständnislos schüttelte Ferris den Kopf. Er würde garantiert nie begreifen, warum die beiden sich mit ihren Eroberungen derart zurückhielten und dabei jeglichen Spaß verpassten. Man war doch bloß einmal jung und ungebunden! Okay, Judd war jetzt kein Single mehr und hatte sich erwartungsgemäß als Erster von ihnen eine Braut gesucht, mit der er bis ans Ende seines Lebens zusammen sein wollte. Das war etwas, für das sich Ferris einfach noch nicht bereit fühlte. Und Rod brauchte bei allem immer ein bisschen länger als andere. Keine Frage, so verschieden wie sie waren, so sehr hingen sie doch aneinander.
Hey, er war mit Judd und Roddy gemeinsam aufgewachsen und sie hatten vom Babyalter an jeden einzelnen Tag miteinander gespielt. Als Dreiergespann hatten sie die ganze Nachbarschaft unsicher gemacht, wie Brüder alles geteilt. Die Spielsachen, das Taschengeld und den ersten Liebeskummer. Selbst für ihren allerersten Versuch eines Zungenkusses hatte Ferris herhalten müssen, weil Roddy und Judd bei dem Spiel Wahrheit oder Pflicht stets die Pflicht wählten. Sie waren von Kindheit an unzertrennlich. Aber jetzt? Jetzt war sein bester Freund Judd tausende von Meilen entfernt, in Deutschland bei seiner Liebsten. Oh Mann, er vermisste ihn. Wie Hölle.
Gelangweilt kippte Ferris den letzten Schluck Whisky in sich hinein und schob das leere Glas dem Barkeeper zu.
»Noch einen«, verlangte er, nachdem er gedanklich den Inhalt seiner Geldbörse überschlagen hatte. Vier mal sieben waren doch achtundzwanzig? Ja, klang schlüssig. Für den vierten Shot sollte sein Bargeld noch reichen. Mist, in seinem Kopf war es bereits etwas schummerig, sodass ihm sogar diese kleine Rechenaufgabe schwerfiel. Allerdings war er jetzt ziemlich blank, mit dem Restgeld würde er nicht einmal ein Busticket bezahlen können. Egal. Er würde sich irgendwann später Gedanken darüber machen, wie er von hier aus nach Hause kommen sollte.
Wo blieb eigentlich Roddy? Schließlich hatte er seinem Kumpel vorhin eine kurze Nachricht übers Handy geschickt! Bin im Fox sollte doch Aufforderung genug sein, den Arsch hochzukriegen und hierherzukommen, oder?
Diese neue Nachrichten-App der Polarfüchse war echt super, denn mit dieser konnte er nicht nur mit seinen Freunden chatten, sondern auch sehen, an welchem Ort sie sich gerade aufhielten. Fast auf den Meter genau. Letzteres war ein Service, den man allerdings unterdrücken konnte, was Roddy wohl auch getan hatte. Ferris konnte lediglich erkennen, dass dieser die Nachricht gelesen hatte, aber nicht, ob Rod gerade zufällig in der Innenstadt oder in Capilano Mountain, ihrem kleinen Vorort, war. Ach, so ein Quatsch. Wo sollte sein Kumpel an einem Dienstagabend auch sonst sein, außer zuhause? Entweder mit einem Bier in der Hand vorm Fernseher oder in seiner Werkstatt, eingehüllt von einer Sägemehlwolke.
»Na, Hübscher?«, ertönte plötzlich eine weibliche Stimme neben ihm und riss ihn aus seinen Gedanken. »So allein?«
Automatisch drückte Ferris den Rücken durch, setzte ein Lächeln auf, von dem er wusste, dass es seinen Zweck erfüllte, und drehte sich auf dem Barhocker nach rechts. Um von jetzt auf gleich in den Flirtmodus umzuschalten, brauchte er nie länger als einen Wimpernschlag. Jahrelange Übung.
Eine Frau hatte sich neben ihm an den Tresen geschoben. Hm, vielleicht zwei oder drei Jahre älter als er, etwa Mitte Zwanzig. Nicht gerade sehr groß, aber mit hübschen Rundungen, sorgsam frisierten blonden Haaren und einem ansprechenden Gesicht, das jedoch für seinen Geschmack zu stark geschminkt war. Himmel, war dieser ganze Kleister im Gesicht überhaupt notwendig? Es wunderte ihn beinahe, dass der Lidschatten noch nicht anfing, zu bröckeln. Und der knallrote Lippenstift war bestimmt von einer dieser angeblich kussfesten Marken, bei dem er Schwierigkeiten haben würde, dessen Spuren von seinem Schwanz wieder abzuwaschen, wenn sie ihm …
Innerlich seufzte er lustlos. Eigentlich hatte er heute Abend nicht wirklich Bock auf einen Flirt. Ach, was sollte es. Vielleicht tat ihm etwas Ablenkung ganz gut.
»Hallo, schöne Frau«, erwiderte er daher lässig und zwinkerte der Blondine zu. »Alleinsein ist nicht mein Ding, das stimmt. Da bin ich auf solch hübsche Retterinnen, wie du eine bist, angewiesen.«
Seine weiche Stimme, der er extra eine noch tiefere, wohlklingende Tonlage gab, verfehlte ihre Wirkung nicht. Die Augen der Tussi leuchteten förmlich auf und ein strahlendes Lächeln erschien auf ihrem runden Gesicht. Und nein, wider Erwarten hielt das Make-up selbst diese Gesichtsakrobatik aus.
Binnen zwei Minuten wusste er, dass sie Lisa hieß, fünfundzwanzig Jahre alt war, als Erzieherin in einem Kindergarten arbeitete und seit genau zwölf Tagen von ihrem Lover getrennt war, der sie mit der ehemals besten Freundin – Charlotte, die Schlampe – betrogen hatte. Zehn Sekunden später begann er, sich abgrundtief zu langweilen. Ewig dieselbe Leier. Hin und wieder streute er in ihren nicht enden wollenden Redeschwall ein Ach ja?, ein Oh Gott! und ein Nein, wirklich? ein, wenn er meinte, es würde ins Gespräch passen, aber gedanklich schaltete er bereits ab. Sein Blick fiel unwillkürlich auf die schmale Glastür im hinteren Teil der Bar, hinter der sich die Toiletten befanden. Ein Quickie auf dem Klo? Och nö, da müsste er sicherlich die Luft anhalten, um den Uringestank auszublenden. Schnell in die Seitenstraße neben dem Pub verschwinden? Das wäre eine Option, reizte ihn dennoch wenig. Dabei wäre es nicht das erste Mal, dass er ein Mädchen dorthin oder an einen anderen, eher öffentlichen Ort abschleppte. Weshalb es dann ziemlich schnell, dafür aber heftig zur Sache ging.
Die Gefahr, währenddessen beobachtet oder sogar erwischt zu werden, gab ihm den nötigen Kick. Letztes Jahr an Halloween, bei den Vancouver Fright Nights, hatte er eine richtig scharfe Braut in der Gondel des Riesenrads vernascht. Anfang des Jahres eine im Auto, während sie durch die Waschanlage fuhren. Eine andere vor ein paar Wochen in der Umkleidekabine des Kaufhauses. Danach war jedoch ziemlich Ebbe gewesen, irgendwie reizte ihn in letzter Zeit keine der unzähligen Frauen, die sich an ihn ranschmissen. Vielleicht war er einfach übersättigt. Aber das mit nur dreiundzwanzig Jahren? Oder war er etwa adrenalinsüchtig, dass er vorwiegend öffentliche Orte aussuchte, um Sex zu haben, damit er überhaupt richtig in Stimmung kam?
Nachdenklich fühlte er in sich hinein und starrte auf den üppigen Busen der Kleinen, der sich deutlich unter dem enganliegenden T-Shirt abzeichnete. Hm, nein, momentan regte sich tatsächlich nichts bei ihm. Nicht einmal ein winziges Zucken in seinen Lenden. Trotz der Aussicht auf einen vielversprechenden Fick und einer Menge Alkohol in seinem Blut. Oder gerade wegen des Whiskys?
»Was ist denn nun?«, fragte Blondie ihn plötzlich und verzog schmollend den Mund. Widerstrebend tauchte Ferris aus seinen Grübeleien auf, lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf Lisa und runzelte die Stirn. Was hatte er verpasst?
»Was meinst du?«
»Ich habe dich gefragt, ob du mir noch einen Cocktail ausgibst«, wiederholte die Kleine ungeduldig. »Ich möchte noch etwas trinken. Einen Sex on the Beach, bitte.« Dabei klimperte sie mit ihren getuschten Wimpern, um die Anzüglichkeit ihrer Worte zu unterstreichen.
Na, offensichtlicher ging es ja wohl kaum.
»Ähm …« Händeringend suchte Ferris nach einer passenden Antwort. Davon abgesehen, dass er die Tussi irgendwie abservieren wollte, reichte sein Geld sowieso nicht für einen weiteren Drink.
»Der Strand ist aber ziemlich weit weg von der Downtown«, antwortete er lahm. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Eine große, breite Gestalt tauchte auf, die sich bücken musste, um nicht mit dem Kopf am Türrahmen anzustoßen. Erleichtert atmete Ferris auf. Roddy kam genau zum richtigen Zeitpunkt, um ihn hier loszueisen.
***
Rod betrat das Foxground und hielt reflexartig die Luft an, als er seinen Freund erblickte. Trotzdem schmerzte der Stich, den er zwar bereits erwartet hatte, der sich aber rasend schnell in ihn hinein grub. Nur mit Mühe konnte er eine ausdruckslose Miene beibehalten und wenn er nicht jahrelang vor dem Spiegel geübt hätte, wäre es ihm jetzt sicherlich nicht gelungen, seine Mimik in den Griff zu bekommen.
Ferris war mal wieder in Aktion. Das war doch so klar gewesen! Warum eigentlich hatte er sich die Mühe gemacht, vom Sofa aufzustehen, beim Stand vom 4:4 im letzten Drittel ein spannendes Eishockeyspiel sausen zu lassen und hierher zu kommen? Warum tat er sich das immer wieder an, obwohl er genau wusste, wie höllisch es schmerzte?
Blöde Frage. Weil es Ferris war. Weil er sofort sprang, wenn sein Freund ihn rief. Weil diese drei Worte Bin im Fox ihn nicht loslassen wollten, in seinem Hirn herumgeisterten und er sofort alles Mögliche hinein interpretierte. War Ferris einsam? Hatte er Probleme? War er in Schwierigkeiten? Brauchte er Hilfe? Was zum Teufel war los?
Rod konnte ein verächtliches Schnauben nicht unterdrücken. Großer Gott, er war ja so bescheuert! Als ob Ferris jemals einsam wäre. Nach Schwierigkeiten oder Problemen sah das hier ebenfalls nicht aus. Eher nach der typischen Ferris-Tour. Überall und zu jeder Zeit irgendeine Tussi aufreißen. War für ihn ja auch nicht schwer, schon seit ihrer Teenagerzeit schmissen sich alle Mädchen an Ferris heran, in der Hoffnung, ihm zu gefallen und ihn dauerhaft in die Finger zu bekommen.
Die heutige Eroberung passte genau in Ferris’ Beuteschema. Die Kleine sah gut aus, hing quasi an seinen Lippen und sendete allein in den zwei Sekunden, in denen Rod auf die beiden zuging und sie beobachtete, jede Menge Signale aus, die Ferris wohl zeigen sollten, wie willig sie war. Ein deutliches, bewusstes Klimpern mit den schwarzgetuschten Wimpern, ein kokettes Kräuseln ihrer Lippen, die kurze Gewichtsverlagerung, um ihre Hüften ein wenig nach links zu schieben und besser zur Geltung zu bringen.
Sein Freund trug dagegen zwar ein Lächeln auf dem Gesicht, aber sofort erfasste Rod, dass es nur aufgesetzt war. Er kannte Ferris. In- und auswendig. Wobei kennen noch untertrieben war. Er hatte quasi Ferris Farnwood als Nebenfach an der Highschool belegt. Wenn es auf dem College in dem Fach einen Doktortitel gäbe, hätte er mühelos mit Bestnoten promoviert.
Ferris war ihm vertraut, in all seinen Facetten. Jede kleinste Regung, jede Bewegung, jeder Blick, jedes Hochziehen seiner Augenbrauen setzten sich für ihn wie Bausteine zu einem Gesamtbild zusammen und signalisierten Rod sofort, dass sein Wolfsfreund an der Kleinen nicht wirklich interessiert war. Was eigentlich mehr als verwunderlich war, denn sie entsprach ziemlich genau seinem Geschmack. War etwas los? Hatte Ferris Sorgen?
Jetzt wandte Ferris ihm den Kopf zu und sofort erhellte ein strahlendes Lächeln sein Gesicht, das Rod dennoch den nächsten Stich verpasste. Auch wenn Ferris’ Miene aufrichtige Freude zeigte, ihn zu sehen – es war lediglich ein brüderliches, eher lässiges Grinsen. Eines, das er ebenso Judd gegenüber zeigte. Nichts besonderes. Er war nun mal nichts anderes für Ferris, als sein Kumpel. Natürlich. Und er würde ihm auch niemals etwas anderes bedeuten.
Mann, er musste sich endlich von dieser Besessenheit, dieser Vernarrtheit in seinen Freund, lösen. Sein Leben anpacken, es in die richtigen Bahnen lenken. Ausgehen, andere Männer kennenlernen. Sich vielleicht verlieben, um irgendwie von dieser unerfüllbaren Sehnsucht loszukommen. Wie oft hatte er sich das schon vorgebetet? Sich geschworen, dass er sich Ferris aus den Kopf schlagen würde? Dann würde es ihn auch nicht mehr innerlich auffressen, den Traum seiner schlaflosen Nächte in ständig wechselnder weiblicher Begleitung anzutreffen.
Jetzt hob Ferris die Hand zum High Five und Rod riss sich zusammen, schlug nachlässig darin ein und es gelang ihm, ein cooles »Hey Bro« zu brummen.
»Hey Roddy. Hast du es endlich geschafft, deinen dicken Hintern von der Couch hochzuwuchten? Wird ja auch Zeit«, frotzelte Ferris vergnügt, aber auch reichlich unverblümt.
»Ich wusste nicht, dass du in der Stadt bist«, log Rod und hoffte gleichzeitig, dass Ferris seine Notlüge nicht als solche enttarnen würde. Natürlich hatte er es gewusst. Seine morgendliche Routine und sein abendliches Ritual bestanden darin, mit der Handy-App zu checken, wo sich sein Freund gerade aufhielt. Es war ihm also nicht entgangen, dass Ferris sich bereits gestern Nachmittag aus dem Naturschutzgebiet im Norden auf den Weg gemacht hatte, um nach Hause zu kommen. Wahrscheinlich, um den monatlich fälligen Bericht bei seinem Professor am College einzureichen und den Scheck abzuholen. Die Studien über die Ökologie und den Zustand der nördlichen Wälder Kanadas wurden mit ein paar Dollar aus einem öffentlichen Fonds unterstützt, aber Rod wusste, dass diese lumpigen Kröten kaum zum Überleben reichten. Trotzdem hing Ferris mit all seinem Herzblut an seinen Studien, es ging ihm seit jeher mehr um die Sache selbst, als dass er damit reich werden wollte.
»Ich wollte wie üblich meinen Bericht bei Professor Hanson abgeben, aber er war in einer Besprechung und hat mich erst gar nicht empfangen«, knurrte Ferris und bestätigte damit seine Vermutung. »Ich soll morgen wiederkommen.«
»Hmpf.« Rod schnaubte unwillig. Das war ja echt die Höhe! Da sollte sein Freund einmal im Monat antanzen, und wurde dann einfach im Regen stehengelassen? Wussten diese versnobten College-Fuzzis denn gar nicht, wie viel Zeit und Sorgfalt Ferris auf die Monatsberichte verwendete, obwohl er es eigentlich hasste, diese abfassen zu müssen?
»Was ist denn nun mit meinem Drink?«, maulte die kleine Blondine neben ihnen. Rod maß sie mit einem vorwurfsvollen Blick. Sah die Tussi denn nicht, dass sie ein Männergespräch störte?
»Oh, ich habe euch noch gar nicht bekannt gemacht«, bemerkte Ferris, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr zurück und knetete kurz sein Ohrläppchen zwischen zwei Fingern. Ihr Geheimzeichen. Ferris wollte die Tante irgendwie loswerden. Sonst war es stets Judd gewesen, der dann mit Ferris irgendeine Show abzog, um die anhänglichen Weibsbilder abzuschrecken – aber Judd war nun mal nicht hier. Sollte er jetzt etwa einspringen? Und was hatte Ferris vor?
»Das ist mein aller-allerbester Freund Roderick Barnes, mit dem ich alles teile«, säuselte Ferris nun in einem übertrieben weichen Tonfall, legte ihm einen Arm locker um die Hüften – und schmiegte seine Wange an Rods Oberarm.
Sofort versteifte sich Rod. Nur unter Aufbietung all seiner Kräfte gelang es ihm, ruhig stehenzubleiben und seine Gesichtszüge reglos zu halten, obwohl seine Knie schlagartig weich wurden und sich dort, wo Ferris ihn berührte, ein warmes, elektrisierendes Kribbeln entstand, das sich sofort in ihm ausbreitete. Oh nein, nicht doch! Ausgerechnet diese Nummer wollte Ferris abziehen?
»Roddy, das ist … äh … Lisa. Ich glaube, sie will uns beide näher kennenlernen«, fuhr Ferris mit rauer, sexy Stimme fort und blinzelte verschwörerisch zu ihm hinauf. Verdammt! Rod biss die Zähne fest zusammen, bis sie knirschten. Allein diesem Augenaufschlag gegenüber war er machtlos. Das gehörte eindeutig verboten! Oder Ferris würde eines Tages ein Oscar für eine filmreife Darbietung verliehen werden.
Der fassungslose Blick der Blondine wanderte zwischen ihm und Ferris hin und her. Die Kleine schien entweder nicht ganz helle zu sein oder sie überlegte tatsächlich, ob sie es mit ihnen beiden aufnehmen wollte und konnte. Unwillkürlich verschränkte Rod die Arme vor der Brust, spannte die Oberarme an und starrte ihr finster in die Augen.
Das wirkte. Mit einem fassungslosen »Ihr seid ja nicht mehr ganz dicht« hüpfte die Blondine auf der Stelle vom Barhocker und verzog sich. Im nächsten Augenblick spürte Rod, wie sich sein Freund neben ihm entspannte.
»Puh, die war echt nervig. Danke für die Rettung«, brummte Ferris jetzt leise. »Komm, lass uns hier verschwinden.«
Mit einer eher ungelenk wirkenden Bewegung griff Ferris in die hintere Gesäßtasche seiner Jeans und zog seine Brieftasche hervor. Es entging Rod nicht, wie er die Scheine zweimal durchzählte, sie danach mit einem Seufzen allesamt hervorzog und das Bündel auf den Tresen warf. Unbewusst hatte Rod mitgerechnet. Es waren genau neunundzwanzig Dollar und wie es aussah das letzte Geld, das Ferris einstecken hatte. Also hatte sein Freund vier Whisky intus, was normalerweise ausreichte, um ihn ziemlich angetrunken zu machen. Umso verwunderlicher war es, dass er die Kleine sausen ließ, denn eigentlich machte Alkohol Ferris noch hemmungsloser, als er es ohnehin schon war. In aller Regel war er dann auch wesentlich weniger wählerisch, wenn es um seine Betthäschen ging.
»Stimmt so!«, rief dieser jetzt dem Barkeeper zu und schwang sich ebenfalls vom Hocker.
»Willst du noch etwas trinken? Ich gebe einen aus«, bot Roddy sofort an, aber Ferris winkte lässig ab.
»Nee, lass mal, ich stehe schon genug bei dir in der Kreide«, brummte er unzufrieden. Das war etwas, von dem Rod wusste, wie sehr es seinen Wolfsfreund ärgerte. Ferris ließ sich nur äußerst ungern von ihm oder Judd einladen. Ab und zu blieb es nicht aus, dass dieser seine Freunde anpumpen musste, aber Rod ahnte, dass Ferris insgeheim mitrechnete und ihnen das Geld irgendwann zurückzahlen wollte. Als ob er oder auch Judd das jemals zulassen würden.
Sie verließen das Foxground und Rod wollte bereits zu seinem davor abgestellten Motorrad gehen, hielt dann jedoch inne. Ferris war auf dem Gehweg stehengeblieben, legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und atmete tief durch. Die laue Nachtluft war durchsetzt von dem Gestank der Autoabgase, aber dennoch erfrischender als die abgestandene und alkoholgeschwängerte Luft in der Bar.
»Hey! Alles okay bei dir?«, fragte Rod alarmiert. Sein Freund schien wie aus einer Starre zu erwachen und schüttelte gedankenverloren den Kopf.
»Ja. Nein. Ach, ich weiß es nicht«, brummte Ferris abwehrend. »Ich mache mir halt ständig Gedanken darüber, warum Hanson mich nicht empfangen hat. Irgendwie hatte ich den Eindruck, seine Sekretärin hat mich absichtlich abgewimmelt.«
»Vielleicht hatte er wirklich einen anderen Termin und keine Zeit«, überlegte Rod laut und drückte Ferris den zweiten Helm in die Hand.
»Vielleicht.« Ferris knurrte unzufrieden, drehte aber den Motorradhelm lediglich nachdenklich in den Händen. »Danke fürs Abholen. Du hast was gut bei mir.«
»Kein Thema.« Für seinen Freund würde er schließlich alles tun. Wenn es sein musste, um die ganze Welt reisen, um ihn irgendwo aufzugabeln.
»Kannst du mich bei Judds Baumhaus abladen? Er hat mir erlaubt, es zu nutzen, solange er in Deutschland ist«, fragte Ferris jetzt verhalten.
»Klar.« Rod stieg auf seine Crossmaschine, die irgendwann mal rot gewesen, deren Farbe aber ziemlich verblasst war und eher an einen laichbereiten Lachs erinnerte. Er klappte den Ständer hoch und trat das Pedal kräftig durch, um den Motor zu starten. Die alte Kawasaki sprang sofort mit einem lauten Röhren an. Es war noch immer sein erstes Bike, das er sich mit sechzehn Jahren von seinem eisern gesparten Taschengeld gebraucht gekauft und stückchenweise umgebaut hatte. Seitdem pflegte und hegte er die Maschine und sie hatte ihn auch noch nie im Stich gelassen. Mittlerweile hatte die Gute fast fünfzehn Jahre auf dem Buckel, lief aber zuverlässig und war vor allem extrem geländegängig.
Ein weiterer Vorteil des Motorrads war, dass er jetzt eine gute halbe Stunde lang den Körperkontakt zu Ferris genießen konnte, der sich nun ebenfalls den Helm aufsetzte, sich hinter ihm auf den gepolsterten Sitz schwang und seine Finger wie üblich in den Gürtelschlaufen von Rods Jeans einhakte, um sich an ihm festzuhalten. Eine halbe Stunde, in der Rod meinte, den warmen Körper in seinem Rücken spüren zu können, obwohl sie sich nicht direkt berührten. Behutsam fuhr er los und wählte ein langsames Tempo, das gerade so noch als angemessen durchging und nicht enttarnte, dass er absichtlich bummelte, um den Zeitpunkt hinauszuzögern, in dem sie Judds Haus erreichen würden.
Trotzdem verging die Zeit viel zu schnell. Der schmale Waldweg, der an Judds Elternhaus vorbei führte, tauchte im Scheinwerferlicht der Kawasaki auf. Vorsichtig fuhr Rod den holprigen Pfad hinauf und parkte direkt unter dem Zuckerahorn, auf dem sie gemeinsam Judds Baumhaus errichtet hatten.
Fast wäre ihm ein Seufzer entwichen, als er den Schlüssel umdrehte und den Motor abstellte. Die schlagartig eintretende Ruhe und Totenstille des nächtlichen Waldes wurde lediglich unterbrochen von dem typischen Knacken der abkühlenden Auspuffanlage.
»Warum bist du eigentlich nicht zuhause bei deiner Mom?«, fragte Rod besorgt, nachdem er den Helm abgenommen hatte. »Sie freut sich doch sicherlich, dass du wieder da bist.« Er spürte, wie Ferris hinter ihm ebenfalls den Helm abnahm. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sein Freund wenig elegant vom Motorrad abstieg und leicht schwankte, als müssten sich seine Beine wie nach einer Schiffstour erst wieder an den festen Untergrund gewöhnen.
»Ich habe keine Lust, dass Damien mir morgen früh auf dem Kopf herumhüpft. Der Kleine ist meistens schon um sechs Uhr wach«, erklärte Ferris und seufzte abermals. »Es ist so schön still hier. Seit ich meine Zeit hauptsächlich allein in den Wäldern verbringe, fällt es mir umso schwerer, in den Zirkus zurückzukehren, den unser Zuhause darstellt.«
Rod nickte verstehend. Neben dem kleinen Damien, der bald ein Jahr alt werden würde, hatte Ferris noch vier weitere jüngere Geschwister, die seine Mom auf Trab hielten. Außerdem waren sie beide jetzt in einem Alter, in dem man sich von den Familien abnabelte. Ging ihm nicht anders. Bei ihm war die Situation jedoch … nun ja. Ungleich schwieriger.
»Kommst du mit hoch? Judd hat bestimmt noch ein paar Budweiser im Kühlschrank«, fragte Ferris plötzlich in die Stille hinein, die sich zwischen ihnen ausbreitete. Das sollte vielleicht lässig und cool klingen, aber Rod hatte ein viel zu geschultes Gehör, wenn es um Ferris’ Stimmungen ging. Im Moment hatte sein Freund wohl trotz der Aussage, dem häuslichen Trubel entfliehen zu wollen, keine große Lust, allein zu sein. Kurz zögerte er. Hatte er sich nicht längst geschworen, ein wenig Abstand zu Ferris zu halten?
»Okay«, lenkte er dennoch ein – und hätte sich im nächsten Augenblick am liebsten selbst eine reingehauen. War er etwa ein Masochist? Warum nur suchte er ständig die Nähe zu Ferris, obwohl er genau wusste, wie unglücklich ihn das machte, wie sehr das schmerzte? Oh Mann, er war ein derart schwacher, erbärmlicher Vollpfosten. Allein die Möglichkeit, Ferris ungestört nahe zu sein, versetzte ihn in Hochstimmung, ließ sein Herz schneller schlagen. Sogar seine Hände zitterten, als er den Helm an den Lenker hängte. Rod bemühte sich daher, eher gemächlich vom Bike zu steigen, klappte mit dem Fuß die Stütze herunter und vergewisserte sich, dass das Motorrad auch stehenblieb und auf dem weichen Waldboden nicht umkippte.
Das leise Tappen von Turnschuhen auf der hölzernen Wendeltreppe ertönte und Rod beeilte sich nun doch, zu Ferris aufzuschließen und hinter ihm zu der in knapp zehn Metern Höhe befindlichen Wohnungstür hochzusteigen, die wie erwartet nicht verschlossen war.
Hier in Kanada musste man sich weniger um Diebe oder sonstige Eindringlinge sorgen, als anderswo. Zudem befand sich Judds Baumhaus auf dem weitläufigen, privaten Grundbesitz seiner Eltern und weder gab es Wanderer, die hier unerlaubt anzutreffen waren, noch war das Baumhaus hoch oben in den Wipfeln der mächtigen Bäume leicht auszumachen. Mitten in der Natur, abgeschottet von allen Blicken und mit einer herrlichen Aussicht über das Tal, das sich unter ihnen ausbreitete. Ein perfekter Ort für einen Bären.
Und natürlich auch für einen Wolf, der Zeit für sich brauchte und Abstand vom Rudel suchte.
Ferris zog seine Lederjacke aus, warf sie einfach auf den nächsten Küchenstuhl und öffnete den Kühlschrank. Prima, wie erwartet hatte Judd dort ein paar Dosen Budweiser gebunkert. Ansonsten war der Kühlschrank allerdings leer, also musste er irgendwann morgen im Laufe des Tages einkaufen gehen. Na super. Wenn er seinen Gehaltsscheck bei der Uni abholte, musste er wohl oder übel einen Teil des Geldes in Lebensmittel investieren. Dabei hätte er gerne etwas für den neuen Laptop zur Seite gelegt, auf den er sparte. Und die nächste Handyrechnung würde auch bald eintrudeln. Gedankenverloren nahm Ferris zwei Bierdosen heraus und warf Roddy eine davon zu. Sein Bärenbruder fing diese geschickt mit einer Hand auf und folgte ihm über die schmale, aber äußerst stabile Hängebrücke hinüber zur nächsten Plattform, auf der der andere Teil des Baumhauses lag, der Wohn- und Schlafzimmer beherbergte.
»Fühl dich wie zuhause«, hatte Judd ihm als Antwort geschrieben, als er übers Handy seinen Freund fragte, ob er ein paar Tage hier wohnen dürfe. Tatsächlich fühlte es sich für ihn im Moment eher wie ein Nachhausekommen an, als wenn er sein eigentliches Elternhaus betrat. Sicherlich hatte es damit zu tun, dass sie gemeinsam dieses Baumhaus errichtet und in jahrelanger, mühevoller Arbeit ausgebaut hatten. Er kannte hier jedes Holzbrett, jeden Nagel und jeden Stahlanker, mit dem sie die Plattform befestigt hatten. Jeder von ihnen hatte beim Bau sein Wissen und seine Talente mit einbringen können. Roddy war ein verflucht guter Schreiner, von Judd stammte die Elektrik mit den Solarmodulen und er selbst hatte ein ausgeklügeltes Öko-System entwickelt, bei dem das Regenwasser genutzt und das Abwasser aus Toilette, Dusche und der Küche sauber geklärt wieder in die Natur abgegeben wurde.
Im Wohnzimmer ließ er sich, ohne das Licht anzuknipsen, müde auf die Couch fallen, kickte seine Turnschuhe von den Füßen und streckte genüsslich die Beine aus. Oh Mann, endlich wieder eine richtige, anständige Couch. Das tat echt gut. Einhändig öffnete er die Bierdose und nahm einen kräftigen Schluck, während er mit der linken nach der Fernbedienung griff und den Receiver anschaltete. Automatisch ging auch der Flachbildschirm an und erhellte den Raum. Wie üblich war der Sportkanal eingestellt, wo gerade die Wiederholung der heutigen Spitzenbegegnung im Eishockey, der Montreal Canadians gegen die Ottawa Senators, gezeigt wurde. Ersteres war Roddys Lieblingsteam, was er nur zu genau wusste.
»Hey, hast du das Spiel schon gesehen?«, fragte Ferris seinen Freund, der unschlüssig in der Wohnzimmertür stehengeblieben war, wie er erst jetzt feststellte. »Ich wusste gar nicht, dass das für heute auf dem Spielplan stand.«
»So halb«, gab Roddy einsilbig zurück. Der riesige Bär drehte die Bierdose in den Händen und wollte sie gerade öffnen, aber der Aluminium-Ring brach ab. Missmutig fluchte Roddy vor sich hin und drückte kurzerhand das vorgestanzte Loch mit dem Daumen ein. Es zischte und schäumte, eine Bierfontäne spritzte hoch auf und traf Roddys Hemd, versiegte dann jedoch rasch.
»Verdammte Scheiße!«, fluchte Roddy laut und hielt, wenn auch zu spät, die Bierdose am langen Arm von sich. Von seiner Hand tropfte der Gerstensaft auf den bunten Teppichläufer, der den Holzdielenboden bedeckte.
»Brüllst du das auch durch die Gegend, wenn du abspritzt? Das finden die Mädels doch sicherlich gruselig«, frotzelte Ferris belustigt, aber Roddy ignorierte seinen Spruch und schnaufte lediglich.
»Ich hole einen Lappen aus der Küche«, brummte er unglücklich.
»Lass doch, das trocknet wieder. Ist nicht das erste Bier, das wir hier verschüttet haben.« Nur zu gut erinnerte sich Ferris an etliche Partys, die Judd, Roddy und er hier oben gefeiert hatten. Nur sie drei, wohlgemerkt. Frauen hatten in ihren heiligen Hallen nichts verloren, das hatten sie sich beim Richtfest einvernehmlich geschworen.
»Jetzt pflanz deinen Arsch endlich aufs Sofa, du bist echt saumäßig ungemütlich«, knurrte Ferris ungeduldig, da Roddy noch immer wie angewurzelt dort stand und zu überlegen schien, ob er die Schweinerei nicht doch besser wegputzen sollte. Behäbig kam der Bär nun zu ihm herüber und ließ sich am anderen Ende der Couch in die Polster sinken.
Oh Mann, sein Freund war manchmal verflucht langsam, weil er immer erst alles gründlich überdenken musste. Aber er kannte den großen Teddybären nicht anders. Schon in ihrer Kindheit war Ferris meistens derjenige gewesen, der die Streiche ausheckte und anschließend Judd anstiftete. Roddy dagegen grübelte immer solange darüber nach, was wohl passieren könnte und ob etwas Recht oder Unrecht war, dass er das Beste am Streich verpasste. Allerdings wurden sie, wenn sie erwischt wurden, meist alle drei gemeinsam mit Hausarrest, Fernsehverbot oder Taschengeldentzug bestraft, was Roddy immer ohne mit der Wimper zu zucken hingenommen hatte, ob er an der Tat beteiligt gewesen war oder nicht. Und da Ferris und Judd sich stets auf den Freund verlassen konnten, mussten sie keinesfalls befürchten, dass Roddy sie verpfiff.
Relativ desinteressiert schaute Ferris dem Eishockeyspiel zu, obwohl es wirklich ziemlich spannend war. Seine Gedanken wanderten jedoch zurück zum heutigen Nachmittag und dem merkwürdigen Verhalten von Hansons Sekretärin, bevor sie ihn quasi an die Luft setzte. Verfluchte Scheiße. Irgendetwas war da im Busch, aber er wusste nicht, was dieses seltsame Getue zu bedeuten hatte.
Dem letzten Monatsbericht hatte er ellenlange und akribische Aufzeichnungen angefügt, die die ungewöhnliche Abwanderung der verschiedensten Lebensarten aufzeigten. Es schien, als würden sich explizit die Raubtiere im Kakwa Wildland Provincial Park plötzlich viel zu weit südlich aufhalten, obwohl dafür keine klimatischen Gründe verantwortlich sein konnten und es genügend Beutetiere im Norden des kleinen Naturschutzgebietes gab. Im Gegenteil, langsam schienen sich die Kaninchen, Bergziegen und Karibus überdurchschnittlich zu vermehren, da ihnen die natürlichen Feinde fehlten.
Zur Hölle, da war irgendwas los, aber er hatte keinerlei Anzeichen für menschliches Eingreifen in die Natur gefunden, was oft solche Revierverschiebungen der Bären und Wölfe erklärte. Und kein Judd weit und breit, mit dem er darüber quatschen konnte. Blieb ihm bloß Roddy.
»Wie geht es Doris?«, erkundigte sich Ferris scheinbar höflich nach Roddys Mom, aber eher, um überhaupt ein Gespräch in Gang zu bekommen.
»Gut«, antwortete sein Kumpel jedoch lediglich kurz angebunden.
»Und Brenda?« Zwar interessierte es Ferris wenig, was Roddys jüngere Schwester momentan alles anstellte, eher war er froh, der flügge werdenden Barnes entronnen zu sein, die vor ein paar Monaten plötzlich ein Auge auf ihn geworfen hatte.
»Macht jetzt gerade ihren Highschool-Abschluss. Sie will dann in Edmonton Modedesign studieren«, brummte Roddy und warf einen hastigen Blick zu ihm hinüber, schaute dann jedoch wieder stur auf das Fernsehbild.
Angestrengt atmete Ferris tief durch, um einen unglücklichen Seufzer zu unterdrücken. Mannomann, das war so mühselig. Irgendwie bekam er das Gespräch nicht in die Bahnen, in denen er es haben wollte. Komisch, erst jetzt fiel ihm auf, dass er wegen tiefschürfender Gespräche und bei schwerwiegenden Problemen in allererster Linie immer nur Judd aufgesucht hatte. Okay, war nicht verwunderlich. Von dem bekam er wenigstens ein anständiges Feedback. Oder auch mal den Kopf gewaschen, je nachdem, was er angestellt hatte. Roddy war dagegen immer der ausgleichende, ruhende Pol, wenn auch einer, der sie zusammenhielt und in allen Belangen unterstützte.
»Damien beginnt schon, sich überall hochzuziehen«, murmelte Roddy plötzlich so leise vor sich hin, dass Ferris schon glaubte, sich verhört zu haben.
»Ach ja? Hat Mom mir noch gar nicht erzählt«, gab Ferris zu und seufzte nun doch. »Okay, ich war auch nur kurz zuhause, dann bin ich wieder geflüchtet. Dakota und Savannah haben sich gestritten, dass die Fetzen flogen, Damien hat wie am Spieß gebrüllt, weil er irgendetwas nicht bekommen hat und Mary-Lou hat Franny beschuldigt, ihr Haargel benutzt zu haben. Das war das absolute Irrenhaus. Kein Wunder, dass sich Dad vom Acker gemacht hat.«
»Wenigstens hast du noch einen Dad«, warf Roddy kaum hörbar ein. Dennoch konnte Ferris den traurigen Unterton in Rods Stimme ausmachen. Ja, sein Dad war bloß ein blöder Wichser, der letztes Jahr Knall auf Fall seine Mom wegen irgendeiner jüngeren Schnalle sitzengelassen hat, kaum dass Damien auf der Welt war. Eigentlich war er froh darüber. Die Streitigkeiten zwischen seinen Eltern durfte er als Ältester hautnah miterleben und in den letzten Jahren hatte er seine Mutter oft genug weinen sehen. Das hatte sie wirklich nicht verdient. Seit sie allerdings den Schlussstrich unter ihre Ehe gezogen hatte, schien seine Mom tatsächlich ein wenig aufzublühen. Die dunklen Ringe unter ihren Augen waren verschwunden, sie hatte ihr Leben umgekrempelt und ging wieder halbtags in der nahegelegenen Shopping-Mall arbeiten, sobald Franny und Mary-Lou aus der Schule kamen und Damien hüten konnten. Von seinem Vater bekamen sie lediglich einen viel zu geringen Unterhalt, der kaum für die siebenköpfige Familie reichte, weshalb Ferris den Traum vom Masterstudiengang in Ökologie kurzfristig aufgeschoben, den Rest seines Studiums allein finanziert hatte und sich bemühte, seiner Mom nicht weiter auf der Tasche zu liegen.
Roddy und Brenda hatten dagegen ihren Dad schon viel zu früh verloren, da war Rod gerade mal vierzehn, im Teenageralter gewesen. Verfluchter Krebs. Seitdem hing, was die Familie anging, an Rod als ältestem Sohn unwahrscheinlich viel Verantwortung. Wie das bei Bären so üblich war. Hatte Roddy eigentlich deshalb auf den Highschool-Abschluss verzichtet und die Lehre als Schreiner angefangen? Ferris konnte sich nicht genau daran erinnern. Jedenfalls waren sowohl dessen Mom als auch Brenda auf das Geld angewiesen, das Rod verdiente.
Erschöpft lehnte Ferris den Kopf zurück und schloss die Augen. In seinem Kopf fing es an, zu dröhnen, was wohl dem Alkohol, aber auch der anstrengenden, vierzehnstündigen Zugreise bis hierher nach Vancouver geschuldet war.
Er bekam kaum mit, dass Roddy ihm die Büchse Bier, die er noch immer festhielt, aus der Hand nahm, sie irgendwo abstellte und den Fernseher ausschaltete, dann schlief er ein.
***
Rod hob vorsichtig Ferris’ Beine auf die Couch, darum bemüht, seinen Freund nicht zu wecken. Sofort zog dieser die Beine an den Körper, drehte sich auf die Seite, rollte sich in seiner bevorzugten Schlafposition zusammen und grummelte noch irgendetwas vor sich hin, wachte aber nicht auf. Oh Gott, er war so verdammt süß, wenn er schlief. Die entspannten Gesichtszüge wirkten viel weicher, viel jugendlicher und verletzlicher, als wenn er wach war. Lange, nachtschwarze Wimpern lagen auf seinen Wangen, die bereits einen dunklen Bartschatten zeigten. Himmel, er war einfach … anbetungswürdig.
Es kribbelte Rod in den Fingern, zärtlich über Ferris’ Kinn zu streichen und die Hände in den schwarzen Strähnen seines dichten Haars zu vergraben. Mühsam riss er sich zusammen und betrachtete wehmütig seinen Freund für einige Sekunden, richtete sich dann jedoch auf und holte eine dünne Decke aus dem Schlafzimmer, die er über Ferris ausbreitete.
So leise wie möglich verließ er das Wohnzimmer, griff in der Küche noch nach seiner Jeansjacke und stieg die enge Wendeltreppe hinab, die sich an den Stamm des Baumes schmiegte und seinem Verlauf bis hinunter folgte. Mit jedem Schritt und mit jeder Stufe verfestigte sich dabei sein Entschluss, den er schon vor mehreren Monaten gefasst hatte. Bisher war er einfach nicht stark genug gewesen, ihn durchzuziehen, aber mittlerweile blieb ihm keine andere Wahl. Er musste sich von Ferris fernhalten, sonst würde er noch den Verstand verlieren. Es war absolut unmöglich, weiterhin sein Freund zu sein und sich dabei in jeder einzelnen Sekunde heimlich nach ihm zu verzehren. Nach seinem Lächeln zu gieren, nach einem Blick aus diesen azurblauen Augen. Nach jedem Wort, das er an ihn richtete, selbst wenn es nur ein blöder Spruch war.
Heilige Scheiße, er war ja noch nicht einmal dazu in der Lage, eine vernünftige Unterhaltung mit Ferris in Gang zu bekommen. In seiner Gegenwart war er immer derart verklemmt, dass er kaum einen Ton rausbrachte, geschweige denn, ein richtiges, freundschaftliches Gespräch führen konnte. Dabei hatte er deutlich gespürt, dass Ferris etwas auf dem Herzen lag, dann jedoch zögerte, es anzusprechen. Kein Wunder, sie gingen mittlerweile derart verkrampft miteinander um, als würden sie sich nicht bereits ein Leben lang kennen.
Nein, es gab keinen anderen Ausweg. Roddy schluckte angestrengt, in seinem Hals herrschte plötzlich eine ungewohnte Enge, die ihm die Luft abschnürte. Das beklemmende Gefühl grub sich tief in ihn hinein, legte sich wie eine eiserne Fessel um sein Herz. Trotzdem setzte er den Helm auf, schwang sich auf sein Motorrad und fuhr den schmalen Weg hinunter. Keine fünf Minuten später erreichte er sein nahegelegenes Elternhaus, fuhr die Kawasaki in die Garage, blieb dann jedoch vor dem Haus stehen und schaute in den sternenübersäten Nachthimmel hinauf. Ihn zog es gerade weder in sein einsames Bett, noch in seine Werkstatt hinüber. Stattdessen schlüpfte er aus seiner Kleidung und deponierte sie auf der Holzbank, die neben der Haustür stand.
Umgehend verwandelte er sich und schüttelte den dichten Pelz. Die Gerüche der Nacht umgaben ihn, strömten auf ihn ein und wurden von seiner feinen Nase sofort in ihre Bestandteile zerlegt und analysiert.
Fichten, Buchen, Ahornbäume, trockenes Laub und Moos. Ganz schwach hing noch der Geruch von Hirschsteaks und Bratkartoffeln, die es zum Abendessen gegeben hatte, in der Luft. Die Mülltonne neben dem Haus, die Abgase seiner Kawasaki. Ein Fuchs musste vor ein paar Minuten in der Nähe gewesen sein, vermutlich war er auf Mäusefang.
Gemächlich tappte Rod zum Waldrand hinüber, seine langen Krallen gruben sich bei jedem Schritt in die weiche Erde. Instinktiv wählte er den schmalen Waldpfad, der vom Haus weg und mitten in den dichten Tannenwald führte. Zwar spürte er die große Kraft, die in seinem Inneren wohnte, seine festen Muskeln, den Schlag seines kräftigen Herzens – aber auch eine seltsame Mattigkeit, eine zähe Müdigkeit, die alles überdeckte, überlagerte und seine Schritte eher kraftlos und erschöpft werden ließ. Selbst in seiner Bärengestalt, in der seine Gefühle sonst immer eher gedämpft und sein Kummer leichter zu ertragen war, fühlte er nichts als Schmerz und das Bedürfnis, sich einfach unter dem nächsten Baum zusammenzurollen. Er bündelte seine Kraft, erhöhte die Geschwindigkeit und rannte los. Zwischen den Bäumen war es stockdunkel, seine Augen waren wie die eines Menschen nicht sonderlich gut an die Nacht angepasst. Trotzdem steigerte er das Tempo nochmals, obwohl er oftmals ausrutschte, über Äste und Steine stolperte und Bäume seine Flanken streiften.
Vielleicht konnte er dem Schmerz davonlaufen.
Mitten auf dem Bergrücken lichtete sich der Wald. Unter ihm breitete sich das Tal aus, an dessen Hang sich ihr Vorort schmiegte. Ein umgestürzter Baum versperrte ihm den Weg und Rod bremste aus vollem Lauf ab. Wütend stemmte er die Vorderpfoten gegen den Stamm. Mit ganzer Kraft drückte er gegen den tonnenschweren Baum, richtete sich auf die Hinterbeine auf, stieß wiederum mit beiden Pfoten zu und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das Holz, das zentimeterweise nachgab.
Nochmals verdoppelte er seine Bemühungen, den Baumstamm zur Seite zu schieben. Das Holz knackte und knarzte bedenklich.
Die ganze Aktion war genauso hirnrissig und ohne jeglichen Sinn, wie sein ganzes Leben. War das überhaupt ein Leben? Sein beschissenes Dasein war sowas von leer! Bedeutungslos! Ohne Ziel und ohne den Hauch einer Möglichkeit, das zu erreichen, wovon er träumte. Ohne eine Chance zu haben, das zu bekommen, was er mehr als alles andere auf der Welt begehrte.
Plötzlich knallte es laut, der meterdicke Stamm gab schlagartig nach und barst. Unvermittelt verlor Rod das Gleichgewicht, stürzte und krachte mit der Nase voran hart auf den Boden. Benommen blieb er liegen. Er keuchte, sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
In seinem Gesicht brannte es, er wischte nachlässig mit der Pfote darüber und brummte verärgert. Ein Ast musste ihm im Fallen gestreift haben und hatte wohl eine Schramme hinterlassen, jedenfalls blutete es dort irgendwo. Vermutlich hatte er Glück, dass er sich nicht ein Auge ausgestochen hatte.
Umständlich rappelte sich Rod hoch, trat den Rückweg an und schenkte dem gebrochenen Baumstamm keinen weiteren Blick.
Der blöde Baum war ihm egal. Irgendwie war doch alles egal. Aber sowas von scheißegal.
***
»Das können Sie nicht machen!«
Entgeistert starrte Ferris den alten, grauhaarigen Mann an, der sich in seinem Chefsessel zurücklehnte und gelassen die Fingerspitzen aneinanderlegte.
»Mir bleibt keine andere Wahl«, entgegnete Professor Hanson ruhig. »Die Fördergelder werden drastisch gekürzt und das College muss in allen Bereichen den Gürtel enger schnallen.«
»Aber meine Forschungen zum Tierbestand der nördlichen Rocky Mountains …«, protestierte Ferris vehement, wurde aber sofort unterbrochen.
»… werden wir dann weiterführen, wenn wir wieder dazu in der Lage sind, sie zu bezahlen«, versprach Hanson in einem Tonfall, als würde er einen wütenden Elefantenbullen beruhigen wollen.
»Sie können die paar lumpigen Dollar im Monat nicht aufbringen, die kaum meine Spesen ersetzen?« Aufgebracht sprang Ferris auf. »Wahrscheinlich müssten Sie lediglich den Stromanbieter wechseln, um die gleiche Summe einzusparen, die diese Studie kostet. Oder einmal in der Woche auf den Nachtisch in der Mensa verzichten!«
»Mr. Farnwood, es reicht!« Hanson zog die buschigen Augenbrauen zusammen und erwiderte finster seinen Blick. »Erzählen Sie mir nicht, wie ich diese Fakultät zu führen habe! In allen wissenschaftlichen Bereichen muss gespart werden und ich kann Ihnen versichern …«
»Ja, ja, das haben Sie mir jetzt schon hundertmal erzählt. Es erklärt mir allerdings nicht, warum gerade an jenen Kosten gespart wird, die von maßgeblicher Bedeutung sind. Von wegen Nachhaltigkeit! War das nicht Ihr Leitspruch bei Ihrem letzten Wahlkampf? Aber wie kann man nachhaltig auf die Gesellschaft und damit auch auf die Strukturen einer Universität einwirken und sie zum Positiven verändern, wenn man nicht einmal weiß, welche Einflüsse das Gleichgewicht der Natur durcheinanderbringen? Welche Faktoren entscheidend für ein ausgewogenes …«
»Mr. Farnwood, es tut mir ehrlich leid«, wiederholte Hanson erneut. »Aber der Entschluss steht fest. Ich werde mich mit Ihnen in Verbindung setzen, sobald wir Sie erneut beauftragen können.«
An Hansons Haltung konnte Ferris ablesen, dass dieser sich nicht umstimmen lassen würde. Wortlos schnappte er sich die Mappe mit seinem letzten Monatsbericht vom Schreibtisch und verließ grußlos das Arbeitszimmer des Professors.
Na klasse. Er war seinen Job los. Aber noch mehr als dieses Problem nagte an ihm, dass er somit unmöglich seine Forschungen im Kakwa Park fortsetzen konnte. Gerade jetzt, wo er dem Grund für dieses seltsame Abwanderungsverhalten der Wildtiere auf der Spur war! Denn abgesehen davon, dass er pleite war, hing am Forschungsauftrag des Colleges auch die behördliche Genehmigung, sich dauerhaft in dem kleinen Naturschutzreservat aufhalten zu dürfen.
Ihm wurde erst bewusst, dass er automatisch die Haltestelle vor dem Haupteingang des Colleges angesteuert hatte, als ein Bus mit quietschenden Bremsen anhielt, es durchdringend zischte und direkt vor seiner Nase die vordere Tür geöffnet wurde. Wie angewurzelt blieb Ferris stehen. Verdammt, er hatte nicht einmal genug Geld für die Rückfahrt. Mit einer kurzen Handbewegung deutete er dem Fahrer an, dass er nicht einsteigen wollte, und schlenderte scheinbar lässig die Straße hinab. Noch immer vor sich hin fluchend griff er nach seinem Handy. Hm, seiner App nach war Roddy nicht einmal online. Merkwürdig. Probehalber schickte er ihm ein kurzes Rod? Wo steckst du?, aber der Anzeige nach wurde seine Nachricht weder zugestellt noch gelesen.
Augenblicklich fing Ferris an, sich Sorgen zu machen. Sein Handy-Akku zeigte zwar an, dass er nur noch beängstigend wenig Saft hatte, dennoch wählte er die Festnetznummer der Barnes und war erleichtert, als sich Roddys Mutter meldete.
»Hallo Doris, ich bin’s, Ferris. Ist Roderick da? Ich erreiche ihn nicht auf seinem Handy.«
Seltsamerweise dauerte es geschlagene drei Sekunden, bis Rods Mutter antwortete. »Nein, er ist nicht hier. Und ich weiß auch nicht, wo er ist.«
»Vielleicht in der Werkstatt?«, mutmaßte Ferris ungeduldig.
»Ähm … nein, das wüsste ich. Ich denke, er ist zu einem Kunden gefahren … oder so.« Irgendetwas in Doris’ Stimme ließ Ferris aufhorchen, aber er konnte nicht genau festmachen, was es war. Es war nicht unbedingt ungewöhnlich, dass Roddy unterwegs zu einem Kunden sein sollte, aber trotzdem …
»Okay. Kannst du ihm bitte ausrichten, er soll mich anrufen, wenn er wieder da ist? Es ist dringend.«
»Das mache ich. Tschüss Ferris. Grüße deine Mom von mir«, versprach Rods Mutter und Ferris verabschiedete sich niedergeschlagen. Gut, dann blieb ihm nichts anderes übrig, als den Weg zurück nach Capilano Mountain zu trampen. Das hatte er auch schon oft gemacht, sollte also klappen.
Und wenn sich Roddy wie besprochen bei ihm meldete, würde er wenigstens jemand haben, der ihm still zuhörte, auch wenn er ihm bei seinen Problemen nicht helfen konnte.
***
Streng sah seine Mutter zu ihm auf. Sie ging ihm bloß bis zur Schulter, daher musste sie immer den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu schauen. Trotzdem genügte ihr Blick, um Rod innerlich einen halben Meter schrumpfen zu lassen.
»Was ist zwischen euch beiden los?«, fragte sie auch sogleich, nachdem sie das Gespräch beendet und das Telefon wieder auf seine Ladestation zurückgelegt hatte.
»Nichts«, versuchte Roddy, abzuwiegeln, auch wenn er an dem leichten Kräuseln der Lippen seiner Mutter erkannte, dass sie ihm das weder abkaufte, noch sich damit zufriedengeben würde.
»Erzähl mir keinen Scheiß, Roderick Albert Barnes«, knurrte sie auch wie erwartet. »Ferris ruft an, fragt nach dir und du wedelst und ruderst hier wie wild mit den Armen herum und willst ihn nicht sprechen? Habt ihr euch gestritten?«
»Nein, das haben wir nicht.«
»Was dann?«
»Mom, bitte, das ist eine Sache zwischen mir und Ferris. Ich will ihn eben momentan weder sehen noch sprechen, okay?« Roddy setzte seinen erprobten, bettelnden Dackelblick auf, was bei seiner Mom oft wirkte. Nicht aber heute.
»Nichts ist okay. Ich mache mir halt Sorgen. Du kommst mitten in der Nacht heim, erschöpft und blutend, und willst nicht einmal deiner eigenen Mutter erzählen, was los war? Habt ihr euch geprügelt?«
»Um Himmels willen, nein!«
Instinktiv sah sich Rod nach einer Fluchtmöglichkeit um, denn seine Mutter baute sich sichtlich besorgt vor ihm auf und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Roddy-Schatz, was es auch ist, du musst mit Ferris darüber reden«, mahnte sie eindringlich.
Unwillkürlich schüttelte Rod den Kopf. Nein, darüber konnte er nicht mit Ferris reden. Niemals.
»Du riskierst deine Freundschaft zu ihm, wenn du ihm nicht einmal eine Chance gibst …«
»Mom, bitte!«, unterbrach er sie grob, hob aber sogleich entschuldigend die Hände. »Es gibt eben Dinge, die sich nicht so einfach regeln lassen, indem man darüber spricht, okay? Glaube mir, das würde alles nur viel komplizierter machen!«
Er sah, wie seine Mutter den Mund öffnete, um etwas zu erwidern, ihn dann aber wieder schloss und ihn nachdenklich musterte. Nachgiebig seufzte sie und streichelte über seinen Oberarm.
»Na gut. Wie du meinst. Aber glaube mir – es nicht anzusprechen, löst euer Problem nicht. Es macht es wahrscheinlich nur schlimmer.«
Verhalten nickte er, aber eigentlich nur, um den Klauen seiner besorgten Bärenmutter zu entkommen und sie irgendwie zu besänftigen.
»Ich werde mit ihm reden. Aber nicht heute. Ich wäre dir also dankbar, wenn du ihm sagst, dass ich nicht da bin, wenn er vorbeikommt. Oder nochmal anruft.«