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Nachdem der Falkenwandler Rayn bei dem Polizeieinsatz in Chicago leicht verletzt worden war, drängen ihn seine Freunde von der Wild Pride Incorporation, der internationalen Gesellschaft der Gestaltwandler, dazu, ein paar Tage Urlaub zu machen, um sich wieder vollends zu erholen. Doch während Rayn dabei eher ein schickes 5-Sterne-Hotel mit Wellnessbereich im Sinn hatte, findet er sich unerwartet bei einem Bärenclan in den tiefen Wäldern der Rocky Mountains wieder, der völlig zurückgezogen, weitab von der Zivilisation und ohne jeglichen Komfort wie vor Hunderten von Jahren lebt. Normalerweise hätte Rayn den Freunden einen Vogel gezeigt und sofort die Rückreise angetreten – wenn da nicht Eden McKenzie wäre, der ihn auf Anhieb fasziniert. Der ungewöhnliche Student aus Bochum lebt mitten unter den Bären, doch er wird von diesen eher herabwürdigend und wie ein minderwertiger Laufbursche behandelt, einzig und allein aus dem Grund, weil er ein Mensch und kein Wandler ist. Bisher kennt Rayn nur die Diskriminierung, die Wandler auf der ganzen Welt durch die Menschen erfahren, und ist entsetzt, dies im umgekehrten Fall zu erleben, doch der clevere Eden hat seine eigene Strategie, um sich gegenüber den sturköpfigen Bärenwandlern zu behaupten ...
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Seitenzahl: 333
Bianca Nias
Band 2 der Shape Shifter Society
© dead soft verlag, Mettingen 2024
http://www.deadsoft.de
© the author
Cover: Irene Repp
http://www.daylinart.webnode.com
Bildechte:
© Ulysse Pixel – stock.adobe.com
© Andreas Gruhl – stock.adobe.com
© VideoFlow – stock.adobe.com
1. Auflage
ISBN 978-3-96089-672-2
ISBN 978-3-96089-673-9 (ebook)
Tajo@Bruns_LLC: Das Herz des Löwen
Jonathan@Bruns_LLC: Löwengebrüll
Keyla@Bruns_LLC: Honigbär
Daniel@Bruns_LLC: Katzenmenschen
Devon@Bruns_LLC: Wolfsblut
Navy Seals - Wild Forces: Volume I
Moments@Bruns_LLC: Short Stories Vol. 1
Navy Seals - Wild Forces: Volume II (Operation Icebreaker)
Ferris@Bruns_LLC: Problembär
Navy Seals - Wild Forces: Volume III (Operation Wühlmaus)
Navy Seals - Wild Forces: Volume IV (Operation Breaking Point)
Moments@Bruns_LLC: Shortstories Volume 2
Wild Pride Inc.: Quantensprünge
Wild Pride Inc.: Gravitationswellen
Nachdem der Falkenwandler Rayn bei dem Polizeieinsatz in Chicago leicht verletzt worden war, drängen ihn seine Freunde von der Wild Pride Incorporation, der internationalen Gesellschaft der Gestaltwandler, dazu, ein paar Tage Urlaub zu machen, um sich wieder vollends zu erholen. Doch während Rayn dabei eher ein schickes 5-Sterne-Hotel mit Wellnessbereich im Sinn hatte, findet er sich unerwartet bei einem Bärenclan in den tiefen Wäldern der Rocky Mountains wieder, der völlig zurückgezogen, weitab von der Zivilisation und ohne jeglichen Komfort wie vor Hunderten von Jahren lebt.
Normalerweise hätte Rayn den Freunden einen Vogel gezeigt und sofort die Rückreise angetreten – wenn da nicht Eden McKenzie wäre, der ihn auf Anhieb fasziniert. Der ungewöhnliche Student aus Bochum lebt mitten unter den Bären, doch er wird von diesen eher herabwürdigend und wie ein minderwertiger Laufbursche behandelt, einzig und allein aus dem Grund, weil er ein Mensch und kein Wandler ist.
Bisher kennt Rayn nur die Diskriminierung, die Wandler auf der ganzen Welt durch die Menschen erfahren, und ist entsetzt, dies im umgekehrten Fall zu erleben, doch der clevere Eden hat seine eigene Strategie, um sich gegenüber den sturköpfigen Bärenwandlern zu behaupten ...
ist das Einzige, das diese Welt retten kann.
Denn wenn du dich in jemanden hineinversetzt,
egal, ob Mensch oder Tier,
wirst du ihm niemals schaden wollen.
»He, Rayn, hast du Tonys Nachricht nicht gelesen?«
Dave tauchte unvermittelt neben der Couch auf, auf der es sich Rayn gerade erst mit der Taschenbuchausgabe eines neuen Romans seiner Lieblingsautorin gemütlich gemacht hatte. Er schaute nicht auf und brummte abwehrend, was dem Bärenwandler hoffentlich als Antwort genügte und ihm verdeutlichen sollte, dass er im Moment an einem Gespräch nicht interessiert war und seine Ruhe haben wollte.
»Die Jungs treffen sich im Park und wollen eine Runde Football spielen«, fuhr Dave ungerührt fort. »Los, komm mit! Tahar und Vince kommen übrigens auch.« Der Bär hielt inne und schnaubte amüsiert. »Das wird garantiert lustig. Ich weiß nicht, wann Vince zum letzten Mal einen Ball in der Hand hatte. Ich tippe ja darauf, dass er sich lieber raushalten und allenfalls den Schiedsrichter spielen möchte. Ist vielleicht auch besser, als sich mit uns in den Dreck zu werfen und dabei vielleicht ...«
»Oh, Mann, Dave!«, unterbrach Rayn den Redefluss des Freundes. Genervt klappte er das Taschenbuch zu, schnaufte bedeutsam und legte den Kopf in den Nacken, um zu Dave hochzusehen.
»Was denn?«, fragte dieser arglos. Sein gutmütiges, rundes Gesicht verzog sich zu einem spöttischen Lächeln, er beugte sich zu Rayn hinunter und grapschte nach dem Buch. »Was liest du da eigentlich?«
»Hey, lass das!«, quiekte Rayn entsetzt und versuchte, den Roman vor dem Kodiakbären in Sicherheit zu bringen, doch dieser war schneller, als man es ihm angesichts seiner Körpermasse und seiner trügerisch behäbigen Art zutraute. Noch bevor er reagieren konnte, hatte sich Dave das Buch gegriffen und beäugte neugierig das Cover.
»Heiße Pfoten? Ist das etwa so eine Gestaltwandler-Lovestory?«, fragte er interessiert.
Rayn spürte, wie Hitze in seine Wangen stieg und er offenkundig rot wurde.
»Na, und?«, erwiderte er patzig. »Ich lese die eben gerne.«
»Nur mit der Ruhe«, brummte Dave vergnügt. »Selbstverständlich kannst du das lesen, was du magst. Ich war bloß überrascht.« Er drehte das Buch und überflog den Klappentext. »Der Titel klingt allerdings echt seltsam. Soll der etwa sexy sein? Als ich zum letzten Mal heiße Pfoten hatte, hatte ich versehentlich die Herdplatte angelassen.« Der Bär zuckte mit den Schultern und gab ihm das Buch zurück. »Jetzt komm, die anderen warten schon auf uns.«
»Ach, geh doch allein, ich habe gerade keine Lust zum Footballspielen«, wehrte Rayn ab und biss sich verlegen auf die Unterlippe. »Ich möchte lieber ein bisschen lesen.«
»Das hast du beim letzten Mal auch schon gesagt«, mahnte Dave ernst. »Und davor ebenfalls. Wann hörst du endlich auf, dich hier zu verkriechen, und gehst mal wieder an die frische Luft?«
Rayn neigte den Kopf und warf einen bedeutsamen Blick zum Fenster hinüber. »Vielleicht beim nächsten Mal. Draußen sieht es nach Regen aus.«
»Wir sind hier in Chicago, nicht im sonnigen Kalifornien«, konterte Dave spöttisch. »Bei uns regnet es eben im Frühjahr häufiger, außerdem sind wir ja nicht aus Zucker. Im Gegenteil, falls es richtig schüttet und das Football-Feld unter Wasser steht, wird es umso lustiger. Die letzte Schlammschlacht zwischen mir und Coburn war echt legendär.«
Unbeirrt schüttelte Rayn den Kopf, zog die Kuscheldecke über seine Beine und schlug das Buch erneut auf. »Nein, lass mal, ich bleibe lieber hier.«
Er spürte Daves fragenden Blick auf sich ruhen, dennoch gab er vor, sich ins Buch zu vertiefen. Der Bär schwieg für einige Sekunden und rührte sich nicht, doch dann schnaufte er enttäuscht und wandte sich ab.
»Bis später!«, rief Dave ihm von der Eingangstür seines Appartements zu und war im nächsten Augenblick verschwunden.
Erst jetzt erlaubte es sich Rayn, den unwillkürlich angehaltenen Atem mit einem leisen Seufzer entweichen zu lassen. Sein schlechtes Gewissen meldete sich, weil er Daves Gastfreundschaft nun schon seit knapp drei Wochen in Anspruch nahm, aber alle seine Versuche, ihn von der gemütlichen Couch wegzulocken und in irgendwelche Aktivitäten einzubeziehen, konsequent abblockte. Anfangs hatte er es auf seine Verletzungen geschoben, die er von seinem Kampf mit Gordon, dem Uhu-Wandler, davongetragen hatte, vor allem beim Sturz in den Baum und infolge des harten Aufpralls auf den Boden. Die blauen Flecken, die angeknacksten Rippen und der Anriss der Sehne in der linken Schulter waren zwar seit einigen Tagen nicht mehr spürbar und wohl komplett verheilt, aber er fühlte sich trotzdem schlapp und kraftlos, ohne zu wissen, was ihm fehlte oder woran das lag.
Nachdenklich sah Rayn aus dem Fenster und zum wolkenverhangenen Firmament hinauf. Ein böiger Wind trieb die Wolkenfetzen auseinander und tatsächlich blitzte ein großes Stück blauer Himmel zwischen ihnen auf. Daves Hoffnung auf eine Schlammschlacht mit den Wolfswandlern des Chicagoer Police Departements schien sich nicht zu erfüllen. Ach, war ja auch egal. Seltsamerweise ließ ihn dies völlig unbeteiligt, es war ihm schlichtweg gleichgültig, ob die Sonne strahlte, ob es stürmisch war und regnete – und ebenfalls, ob die anderen ohne ihn ihren Spaß hatten oder nicht.
Er seufzte erneut und legte den Handrücken an die Stirn, um seine Temperatur zu prüfen. Nein, er schien kein Fieber mehr zu haben, das tagelang den Heilungsprozess begleitet hatte, trotzdem ging es ihm richtig mies. Vielleicht brauchte er einfach noch ein wenig Zeit, noch ein paar Tage Ruhe und Erholung, um nach diesen schrecklichen Erlebnissen wieder auf die Beine zu kommen.
***
Es war später Abend, als laute Stimmen, Daves fröhliches Lachen und dumpfes Gepolter im Treppenhaus des Appartementhauses die Rückkehr des Kodiakbären ankündigten. Offenbar war er nicht allein. Gleich darauf öffnete sich die Wohnungstür und Dave stürzte herein, gefolgt von Vince und Tahar.
»Mann, Rayn, du hast ein phänomenales Spiel verpasst!«, sprudelte es aus dem Bärenwandler hervor. Seine Wangen waren gerötet, die Kleidung über und über dreckverschmiert, aber er strahlte über das ganze Gesicht und lachte ausgelassen. »Ha, denen haben wir’s aber gegeben! Die Wolfsbande ist gnadenlos untergegangen! Wir haben sie mit vierzehn Punkten Vorsprung vom Platz gefegt!«
»Das haben wir vor allem den zwei Touchdowns zu verdanken, die Tahar im letzten Quarter erzielt hat«, bemerkte Vince mit einem süffisanten Lächeln. »Du warst irre schnell, mein süßer Wüstenprinz.«
Ein seltsames Ziehen breitete sich in Rayns Brust aus, als er den hingebungsvollen, gleichzeitig stolzen Blick bemerkte, mit dem der Detective der Mordkommission seinen Freund ansah, und den dieser auch sofort erwiderte.
Keine Frage, er gönnte Tahar und Vince ihr junges Liebesglück, doch manchmal fiel es ihm schwer, eine unbeteiligte Miene aufzusetzen, wann immer die zwei herum turtelten. Vor nicht allzu langer Zeit hätte er sich freiwillig alle Schwanzfedern ausgerissen, wenn Tahar ihn dadurch bloß ein einziges Mal mit diesem offen zugewandten, ehrlichen und liebevollen Lächeln bedacht hätte, das er nun Vince schenkte. Dabei war ihm von vorneherein klar gewesen, dass er und der Wüstenluchs nichts anderes als Freunde sein würden. Er war nicht das, was Tahar brauchte, er hatte nichts von dem, was dieser wollte und mit dem der Mensch bei ihm hatte punkten können. Weder besaß er einen derart perfekten Körperbau wie Vince, der groß, muskelbepackt und breitschultrig war, noch hatte er dessen riesiges Ego oder gar dieses unerschütterliche Selbstvertrauen, das der Detective ausstrahlte. Nein, Vince war wohl in allen Belangen das komplette Gegenteil von ihm.
Automatisch rutschte Rayn auf der Couch ein Stück zur Seite, als Tahar sich dazu setzte und ihm freundschaftlich an der Schulter anstupste.
»Warum bist du nicht mitgekommen? Geht es dir noch immer nicht besser?«, fragte sein Freund besorgt. »Es hat echt total viel Spaß gemacht und Tony hat natürlich nach dir gefragt.«
Rayn schnaufte unwillig, in der Hoffnung, dass Tahar dies zur Antwort genügen und er das Thema wechseln würde.
»Sag mal, gehst du Tony etwa absichtlich aus dem Weg?«, hakte dieser unerbittlich nach. »Ich meine, er ist doch ein toller Kerl und offensichtlich an dir interessiert, also warum ...«
»Weil ich es nicht will, okay?«, rutschte es schärfer als beabsichtigt aus Rayn heraus. In der nächsten Sekunde spürte er, wie erneut Hitze in ihm hochstieg und er knallrot anlief, weil sich ihm alle Köpfe zudrehten und die Freunde ihn verblüfft und mit hochgezogenen Augenbrauen anstarrten. »Ich möchte einfach meine Ruhe haben«, setzte er daher hinterher, wobei seine Stimme selbst in seinen Ohren nicht wie beabsichtigt fest und betont selbstbewusst klang, sondern zu seinem Leidwesen einen reichlich jammernden Unterton hatte.
Bevor Tahar, Vince oder Dave etwas erwidern konnten, stand Rayn von der Couch auf, murmelte ein schnelles »Ich muss mal« und flüchtete ins Bad hinüber, wo er hinter sich abschloss und sich anschließend aufatmend gegen das weißlackierte Türblatt lehnte.
»Was fehlt ihm nur?«, hörte er Dave dank seiner guten Ohren fragen, doch Tahars geflüsterte Antwort hätte er durch die geschlossene Tür nur dann verstehen können, wenn er über die empfindsamen Lauscher einer Eule verfügen würde. Etwa eines Uhus, wie Gordon einer war.
Rayns Beine fühlten sich plötzlich puddingweich an, sie gaben unter ihm nach und er rutschte mit dem Rücken an der Tür entlang zu Boden, wo er mit beiden Armen die Knie umschlang und verzweifelt versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die in ihm hochstiegen.
Gordon war zwar der einzige Vogelwandler, den es außer ihm noch auf dieser Welt gab, doch leider schien er völlig durchgedreht und abgrundtief böse zu sein – und saß nach dem Mord an Micah Heibutzki und der Entführung der Waisenkinder zu Recht im Kittchen und wartete auf seinen Prozess. Höchstwahrscheinlich blühte ihm lebenslänglich.
Hastig wischte sich Rayn die Tränen von den Wangen, die unaufhörlich aus seinen Augen hervorquollen. Verdammt, der Kerl hatte es nicht verdient, dass auch nur eine einzige Träne wegen ihm vergossen wurde. Der Gedanke daran, dass er für den Rest seines Lebens der Einzige seiner Art bleiben würde, bohrte sich dennoch wie ein scharfes Schwert mitten in Rayns Herz hinein.
Niemand war ihm geblieben, der mit ihm zusammen in den Himmel aufsteigen und der mit ihm fliegen würde. Der den Wind und die Freiheit unter den Flügelspitzen spürte, sich von der Thermik in die Höhe heben lassen und zu einem atemberaubenden Sturzflug ansetzen konnte.
Sogar unter seinen Freunden würde er immer ein Außenseiter bleiben, der Sonderling, den alle übrigen Wandler zwar interessant und spannend fanden, die aber nie verstehen würden, was in ihm vorging und wie er sich fühlte. Das, was er nach außen hin von sich zeigte und was die anderen in ihm sahen, war nur ein winziger Bruchteil von ihm. Selbst sein bester Freund Tahar vermochte ihm manche Gedanken und Gefühle von seiner Nasenspitze ablesen, solange Rayn sich in seiner Menschengestalt befand, trotzdem hatte auch er bislang nur an seiner Oberfläche gekratzt. Konnte überhaupt jemand einen Falken verstehen, der selbst keiner war? Wer würde begreifen, was es bedeutete, in der Vogelgestalt die Schwingungen und Bewegungen im Erdinneren zu spüren und alles um sich herum wie ein wechselndes Farbspiel zu sehen, das nur dann nicht vor den scharfen Augen verschwamm, wenn man es in den Fokus nahm?
»Wir Falkenwandler haben eine einzigartige, eher spezielle Sicht auf unserem Planeten«, hatte seine Mama immer gesagt. »Jeder Mensch, der in einem Flugzeug sitzt, sieht die Erde wie wir von hoch oben und damit aus einem besonderen Blickwinkel – aber nur wir Vögel spüren dabei eine echte Verbindung zu ihr. Wir sehen nicht nur das Land oder das Wasser, das wir überfliegen, wir fühlen jede Veränderung in den einzelnen Luftschichten in unseren Flügelspitzen. Wir haben innere Antennen, die auf das Magnetfeld der Erde, aber auch auf das komplexe Zusammenspiel der Natur eingestimmt sind. Und genau deshalb spüren wir in unseren Herzen, wie bitterlich der Planet weint, wenn die Gewässer vergiftet und die Ozeane zugemüllt werden, wenn die Menschen ganze Lebensräume zerstören, Regenwälder roden und dadurch viele Arten für immer von dieser Welt verschwinden.«
Erneut legte sich Trauer fest um sein Herz. Seine Eltern hatten sich stets für den Erhalt der Natur eingesetzt und waren als Entwicklungshelfer überwiegend im Senegal unterwegs gewesen. Sie hatten die Menschen dort unterstützt, ihre Traditionen zu bewahren, die vorhandenen Ökosysteme zu erhalten und trotzdem ihren Lebensunterhalt zu sichern. In dieser Aufgabe waren beide aufgegangen, bis ein simpler Verkehrsunfall sie abrupt aus dem Leben gerissen hatte.
Eine weitere Träne löste sich aus seinem Augenwinkel und rollte über Rayns Wange. Himmel, er vermisste sie beide noch immer, auch fünf Jahre später trauerte er und fühlte den stechenden Schmerz des Verlustes.
»Jedes Leben hinterlässt seine Spuren in diesem Universum«, hatte sein Papa irgendwann mal zu ihm gesagt, als er schon etwas älter gewesen war. Dann hatte er die Spitze seines Zeigefingers geküsst und diesen auf Rayns Brust gelegt. »Genau hier spüre ich uns. Dich, mich und deine Mama. Wir haben uns in deinem Herz verewigt und sind dir immer ganz nahe, egal, wo du gerade bist. Falls wir also mal nicht da sein sollten und du Sehnsucht nach uns hast, dann brauchst du nur in dein Herz hinein zu spüren. Mach die Augen zu und erinnere dich, dann wirst du uns in dir selbst finden.«
Unwillkürlich schloss Rayn die Augen und legte Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand an seine Brust. Sein Papa hatte das bestimmt eher metaphorisch gemeint, denn außer seinem menschlichen, dürren und knochigen Oberkörper war nichts zu spüren. Warum auch.
Es war ihm verflucht schwergefallen, nach diesem schrecklichen Verlust wieder halbwegs auf die Beine zu kommen. Ohne Tahar, den er damals an der Uni in München kennengelernt hatte und der zu seinem besten und einzigen Freund wurde, wäre ihm das vielleicht auch nicht gelungen.
Das stetige Klopfen, das er unter seinen Fingerspitzen spürte, beruhigte ihn allerdings auf der Stelle, gleichzeitig half es, sich auf den Falken in ihm zu konzentrieren. Seine Vogelgestalt schlummerte unter seiner Oberfläche, doch seit dem unheilvollen Zusammentreffen mit Gordon fühlte es sich an, als ob sich eine unsichtbare Wand zwischen seine menschliche Existenz und den Falken, der sein wahres Ich verkörperte, geschoben hätte. Als würde er durch eine Milchglasscheibe hindurchsehen, hinter der er nur einen Schemen wahrnehmen, nicht aber die gesamte Gestalt erfassen konnte. Immer dann, wenn er zu wandeln versuchte, stieß er auf eine Barriere, die es ihm unmöglich machte, den Übergang zu finden und in die Falkengestalt überzuwechseln.
Genau wie in diesem Moment. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Bislang hatte er keinem seiner Freunde davon erzählt, schon gar nicht Tahar, der ihn wahrscheinlich kurzerhand in die nächste Wandlerklinik bringen würde, aber allzu lange würde er es nicht vor den anderen verbergen können. Spätestens dann, wenn sie ihn, den einzigen Vogelwandler der WPI, für irgendeinen Einsatz brauchten, würde alles auffliegen.
Rayn atmete tief durch, um ein lautes Seufzen zu unterdrücken, und gab es ein weiteres Mal auf, die Gestalt des Falken annehmen zu wollen. Vielleicht waren die angeknacksten Rippen doch noch nicht vollständig verheilt, weshalb es nicht funktionierte. Mühsam rappelte er sich hoch, betätigte als Alibi die Wasserspülung der Toilette und spritzte sich noch etwas Wasser ins Gesicht, um zu verbergen, dass er schon wieder geheult hatte. Zurück im Wohnzimmer fand er zu seinem Erstaunen lediglich Tahar vor, der mit verschränkten Armen inmitten des Raumes stand und offenbar auf ihn wartete.
»Wo sind die anderen beiden?«, fragte Rayn verblüfft. Er hatte nicht einmal mitbekommen, dass Dave und Vince die Wohnung verlassen hatten.
Tahar winkte nachlässig ab.
»Die sind Pizza holen gegangen«, erklärte er, und zeigte dabei auf das breite Sofa. »Setz dich, wir müssen reden.«
Die Entschlossenheit im Blick seines Freundes erlaubte keinen Zweifel daran, dass er es ernst meinte, also sparte sich Rayn jeglichen Kommentar und ließ sich auf die, speziell für Bären und äußerst stabil gebaute, Couch plumpsen.
»Mir geht es gut«, beteuerte er, um damit hoffentlich dieses Gespräch abzukürzen und Tahar zu besänftigen, doch der schnaubte nur spöttisch.
»Das kannst du vielleicht dem guten Dave weismachen, aber nicht mir«, knurrte Tahar und sah ihm mit seinen irritierend verschiedenfarbigen Augen forschend an. »Rayn, so habe ich dich echt noch nie erlebt, nicht einmal, als ich dich direkt nach dem Tod deiner Eltern kennengelernt habe. Was ist nur los mit dir?«
Betroffen zuckte Rayn die Schultern und presste die Lippen aufeinander. Wie sollte er mit seinem Freund über seine Probleme reden, ohne ihm auf die Nase zu binden, dass er sich nicht mehr wandeln konnte?
»Wir machen uns große Sorgen um dich, mein kleiner Flattermann«, fuhr Tahar fort, da er nicht antwortete. »Ich weiß, wie sehr dich Gordons Verrat getroffen haben muss – aber an dem beknackten Uhu kann es doch nicht liegen, dass du auf nichts mehr Lust hast. Dass du nur noch wie ein Spatz isst und plötzlich vollkommen verändert wirkst. Du warst noch nie so still, sondern immer gut drauf und voller Elan. Wenn dir etwas nicht gepasst hat, wenn du sauer auf mich oder vielleicht ein bisschen traurig warst, bist du weggelaufen und stundenlang durch die Welt geflogen. Und jetzt? Jetzt verkriechst du dich in dieser Wohnung und bekommst deinen Hintern nicht mehr von dieser verfluchten Couch herunter!«
Mit seinen letzten Worten war Tahar immer lauter geworden und hatte sich vor ihm aufgebaut, doch nun hockte er sich hin und legte eine Hand auf Rayns Knie.
»Verdammt, Rupert Xaver Huber, du machst uns allen echt Angst. Du weißt, dass ich alles für dich tun würde, aber wenn du nicht mit mir redest, kann ich dir nicht helfen.«
Ein Kloß bildete sich in Rayns Kehle, nachdem er den bekümmerten Ausdruck in Tahars Augen bemerkte. Noch vor wenigen Wochen hätte sein Freund selbst in einer derartigen Situation seine Mimik unter Kontrolle gehalten und niemals ein solches Mitgefühl preisgegeben, das Rayn nun aus seinem Tonfall heraushören konnte. Seit Tahar mit Vince zusammen war, hatte er sich verändert, war wesentlich offener, aber dadurch für ihn weniger kalkulierbar geworden. Mit der spröden, reservierten und zurückhaltenden Katzenart seines Freundes war er jedenfalls wesentlich besser zurechtgekommen als mit dieser komischen Empathie, die dieser so ungewohnt freimütig zeigte.
»Ihr braucht euch keine Sorgen machen«, erklärte Rayn nach kurzer Überlegung. »Ich genieße die Ruhe, die ich hier habe. Vielleicht brauche ich einfach mal eine Pause.«
»Pause ist ein gutes Stichwort.« Tahar zwinkerte ihm zu und lächelte plötzlich. »Gut, dass du selbst die Sprache darauf bringst. Wir haben nämlich beschlossen, dass du dringend Urlaub brauchst. Und da man hier in Chicago, mitten in der Stadt, nicht gerade besonders gut ausspannen kann, wirst du mit Dave morgen nach Koocanusa Falls fahren.«
Überrascht merkte Rayn auf und runzelte argwöhnisch die Stirn.
»Bitte, was? Ich werde nirgendwohin ...«
»Oh, doch, mein Kleiner, das wirst du.« Tahar stand wieder auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das Naturschutzgebiet in den Rocky Mountains, aus dem Dave stammt und wo seine Familie noch immer wohnt, ist genau der richtige Ort für einen Wandler, um sich zu erholen. Keine Autoabgase, kein Lärm und keine vollgestopften Straßen, sondern eine grandiose, unberührte Natur und endlose Wälder.«
Rayn schnaubte entsetzt. »Stammt Dave nicht aus einer kleinen Bärensiedlung am Arsch der Welt, wo sie nicht einmal WLAN haben?«
Tahar nickte bedächtig. »Koocanusa Falls wird dir ganz bestimmt gefallen. Genau dort wirst du viel Ruhe finden, um dich zu erholen. Kein Fernsehen, kein Telefon, kein Handyempfang. Ist das nicht großartig?«
»Großartig klingt für mich anders«, motzte Rayn angefressen und funkelte Tahar wütend an. »Ein Trip nach New York wäre großartig. Oder eine Kreuzfahrt in die Karibik. Aber ich soll das miese Wetter in Chicago gegen ein noch beschisseneres in den Rocky Mountains eintauschen?«
»Ich sehe, wir verstehen uns.« Tahars Lächeln wurde breiter, doch dann schnaufte er und wurde unerwartet wieder ernst. »Genau diesen widerspenstigen Gesichtsausdruck habe ich bei dir vermisst, Rayn. Mir ist es lieber, du bist sauer auf mich und zeigst das auch, anstatt teilnahmslos vor dich hin zu starren und in dieser Bude zu vergammeln.« Er griff nach Rayns Hand und drückte sie kurz. »Lass dir mal für ein paar Tage die frische Luft um den Schnabel wehen. Flieg für mich auf den höchsten Gipfel der Berge und komm wieder zu dir. Versprichst du mir das?«
Rayn schluckte. Für einen winzigen Moment drängte es ihn, seinem besten Freund zu beichten, dass er nicht würde fliegen können, doch dann nickte er stumm und gab sich geschlagen.
Okay, er würde seinen Freunden zuliebe ein paar Tage bei Daves Familie verbringen.
Was sollte daran schlimm sein?
»Nie wieder! Ich steige nie wieder in so ein beschissenes Flugzeug!«, murmelte Rayn vor sich hin, während er mit beiden Händen das Geländer der Gangway fest umklammerte und versuchte, auf seinen wackeligen Beinen die schmalen Stufen hinunterzusteigen, ohne dabei auf die Nase zu fallen. Der Linienflug von Chicago nach Great Falls, Montana, war ja schon schlimm gewesen, doch hätte er geahnt, dass der Weiterflug nach Libby nur mit einer kleinen Propellermaschine zu bewältigen war, hätte er Dave einen Vogel gezeigt und wäre lieber wieder nach Chicago zurückgekehrt. Mit einem Auto, versteht sich, selbst wenn er für die Strecke von über 2000 Kilometern mehrere Tage gebraucht hätte.
Vor seinen Augen flimmerte es noch immer, und sowohl der Horizont, an dem sich die beeindruckende Gebirgskette der Rocky Mountains entlang zog, wie auch das Rollfeld des Kleinstadt-Flughafens schienen wie ein Schiff auf hoher See zu schwanken. Sein Magen rebellierte erneut heftig, obwohl er während des Fluges schon seinen gesamten Inhalt von sich gegeben hatte. Mehrfach. Dieses abartige Gefühl, in einer tonnenschweren Kiste gefangen zu sein, die trotzdem flog und in eine Höhe aufstieg, die er als Falke niemals würde erreichen können, hatte ihn binnen weniger Minuten in ein zitterndes und wimmerndes Häufchen Elend verwandelt.
Die letzten beiden Stufen stolperte er ungelenk hinunter, dann hatte er endlich wieder festen Untergrund unter den Füßen. Aufatmend ließ er sich auf die Knie fallen und legte die Handflächen auf den nassen, schmutzigen Asphalt, um kurz durchzuschnaufen und den Bodenkontakt wiederzufinden.
»Wenn du jetzt noch das Rollfeld abknutschst, verwechseln dich die Leute mit dem Papst«, spottete Dave, der hinter ihm die kleine Maschine verlassen hatte. »Ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet ein Vogelwandler ein Problem mit dem Fliegen haben könnte.« Im nächsten Moment stöhnte der Bärenwandler ebenfalls und rieb sich beiläufig über die Knie. »Verdammt, warum haben die mittlerweile nicht mehr Platz auf diesen Inlandsflügen? Ich passe einfach nicht in diese engen Sitzreihen hinein, bei jedem Luftloch und bei jedem Wackler habe ich mir die Knie am Vordersitz gestoßen.«
Rayn kam mühsam wieder auf die Beine und sah sich verschämt um. Okay, die nachfolgenden Passagiere, ein älteres Ehepaar, gafften ihn zwar blöd an, trotteten jedoch kommentarlos an ihnen vorbei.
»Ist es denn noch weit?«, wagte er zu fragen, aber Dave schüttelte sofort den Kopf.
»Nein, nicht mehr. Noch eine Autofahrt von knapp zwei Stunden, dann sind wir in Eureka. Von da aus müssen wir zwar laufen, aber die kleine Bergtour am Parkers Creek entlang wird dir gefallen. Allerdings müssen wir uns ein wenig sputen, damit wir noch vor dem Dunkelwerden den Kootenai Forest erreichen.«
Rayn musste sich zusammennehmen, um den Mund wieder zu schließen, der ihm bei Daves Wegbeschreibung offen stehengeblieben war. Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Er hatte sich von diesem Trip in die abgelegene Region des Nationalparks eher etwas Entspannung versprochen, doch zur Krönung dieser schrecklichen Flugreise stand ihm auch noch ein Gewaltmarsch durch die dichten Wälder bevor!
»Ich kann dir auch die Lage der Siedlung auf der Karte zeigen und du fliegst einfach voraus«, schlug Dave vor, dem sein entgeisterter Gesichtsausdruck nicht entgangen sein dürfte.
Hastig schüttelte Rayn den Kopf.
»Ach, nein, lass mal«, wehrte er betont locker ab. »Ich laufe mit dir, so eine Tour macht doch zusammen viel mehr Spaß. Außerdem freue ich mich darauf, dass du mir deine Heimat zeigst.«
Letzteres war nicht einmal gelogen. Erneut wurde sein Blick wie magisch von der riesigen Gebirgskette der Rocky Mountains angezogen, deren schneebedeckte Gipfel am Horizont auszumachen waren. Dichte Nadelwälder, die im Licht der Mittagssonne in einem satten Dunkelgrün erschienen, säumten die Berghänge, und trotz des Kerosingeruchs der Flugzeuge konnte er einen Hauch frischer Bergluft wahrnehmen, die warm und würzig nach sonnenbeschienenen Felsen, nach Fichten, Tannen und Moos duftete. In der Ferne entdeckte er mit seinen scharfen Augen einen Adler, der am Himmel seine Kreise zog und die thermischen Aufwinde nutzte, um sich ohne Kraftanstrengung in die Höhe zu schrauben.
Rayn atmete nochmals tief ein und straffte sich entschlossen. Die Umgebung war nicht nur für Bären ein Paradies, sie kam auch ihm seltsam vertraut und extrem verlockend vor. Die Berge erinnerten ihn ein wenig an seine Heimat in Deutschland und an das Zugspitz-Massiv bei Garmisch Patenkirchen, wo er aufgewachsen war, obwohl hier in den USA alles noch viel größer, viel weiträumiger war.
Möglicherweise hatte Tahar ja recht und ihm würde der kurze Urlaub von seinen Pflichten bei der WPI guttun, um endlich wieder zu sich selbst zu finden.
***
Niko betrachtete die graphische Darstellung der DNA-Sequenz auf dem Monitor eingehend, doch die schwarz-weißen Balken verschwammen vor seinen Augen zu einem flimmernden, grauen Haufen eines undurchdringlichen Geflechts.
Er seufzte, lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und rieb sich müde über das Gesicht. Verdammt, er brauchte dringend eine Pause, es ergab keinen Sinn, länger auf die Grafik zu starren, die ihm ein Rätsel nach dem anderen aufgaben.
Er hörte, wie sich hinter ihm die Tür zum Labor öffnete, doch ehe er sich umdrehte, spürte er, wie sich die Schwingungen seiner Umgebung schlagartig änderten. Seine inneren Sensoren, aber auch der Schwall an neuen Duftpartikeln in der Luft verrieten ihm sofort, wer den Raum betreten hatte, daher merkte er überrascht auf und schoss auf der Stelle von seinem Drehstuhl in die Höhe.
»Quentin!«
Pfeilschnell überbrückte er die wenigen Meter zwischen ihnen und sprang seinem Liebsten praktisch in die Arme, die dieser gerade noch rechtzeitig ausbreiten konnte, um ihn aufzufangen. Zwar taumelte der Professor durch seine stürmische Begrüßung einen Schritt zurück und stöhnte unterdrückt, doch gleich darauf hatte er sich wieder gefangen und schloss fest die Arme um ihn.
»Wo findet man dich mitten in der Nacht, wenn man das ganze Gebäude nach dir absucht? Natürlich im Labor bei der Arbeit, wo sonst«, murmelte Quentin heiser an seinem Ohr, doch Niko überging den Tadel, pflückte die schwarz umrandete Brille von der Nase seines Freundes und verschmolz augenblicklich mit seinen Lippen zu einem tiefen, stürmischen Kuss.
Erst, als ihnen beiden die Puste ausging und der Kuss sanfter, zärtlicher und inniger wurde, rückte Niko ein wenig von seinem Professor ab und betrachtete ihn aufmerksam.
»Oh Mann, ich habe dich so sehr vermisst. Aber was machst du denn schon hier? Wolltest du nicht erst morgen aus London zurück sein?«, fragte er irritiert.
»Es ist schon morgen«, entgegnete Quentin trocken und deutete auf die bodentiefen Fenster des Labors, durch die lediglich das nächtliche Schneetreiben zu sehen war. »Ich bin vor einer Stunde hier in Nowosibirsk gelandet, in zwanzig Minuten geht die Sonne auf. Hast du schon wieder die ganze Nacht durchgearbeitet?«
Verlegen winkte Niko ab.
»Ich konnte nicht schlafen, also habe ich mir die Gamma-D7-Sequenz von Kendar nochmals angesehen«, erklärte er und deutete auf den Monitor, an dem er zuletzt die Ergebnisse des aktuellen Bluttests des jungen Pumawandlers unter die Lupe genommen und studiert hatte. »Weißt du, was mir daran merkwürdig vorkommt? Dieser Bereich auf der DNA unterscheidet sich völlig von dem eines Menschen, er ähnelt aber auch weder dem eines wilden Pumas noch dem eines Wandlers. Bisher habe ich in der Wandler-DNA zumindest immer Bruchstücke, winzige Teilsequenzen, bestimmen können, die manchmal sogar eindeutig tierischen Ursprungs sind, aber das hier ...« Er rang unglücklich die Hände. »Falls die Gamma-D7-Sequenz bei Kendar überhaupt eine Funktion hat, dann weiß ich einfach nicht, was sie im Zellwachstum bewirkt. An dieser Stelle des Genoms befindet sich sowohl bei Menschen als auch bei Wandlern eigentlich die Codierung für die Entwicklung des Knochenmarks. Also genau dem Gewebe aus Binde- und Stammzellen, in denen die Blutbildung ihren Anfang nimmt, allerdings scheint es bei Kendar ...«
»Stopp, halt mal für zwei Sekunden die Luft an«, unterbrach Quentin ihn streng. »Du hattest mir doch versprochen, dass du mehr auf dich Acht gibst und deine Pausen einhältst.« Gleich darauf seufzte der Professor und schüttelte den Kopf. »Hey, mir ist vollkommen klar, wie sehr die Forschung uns Wissenschaftler in ihren Bann zieht und oft genug auch nachts auf den Beinen hält, mir geht es ja nicht anders. Aber ich bin eben erst angekommen, habe Hunger, brauche dringend eine Mütze voll Schlaf – und dabei will ich dich an meiner Seite haben. Du hast mir wahnsinnig gefehlt.«
Im selben Moment, wie Quentin dies aussprach, spürte Niko, wie sich nicht nur sein Herz erwärmte, sondern auch, dass sich peinlicherweise sein Magen zusammenzog und laut protestierend knurrte. Oh je, er konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann er zuletzt etwas gegessen hatte. Immer dann, wenn er von seinem Professor getrennt war, verfiel er schnell wieder in alte Muster und arbeitete fast ununterbrochen, einfach, weil dies noch immer die beste Ablenkung war. Ohne die Forschung im Labor, die Erstellung neuer Versuchsreihen und Überwachung der genetischen Experimente würde er wohl sonst die Wände hochgehen, weil er Quentin derart höllisch vermisste.
»Dann lass uns etwas frühstücken und anschließend für ein paar Stunden ins Bett verschwinden«, brachte er mit rauer Stimme hervor, deren Klang sich aus Vorfreude auf ihr Zusammensein dunkel verfärbt hatte, doch dann runzelte er unglücklich die Stirn und sah zu Quentin auf. »Heute ist Freitag, nicht wahr? Kannst du das gesamte Wochenende bleiben? Oder wirst du noch vor Montag in London zurückerwartet?«
Quentin zögerte sichtlich und nahm Niko zunächst seine Brille aus der Hand, um sie sich wieder aufzusetzen und umständlich auf der Nase zurecht zu schieben.
»Mit dem Besuch der Unis in England, Schottland und Wales bin ich fertig«, begann er dann und schnaufte bedrückt. »Allerdings muss ich übermorgen schon wieder abreisen, ich werde am Montag in Brüssel erwartet. Tajo hat mir über seine Kontakte zum liechtensteinischen Fürstenhaus tatsächlich eine Stunde Redezeit vor dem EU-Parlament verschafft. Die Gelegenheit dürfen wir uns natürlich nicht entgehen lassen, die Belange der WPI dort vorzutragen und um Unterstützung für die politische Anerkennung des Rates der Gestaltwandler zu bitten.«
Schlagartig bildete sich ein Klumpen in Nikos Kehle, er schluckte und versuchte, die bittere Pille zu verdauen, die diese Ankündigung für ihn darstellte. Quentin war fast drei Wochen lang unterwegs gewesen, um im Namen der WPI eine wissenschaftliche Vortragsreise bei einem Dutzend namhafter, europäischer Universitäten zu unternehmen, und dann durfte er nicht einmal ein paar Tage zu Hause ausruhen und bei ihm bleiben?
»Nein, natürlich ist das wichtig, das sind tolle Neuigkeiten«, brachte er hervor, stöhnte dann und schmiegte sich erneut an Quentins Brust. »Uns bleibt mittlerweile bloß verdammt wenig Zeit füreinander«, grummelte er ungehalten und vergrub die Nase im weichen Flanellhemd seines Liebsten, um seinen vertrauten Geruch tief in sich einzusaugen und aufs Neue im Gedächtnis abzuspeichern.
Verdammte Hacke, wie sollte man sich auf ein gemeinsames Wochenende freuen, wenn das Wissen um die wenigen Stunden, die ihnen vergönnt waren, wie ein Damokles-Schwert über ihren Köpfen hing?
»Wir machen das Beste daraus«, murmelte Quentin und hauchte ihm einen Kuss auf seinen dichten, weiß und braun gescheckten Haarschopf. Nikos Haare konnten sich momentan mal wieder nicht entscheiden, ob sie die sattbraune Farbe des leichten Sommerfells oder lieber das strahlende Weiß seines Winterpelzes zeigen sollten. Es war Mai, trotzdem schneite es hier in Nowosibirsk noch immer. Vor allem nachts sanken die Temperaturen bis zum Nullpunkt, obwohl sie tagsüber die Zwanzig-Grad-Marke erreichten. In seiner Polarfuchsgestalt sah er in dieser Jahreszeit aus wie ein gerupftes Huhn, weil er das Fell wechselte und büschelweise weiße Haare verlor – doch schlimmer war die Hormonumstellung, die damit einherging.
Bei wilden Polarfüchsen hatte es nun Priorität, den kurzen Sommer bestmöglich zu nutzen und die Jungen aufzuziehen, wahrscheinlich fühlte er sich deshalb derart rastlos und stand ständig unter Strom. Gleichzeitig verspürte er allerdings die größte Lust, ihr kleines Appartement zu renovieren und gemütlich einzurichten, das er hier im Wohntrakt der Alopex Industries mit Quentin zusammen bezogen hatte.
Niko atmete tief durch und wollte sich in Quentins Umarmung entspannen, doch sein Magen gab erneut ein gequältes Rumpeln von sich.
»Frühstücken klang übrigens super«, knurrte er wohlig. »Machen wir die Kantine der Firma unsicher oder zauberst du mir in unserer Küche ein paar von deinen sagenhaft leckeren Pancakes?«
»Das sind keine Pancakes, sondern ganz einfache deutsche Eierpfannkuchen«, belehrte Quentin ihn sofort. »Das ist das Einzige, was ich in der Küche hinbekomme und zu deinem Glück kann man sie sogar essen. Vorausgesetzt, du hast normale Eier im Kühlschrank, nicht diese komischen Riesendinger, die so einen merkwürdigen Beigeschmack haben.«
Niko kicherte unterdrückt. »Das waren ja auch Eier von Schneegänsen, die schmecken eben anders als Hühnereier. Viel besser, viel intensiver und gehaltvoller. Für mich ist es immer wie ein kleines Fest, wenn ich ein Nest finde und mir daraus eines klauen kann, ohne von der Gans verdroschen zu werden.«
»Ich glaube, man muss ein Polarfuchs sein, um Schneegans-Eier toll zu finden«, sagte Quentin und lachte leise, als er protestierend grummelte. »Hast du eigentlich mal darüber nachgedacht, ob unsere unterschiedlichen Geschmäcker und Vorlieben genetisch bedingt sind? Oder sind sie nur eine Anpassung an das Nahrungsangebot des jeweiligen Lebensraums?«
Augenblicklich versteifte sich Niko und runzelte die Stirn.
»Eine Anpassung?«, wiederholte er gedankenverloren, löste sich aus Quentins Armen und warf einen Blick zurück zum Monitor seines Computers, auf der noch immer dieses verflixt komplizierte Diagramm mit Kendars Gen-Sequenz zu sehen war.
Ha! Das könnte es sein!
Die als beiläufiger Scherz gedachten Worte seines Liebsten hatten in seinem Hirn plötzlich eine zarte, kaum wahrnehmbare Verbindung zum Forschungsprojekt gesponnen. Dies genügte, um den Hauch einer Idee in seinen Hinterkopf zu pflanzen, und es gelang ihm, ihren Kern zu erfassen und ihn in einen möglichen Lösungsweg einzubauen. In Gedanken überflog er blitzschnell die bisherigen Forschungsstudien und prüfte, ob sich die Ergebnisse mit dieser neuen Theorie vereinbaren ließen.
Tatsächlich. Sie passten und ermöglichten damit sogar vielleicht die Erklärung.
Vor seinem inneren Auge rotierte ein Modell der Doppelhelix mit seinen zwei Basen-Paaren, die in ihrer Abfolge den genetischen Code bestimmten. Die den Bauplan darstellten, den jede Zelle in sich trug, die ihn aber unterschiedlich nutzte. Die Frage, warum aus manchen Zellen Knochen entstanden, aus anderen dagegen Organe, Blutgefäße, Haut oder Haare, beschäftigte die Wissenschaft seit Langem. Die dazu herrschende Theorie war ihm vertraut, doch wenn man diese mit dem anthropologischen Wissen über den Ursprung der Arten verknüpfte, dann beantwortete sie nicht ...
»Oh, nein, vergiss es!«, hörte er Quentin wie von weit entfernt rufen, doch den Bruchteil einer Sekunde später wurde er fest an seinen Schultern gepackt, umgedreht und in die entgegengesetzte Richtung geschoben, weg von seinem Computer.
»Du hast jetzt Pause, die Arbeit läuft dir nicht weg«, erklärte der Professor streng und holte Niko damit vollends in die Wirklichkeit zurück.
Lächelnd schüttelte er den Kopf, nickte gleich darauf und drehte sich zu Quentin um, der ihn noch immer sachte in Richtung Ausgang des Labortraktes bugsierte.
»Jawohl, Herr Professor Dr. Dr. Reichardt«, sagte er und salutierte scherzhaft, wurde gleich darauf wieder ernst und schlang einen Arm locker um Quentins Hüften, um mit ihm gemeinsam den langen Gang zu den Fahrstühlen hinab zu schlendern. »Ich bin froh, dass du wieder zu Hause bist, mit dir zusammen habe ich immer die besten Ideen. Und während du die Eierpfannkuchen backst, ruf ich Dr. Josko an, damit er die Versuchsreihe übers Wochenende betreut. Die nächsten beiden Tage gehören uns beiden ganz allein, versprochen.«
Nur leise regte sich in seinem Hinterkopf seine angeborene Neugier, die seine wissenschaftlichen Forschungen vorantrieb. Sie murrte und legte ein Veto gegen diese geplante Unterbrechung ein, das er aber ruhigen Gewissens ignorierte. Vor nicht allzu langer Zeit hätte ihn nichts und niemand davon abgehalten, jeden einzelnen Tag und auch die Nächte im Labor zu verbringen, aber seine Prioritäten hatten sich verschoben und gaben mittlerweile eindeutig Quentin den Vorrang.
Zumindest für die nächsten Stunden, die ihnen bis zu seiner erneuten Abreise blieben.
***
Mühsam kämpfte sich Rayn hinter Dave den steilen Abhang hinauf. Der Waldboden unter seinen Füßen war feucht und gab oftmals unvermittelt nach, sobald er einen Fuß darauf setzte. Im Prinzip bestand dieser nicht wie in Deutschland aus einer festen, laubbedeckten Humusschicht, sondern aus umgefallenen Bäumen, die langsam verrottet waren, bis andere Stämme auf sie fielen und ebenfalls morsch wurden. Dies hatte sich im Verlauf der Jahrhunderte mehrfach wiederholt, indem neuer Wald direkt auf den Überresten der toten Gehölze wuchs, wodurch der Boden mit tückischen Stolperfallen übersät war und etliche Male unversehens unter ihm wegbrach. Zwischen den Bäumen wucherte ein Dickicht aus den mannshohen Sträuchern, das schier undurchdringlich zu sein schien. Nur ein schmaler Wildtierpfad schlängelte sich an dieser Stelle den Berg hinauf, der alle paar Meter von Bären oder Wölfen mit widerlich stinkenden Kothaufen markiert worden war, denen man ebenfalls ausweichen musste.
»Ist das nicht großartig?« Dave drehte sich zu ihm um und strahlte über das ganze Gesicht. »Diese herrliche Natur, die Ruhe ... und erst dieser Geruch!« Er hob die Nase in die Luft und sog diese tief ein.
Rayn blieb ebenfalls stehen und schnaufte erst einmal durch, bevor er sich in der Lage sah, ihm zu antworten.
»Ganz toll«, brachte er schließlich atemlos hervor und keuchte angestrengt. Wie konnte Dave diesen Gestank nach Fäkalien und schimmelndem Holz nur toll finden? »Ist es denn noch weit?«
»Nein, nicht mehr. Nur noch diesen Berg hinauf, dann müssen wir uns links halten und ins nächste Tal hinunter. Der Abstieg wird noch ein bisschen kniffelig, aber vor dem Dunkelwerden sind wir da. Ich hätte gerne meinen Vater darüber informiert, dass ich mit dir zu Besuch komme, aber …« Er unterbrach sich und zuckte stattdessen mit den Schultern.
»Kein Telefon und kein Mobilfunknetz«, ergänzte Rayn und schnaubte frustriert. Langsam war er sich nicht mehr sicher, ob die Idee so toll war, ihn einfach zu Daves Familie zu verfrachten, vor allem, da ihn diese nicht eingeladen hatte und von seinem Kommen nichts wusste.
»Ja, das ist ab und zu ein bisschen unpraktisch, aber mein Dad hat eine Abneigung gegen solche neumodischen Erfindungen«, erklärte Dave.
»Das Telefon gibt es doch schon seit über hundert Jahren«, bemerkte Rayn verdrossen. »Aber haben deine Eltern wenigstens Strom, Heizung und fließend warmes Wasser?«
»Ja, klar. Jedenfalls so etwas in der Art«, brummte Dave ausweichend, drehte sich um und setzte seinen Weg fort.
Rayn blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen, obwohl er sich mittlerweile ständig fragte, ob er nicht doch besser umkehren sollte. Vielleicht wäre ein Heimaturlaub in Deutschland die bessere Wahl gewesen, um sein Wandlungsproblem in den Griff zu bekommen?