Fette Ernte - Ross Thomas - E-Book

Fette Ernte E-Book

Ross Thomas

4,6

Beschreibung

ROHSTOFF. SPEKULATION. MORD. Weizen, Platin, Holz - das sind die Waren, mit denen bei dem Multi-Milliarden-Dollar-Glücksspiel namens Rohstoffmarkt spekuliert wird. Wer hier groß abkassiert, macht eine "fette Ernte". Ross Thomas, meisterhafter Berichterstatter dunkler Machenschaften aus den Hinterzimmern der Mächtigen, erzählt, wie mit einer letalen statt legalen Methode eine besonders fette Ernte eingefahren werden soll.

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Ross Thomas

Fette Ernte

Aus dem Amerikanischen und mit einer Nachbemerkung von Jochen Stremmel

Die Ross-Thomas-Edition im Alexander Verlag Berlin

Herausgegeben von Alexander Wewerka

Umweg zur Hölle. Ein Artie-Wu-und-Quincy-Durant-Fall

Am Rand der Welt. Ein Artie-Wu-und-Quincy-Durant-Fall

Voodoo, Ltd. Ein Artie-Wu-und-Quincy-Durant-Fall

Kälter als der Kalte Krieg. Ein McCorkle-und-Padillo-Fall

Gelbe Schatten. Ein McCorkle-und-Padillo-Fall

Die Backup-Männer. Ein McCorkle-und-Padillo-Fall

Dämmerung in Mac’s Place. Ein McCorkle-und-Padillo-Fall

Gottes vergessene Stadt · Teufels Küche · Die im Dunkeln

Der Yellow-Dog-Kontrakt · Der achte Zwerg

Wir danken dem Deutschen Übersetzerfonds für die Förderung der vorliegenden Ausgabe.

Erste vollständige deutsche Ausgabe 2014

Licensed with The Estate of Ross E. Thomas

Die deutsche (stark gekürzte) Erstausgabe erschien 1975 unter dem Titel

Die Millionenernte im Ullstein Verlag, Frankfurt/M., Berlin.

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel The Money Harvest, © 1975 by Lucifer, Inc.

© für diese Ausgabe und vollständige Neuübersetzung by Alexander Verlag Berlin 2014

Alexander Wewerka, Postfach 19 18 24, D-14008 Berlin

info@alexander-verlag.com

www.alexander-verlag.com

Umschlaggestaltung: Antje Wewerka

Alle Rechte vorbehalten

Druck und Bindung: Interpress, Budapest

ISBN 978-3-89581-338-2 (eBook)

Das Buch:

Warum wurde der dreiundneunzigjährige William M. »Crawdad« Gilmore, Berater von sechs amerikanischen Präsidenten, am frühen Morgen vor seinem Haus auf offener Strasse erschossen?

Zusammen mit Faye Hix, der Enkelin des Ermordeten, gehen Ancel Easter, der klügste Mann Washingtons, und Jake Pope, privater Ermittler und Millionenerbe, dem Fall auf den Grund. Die vagen Spuren führen in die Welt der Rohstoffspekulanten.

Der Autor: Ross Thomas, geboren 1926 in Oklahoma, richtete in den fünfziger Jahren das deutsche AFN-Büro in Bonn ein und arbeitete als Journalist, Gewerkschaftssprecher und Public-Relations- und Wahlkampfberater für Politiker in den USA. Seine vielfältigen Erfahrungen verarbeitete er in seinen Politthrillern, in denen er vor allem die Hintergründe des (amerikanischen) Politikbetriebs entlarvt und bloßstellt. Ihm wurden zweimal der Edgar Allan Poe Award und mehrmals der Deutsche Krimi Preis verliehen. Bis zu seinem Tod 1995 entstanden 25 Romane.

INHALT

 

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NACHBEMERKUNG

Die Ross-Thomas-Edition im Alexander Verlag Berlin

1

Der mit Hammerzehen geschlagene Freund und Berater von sechs US-Präsidenten war natürlich nicht tot. Noch nicht. Wäre er tot gewesen, hätte er nicht mit seinem dicken Zeh unter der Bettwäsche wackeln können, mit dem rechten, der wie der linke wegen jener Schuhe, die er mit sieben hatte tragen müssen, völlig deformiert war.

Nachdem sein rechter Zeh endlich das langsame Signal seines Gehirns befolgt hatte, wackelte er mit dem linken. Er wollte seine Augen erst öffnen, wenn er sicher war, daß er in der vergangenen Nacht keinen Schlaganfall oder Schlimmeres erlitten hatte und nun gelähmt war. Es hätte keinen Sinn, die Augen aufzumachen, falls er gelähmt war – nicht den geringsten Sinn mit dreiundneunzig.

Er lag da und dachte wieder mal an jene Schuhe, die er mit sieben hatte tragen müssen, weil er arm war. Sie waren aus gelbem Kalbsleder gewesen, eigentlich Damenschuhe, mit Absätzen und hochgeknöpften Schäften und langen, spitzen Vorderkappen, und sie hatten einen grausamen, unbarmherzigen Schraubstock für die Füße des Siebenjährigen gebildet, selbst nachdem er ihre Absätze abgesägt, sie mit Herdpolitur schwarz gefärbt und an der Seite mit einem Rasiermesser aufgeschlitzt hatte.

Mit acht waren seine Zehen endgültig deformiert, und er ging mit einem gleitenden Hoppeln, ein bißchen wie ein über den großen Onkel gehender Krebs, was ihm von seinen Schulkameraden den Spitznamen Crawdad – Flußkrebs – eingetragen hatte. Er ging immer noch so, aber inzwischen recht langsam, und die Leute nannten ihn immer noch Crawdad, aber selten ins Gesicht, es sei denn, es waren ganz alte Freunde, nur daß mit dreiundneunzig die meisten seiner ganz alten Freunde verhutzelt dahinvegetierten und einmal am Tag aus ihren Zimmern gerollt wurden, um vielleicht zum letzten Mal die Sonne zu sehen.

Mittlerweile überzeugt, daß er nicht tot war oder schlimmeres, nahm er das vertraute verschwommene Bild seines Zimmers in Augenschein. Da war das Licht von der Stehlampe in der Ecke, die nie ausgeschaltet wurde. Der Rest des Zimmers war mit dunklen Gestalten gefüllt. Da sie sich nicht bewegten, nahm er an, daß es keine wartenden Engel waren, obwohl er zu lange gelebt hatte, um groß an Engel zu glauben – oder an Teufel oder Heilige. An Sünder, ja. Von denen waren immer eine ganze Menge in der Nähe.

Die dunklen Gestalten waren die Möbel des Zimmers – die Kommode, der Schreibtisch, der Stuhl, der zu dem Schreibtisch gehörte, und der große Polstersessel in der Ecke unter der Stehlampe, die nie jemand ausschaltete. Er blieb weiter im Bett liegen und versuchte zu entscheiden, wie er sich jetzt fühlte, wo er nicht tot war. Er hatte keine Schmerzen; noch nicht jedenfalls. Die kämen später am Nachmittag. Vor langer Zeit hatte er entdeckt, daß man wirklich nicht viel gegen Schmerzen machen konnte, da sie sich weigerten, ignoriert zu werden, außer höflich zu sein – ihnen vielleicht einen Toddy anzubieten oder zwei und zu hoffen, daß sie dahin zurückgingen, wo sie herkamen, vermutlich von nebenan, weil er sich inzwischen Schmerzen als unangenehme, verachtete Nachbarn vorstellte, die mit der Zeit seine letzten Bekannten geworden waren.

Er bewegte seinen Arm, der, Winter wie Sommer, im Baumwollflanell seines Nachthemdärmels steckte. Er hatte nie Pyjamas getragen und würde es nie tun, weil er sie nicht nur für verrucht, sondern auch für liederlich hielt, obwohl er nicht wußte, warum, abgesehen davon, daß er in seiner längst vergangenen Jugend dieser Ansicht gewesen war und jetzt aus Gewohnheit oder Starrsinn daran festhielt. Er erinnerte sich, daß ihm jemand gesagt hatte, Männernachthemden aus Flanell seien heute schwer zu finden. Nun ja, er hatte genug für eine Ewigkeit, weil er wußte, daß seine Ewigkeit inzwischen auf eine Woche oder einen Monat oder höchstens zwei Jahre geschrumpft war.

Das Handgelenk, das er bewegte, war nicht viel mehr als alter mit schlaffer, gräulicher Haut bedeckter Knochen, haarlos, aber mit braunen Leberflecken in Vierteldollargröße geschmückt. Die Finger seiner Hände waren fast unbrauchbar. Arthritis hatte seine Hände zu knöchernen Zangen verbogen, aber seine Daumen funktionierten immer noch ganz gut, und das ist alles, was du wirklich brauchst, dachte er, einen funktionierenden Daumen.

Seine Hand bewegte sich, bis sie seine dicke Brille auf dem Nachttisch entdeckte. Er setzte sie auf. Jetzt konnte er sehen. Er nahm die schwere goldene Taschenuhr in die Hand, die neben der Brille gelegen hatte. Ihre schwarzen Zeiger verrieten ihm, daß es 5:35 war, was er bereits wußte. Er zog die Uhr auf und legte sie wieder auf den Tisch neben dem Bett.

Während er da lag und durch die Brille an die Decke starrte, beschloß er, es seiner Frau zu erzählen, bevor er es jemand anderem erzählte. Dann fing er sich und schüttelte in leichter Erbitterung kurz und heftig den Kopf, weil seine Frau tot war, und das seit dreißig Jahren, obwohl nicht ein Tag verging, an dem er sich nicht bei dem Gedanken an etwas ertappte, was er ihr erzählen mußte.

Er hatte ihr natürlich alles erzählt, nicht nur von sich selbst, sondern auch von den andern – tiefe, dunkle, schlimme Geheimnisse, die er niemandem zu erzählen geschworen hatte, was er auch nicht getan hatte, abgesehen von ihr. Und sie, eine stille, sanfte Frau, nicht übermäßig klug, aber mit Sicherheit nicht dumm und sogar mit einundsechzig immer noch leidlich hübsch, war auf dem Weg zu ihrem Grab von den schrecklichen Dingen, die ihr erzählt worden waren, nicht ganz überzeugt gewesen.

Weil er einer der wenigen Männer in Washington war, wenn nicht der einzige, bei dem man sich absolut darauf verlassen konnte, daß ein Geheimnis bei ihm sicher war, ganz gleich wie erbärmlich und verabscheuenswert oder sogar gefährlich es sein mochte, waren ihm davon mehr als genug von denen aufgehalst worden, die in diesem vergangenen halben Jahrhundert auf der Suche nach Macht oder Ruhm oder Reichtum – oder öfter nach allen drei – in die Hauptstadt gekommen waren. Während er sich alles anhörte, was sie zu sagen hatten, starrten sie ihn manchmal mit trotzigem Blick, hoch erhobenem Kopf und vorgeschobenem Kinn an, auf fast peinliche Weise bemüht, ein Geständnis in verschwörerisches Einvernehmen zu verkehren.

Aber normalerweise saßen sie still mit einem Glas in der Hand da, eine Flasche in Reichweite, den Blick auf einen fernen Punkt gerichtet oder ruhelos umherschweifend, und ihre Stimme war leise und ausdruckslos, fast ein monotones Flüstern, während sie die niederträchtigen Taten ihrer Tage zum besten gaben.

Und lieber Himmel, dachte er, wie niederträchtig doch einige von ihnen waren! Verschwörung war natürlich ihre am häufigsten gebeichtete Sünde. Er wußte, daß man in dieser Stadt ganz früh am Morgen mit dem Konspirieren begann, damit man es zum Mittagessen erledigt hatte. Man konspirierte, um Profite zu machen, um sich persönlich zu bereichern, um gesetzliche Vorteile zu erlangen, nationale oder internationale Macht und manchmal nur zum Spaß.

Aber Verschwörung war das geringste der Verbrechen, in die er eingeweiht worden war. Er hob eine Hand hoch und zählte sie an den Fingern ab. Da waren fünf Fälle von Landesverrat, glaubte er. Mindestens fünf. Und da waren jene drei Morde, die alle wie Unfälle ausgesehen hatten, alle im Namen von was? Der nationalen Sicherheit? Des öffentlichen Interesses? Und dein Verbrechen war natürlich dein Schweigen, das Zustimmung bedeutete, wenn nicht Beifall.

Aber es war nicht dein Beifall, den sie suchten, dachte er. In Wirklichkeit ging es um Absolution, und sie schienen der Meinung zu sein, wenn sie dir erzählten, was sie getan hatten, wirklich getan hatten, daß dann der reine Akt des Erzählens oder des Gestehens sie irgendwie lossprechen und sie auf den Schemel der Erlösung klettern lassen würde.

Er konnte diese Argumentation nie ganz nachvollziehen, was vielleicht daran lag, daß jene Männer, die mit ihren Geschichten von dramatischen Verbrechen und Vergehen zu ihm kamen, nicht sonderlich brillant gewesen waren. Er wußte, daß nicht allzu viele brillante Männer den Weg nach Washington fanden. Die meisten der wahrhaft brillanten Männer, hatte er entschieden, schrieben irgendwo in der Weltgeschichte Gedichte oder machten Geld in New York. Zum größten Teil bekam Washington die Männer, die lediglich schlau, und zu oft die, die nur halbwegs schlau waren. Das waren diejenigen, die gerade dumm genug waren, etwas zu tun, was sie nicht hätten tun sollen, clever genug, sich nicht dabei erwischen zu lassen, aber neurotisch genug, es jemandem beichten zu müssen. Immerhin, dachte er, waren sie schlau genug gewesen, es dir zu beichten und nicht ihren Frauen.

Aber diesmal ist es etwas anderes, dachte er. Diesmal bist du kein Beichtvater. Diesmal hast du zufällig jemand belauscht, und deshalb darfst du alles ausplaudern. Ohnehin hast du dich gestern abend festgelegt, und man läßt dich um neun mit einem Wagen abholen. Um halb zehn wirst du ein Zuträger sein, eine dreiundneunzigjährige Petze. Und vielleicht wirst du so schließlich in den Geschichtsbüchern auftauchen, wenn du überhaupt darin auftauchst: William Makepeace »Crawdad« Gilmore, Wirtschaftsweiser, zeitweiliges Kabinettsmitglied (zweimal) und politischer Möchtegern-Nonkonformist, wurde mit dreiundneunzig zum Spitzel und bewahrte damit sein Land vor – nun ja, vor was?

Er weigerte sich, darüber nachzudenken, nicht weil es so schrecklich war; er hatte viel Schrecklicheres gehört. Er weigerte sich, darüber nachzudenken, weil er dann wütend auf sich wurde. Mit siebzig hättest du damit umgehen können, dachte er. Du hättest raffiniert sein müssen, aber mit siebzig warst du immer noch der raffinierteste Kerl im Umkreis. Aber nicht mit dreiundneunzig. Du bist nicht gesund genug mit dreiundneunzig. Das ist allerdings eine gottverdammte Lüge, dachte er, als er die Beine über die Bettkante schwang. Du bist schon gesund genug. Du bist nur nicht mehr klug genug.

Also hatte er gestern abend den klügsten Mann in Washington angerufen, und der klügste Mann in Washington würde ihm um neun einen Wagen schicken. In der Zwischenzeit solltest du dich anziehen, dachte er. Und das dürfte eine Weile dauern.

Es dauerte eine halbe Stunde. Es hätte sogar noch länger gedauert, wenn die gewohnten Kleidungsstücke nicht ordentlich auf einem Stuhl neben dem Bett ausgelegt gewesen wären. Sobald er das Nachthemd ausgezogen hatte, konnte er in die lange Unterwäsche schlüpfen und die meisten Knöpfe zumachen. Danach legte er eine Pause ein, um wieder zu Atem zu kommen. Als nächstes kam sein Hemd. Es war aus blauem merzerisiertem Baumwollstoff und ziemlich sauber, und es wurde vorne geknöpft, aber die meisten Knöpfe waren bereits zugeknöpft, so daß er es nur noch über den Kopf ziehen mußte. Die Hose kam als nächstes. Sie hatte nur einen Knopf und einen Reißverschluß, um den er sich immer erst später kümmerte. Die ärmellose Weste war als nächstes dran. Er steckte die goldene Uhr in eine ihrer Taschen. Dann zog er seine Jacke an, nicht seinen Überzieher, sondern die Jacke des Anzugs, dessen Hose er vor einem Vierteljahrhundert aufgetragen hatte. Es war immer noch ein gutes Jackett.

Socken waren ständig ein Problem. Sie waren natürlich weiß, aus dicker Baumwolle, und manchmal verdrehten sie sich. Aber sobald er sie anhatte, quetschte er die Füße in seine Slipper und schlurfte mit seinem gleitenden krebsähnlichen Gang zum Badezimmer, wo er die Hosen runterzog und sich hinsetzte, um herauszufinden, ob seine dreiundneunzigjährige Blase geleert werden wollte. Manchmal wollte sie und manchmal nicht. Obwohl es ihn irgendwie peinlich berührte, fand er es weniger ermüdend, sich wie eine Frau hinzusetzen, als stehenzubleiben und fünf oder zehn Minuten zu warten, bis seine Blase zu einer Entscheidung gekommen war.

Um 6:19 war er unten an seiner Haustür, schob die Riegel zurück und schloß die Schlösser auf. Sie waren alle relativ neu, nicht älter als acht Jahre. Er hatte sich nie so recht mit der Tatsache abfinden können, daß seine Türen verschlossen und verriegelt und seine Erdgeschoßfenster vergittert werden mußten. Das liegt daran, wo du aufgewachsen bist, sagte er sich manchmal. In Missouri haben wir in einer heißen Sommernacht die Vorder- und Hintertür weit aufstehen lassen und alle Fenster hochgeschoben, und nie hat irgend jemand was gestohlen. Außer deinem Hund. Damals haben sie deinen Hund gestohlen.

Er machte die Tür auf und sah, daß der Junge die Post wieder daneben geworfen hatte. Sie lag am Fuß der sechs schmiedeeisernen Stufen, die zum Bürgersteig führten. Der Bürgersteig lag an der O Street in Georgetown. Er hatte sein Haus im Jahr dreiunddreißig billig gekauft und wohnte seitdem darin. Erst vor einem Monat hatte jemand ihm genau das Vierundzwanzigfache dessen geboten, was er dafür bezahlt hatte.

Er ging langsam die Treppe hinunter und bückte sich noch langsamer nach der Zeitung. Er hörte sie nicht, bis einer von ihnen sagte: »Nich schreien oder so was, alter Mann. Tu so was nich.«

Mit der Post in der Hand richtete er sich auf. Sie waren zu zweit. Nigger, dachte er. Du sagst jetzt Schwarze wie alle andern, aber du denkst immer noch Nigger.

Der Größere hatte ein Messer in der Hand. Es war ein Küchenmesser mit einer zwanzig Zentimeter langen Klinge. Der andere hatte eine Pistole. Es ist eine kleine Pistole, dachte Crawdad Gilmore. Vielleicht ist es ein Spielzeug.

»Sieh nach, was er hat«, sagte der Größere. Die Uhr war schnell gefunden und eingesteckt. Das Geld ebenfalls.

»Mist, Mann, er hat nur zweiunddreißig Cent.«

»Du gibst uns besser mehr Geld, alter Mann«, sagte der Größere und bewegte sein Messer in einem engen kleinen Kreis.

Crawdad Gilmore gestikulierte mit der Post in Richtung seines Hauses, um anzudeuten, daß drinnen mehr Geld auf der Schlafzimmerkommode lag, vierzehn Dollar, um genau zu sein. Der kleinere Schwarze interpretierte die Geste als bedrohlich und zog ruckartig den Abzug seiner kleinen Schußwaffe durch, einer im spanischen Vitoria ausschließlich für den Export hergestellten Selbstladepistole Kaliber .22. Es gab einen Knall etwa von der Art, die eine Pistole mit Zündplättchen machen würde.

Das Geschoß Kaliber .22 lang traf Crawdad Gilmore in die rechte Seite und blieb in seiner Leber stecken. Er stolperte und sagte: »Verdammt«, murmelte es in Wirklichkeit und machte dann einen Schritt auf den Schwarzen mit der Pistole zu. Er machte den Schritt, um nicht hinzufallen, aber der Schwarze betrachtete es offenbar als eine weitere bedrohliche Bewegung, denn er zog den Abzug wieder durch. Es gab noch einen leisen Knall, und diesmal drang das Geschoß direkt unter dem Brustbein in Crawdad Gilmores Körper ein und durchbohrte sein Herz. Er starb, kurz nachdem er auf den Bürgersteig gefallen war, wobei sein Kopf von den 134 Seiten der Washington Post vom Donnerstag abgefedert wurde, einer dicken Ausgabe.

Die beiden schwarzen Killer drehten sich um und rannten auf der O Street nach Westen Richtung Wisconsin Avenue, mit zweiunddreißig Cent Bargeld und einer zweiundsiebzig Jahre alten Golduhr, deren schwarze Zeiger anzeigten, daß es 6:22 war.

2

Die Begräbnisse von Veteranen, die nach Macht gegiert und die es vielleicht sogar eine Zeitlang mit ihr getrieben haben, dienen im District of Columbia einem nützlichen Zweck. Sie bieten eine Art neutrales Wasserloch, wo sich die politischen Wesen, die den Dschungel Washingtons bevölkern, versammeln können, um sich gegenseitig zu beäugen und die Abwesenheit anderer Veteranen zur Kenntnis zu nehmen, deren wahnwitziges Treiben einmal durch die Überreste des Regenwalds widerhallte, die sich an den Ufern des Potomac erstrecken. Die Veteranen sind natürlich jene, die ein halbes Dutzend Jahre oder so in Washington verbracht haben.

Der Präsident der Vereinigten Staaten war ein solcher Veteran. Obwohl er kein übermäßig intelligenter Mann war, hatte er schließlich gelernt, wie man gleichzeitig geht und Kaugummi kaut, obwohl es Leute gab, die beschworen, er habe den Trick erst nach heimlichem Mitternachtstraining hingekriegt. Trotzdem war er schlau genug, sich im Bestattungsinstitut Joseph Gawler’s Sons blicken zu lassen, wo Crawdad Gilmores Leiche, wenn schon nicht feierlich, so doch zumindest öffentlich aufgebahrt lag.

Weder der gegenwärtige Mieter des Weißen Hauses noch sein Vorgänger hatte zu den sechs Präsidenten gehört, denen Crawdad Gilmore als Freund und Berater gedient hatte, und das war, wie der gegenwärtige Präsident dachte, mit Sicherheit nicht mein Fehler. Ich hätte nichts dagegen gehabt, mit dem alten Mistkerl befreundet zu sein, wenn es mir irgendwas gebracht hätte.

Andererseits hätte der Präsident nichts dagegen gehabt, mit den sieben Höllenteufeln befreundet zu sein, wenn ihm das was gebracht hätte. Tatsächlich lief der Präsident herum und versuchte, mit so gut wie jedem befreundet zu sein, was weder vernünftig noch gute Politik war, und deshalb steckte seine neue Regierung bereits in großen Schwierigkeiten, nicht nur zu Hause, sondern auch im Ausland.

Der Präsident traf mit seinem üblichen Gefolge von Journalisten, persönlichen Referenten und Secret-Service-Revolverhelden ein, von denen die meisten in sklavischer Nachahmung ihres neuen Chefs Kaugummi kauten, der angefangen hatte, ihn in der Öffentlichkeit zu kauen, »nur um denen zu zeigen, daß ich Mumm habe«, wie er seiner Frau sagte, die geantwortet hatte, daß es »trotzdem billig aussieht«.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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