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Ein neuer Fall für McCorkle und Pa- dillo: Der plötzliche Tod eines CIA-Propagandaexperten hinterläßt sei- nem Sohn und Erben eine Bombe: seine brisanten Memoiren. Längst vergessen geglaubte Informationen aus dem Kalten Krieg drohen ans Licht zu kommen. Daher will die Agency das gefährliche Manuskript kaufen und so tief wie möglich ver- graben. McCorkle und Padillo, in deren Bar Mac's Place die Dokumente sicher deponiert werden sollen, finden sich schnell in einem tödlichen Intrigennetz wieder. 'Nach seinen Romanen sind Kenner süchtig.'Der Spiegel 'Es tut gut, die welt durch den coolen, scharfen Blick von Ross Thomas noch einmal zu sehen.' L. A. Times
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Seitenzahl: 442
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Ross Thomas
Dämmerung in Mac’s Place
Ein McCorkle-und-Padillo-Fall
Aus dem Amerikanischen von Bernd Holzrichter
Alexander Verlag Berlin | Köln
Die Ross-Thomas-Edition im Alexander Verlag Berlin
Herausgegeben von Alexander Wewerka
Kälter als der Kalte Krieg. Ein McCorkle-und-Padillo-Fall
Gelbe Schatten. Ein McCorkle-und-Padillo-Fall
Die Backup-Männer. Ein McCorkle-und-Padillo-Fall
Umweg zur Hölle. Ein Artie-Wu-und-Quincy-Durant-Fall
Am Rand der Welt. Ein Artie-Wu-und-Quincy-Durant-Fall
Voodoo, Ltd. Ein Artie-Wu-und-Quincy-Durant-Fall
Gottes vergessene Stadt
Teufels Küche
Die im Dunkeln
Der Yellow-Dog-Kontrakt
Der achte Zwerg
Bearbeitete Neuausgabe 2013
Die deutsche Erstausgabe erschien 1992 unter dem Titel Letzte Runde in Mac’s Place im Ullstein Verlag, Frankfurt am Main/Berlin Die amerikanische Originalausgabe erschien 1990 unter dem Titel Twilight at Mac’s Place.
© 1990 by Ross E. Thomas.
Published by arrangement with St. Martin‘s Press, LLC. All rights reserved.
Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin‘s Press LLC durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen, vermittelt.
© für diese Ausgabe und die bearbeitete Übersetzung durch Jochen
Stremmel by Alexander Verlag Berlin 2013
Alexander Wewerka, Fredericiastr. 8, D-14050 Berlin
info@alexander-verlag.com · www.alexander-verlag.com
Umschlaggestaltung: Antje Wewerka
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-89581-319-1 (eBook)
Das Buch: Ein neuer Fall für McCorkle und Padillo: Der plötzliche Tod eines CIA-Propagandaexperten hinterläßt seinem Sohn und Erben eine Bombe: seine brisanten Memoiren. Längst vergessen geglaubte Informationen aus dem Kalten Krieg drohen ans Licht zu kommen. Daher will die Agency das gefährliche Manuskript kaufen und so tief wie möglich vergraben. McCorkle und Padillo, in deren Bar Mac’s Place die Dokumente sicher deponiert werden sollen, finden sich schnell in einem tödlichen Intrigennetz wieder …
Der Autor: Ross Thomas, geboren 1926 in Oklahoma, richtete in den fünfziger Jahren das deutsche AFN-Büro in Bonn ein und arbeitete als Journalist, Gewerkschaftssprecher und Public-Relations- und Wahlkampfberater für Politiker in den USA. Seine vielfältigen Erfahrungen verarbeitete er in seinen Politthrillern, in denen er vor allem die Hintergründe des (amerikanischen) Politikbetriebs entlarvt und bloßstellt. Ihm wurden zweimal der Edgar Allan Poe Award und mehrmals der Deutsche Krimi Preis verliehen. Bis zu seinem Tod 1995 entstanden 25 Romane.
Inhalt
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Kurz nach dem Tod des gescheiterten Quäkers Steadfast Haynes erhielt die Central Intelligence Agency telefonisch eine so sorgsam verschleierte und höflich gemurmelte Erpressungsdrohung, daß sie als das Werk eines harmlosen Spinners hätte mißverstanden werden können.
Doch sie wurde nicht mißverstanden. Und es lag allein an dieser vagen Drohung, zu offenbaren, was Haynes wirklich getan hatte, als er als gelegentlicher Söldner der Agency in Afrika, im Nahen Osten, in Mittelamerika und Südostasien diente, daß das Verteidigungsministerium nach viel Murren dem Druck der CIA nachgab und die Army anwies, ihn auf dem Nationalfriedhof von Arlington mit den üblichen militärischen Ehren beizusetzen.
Steadfast Haynes war siebenundfünfzig, als er am 19. Januar, der Nacht vor der Amtseinführung des einundvierzigsten Präsidenten des Landes, um 23.32 Uhr starb. Er starb im Bett im dritten Stock des Hay-Adams Hotels in einem Zimmer zu 185 Dollar die Nacht, das über einen prächtigen Blick auf das Weiße Haus verfügte. Er starb ruhig, geradezu diskret, ganz so, wie er gelebt hatte, und die dreiunddreißig Jahre alte Frau, die neben ihm lag, als er starb, war eine frühere Korrespondentin der Agence France-Presse und alte Freundin, die genau wußte, wer anzurufen und was zu tun war.
Ihr erster Anruf ging nach Paris und dauerte wenig länger als vier Minuten. Ihr zweiter Anruf ging zur Rezeption, um dem Hotel mitzuteilen, daß Haynes tot war. Ihr dritter Anruf ging an das Dezernat für Raub- und Mordfälle beim Los Angeles Police Department.
Nachdem dieser dritte Anruf endlich zu Sergeant Virgil Stroud durchgestellt war, gab sie sich zu erkennen und fragte in förmlichem Ton und mit leichtem Akzent nach Detective Granville Haynes, um ihn über den Tod seines Vaters zu informieren.
»Gar nicht schlecht«, sagte Sergeant Stroud.
»Bitte?«
»Na ja, gestern hat einer hier angerufen, vielleicht auch vorgestern, der mußte mit Granny reden, weil er Grannys eineiiger Zwillingsbruder war und an Leukämie starb und eine Knochenmarktransplantation brauchte.«
Nach kurzem Zögern sagte sie: »Es gibt keinen Zwillingsbruder.«
»Ja. Weiß ich. Aber Sie wären überrascht, was die Leute alles sagen, um an ihn ranzukommen.« Diesmal war es Sergeant Stroud, der zögerte. »Oder vielleicht wären Sie’s auch nicht. Überrascht, meine ich.«
»Irgendwas ist mit ihm passiert – ist es das?«
»Ja, ganz richtig. Er hat vor drei Wochen im Lotto gewonnen und uns am nächsten Tag verlassen.«
»Trotzdem brauche ich seine Privatnummer.«
Sergeant Stroud sagte leise lachend »Wiederhören« und beendete das Gespräch.
Als das Los Angeles Police Department der Dienste Granville Haynes’ durch eine Schicksalsfügung beraubt wurde, wurde sie zugleich ihres einzigen Detectives im Morddezernat mit einem Magister in Altfranzösisch von der University of Virginia beraubt, wo er seine Abschlußarbeit über die drei wesentlichen humanistischen Aspekte in Rabelais’ Gargantua und Pantagruel geschrieben hatte.
Nachdem er es zum Detective gebracht hatte, wurde Haynes häufig mit den gelegentlichen Mordfällen unter den reichen Leuten in Bel Air, Brentwood und sogar im weit westlich gelegenen Pacific Palisades betraut, wo, so meinte man, die üblicherweise wohlhabenden und oftmals einflußreichen Verwandten der Opfer durch sein kompetentes Auftreten beruhigt und durch seine tadellosen Manieren getröstet würden, die manche mit Schüchternheit verwechselten.
Haynes hatte eine seltsame Kindheit unter den ganz Reichen an der französischen und italienischen Riviera verbracht und kannte sich folglich mit ihren merkwürdigen Bräuchen und Tabus nicht nur gut aus, sondern war ihnen gegenüber auch zurückhaltend. Diese Kenntnis, im Kindesalter mühelos erworben, ermöglichte ihm später, sich wie einer der beinahe Gesalbten unter ihnen zu bewegen – fast so als ob sie ihm einmal vor langer Zeit eine vorübergehende Gastmitgliedschaft gewährt hätten, die zu beenden nie jemandem in den Sinn gekommen war.
Haynes hatte seinen falschen Passierschein ins Land der Reichen ohne jede Ermutigung – oder auch Entmutigung – seines Vaters erworben, der es sich zur Regel gemacht hatte, seinem Sohn niemals unerwünschten Rat zu erteilen, außer einmal im Jahre 1974, als Steadfast Haynes, damals dreiundvierzig, in Washington eine kurze Predigt gehalten hatte. Der Anlaß war der achtzehnte Geburtstag seines Sohnes gewesen, und die Predigt hatte sich mit den grundsätzlichen wirtschaftlichen Vorzügen der Inflation befaßt.
»Inflation«, hatte der ältere Haynes gesagt, »bedeutet, wenn du dir heute zehn Dollar borgst, brauchst du nächstes Jahr oder das Jahr darauf vielleicht nur noch zehn Quarter, zehn Dime oder sogar bloß zehn Nickel zurückzuzahlen.«
Der Detective beim Morddezernat und drei weitere Kalifornier (ein reisender Swimmingpool-Reiniger aus Santa Barbara, ein Zahnarzt aus Modesto und eine Kellnerin aus Eureka) hatten die staatliche Lotterie mit sechs Zahlen – 3, 11, 13, 19, 32, 45 –, die ein Computer für Haynes ausgesucht hatte, um etwas mehr als eine Million Dollar für jeden erleichtert. Der Bruttobetrag eines jeden Schecks, den er und die drei weiteren Gewinner während der nächsten zwanzig Jahre erhalten würden, lag bei annähernd 58 000 Dollar.
Doch waren erst einmal alle Steuern abgezogen, belief sich der Nettobetrag auf 39 979 Dollar jährlich, eine Summe, die, wie Haynes rasch entschied, ausreichte, um eine seiner beiden Karrieren aufgeben zu können. Also hatte er nach fast zehn Dienstjahren, sieben davon beim Morddezernat, die Polizeiarbeit aufgegeben und sich hauptberuflich der Schauspielerei zugewandt.
Es war beinahe vier Uhr morgens in Washington und ein Uhr nachts in Los Angeles, als die frühere Korrespondentin der Agence France-Presse einer widerwilligen Dame bei der Auskunft Haynes’ neue und geheime Telefonnummer mit Lügen, Tränen und zu guter Letzt mit Hilfe des französischen Konsulats entlockt hatte. Nachdem sich Haynes mit einem schläfrigen, doch höflichen »Hallo« gemeldet hatte, benutzte die frühere Korrespondentin eine sorgfältig erdachte Abfolge von dreiundzwanzig Wörtern, um sich zu erkennen zu geben und ihm mitzuteilen, daß sein Vater tot war.
Das darauffolgende kurze Schweigen beendete Haynes mit einer Reihe von Fragen aus nicht mehr als fünf oder sechs Wörtern nach Ursache, Zeitpunkt und Ort des Todes. Als er überzeugt war, daß er die meisten sachdienlichen Informationen erhalten hatte, stellte sich erneut Schweigen ein. Haynes beendete auch dieses, als er fragte, ob sein Vater ihr gegenüber jemals irgend etwas über eine besondere Art von Begräbnis erwähnt hatte.
Sie antwortete, obwohl Steadfast Haynes mit ihr nicht ein einziges Mal übers Sterben gesprochen habe, halte sie es für möglich, ihn mit einer Art militärischem Zeremoniell auf dem Nationalfriedhof von Arlington bestatten zu lassen. Haynes sagte, er glaube, daß sein Vater die Ironie dabei zu schätzen gewußt hätte, wenn auch nicht den Anlaß. Noch einmal entstand ein Schweigen, länger diesmal, und währenddessen glaubte Haynes, über die Telefonleitung das Lächeln der Frau spüren zu können, kurz bevor sie anbot, sein Einverständnis vorausgesetzt, die Bestattung in Arlington in die Wege zu leiten.
Nachdem er sein Einverständnis gegeben hatte, beendeten sie das Gespräch, und Haynes ging zu dem rissigen Ledersessel am Fenster seines Wohnzimmers in seinem Zweizimmerapartment in Ocean Park. Er saß in dem Sessel und starrte hinaus in Richtung des Pazifischen Ozeans, den zu sehen ihm verwehrt wurde von dem hellgelben Monsterhaus auf der anderen Straßenseite, das vor sechs Monaten auf Spekulation erbaut, wegen des exorbitanten Preises aber noch nicht verkauft worden war.
Während er dasaß und die Bilder des fast Fremden, der sein Vater gewesen war, heraufzubeschwören versuchte, ertappte sich Haynes dabei, wie er die Zeilen murmelte, die er später am Tag während der Fernsehaufnahmen für eine einstündige Polizeishow in Burbank von sich geben sollte. Er sollte Cal spielen, einen äußerst unbedeutenden Gangster, der gleich am Anfang starb und dessen einziger Text »Vergiß es!« und »Ich bin weg!« lautete.
Der Sohn von Steadfast Haynes saß weiter in dem rissigen Ledersessel, starrte hinaus auf das mondbeschienene gelbe Haus, ließ die verschwommenen Bilder seines Vaters vor seinem geistigen Auge vorbeiziehen und sprach die beiden Textzeilen laut vor sich hin. Sie waren, so entdeckte er, fast so gut wie ein Mantra und weitaus tröstlicher als ein Gebet.
Eine Autopsie ergab, daß eine massive Hirnblutung die Ursache für Steadfast Haynes’ Tod gewesen war. Sie ergab ferner eine leichte Fettleber und ein gemäßigtes Lungenemphysem, und keins von beidem überraschte den Sohn, der wußte, daß sein Vater von seinem fünfzehnten Lebensjahr an mindestens eine Schachtel Zigaretten täglich geraucht und beinahe ebenso lange so viel Alkohol getrunken hatte, wie er wollte.
Nach seiner Ankunft in Washington erfuhr Haynes, wieder ohne überrascht zu sein, daß es in der Hauptstadt und ihren metastasierenden Vororten gerade mal ein Dutzend Personen gab, die außer unter Druck einräumen würden, daß sie den verstorbenen Steadfast Haynes gekannt hatten. Und die meisten von ihnen scherten sich kaum darum, daß er tot war – obwohl es zwei frühere leitende Regierungsangestellte gab, die ihm vielleicht die letzte Ehre erwiesen hätten, wenn sie nicht unter Bundesanklage gestanden und sich viel zu viel Sorgen um ihr eigenes Schicksal gemacht hätten, um jemand anderen zu betrauern.
Dennoch gab es bei der Central Intelligence Agency einen Mann, der sich aus ihrer gemeinsamen Zeit in Laos mit einer gewissen Bewunderung, wenn nicht Zuneigung an Steadfast Haynes erinnerte. Der inzwischen siebenundsechzig Jahre alte Mann war zwei Jahre zuvor als leitender Burma-Analytiker der Agency pensioniert worden. Notgedrungen war er nach den jüngsten politischen Unruhen in Burma – das bald in Myanmar umbenannt werden sollte – aus dem Ruhestand zurückberufen worden, als, wie er es ausdrückte, »sie feststellten, daß sie niemand hatten, der auch nur ein klitzekleinesbißchen über das Land wußte«.
Der alternde Analytiker, der zu Recht vermutete, er werde entweder gebeten oder hinbeordert, hatte sich freiwillig erboten, eine Stunde Mittagspause zu opfern und der Zeremonie in Arlington als inoffizieller Beobachter der Agency beizuwohnen, wenn nicht als Trauergast.
Die einzigen wirklichen Trauergäste am Grab von Steadfast Haynes waren sein Sohn, die Frau, die einst eine Korrespondentin der Agence France-Presse gewesen war, und Tinker Burns, der sechsundsechzig Jahre alte Ex-Söldner der französischen Fremdenlegion, der mit der Concorde aus Paris eingeflogen war.
2
Einen taubengrauen Borsalino-Homburg in der linken Hand, entstieg Tinker Burns dem Fond der samt Chauffeur gemieteten Lincoln-Limousine, als der Hornist der Army gerade zum Zapfenstreich ansetzte.
Burns nahm abrupt Haltung an und wechselte den Hut schnell in die rechte Hand, damit er ihn über dem Herz halten konnte. Der Homburg machte sich gut zu dem dunkelgrauen Zweireiher, der feine Nadelstreifen hatte und mindestens neuntausend französische Francs gekostet haben mußte. Burns trug außerdem ein weißes Hemd, das so sorgsam gebügelt und gestärkt war, daß es glänzte, sowie eine unifarbene Krawatte, die entweder schwarz oder vom tiefsten Marineblau hätte sein können. Knapp oberhalb des Ellbogens befand sich am rechten Ärmel des Anzugs ein schwarzes Band, das, wie Granville Haynes irgendwie wußte, aus Seide war und Burns’ Status als offizieller Trauergast bezeugte.
Der große graue Lincoln mit einer an die Windschutzscheibe gehefteten Sondergenehmigung war knirschend auf dem Schotter der asphaltierten Zufahrt zum Stehen gekommen. Das Knirschen des Schotters hatte Granville Haynes veranlaßt, sich von dem flaggenbedeckten Sarg abzuwenden. Mit ihm wandten sich Isabelle Gelinet, die frühere Korrespondentin der Agence France-Presse, und Gilbert Undean, der reaktivierte Burma-Analytiker, ab.
Sobald der Zapfenstreich vorüber war, trugen Tinker Burns’ enorme Füße, die in glänzend schwarzen Kappenschuhen steckten, ihren Besitzer im offiziellen langsamen Marschtritt der Legion zu achtundachtzig Schritten pro Minute von der Limousine zum Grab. Burns marschierte in strammer Haltung, wie er, so glaubte Granville Haynes sich zu erinnern, beinahe alles machte: Kopf hoch, Kinn vorgestreckt, Schultern zurück und die Arme genau so schwingend, wie die Legion vor langer Zeit beschlossen hatte, daß sie schwingen sollten.
Burns trug seine Haare jetzt länger, bemerkte Haynes. Haare, die einst eine maximale Länge von anderthalb Zentimetern haben durften, waren jetzt oben gute drei Zentimeter lang, aber immer noch weit kürzer als hinten und an der Seite. Auch die Farbe war anders. Statt glänzend pechschwarz zu sein, waren sie nun glänzend schmalzweiß.
Auch ein paar neue Falten waren da, wie Haynes sah. Richtige Furchen. Doch die heiteren grünen Augen funkelten noch immer, glitzerten vielleicht sogar, wenn auch nicht genug, um die feierliche Miene zu konterkarieren, die, wie Haynes wußte, Kummer, möglicherweise sogar Trauer vermitteln sollte und sorgsam auf das lange braune Gesicht zugeschnitten war, das zuviel Zeit unter zuviel tropischer Sonne zugebracht hatte.
Tinker Burns war auf halbem Weg zum Grab, als der Army-Sergeant vortrat und Haynes das Sternenbanner reichte, das den Sarg bedeckt hatte und nun zu dem vorgeschriebenen Dreieck zusammengefaltet war. Nachdem der Sergeant zurückgetreten war und zackig salutiert hatte, murmelte Haynes seinen Dank und blickte zu Isabelle Gelinet, wobei er den Blick in ein stilles Angebot verwandelte, das sie mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfschütteln ablehnte.
Haynes wandte sich erneut um und wartete, bis Tinker Burns zum Stehen kam, bevor er ihm die zusammengefaltete Flagge darbot. »Nimm du sie, Tinker«, sagte Haynes. »Du hast ihn länger gekannt als ich.«
Burns klemmte sich den Homburg mit dem linken Ellbogen an die Seite und nahm die Flagge ehrerbietig mit beiden Händen entgegen. Er starrte etliche Sekunden darauf, als wolle er sich ihrer Herkunft vergewissern, blickte dann auf zu Haynes und sagte: »Nicht länger, Granny, nur besser.«
Nachdem er eine langsame Kehrtwendung vollführt hatte, die ihm einen Blick auf den Lincoln erlaubte, nickte Burns dem uniformierten Chauffeur zu, der am vorderen Kotflügel lehnte. Der Chauffeur eilte herbei, befreite Burns von der Flagge und eilte zurück zum Lincoln.
Von den anderen noch immer abgewandt, neigte Tinker Burns das Haupt – zur Pose, wenn nicht zum Gebet, dachte Haynes –, blickte schließlich auf, wandte sich um und sagte: »Steady wird mir verdammt fehlen.«
»Schön, daß du gekommen bist«, sagte Haynes.
Burns seufzte und blickte zu der früheren Korrespondentin der Agence France-Presse, die ein marineblaues Kleid unter ihrem offenen perlweißen Trenchcoat mit einem karierten Futter trug.
»Ça va, Isabelle?« sagte Burns.
Sie zuckte mit den Achseln. »Ça va, Tinker.«
Burns’ grüne Augen musterten den hochgewachsenen, dünnen älteren Herrn mit der Haltung eines Krückstocks. Weil die Witterung für Ende Januar ungewöhnlich warm war, trug der Mann nur eine braune Fischgrätenjacke, graue Flanellhosen, abgewetzte braune Slipper, die – wenn überhaupt – vermutlich seit Jahren nicht mehr geputzt worden waren, und eine lila Krawatte.
Haynes hatte sich gefragt, ob die Krawatte das für eine Trauerkleidung passendste Stück war, das der Kleiderschrank des Mannes zu bieten hatte. Oder vielleicht, dachte er irgendwie erheitert, ist es ihm völlig egal, was er trägt.
Tinker Burns beendete seine kurze Inspektion, bedachte den Mann mit einem gewinnenden Lächeln und sagte: »Glaube nicht, daß wir uns schon mal begegnet sind, mein Freund. Ich bin Tinker Burns. Sind Sie zufällig der offizielle Repräsentant einer dankbaren Regierung?«
»Gilbert Undean«, sagte der Mann. »Ich kannte Steady aus Laos.«
»Ist das wahr? Bei wem sind Sie jetzt?«
»Ich bin eigentlich im Ruhestand.«
»Eigentlich?«
»Man hat mich zurückgeholt. Vorübergehend.«
Burns nickte zweimal, als bestätige er eine erwartete Nachricht. »Glaube, irgendwer hat mir erzählt, daß ihnen die Experten für den Teil der Welt knapp werden, vor allem nach dem Wirbel in Burma.«
Undean runzelte die Stirn. »Wem werden sie knapp?«
»Langley. Wem sonst?«
»Glaube nicht, daß ich die erwähnt habe. Glaube nicht, daß ich einen Ton von Burma gesagt habe.«
»Nur so ein Gefühl, Mr. Undean. Ich nahm an, wenn Sie was über Laos wissen, weil Sie Steady von dort kennen, dann wüssten Sie vermutlich auch über Burma Bescheid, weil’s direkt daneben liegt. Und ich hatte außerdem so ein Gefühl, daß Langley, so fürsorglich und sentimental wie immer, jemand aus alten Tagen als Vertreter ans Grab eines gefallenen Kameraden schickt.«
Tinker Burns lächelte erneut, ein bißchen zweifelnd diesmal, wie in Erwartung von Undeans Antwort. Doch als sich die Antwort nur als gleichgültiger starrer Blick erwies, sagte Burns: »Warum, Mr. Undean, nehmen wir vier uns nicht den Nachmittag frei für ein feuchtfröhliches Essen auf meine Kosten und hören uns an, was Sie und Steady alles während der tollen Tage in Vientiane getrieben haben?«
»Danke«, sagte Undean, »aber ich lege keinen großen Wert auf ein Essen mit jemandem, der sich diesen alten Mist anhören möchte.«
Bevor Tinker Burns etwas erwidern konnte, ging Haynes rasch zu Undean, schüttelte ihm die Hand und sagte: »Danke, daß Sie gekommen sind.«
»Freiwillig, bevor ich geschickt wurde«, sagte Undean und beugte sich vor, um Haynes genauer zu betrachten. »Am besten erinnere ich mich bei Steady daran, wie gut er seine Sache machte und wie leicht es bei ihm aussah.«
»Eine Frage des Stils?«
»Oder der Nerven.« Er schaute Haynes durch eine dicke Bifokalbrille noch genauer an. »Sie sehen wirklich wie er aus – oder wenigstens so, wie er, glaube ich, vor fast zwanzig Jahren auszusehen pflegte.« Undean machte eine Pause, öffnete den Mund, als wolle er noch etwas sagen, machte ihn stattdessen zu, nickte zum Abschied, drehte sich um und ging.
»Was für einen Bericht, glaubst du, liefert Bruder Undean ab?« fragte Tinker Burns, sobald der Analytiker außer Hörweite war.
Immer noch Undeans Rücken anstarrend, sagte Haynes: »›Wie ich allein die Menge an Steady Haynes’ Grab um fünfundzwanzig Prozent anwachsen ließ‹.«
Burns schmunzelte und verschaffte sich einen schnellen Überblick über das leicht abfallende Friedhofsgelände mit seinen Reihen gleichförmiger weißer Grabsteine. »Als mir der Passierschein ausgestellt und die Anfahrtsbeschreibung gegeben wurde, sagte man mir, daß Steady nicht weit weg von zwei anderen großen Amerikanern begraben würde, Lee Marvin und John Mitchell. Wie hast du sie dazu gebracht, daß sie ihn hier verbuddeln?«
»Isabelle hat es in die Wege geleitet«, sagte Haynes.
Burns blickte sie an. »Erpressung?«
»Was sonst?« sagte sie.
»Wissen sie, daß du es warst?«
»Natürlich.«
Burns schüttelte anerkennend den Kopf, schmunzelte wieder und sagte: »Nun, das ist bei Gott ein großes Mittagessen wert, mit allem, was wir trinken können.«
Ohne ihre Zustimmung zu seiner Einladung abzuwarten, die er offensichtlich für gegeben hielt, fragte Burns Gelinet, ob sie ein Auto habe. Nachdem sie genickt hatte, sagte Haynes von sich aus, er sei mit dem Taxi gekommen.
»Dann fährst du mit mir, Granny, und wir treffen uns dort mit Isabelle.«
»Wo?« fragte sie.
»Wie wär’s mit Mac’s Place?« sagte Tinker Burns. »Wenn’s das noch gibt.«
3
Der Mann mit dem höflichen Auftreten und dem kahlen Kopf wandte sich um 13.13 Uhr von dem Fenster im sechsten Stock ab und ließ sich gerade mit einem Seufzer in den Ledersessel mit dem hohen Rücken sinken, als Gilbert Undean den letzten Bissen seines Eiersalats auf Vollkorntoast vertilgte.
Der Mann in dem Sessel mit dem hohen Rücken war Hamilton Keyes, der das Sandwich unten bestellt hatte, als er hörte, daß Undean noch nicht gegessen hatte. Nachdem sich Undean eine Spur Mayonnaise vom linken Mundwinkel geleckt, die unbenutzte Papierserviette sorgsam zusammengefaltet und zum möglichen zukünftigen Gebrauch in die rechte Tasche seiner braunen Fischgrätenjacke gesteckt hatte, sagte Hamilton Keyes: »Wissen Sie, Steady war nie beim Militär.«
»Falsch«, sagte Undean. »Er war fünfzig und einundfünfzig in Korea.«
»Aber nicht beim Militär«, sagte Keyes, lehnte sich in den Ledersessel zurück und legte seine Füße auf eine Ecke des 137 Jahre alten Rosenholzschreibtischs, den seine reiche Frau ihm zum fünfzehnten Hochzeitstag geschenkt hatte. Er hatte ihr The Collected Poems of Rupert Brooke in einer Ausgabe der Woodberry Society von 1915 geschenkt, numeriert (Nr. 27) und von George Edward Woodberry persönlich signiert. Keyes hatte die Ausgabe bei einem Garagenverkauf in Georgetown (wo er als Nachlaßverkauf bezeichnet wurde) für drei Dollar fünfzig erstanden, nachdem er erkannt hatte, daß sie zwischen fünfhundert und siebenhundert Dollar wert war.
»Reden wir vom selben Steadfast Haynes?« sagte Undean.
Keyes lächelte leicht und nickte. Als Karrierist hatte Keyes erst unlängst erkannt, daß er in der Agency so weit aufgestiegen war wie nur irgend möglich. Diese Erkenntnis war keineswegs ein Schock gewesen, nicht einmal eine Enttäuschung, sondern eher eine Art merkwürdige Erleichterung, und nun entwickelte er ein fast morbides Interesse am progressiven Schwund seines Ehrgeizes.
»Wenn er in Korea nicht in der Army war«, sagte Undean, »was zum Teufel hat er dann dort gemacht?«
»Er war Kriegsdienstverweigerer.«
»Dann war’s ein anderer Steadfast Haynes«, sagte Undean, der den höflichen Mann seit 1962 kannte, als Hamilton Keyes, frisch von der Brown University, mit vollem Haarwuchs und schon damals von einer gewissen prononcierten Höflichkeit, auf Probe in die Agency eingetreten war.
»Steady war beim American Friends Service Committee«, sagte Keyes. »Den Quäkern. Er fuhr einen Sanitätswagen, trug eine Bahre oder verteilte Doughnuts. Irgendwas Humanitäres. Er war der Siebten Division zugeordnet, als sie neunzehnhundertfünfzig an Thanksgiving von den chinesischen Horden überrannt wurde. Es war Thanksgiving, oder?«
»So in etwa«, stimmte Undean zu. »Wurde er gefangengenommen?«
»Nein, aber auf dem Rückzug hat er sich sechs GIs angeschlossen, alles, was von einer Infanteriekompanie übriggeblieben war, und die waren versessen darauf, sich zu ergeben. Steady sprach sich dagegen aus. Der Anführer – oder Hauptkapitulationswillige, wie man ihn nennen könnte – richtete seine Knarre auf Steady und forderte ihn auf, das Maul zu halten.«
»Und?«
»Und Steady hat sich natürlich geweigert. Der Anführer schoß auf ihn und verfehlte ihn, wahrscheinlich mit Absicht. Unser Quäkerfreund hat sich eine Maschinenpistole, eine Thompson glaube ich, von einem anderen GI geschnappt.«
Einen Moment lang wirkte Keyes unsicher. »Sie hatten doch Thompsons in Korea, oder?«
»Bestimmt.«
»Auf jeden Fall versprach Steady, den ersten Scheißkerl zu erschießen, der sich zu ergeben versuchte. Der Anführer schoß ein zweites Mal, und diesmal streifte die Kugel Steadys linken Arm, knapp über dem Ellbogen. Steady erschoß ihn. Danach führte er die übrigen fünf runter nach Hungnam, von wo sie evakuiert wurden.«
»Und ließ seinen Glauben hinter sich«, sagte Undean.
»Vielleicht hatte er ihn nicht ganz verloren, bis die fünf, die er in Sicherheit gebracht hatte, auf die Idee kamen, ihn des Mords zu bezichtigen, was ihre Art war, ihm dafür zu danken, daß er ihnen das Leben gerettet hatte. Die Army konnte sich nicht entscheiden, ob sie Steady erschießen oder ihm einen Orden verleihen sollte. Also hat man ihn zurück in die Staaten geschafft und ihn vergessen.«
»Das muß damals gewesen sein, als er wieder die Schulbank drückte«, sagte Undean. »University of Pennsylvania.«
»Wo wir ihn neunzehnhundertfünfundfünfzig, kurz vor seinem Abschluß, anzuwerben versuchten.«
»Versuchten?«
»Man sagt, er hat uns ausgelacht. Na ja, jedenfalls gelächelt. Er hat unseren Anwerbern gesagt, wenn er jemals in das Gesinnungsgeschäft einsteigen würde, dann fürs Geld, nicht fürs Land. Und so landete er bei einer der großen New Yorker Werbeagenturen und machte einen solchen Eindruck, daß die ihn drei Jahre später in ihr Pariser Büro versetzten.«
»Das war wann?« fragte Undean.
»Achtundfünfzig, glaube ich. Ende neunundfünfzig traten Vertreter der belgischen Regierung an das Pariser Büro der Werbeagentur heran. Die Belgier waren besorgt, daß es irgendwelche Schweinereien nach der Unabhängigkeit im Kongo geben könnte – nichts, wohlgemerkt, um sich darüber aufzuregen –, aber sie dachten trotzdem, eine amerikanische Werbeagentur könnte dabei hilfreich sein, um eine gute Fassade abzugeben. Die Pariser Niederlassung der Werbeagentur sagte aus verschiedenen Gründen nein, danke. Also kündigte unser Freund Steady, trug den Belgiern in seinem ganz passablen Französisch eine eigene Präsentation vor, hatte einen Kunden an Land gezogen, und so endete er während der Unruhen Anfang der Sechziger im Kongo.«
»Und lernte dort Tinker Burns kennen«, sagte Undean.
»Scheint so. Sind Sie Burns jemals bei Ihren Reisen zufällig begegnet?«
»Ich habe die Geschichten über ihn gehört, aber heute habe ich ihn zum ersten Mal kennengelernt.«
»Und Ihr spontaner Eindruck?«
»Weiße Haare. Steifer Hals. Große Klappe.«
»Dann hat er sich eigentlich nicht verändert«, sagte Keyes.
»Bis auf die Haare.« Seine rechte Hand fuhr forschend über seinen eigenen kahlen Schädel. »Tinkers waren immer pechschwarz.«
»Und er war wirklich in Dien Bien Phu dabei, wie alle sagen?« fragte Undean. »Oder ist das auch bloß Quatsch?«
»Sie waren zu viert mit der Legion dort. Vier Amerikaner, meine ich. Tinker war der einzige, der überlebt hat.«
»Wie lange war er dabei?« sagte Undean.
»In der Legion? Zehn Jahre. Von sechsundvierzig bis sechsundfünfzig. Davor war er Fallschirmjäger bei der zweiundachtzigsten Luftlandedivision. Wurde per Ernennung im Felde zum Second Lieutenant befördert. Als er nach zehn Jahren die Legion verließ, war er Capitain, was für einen Amerikaner, soviel ich weiß, recht ungewöhnlich ist.«
»Warum zum Teufel hat er sich überhaupt der Legion angeschlossen?«
Hamilton Keyes lächelte. »Wenn Sie seine Einladung zum Essen angenommen hätten, Gilbert, hätten Sie ihn fragen können. Vielleicht hätte er’s Ihnen sogar verraten.« Keyes unterbrach sich. »Möchten Sie Kaffee?«
»Ja. Gern. Danke.«
Keyes griff zum Telefon und bestellte zwei Kaffee. Stumm warteten sie, bis ein junger Mann ihn auf einem Tablett hereinbrachte. Nachdem der junge Mann wortlos gegangen war, nahm Undean einen Schluck, stellte seine Tasse ab und sagte: »Wenn Steady nie beim Militär war, warum begraben wir ihn dann in Arlington?«
»Die Frau, die mit am Grab bei den Feierlichkeiten war, dachte, es wäre nett, wenn wir das täten.«
»Isabelle Gelinet.«
»Hübscher Name, nicht?« sagte Keyes. »Mademoiselle Gelinet hat vor ein paar Jahren ihren Job bei AF-P aufgegeben und wohnte mit Steady in seinem Haus in Virginia.«
»Die Farm bei Berryville?«
Keyes nickte.
»Hörte, daß dies Teil der Scheidungsvereinbarung mit der reichen Witwe war, die er geheiratet hat.«
»Wie ich sehe, Gilbert, sind Sie auf dem laufenden, was den Klatsch angeht.«
»Ich bin pensioniert, nicht taub.«
»Jedenfalls, die Gelinet ist eingezogen, angeblich, um Steady bei seinen Memoiren zu helfen.«
»Ich kaufe mir ein Exemplar.«
Keyes ignorierte die Bemerkung. »Am Tag nach Steadys Ableben, und zwar am Tag der Amtseinführung, rief uns die Gelinet an. Ihr Anruf wurde schließlich zu mir nach Hause durchgestellt, weil Steady ganz zum Schluß einer von meinen Leuten war. Sie hat sich geweigert, sich zu erkennen zu geben, aber ich bin sicher, ihr war es egal, daß ich leicht erraten konnte, wer da anrief.«
»Was hat sie gewollt?«
»Sie wollte, daß er in Arlington beigesetzt wird und ein Hornist am Grab den Zapfenstreich spielt. Das war die letzte direkte Angabe, die sie machte. Danach kamen lauter Andeutungen und verbale Hinweise, bei denen es im wesentlichen darum ging, daß das Manuskript seiner Memoiren noch am selben Tag als Eilsendung an einen äußerst angesehenen Literaturagenten in New York geschickt würde, wenn wir ihn nicht in Arlington bestatten wollten. Ich deutete meinerseits an, wenn dies tatsächlich geschehen sollte, könnten wir gezwungen sein, juristische Maßnahmen zu ergreifen. Sie sagte, das könnten wir sehr gerne tun, und legte auf.«
Der höfliche Mann hörte auf zu reden, blickte auf einen Punkt irgendwo über Undeans linker Schulter und fügte hinzu: »Also haben wir ihn in Arlington begraben.«
»Und mich geschickt, um die Anwesenden zu zählen.«
»Sie waren der einzige, der noch den geringsten Grund hatte hinzugehen – außer mir.«
Undean runzelte die Stirn. »Was war mit Ihren juristischen Maßnahmen?«
Keyes zuckte mit den Achseln.
»Ein Bluff, richtig? Und als sie es Ihnen auf den Kopf zugesagt hat, sind Sie eingeknickt.«
Als Keyes ihn nur anstarrte, nichts sagte, nichts preisgab, lächelte Undean säuerlich und sagte: »Da stimmt was nicht. Sie haben schon genug andere davon abgebracht, ein Buch zu veröffentlichen. Zwei oder drei Jungs haben Sie sogar so massiv davon abgebracht, daß sie bankrott gingen. Warum also nicht Steady?«
»Weil er erstens tot ist und zweitens nie für uns gearbeitet hat.«
»Zweitens ist Quatsch.«
»Diesmal nicht, Gilbert. Sehen Sie, wir hatten nie einen Vertrag mit Steady. Er wollte nie etwas unterschreiben, nie einen Scheck von uns gegenzeichnen oder auch nur ein Auslandskonto einrichten, auf das wir seine Gelder transferieren konnten. Ganz von Anfang an – damals im Kongo – bestand er darauf, daß ihm alle Honorare und Auslagen in Schweizer Franken oder in Gold bezahlt wurden. Wie also konnten wir einen Toten, von dem wir nicht einmal beweisen konnten, daß er für uns gearbeitet hat, davon abhalten, seine Memoiren zu veröffentlichen, die wir nicht einmal gelesen hatten? Und deshalb sind wir eingeknickt, wie Sie es so nett formulierten, und haben ihn in Arlington begraben.«
Als Undean keine Antwort gab, nahm Keyes seine Tasse und trank den Rest seines mittlerweile lauwarmen Kaffees. Als er die Tasse abstellte, sagte er: »Wie beurteilen Sie seinen Sohn Granville?«
»Ich denke, daß er nett und höflich war, vielleicht zu höflich für diesen Tag und das Alter, und ich denke, Sie haben gerade die Weiche verstellt.«
»Um Sie abzulenken?«
Undean nickte. »Was wollen Sie wirklich dagegen tun?«
»Wogegen?«
»Seine Memoiren.«
»Oh. Die. Nun, nicht mehr, als wir schon getan haben, und das wäre, für ein Stückchen was? – geweihte Erde? – zu zahlen, um zu verhindern, daß sie veröffentlicht werden. Natürlich wäre ich nicht wirklich beunruhigt, wenn sie herausgegeben würden, denn ich bin mir sicher, daß sie nicht mehr zu bieten haben, als dasselbe alte dreimal wiedergekäute, frei zugängliche Zeug von bösartigen Elefanten. Aufgewärmte alte Hüte, um noch eine Metapher zu mißbrauchen. Bestenfalls eine zähe Lektüre auf einem langen Flug.«
»Ich weiß es besser«, sagte Undean. »Und wenn ich es besser weiß, tun Sie es mit verdammter Sicherheit.«
Hamilton Keyes bedachte Undean erneut mit einem höflichen, aber leeren Blick.
»Wollen Sie einen Rat?« fragte Undean.
»Nicht wirklich.«
»Kaufen Sie sie«, sagte Undean. »Kaufen Sie die Memoiren und alle Rechte daran. Das erspart Ihnen auf lange Sicht verteufelt viel Kummer und Geld.«
Der höfliche Mann stand auf mit einem Lächeln, das weder warm noch kalt war. Ein Zimmertemperaturlächeln, fand Undean. Ein Lächeln der Verabschiedung.
»Es war schrecklich nett, wieder mal mit Ihnen zu plaudern, Gilbert«, sagte Keyes, als er um den Rosenholzschreibtisch herumkam, wartete, bis Undean aufstand, dem alten Mann beruhigend die Hand auf die Schulter legte und ihn sanft zur Tür führte.
4
Nach fast einer Generation konnte man es immer noch an derselben Stelle finden, einige Blocks nördlich der K Street und etwas weniger weit westlich der Connecticut Avenue. Weil es in Washington, wo Restaurants häufig die Lebensspanne einer Eintagsfliege haben, so lange überdauert hatte, hielten viele Mac’s Place entweder für ein inoffizielles Wahrzeichen oder, wenn sie unter dreißig waren, für ein altmodisches und eigenartiges Denkmal der Sechziger.
Daß das Lokal überhaupt noch existierte, lag hauptsächlich an einer florierenden Kanzlei von Strafverteidigern, die sich bisweilen in Immobilien versuchten. 1987 hatten sie ein Konsortium gebildet, um den Grund und Boden unter Mac’s Place und zu beiden Seiten große Anteile davon zu kaufen.
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