Feuer der Barmherzigkeit - Serkan - E-Book

Feuer der Barmherzigkeit E-Book

Serkan

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Beschreibung

Serkans Leben ist geprägt von dem Gefühl, vor Allah und den Menschen nicht zu genügen. Sein Glaube ist eine leere Hülle aus Regeln – bis er Jesus kennenlernt. Die Freiheit und Barmherzigkeit, die er in Jesus findet, sind so kostbar, dass er dafür den Kontakt zu seiner geliebten Familie aufs Spiel setzt. Für ihn beginnt eine spannende Reise, diesem Jesus immer ähnlicher zu werden und ihm zu folgen, auch wenn es ihn so viel kostet.

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Seitenzahl: 282

Veröffentlichungsjahr: 2025

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SERKANRonja Treibholz

FEUER DER BARMHERZIGKEIT

Ein Muslim begegnet Jesus

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

Die Dialoge in diesem Buch geben die Erinnerung des Autors wieder. Einige Namen in diesem Buch wurden aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes geändert. Wir haben uns entschieden, die Bezeichnung Allah für den Gott im Koran zu verwenden, um eine Unterscheidung zum Gwott des Christentums sichtbar zu machen. Wir möchten aber darauf hinweisen, dass das arabische Wort Allah und der deutsche Begriff Gott sprachlich gesehen dasselbe bedeuten können. Das arabische Wort Allah wurde bereits in der vorislamischen Zeit gebraucht und wird auch heute von den meisten arabischen Christen sowie arabischen Bibeln verwendet. Dass wir den Begriff ausschließlich für den Gott des islamischen Glaubens benutzen, dient einem erleichterten Lesefluss.

ISBN 978-3-7751-7656-9 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-6188-6 (lieferbare Buchausgabe)

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

© 2025 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:

Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen

Lektorat: Christina Bachmann

Fachlektorat: Carmen Shamsianpur

Umschlaggestaltung: Sybille Koschera, Stuttgart

Titelfoto: Rahel Täubert, www.raheltaeubert.com

Fotos im Bildteil: privat, außer: »In der Sendung ERF Mensch Gott 2021«:

© 2021 / ERF Medien e. V. / A. Lehmann und »Katja und ich beim Fotoshooting für mein Buch 2024«: Rahel Täubert

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Aus Dankbarkeit widme ich dieses Buch der Liebe meines Lebens – meiner großartigen Ehefrau Katja. Für mich wirst du immer der Mensch sein mit dem größten Herzen von allen. Ich liebe dich, mein Schatz! Dein Spinner

Und meinem verstorbenen Papa, der mich gelehrt hat, meinen Mitmenschen in Liebe und Wertschätzung zu begegnen. Danke für deine Fürsorge und den spannenden Erzählungen aus deinem Leben. Ich vermisse dich, Papa, und tief in meinem Herzen glaube ich, dass wir uns in der Ewigkeit wiedersehen werden. Ich kann es kaum erwarten, dich in meine Arme zu schließen.

INHALT

Über die Autoren

Über das Buch

Stimmen zum Buch

1  Dreimal krähte der Hahn

2  Zerrissen zwischen Party und Prinzipien

3  Die rasende Gläubige

4  Schuhe der Bereitschaft

5  Aufbruch ins Feuer

6  Zwei Väter im Himmel

7  Fließbandleerlauf

8  Hätte, hätte, Lichterkette

Dank

SERKAN (Jg. 1987) hat türkische Wurzeln und ist in einer muslimischen Familie aufgewachsen. Er fand zum Glauben an Jesus und studiert aktuell Theologie. Mit seiner Frau und zwei Katern lebt er in einem kleinen Ort in Baden-Württemberg. In seiner Freizeit genießt er es, Zeit mit seiner Frau zu verbringen und zu kochen.

RONJA TREIBHOLZ

EIN SEITENWECHSEL MITTEN IN DEUTSCHLAND

Was wäre, wenn einer der muslimischen Jungs aus deiner Nachbarschaft tatsächlich Jesus finden und die verändernde Kraft des Evangeliums erleben würde? Serkan ist so jemand. Sein Leben ist geprägt von dem Gefühl, vor Allah und den Menschen nicht zu genügen. Sein Glaube ist eine leere Hülle aus Regeln – bis er Jesus kennenlernt. Die Freiheit und Barmherzigkeit, die er in Jesus findet, sind so kostbar, dass er dafür den Kontakt zu seiner geliebten Familie aufs Spiel setzt. Für ihn beginnt eine spannende Reise, diesem Jesus immer ähnlicher zu werden und ihm zu folgen, auch wenn es ihn etwas kostet.

»Von der ersten Zeile an hat mich Serkans wundersamer und spannender Erlebnisbericht gepackt! Sein Mut und seine Kompromisslosigkeit inspirieren mich und fordern mich ganz neu in meinem eigenen Glaubensleben heraus. Möge seine Geschichte Anreiz sein für viele, sich auf die Suche nach dem barmherzigen Gott zu machen.«

SABINE BHANDARI, Moderatorin »Erlebt TV« CBN-Deutschland

»In der Zerreißprobe: Diese beeindruckend ehrliche, mitreißend echte Erzählung gibt tiefe Einblicke in die Suche und Sehnsucht nach der Wahrheit und dem Sinn des Lebens. Herbe Verluste und Enttäuschung brechen sich Bahn, am Ende aber siegen Hoffnung und Zuversicht.«

1

DREIMAL KRÄHTE DER HAHN

2017

Ich schließe die Augen, um mich zu konzentrieren. Mein Herz bebt vor Aufregung.

Bewusst atme ich tief durch, um alles, was mich ablenkt, auszublenden. Während sich die Gedanken auf das Wesentliche ausrichten, stiehlt sich unwillkürlich ein Lächeln in mein Gesicht.

Mit fester Stimme spreche ich laut: »Danke für die Gemeinschaft und das leckere Essen auf dem Tisch. Danke für alles, was du uns schenkst, Jesus. Amen.«

Kurz halte ich inne, nachdem ich das Gebet beendet habe. Nur einen Moment noch, um mich für das zu wappnen, was nun auf mich zukommen wird. Halt suchend taste ich nach dem inneren Frieden, der neulich in mir eingezogen ist wie ein unerwarteter Mitbewohner. Als ich die tiefe Ruhe spüre, fasse ich Mut und öffne die Augen.

Mein Blick trifft auf den meiner Mutter. Sie hat mir das Gesicht zugewandt und starrt mich mit halb geöffnetem Mund sprachlos an. Ihr Blick ist voller Irritation, Ärger und einer Menge Fragen.

Mühsam schluckt sie die Worte herunter, solange wir mit den anderen Gästen am Tisch sitzen. Heute, an meinem dreißigsten Geburtstag, vertritt Mama meine Familie allein. Zudem ist sie als türkische Hausfrau die einzige Person in der kleinen Feierrunde, die kein Deutsch spricht. Also hält sie sich zurück und versucht, Happen für Happen die Worte für sich zu behalten, die ihr auf der Zunge liegen.

Doch kaum bietet sich die Gelegenheit, winkt sie ihren jüngsten Sohn zur Seite und die Fragen brechen aus ihr heraus: »Serkan, was sollte das?! Warum betetest du zu Jesus? Du bist doch Muslim!«

Mitfühlend betrachte ich ihr aufgebrachtes Gesicht. Meine Eltern haben mir das rituelle Gebet beigebracht und fast jeden Freitag sind Papa und ich zum Beten in die Moschee gegangen. Der muslimische Glaube gehört zu unserem Familienleben genauso dazu wie die fürsorgliche Gemeinschaft, der Fußballsport und die gemeinsamen Urlaube ins Heimatland meiner Eltern.

Einen Alltag ohne Religion könnte ich mir ebenso wenig vorstellen wie einen ohne meine beiden älteren Brüder. Sie und der Islam lebten schon lange in unserem Haus, bevor ich hinzukam, und ich wuchs ganz selbstverständlich mit den Traditionen und Glaubenssätzen auf. Doch meine Brüder zogen nach ihrer Heirat aus. Und nun ist auch mein muslimisches Weltbild ausgezogen.

Langsam schüttle ich den Kopf. »Nein, Mama«, antworte ich auf Türkisch möglichst ruhig, trotz der Aufregung in mir. »Ich bin kein Muslim mehr. Ich bin jetzt Christ und Jesus ist mein Herr und mein Gott.«

Jetzt weitet der Schreck die Augen meiner Mutter. Alle Vorwürfe und Fragen sind verschwunden und pures Entsetzen erfasst sie, als sie das Ausmaß meiner Worte begreift. Dann klappt der offen stehende Mund zu und ihre Miene verschließt sich. In ihrem Blick sehe ich noch mehr Fragen, Sorgen, Anklagen. Ich weiche ihm nicht aus und nicke nun, um meine Aussage zu bekräftigen, und auch, weil ich Mama verstehe. Ich verstehe, dass sie es nicht versteht und auch nicht verstehen will.

In ihren Augen habe ich den Verstand verloren.

Nach meiner Geburtstagsfeier dauert es nicht lange, bis sich Deniz bei mir meldet. Unsere Mutter hat ihm und Kerem von dem Skandal erzählt. Papa hat sie vorerst verschont.

Deniz will sich mit mir treffen und in Ruhe darüber sprechen. Er ist weniger aufbrausend als mein ältester Bruder. Als zweiter Bruder war er mir immer ein Verbündeter, ein Vorbild und ein Freund. Wir zogen mit seinen Kumpels um die Häuser, feierten in den Klubs, hatten viel zu lachen und tauschen uns heute noch häufig bei einer Tasse Kaffee über Gott und die Welt aus.

Ob das auch der Fall sein wird, wenn es sich auf einmal um einen anderen Gott handelt?

Wenig später sitze ich Deniz in einem Imbissrestaurant gegenüber und spüre dem heruntergeschluckten Bissen nach. In meinem Magen fühlt es sich an, als würde ein heftiger Sturm toben. Die Wellen der Nervosität wühlen mich zu sehr auf, als dass ich das Bestellte genießen könnte.

»Mama macht sich Sorgen, was die Leute denken könnten, wenn sie es erfahren.« Deniz’ Stimme klingt ruhig, während er den halben Wrap vor sich auf dem Teller ablegt. Doch in seinem Tonfall nehme ich die Spannung wahr, die den gesamten Raum des fast leeren Lokals erfüllt.

»Kerem meint, du hättest wohl eine Gehirnwäsche bekommen«, berichtet der sechs Jahre Ältere weiter und wischt sich mit der Serviette über den dunklen Bart. Selbst dessen Schnitt gleicht meinem. So vieles von unserem Aussehen und Charakter ähnelt einander.

»Und was denkst du?«, frage ich zwischen zwei Pommes, ohne den Blick von ihm zu wenden.

Die dunklen Augen meines Bruders mustern mich eindringlich. Diese Situation erinnert mich an die vielen Gespräche während meiner Ausbildungssuche – der Beginn meiner Karriere als »schwarzes Schaf« der Familie.

Schließlich lehnt sich mein Gegenüber vor und stützt sich mit den Unterarmen auf die Tischplatte. »Was, wenn Papa das erfährt?!« Nun verrät Deniz’ Stimme die innere Aufregung. »Denk an sein Herz!«

Ich schlucke. Der zerkaute Pommesstängel scheint sich plötzlich in seine Ursprungsform zurückverwandelt zu haben und als komplette Kartoffelknolle in meinem Hals festzustecken.

Ich liebe meine Familie. Ich liebe Baba. Ich will ihn nicht enttäuschen! Wollte ich nie …

Deniz liest meinem Gesicht die Reaktion ab, auf die er gehofft hat. Während er sich wieder zurücklehnt, atmet er hörbar ein. »Serkan, weißt du was?«

Die dunkelbraunen Augen senden seinen typischen »Großer-Bruder-Blick« – fürsorglich, verantwortungsbewusst und drängend. »Du kannst Baba ja einfach sagen, dass du immer noch Muslim bist. Das wird dir dein Herr Jesus bestimmt verzeihen.«

Noch während Deniz spricht, verstummt plötzlich der Sturm in mir. Es ist wie in der Geschichte aus der Bibel, in der Jesus den Sturm stillt. Mit nur einem Ruf bringt er ihn zum Schweigen. Dasselbe vollbringt er in diesem Moment mit dem Chaos, das in mir tobt. Alles ist mit einem Mal ruhig und ich sehe wieder klar.

Ich erinnere mich an weitere biblische Szenen. Ich sehe vor mir Jesus, wie er über das Wasser geht – und Petrus, der es ihm nachmacht. Er war einer der engsten Freunde von Jesus und jener Nachfolger, der seinem Lehrer so sehr vertraute, dass er sich während des Sturms auf das noch tobende Wasser wagte, um zu ihm zu laufen. Und auch derjenige, der sich später, als sich alles zuspitzte und es um seine Treue ging, nicht zu Jesus bekannte. Dreimal stritt er ab, den verhafteten Jesus zu kennen. Dreimal krähte der Hahn. Dann packte Petrus der Schrecken über sich selbst und er weinte verzweifelt über seinen Rückzieher, den er bitterlich bereuen sollte.

Petrus, mein Bruder, denke ich. Und weiß jetzt, was ich zu tun habe.

Entschlossen schüttle ich den Kopf und suche den Blick meines leiblichen Bruders. »Das kann ich meinem Herrn nicht antun!«, bricht es aus mir heraus.

Irritiert ziehen sich Deniz’ schwarze Augenbrauen zusammen. Aber ich fokussiere mich ganz auf den, der den Sturm in mir gestillt hat. »Ich werde Jesus und meinen Glauben an ihn nicht verleugnen. Das kann ich ihm nicht antun.«

Während ich rede, spüre ich Frieden und Liebe wie einen sanften Windstoß über das Wasser wehen.

Es war die richtige Entscheidung.

Doch damit ist nicht alles geklärt. Die Turbulenzen werden zunehmen. Nicht weit entfernt ziehen bereits die dunklen Wolken des nächsten Sturmes auf.

Wie bei einer nahenden Gewitterfront lädt sich die Stimmung zunehmend auf, als ich mich wenige Tage später im Haus meiner Eltern befinde.

Bis zu meinem neunundzwanzigsten Lebensjahr wohnten wir gemeinsam unter diesem Dach. Hier wurde ich immer von fürsorglicher Liebe empfangen und mit gutem Essen verwöhnt. Nach jeder der vielen durchzechten Partynächte erhaschte ich die Silhouette meines Vaters am Fenster. Erst wenn er den Hausschlüssel im Schloss hörte, konnte er endlich beruhigt schlafen gehen. Nie hatte Baba mir verboten, es in den Klubs krachen zu lassen. Nie hatte er mir zusätzlich ins Gewissen geredet, wenn ich am Folgetag von einem Kater geplagt wurde. Er wollte nur sichergehen, dass sein jüngster Sohn heil wieder nach Hause kam. Diese Fürsorge ließ stets ein angenehm warmes Gefühl in mir aufsteigen.

Doch in diesem Augenblick ist mir heiß. Ich glühe innerlich. Zwei Brandherde heizen ordentlich in meinem Inneren ein: das lebendige Feuer, das mich mit Liebe wärmt, seit ich Jesus kennengelernt habe. Und die dadurch entfachte Zündschnur, die möglicherweise in einer enormen Explosion enden wird.

Meinem Vater steht ins Gesicht geschrieben, was ich schon so oft darin habe lesen können: Mein Sorgenkind. Lange Zeit kam es mir vor, als prangte dieser Titel wie ein Brandmal auf meiner Stirn. Erst durch Jesus habe ich endlich eine neue Identität gefunden. Doch genau das hat mich in die jetzige Lage gebracht und genau das bestätigt meine Familie in dieser Zuschreibung.

Liebe, Sorge und Ernst. Sie haben sich bei Baba tief in die Stirnfalten unterhalb der ergrauten Haare eingegraben. Auch in Mamas Gesichtszügen sind sie deutlich erkennbar. Ich liebe meine Familie. Ich habe Sorge, wie es weitergehen wird.

Mein Vater sitzt mit ernster Miene auf dem Sofa und schaut mich durchdringend an. »Stimmt es?« Er macht eine kurze Pause, als hoffe er, ich würde verneinen, noch bevor er das für ihn Furchtbare aussprechen muss. »Dass du Christ bist?«

Alle Blicke liegen auf mir. Liebe, Sorge, Ernst.

Meine widerstreitenden Gefühle und Gedanken wirbeln durcheinander: Wen liebst du mehr? Wovor hast du Angst? Ist das alles dein Ernst?

In diesem Moment wird mir vollständig bewusst, wie ernst es wirklich ist. Meine Antwort wird alles verändern.

2

ZERRISSEN ZWISCHEN PARTY UND PRINZIPIEN

2024

Der Wischmopp hinterlässt schimmernde Schlangenlinien auf dem dunklen Parkett. Als ich mit dem Bodenlappen das Ende des Treppenabsatzes erreiche, richte ich mich auf und schaue auf die nasse Spur. Das gesamte Treppenhaus glänzt sauber.

Erster Abschnitt fertig! Weiter geht’s.

Ich zücke mein Handy und suche eine neue Worship-Playlist aus. Meine Wahl fällt auf moderne Pop-Interpretationen – ein bisschen mehr Beat und ein gutes Stück lauter. Motiviert steppe ich zur Putzkammer, um von dort den Staubsauger zu holen. Bevor ich den Sauger anstelle, halte ich jedoch inne.

Es ist Zeit für ein kurzes »Stand-by« bei meinem freiwilligen Putzdienst: Im Stockwerk über mir steht die Tür zum Gottesdienstsaal offen und dieses Wissen verlockt zu einer Pause. Diese Unterbrechungen sind schnell ein wertvolles Ritual während meiner überschaubaren Putzeinheit in unserer Kirchengemeinde geworden. Wenn ich das Gotteshaus schon »für mich allein« habe, dann möchte ich auch Quality Time mit Gott haben.

Ich steige die Stufen hinauf ins Erdgeschoss und gehe direkt auf die breiten Holztüren zu. Zuerst stoppe ich das Lied und ziehe die Kopfhörer ab. Dann betrete ich andächtig den großen Raum. Gerade ist er menschenleer. Doch jeden Sonntag finden hier nacheinander drei Gottesdienste statt und bei allen ist das Kirchenschiff gut gefüllt mit Besuchern.

Mein Blick wandert über die vielen Stuhlreihen, während ich in einer der hinteren Platz nehme. Mit einem glücklichen Seufzer atme ich aus und nehme den Saal um mich herum wahr. In den Gemeinderäumen, ganz allein, fällt es mir besonders leicht, Gott zu loben und zu danken. Zum einen, weil ich nicht abgelenkt werde. Zum anderen, weil alles um mich herum mich an meinen himmlischen Vater erinnert und daran, was er für mich getan hat.

Unter meinen Schuhen entdecke ich angetrocknete Erde auf dem eingefassten Teppichboden. Irgendwie freue ich mich jedes Mal, wenn ich in diesem Gebäude auf Dreck stoße. Es zeigt, dass hier Leben im Haus ist. Dieser Dreck ist ein Bild dafür, dass jeder so kommen darf, wie er ist. Auch mit schmutzigen Schuhen wird man nicht weggeschickt. Stattdessen ist es in Ordnung, wenn man den Schmutz hier zurücklässt.

Leider klappt das nicht in allen Gemeinden – und keine ist perfekt. Wir Christen versagen häufig darin, jeden Menschen bedingungslos anzunehmen und liebevoll miteinander umzugehen. Doch es ist trotzdem ein passendes Bild dafür, wie Kirche gedacht ist, wofür sie bestimmt ist. Denn bei Gott durfte ich schon oft meinen persönlichen Schmutz loswerden und ihm die Beseitigung meiner Schuld überlassen.

Echt krass, bete ich in Gedanken. Dass ich hier ein Zuhause gefunden habe. In der Gemeinde fühle ich mich wohl und ich bin so happy, Teil des großen Ganzen zu sein.

Als einziger Anwesender wirkt man etwas verloren in dem weiten, stuhlreichen Saal, doch ich fühle mich alles andere als verloren. Stattdessen kommt mir der hohe Kirchenraum wie eine schützende Kuppel der Geborgenheit vor. Hier nehme ich noch stärker wahr, was überall gilt: Gott ist immer da. Er sieht mich überall. Dass dieser Gedanke ein Gefühl von Sicherheit und Freude auslöst, ist für mich nicht selbstverständlich. Absolut nicht! Lange Zeit hatte die Vorstellung von einem allwissenden und alles sehenden Gott allem voran bedrohlich auf mich gewirkt …

Ich schaue zu den langen, schmalen Kirchenfenstern hinauf. Die Räumlichkeiten der Gemeinde wurden renoviert und modern ausgestattet. Der Bau erscheint wie eine Mischung aus einem schlichten Kirchengebäude und einem sehr großen Haus. Viele Kirchen in Deutschland sind ja schon mehrere Hundert Jahre alt, doch diese wurde erst im letzten Jahrhundert gebaut. Später kamen der Foyer-Vorbau und ein großer Anbau hinzu. Mir gefällt, dass die Tradition alter Kirchen in diesem Gotteshaus übernommen wurde und sich bunte Muster und Symbole in den Fenstern befinden. Das hereinfallende Sonnenlicht bringt die satten Farben zum Leuchten.

So, wie es bei uns sein soll, denke ich, halb bei mir, halb an Jesus gerichtet. Gottes Kinder sind wie die Fenster: Wenn das Licht von Jesus durch uns hindurchscheint, dann leuchtet auf, was er in uns hineingelegt hat. Und unsere Mitmenschen können dadurch einen Teil von Gottes Wesen sehen.

Bewundernd lasse ich die intensiven Farben auf mich wirken und folge mit dem Blick den Linien und Kanten. Schließlich bleibt er an dem runden Fenster hängen, das aus vielen kleinen, einzelnen Glaselementen Bilder formt. In der Mitte bilden sie ein Kreuz. Viele einzelne Teile … Bruchstücke und Scherben, die ein rundes Ganzes bilden. Wie mein Leben: ein Gebilde, das noch lange nicht fertig ist und sich aus vielen Bruchstücken zusammensetzt.

Eigentlich bin ich ein völlig normaler Typ. Einer von Abertausenden Menschen, die im Laufe ihres Lebens Umbrüche erlebt und sich in eine unerwartete Richtung entwickelt haben. Ich war Muslim, jetzt bin ich es nicht mehr. Ich war nie ein »guter« Gläubiger und auch das macht mich nicht besonders. Ich habe nichts Bemerkenswertes geleistet oder mich durch Eigenschaften hervorgehoben. Aber Gott hat mich bemerkt und das hebt sich in meinem Leben ab. Er hat mich gesehen und gewollt.

Meine Geschichte sticht nicht heraus aus all den Berichten voller Wunder, in denen Jesus Menschen lebensverändernd begegnet ist. Sie erzählt weder von einem Glaubenshelden noch von einer Zeitenwende. Aber es die einzige Geschichte, die ich aus erster Hand erzählen kann. Es ist die persönliche Geschichte von einem großartigen Gott und einem einfachen Menschen.

Wie das Kirchenfester setzt sich mein Leben aus vielen Bruchstücken zusammen. Es erzählt von viel Angst und Verdrängung, von Scheitern und Verzweiflung. Und es zeigt Brüche, durch die jenes Licht scheint, das alles verändert hat …

Sommer 2014

Der Bass wummerte übertrieben laut in dem breiten Raum. Ich genoss das Dröhnen und die Vibration der Musikwellen, die meinen Körper durchfluteten, als sei er eins mit der Musik und dem gesamten Klub.

Die Disco war so ganz meins, hier tauchte ich vollständig ab und ging vollkommen darin auf. Samstagnacht bedeutete: Showtime! Die Zeit des Verdrängens, auf die ich die ganze Woche über gewartete hatte, um mich endlich gut und richtig zu fühlen und die Selbstzweifel zu vergessen. Meine Showtime, in der alles mehr Schein als Sein war. Die Klubs eröffneten mir eine Welt, in der ich mich auskannte, in der ich jemand sein konnte, in der die Wände beben durften.

Selbstsicher bewegte ich mich im Takt und scannte die Tanzfläche ab. Rasch checkte ich ab, wer sich im Nachtleben auskannte, und filterte die Frauen heraus, die dem heißen Rhythmus des DJ-Mixes zu folgen wussten. Mein Blick fiel auf eine hübsche Blondine, ungefähr Mitte zwanzig wie ich, in einem weißen, eng anliegenden Kleid und schwarzen Plateauschuhen.

Perfekt! – Wie wenn mein Partyinstinkt es gewittert hätte. Er hatte aus meinem gut ausgestatteten Kleiderschrank ein stylishes, weißes T-Shirt und eine schwarze Jeans ausgesucht. Während ich das attraktive Partygirl beobachtete, wuchs mein Selbstvertrauen. Mein Gespür sagte mir, dass ich gute Chancen hatte. Die Parfümwahl, die sitzende Gel-Frisur, das Goldkettchen – ich hatte mich richtig entschieden.

Ihr Blick streifte mich und blieb hängen.

Bingo! Ich setzte ein charmantes Lächeln auf. Sie grinste und schaute rasch weg. Ich werde ihre Nummer bekommen – garantiert!

Zaid nickte mir zu. Mein bester Freund groovte mir gegenüber zur Musik und hatte den Blickwechsel mit der Frau mitbekommen. Mit einem Zuzwinkern bestätigte er mich in meiner Wahl.

»Ich hole die nächste Runde und komme nach«, verkündete er.

Ich hob den Daumen und der Iraker verschwand in der sich wild bewegenden Menschenmenge in Richtung Bar. Auf ihn konnte ich mich verlassen. Wir waren ein eingespieltes Team.

Zeit für die dritte Runde Drinks. Immerhin hielten wir uns bereits seit einer Stunde in der Disco auf. Der angenehme Rauschpegel vom Vorglühen musste gehalten werden. Solange der Alkohol ausreichend floss, folgten auch die Bewegungen viel leichter und der Rausch gaukelte mir vor, alles zu haben, was ich brauchte, um alles zu bekommen, was ich gerade wollte.

Zielstrebig schob ich mich mitwippend zum Rhythmus durch die Partymasse. Bei der Freundinnengruppe angelangt, tanzte ich die Blondine an. Mittlerweile hatte ich die passende Mischung raus: entschlossen, flirtend, spielend, ohne aufdringlich zu wirken.

Wenn ich doch alles in meinem Leben so gut hinbekommen würde …

Stattdessen bekam ich meinen Alltag außerhalb des Nightlifes einfach nicht unter Kontrolle. Und meine Leidenschaften am Wochenende brachten die entscheidendste Waage meines Lebens in eine äußerst ungute Schieflage … Woran ich jetzt auf keinen Fall denken wollte! Jetzt war Serkans Zeit!

Als Zaid sich mit drei Bechern, einer Flasche Wodka und einigen Dosen Energydrink zu uns gesellte, hatten die Frau in Weiß und ich schon ein paar Sätze über den Lärm hinweg ausgetauscht. Noch bevor ich die erste Mischung leerte, war ihre Handynummer abgespeichert. Morgen würde ich sie anrufen und mich mit ihr verabreden. Zufrieden wippte ich hin und her.

Da flammte plötzlich wieder dieses ungute Gefühl in mir auf. Bekannte Zweifel meldeten sich. Mit schmerzhaften Bissen nagte das Gewissen in mir: Was tust du hier, Serkan? Macht so etwas ein guter Muslim?! Du weißt die Antwort! Dafür kommst du in die Hölle!

Rasch nahm ich einen großen Schluck aus dem Becher. Doch das verstärkte meine Gedankenkrise nur noch mehr. Alkohol, Sex, Party bis zum Anschlag …, die innere Stimme führte Strichliste. Es fühlte sich an, als kratzte das Gewissen die Striche tief und für immer sichtbar in meine Seele. Und keine gute Tat, kein Gebet, keine Wiedergutmachung schien auszureichen, um die Aufzählung je ganz auslöschen zu können.

Jedes Wochenende dasselbe Spiel. Du spielst mit deinem Leben nach dem Tod! Wo willst du enden? Was willst du Allah am Ende vorweisen? Deine Trinkfestigkeit? Deine Menge an One-Night-Stands?, höhnte das anklagende Gefühl.

Noch einen Schluck und noch einen. Endlich erstickte der zu Kopf steigende Rausch die Anklage und der Bass dröhnte stärker als mein vor Angst bebendes Herz. Alles Unangenehme ließ sich zuschütten mit dem Glück der Nacht, selbst die verborgene Leere in meinem Innersten füllte sich. Auch wenn ein Teil von mir wusste, dass das nicht sehr lange anhalten würde. Ich war mittlerweile gut darin, dieses Wissen zu verdrängen.

Nach mehreren Mixrunden und einer weiteren Kontaktnummer in Zaids Handy brachen mein Kumpel und ich zum nächsten Nachtlokal der Großstadt auf. Bei peppiger R’n’B-Musik versanken wir dort in der ausgelassenen Atmosphäre zwischen all den Menschen, die nur das Hier und Jetzt genießen wollten.

Das ist ja auch alles, was wir haben. Ich lebe nur einmal – dann will ich es wenigstens ordentlich krachen lassen!

Kurz vor vier Uhr tauchten wir schließlich wieder aus der Parallelwelt auf. Noch auf der Stimmungswelle der erhöhten Promille und elektrisiert von den Beats taumelten Zaid und ich beschwingt zur Straßenbahn. Zwei Umstiege später erreichten wir unsere Haltestelle. Zaid wohnte, wie ich, noch bei den Eltern und im Mehrfamilienhaus gegenüber von meinem Zuhause. Auf dem Gehsteig verabschiedeten wir uns und ich stapfte, einen Ohrwurm vor mich hin summend, die letzten Schritte zur Eingangstür.

Die frische Morgenluft strich angenehm über meine schweißbenetzte Haut. Das Parfüm hatte sein Versprechen gehalten, denn selbst jetzt stieg mir noch ein Hauch von herbem Sandelholz in die Nase.

Alles richtig gemacht!, lobte mich mein schwirrender Kopf. Unkoordiniert kramten meine Finger den Schlüssel des Mehrparteienhauses aus der Hosentasche. Als ich ihn im Schloss herumdrehte, verschwand mein Schatten, der eben noch hinter mir auf die Eingangsstufen gefallen war. Meine Hand hielt sich am Schlüsselende fest, während sich der Oberkörper ein Stück zurücklehnte.

Das Licht vom Fenster im dritten Stock war erloschen. Papa hatte auf meine Rückkehr gewartet. Wie immer. Er ließ es sich nicht ausreden, auf Nummer sicher zu gehen, dass sein Sohn innerhalb des üblichen Zeitrahmens heimkam. Und ich hatte es insgeheim gerne akzeptiert. Es war irgendwie ein gutes Gefühl, dass mich jemand erwartete und sich darüber freute, wenn ich wieder da war.

Mit einem leisen Seufzer des Glücks und der Müdigkeit schob ich die Tür auf, stolperte in den Flur hinein und die Treppen hinauf. Ich passierte die Wohnungstür meiner Eltern und kämpfte mich die letzten Stufen ins Dachgeschoss zu meinem separaten Zimmer hoch. Nur die Jeans streifte ich noch ab, bevor ich samt weißem Shirt bäuchlings auf der weichen Matratze landete.

Alles falsch gemacht, kommentierten Kopf und schlechtes Gewissen, noch bevor ich die Augen aufbekommen konnte. Mein Katerschädel applaudierte hämisch. Es dröhnte in meinem Kopf, als ob der Beifall mehrfach widerhallte.

Ich wollte nichts davon hören. Ich wusste doch eh, dass ich als Muslim wieder einmal versagt hatte. Alkohol, Partys, Lust und Sex – es waren immer wieder dieselben Laster, die mit ihrem Gewicht die falsche Seite der Waage belasteten. Meine Wochenendsünden würde ich niemals unter der Woche wieder mit guten Taten ausgleichen können, dafür lebte ich viel zu wenig konsequent und glaubenskonform.

Ich ging zwar an den meisten Freitagen mit meinem Vater in die Moschee zum Beten, aber ich betete nicht fünfmal am Tag, wie es ein frommer Muslim tun sollte. Während des Monats Ramadan fastete ich, allerdings auch nicht konsequent. Ich gab gerne Bedürftigen etwas von meinem Wohlstand ab und auch das Glaubensbekenntnis hatte ich gesprochen. Sicherlich würde ich irgendwann einmal auch die vorgeschriebene Pilgerfahrt nach Mekka unternehmen. An sich erfüllte ich somit den Großteil der entscheidenden Prinzipien eines Muslims.

Doch mir war sehr wohl klar, dass ich den fünf Säulen des Islam damit noch lange nicht gerecht wurde. Und selbst wenn ich meinen Lebensstil ändern und nicht mehr dauernd einen draufmachen würde, hätte ich trotzdem keine Garantie, dass es am Ende reichte. Keine Gewissheit, dass es genügte, um vor Allah zu bestehen und den Rest aller unendlichen Zeiten an einem schönen Ort zu verbringen. Allah war barmherzig, aber ebenso unberechenbar.

Momentan reichte schon ein kurzer Blick auf die imaginäre Waage, die meine vorbildlichen und weniger vorbildlichen Taten in ihren beiden Schalen abglich, und ich konnte eins und eins zusammenzählen: Meine Chancen standen eher ungünstig. Und das bedeutete fatale Konsequenzen für das Leben nach dem irdischen Leben.

In den Himmel schaffst du’s wohl kaum. Und das bedeutet, du wirst Brennholz für das Höllenfeuer … Das waren zu heftige Gedanken für einen dröhnenden Schädel! Ich wollte nicht darüber nachgrübeln – nicht schon wieder und vor allem nicht in diesem Zustand. Nicht wieder in Sorge und Angst versinken.

Zum fünften Mal wälzte ich mich im Bett herum und hoffte, mich noch einmal in den Schlaf flüchten zu können. Doch schließlich meuterten auch die umgewandelten Shots am Ausgang. Also quälte ich mich aus dem Bett, um in den kleinen, angrenzenden Toilettenraum zu wechseln.

Von dem strahlenden Spiegelbild, das mir gestern zum Abschied zugezwinkert hatte, hatte sich nur der Glanz des Haargels gehalten. Die schwarzen Strähnen standen wirr nach allen Seiten ab. Seufzend kapitulierte ich vor dem elenden Anblick, der um eine Dusche bettelte. Im Zimmer schnappte ich mir eine Jogginghose und ein frisches Shirt, die ich mit hinunter in den Wohnbereich meiner Eltern nahm.

Papa las im Wohnzimmer, Mama hantierte in der Küche. Ein verlockender Duft zog durch die Ritze zwischen Tür und Schwelle. Rasch bog ich ins Bad ab.

Seit der mittlere Bruder aus dem Dachgeschoss ausgezogen war, das einst der älteste für sich eingerichtet hatte, besaß ich mein eigenes, kleines Reich. Dort konnte ich unabhängig meinen Alltagsrhythmus ausleben, ohne meine Eltern zu stören. Aber ebenso gerne verbrachte ich Zeit mit ihnen in der Wohnung, in der ich groß geworden war. Außerdem befanden sich hier das gemeinsame Bad und die Küche, hier wohnten Gemütlichkeit und Geborgenheit.

Einigermaßen ansehnlich verließ ich das Bad und wurde von köstlichen, würzigen Gerüchen empfangen. Meine Mutter hatte die Küchentür weit geöffnet – vermutlich, um das schwarze Familienschaf anzulocken. Wie immer mit Erfolg. Ich linste um die Ecke auf den Esstisch, den Mama gerade deckte. Die Uhr an der Wand bestätigte meine Vermutung, dass die übliche Zeit zum Mittagessen eigentlich längst vorüber war. Der Duft von angebratenem Fleisch und kräuterreichen Soßen besänftigte ein wenig den tobenden Kater in meinem Kopf. Mein Magen knurrte. Mama war einfach die Beste!

Kurz darauf saßen wir zu dritt am Tisch um das vorbereitete Essen. Mit hängendem Kopf schaufelte ich mir löffelweise Reis mit Fleisch und Soße in den Mund. Noch war der Schädel zu schwer für meinen müden Nacken und auf diese Weise musste ich auch niemandem in die Augen sehen.

Papa fing ein unverfängliches Thema an und wir redeten eine Weile über die Bundesliga und über den Verein, in dem ich eine lange Zeit gespielt und Kerem mich trainiert hatte. Dank dem guten Essen und ausreichend Kaffee ordnete sich mein Verstand und die Schmerzen beim Denken ebbten immer mehr ab. Ich hatte es gestern nicht allzu sehr übertrieben.

Doch das Gespräch steuerte unaufhaltsam auf ein Thema zu, das mir noch nie gut bekommen war. Es driftete von einem vorbildlichen Bruder zum anderen und landete schließlich bei Deniz’ erfolgreichen Projekten im Laufe seiner technischen Berufskarriere.

Die Latte hing hoch. Es kam mir so vor, als ob ich an einem Wettkampf im Stabhochsprung teilnehmen und ohne Stab das Ziel erreichen müsste. Schon beim Anlauf war ich ins Stolpern gekommen – aber Aufgeben war für mich keine Option. Ich wusste, ich konnte viel erreichen, wenn ich nur wollte und dranblieb. Nach dem Abschluss der Hauptschule hatte ich die Berufsfachschule hinten drangehängt. Mit der Mittleren Reife in der Tasche war ich zuversichtlich ins Bewerbungsrennen gesprintet, das letztlich zu einem Marathon ausartete. Etwa hundert Bewerbungen hatte ich versendet.

Mein Vater war von der Türkei als Gastarbeiter nach Deutschland ausgewandert, um in der technischen Industriebranche Fuß zu fassen und seiner Familie ein angenehmes Leben zu ermöglichen – mit Erfolg. Seine beiden ersten Söhne zogen ins gleiche Berufsfeld ein – ebenfalls erfolgreich. Nur der Nachzügler verschickte Bewerbung um Bewerbung für einen Ausbildungsplatz in Richtung Industrie, Einzelhandel, Großhandel, Bankwesen – ohne Erfolg.

Ob es an meinem türkischen Namen lag, an der Hauptschulzeit in meinem Lebenslauf oder einem anderen vorurteilsbeladenen Faktor, wusste keiner. Jedenfalls resultierten aus hundert Anschreiben nur sieben Vorstellungsgespräche. Letztlich war ich als angehender Einzelhandelskaufmann im Mobilfunkverkauf gelandet. Auch wenn mir die Beratung unerwarteterweise Spaß gemacht hatte, hatte das den Frust nicht wirklich wettmachen können. Vor allem nicht den meiner Eltern.

Auf meine erste Ausbildung war eine Suche nach der anderen gefolgt. Die Job-Odyssee hatte mich durch verschiedene Branchen und Bereiche geführt und legte die Befürchtung nahe, dass auch meine jetzige Anstellung in einem Maschinenbauunternehmen, die ich nun seit immerhin zweieinhalb Jahren hatte, nicht von Dauer sein würde. Meine Familie war mit dem Stand der Dinge ohnehin nicht zufrieden. Zwischen meinem aktuellen Status und der hoch hängenden Latte befand sich noch eine Menge Luft.

Beim Nachtisch erkundigte sich Papa also wieder einmal, ob ich es erneut bei dieser oder jener Firma versucht hätte. Ich nickte nur und stocherte mit dem Teelöffel in der süßen Creme herum. Er meinte es gut. Papa meinte es immer nur gut. Aber es tat mir nicht gut, wenn meine Familie allein ihre Vorstellungen zum Maßstab machte. Wenn sie festlegten, was allgemein und somit auch für mich gut sei. Was ich dazu dachte oder gar wollte, wurde gar nicht gefragt. Der Jüngste sollte von den Erfahrungen der Älteren profitieren, davon lernen und ihnen nacheifern – diese Rechnung ging nur leider nicht auf.

Irgendwann hatte ich den letzten Rest der zuckrigen Paste aus dem Schälchen herausgekratzt und brummte, dass ich mich noch mal hinlegen würde. Mama tätschelte mir die Schulter und Papa schaltete nickend den Fernseher an.

Im Bett kramte ich mein Handy hervor und schrieb den neu abgespeicherten Kontakt an. Nach wenigen Minuten antwortete die attraktive Bekanntschaft von letzter Nacht. Ein paar flirtende Nachrichten später hatten wir uns für ein Wiedersehen gleich heute Abend verabredet. Bis dahin würde ich genug Zeit haben, um mich frisch zu machen. Ich sendete Zaid noch unser Code-Emoji, um ihm mitzuteilen, dass die kommende Nacht erfolgreich verplant war, und atmete erleichtert aus. Es ging doch was in meinem Leben!

Doch in dem Moment zerrte plötzlich wieder das schlechte Gewissen an meinen Plänen. Kurz folgte ein inneres Tauziehen, eine Zerreißprobe zwischen Party und Prinzipien, zwischen Vergnügen und vorbildlichem Leben, zwischen Genuss und Glaubensregeln.

Eilig sprang ich aus dem Bett in der Hoffnung, die Sorgen dort zurückzulassen. Im Bad schaltete ich um. Je mehr ich mich mit meinem Style auseinandersetzte, desto mehr wuchs die Vorfreude auf den Abend. Mit zwei Sprühern aus der Parfümflasche vertrieb ich die letzten Zweifel. Der Duft hüllte mich in aufgetragenes Selbstbewusstsein ein und ich zeigte meinem Spiegelbild ein lässiges Lächeln.

Der Tanz kann beginnen.