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Schamanische Rituale für Schutz und Stärkung Wenn wir uns angegriffen, bedroht oder schwach fühlen, kann ein heilsames und stärkendes Ritual uns Schutz und Kraft verleihen. Auf der Grundlage ihrer langjährigen Erfahrung mit schamanischen Praktiken gibt Nana Nauwald dazu eine einfach nachzuvollziehende praktische Anleitung. Das Ziel ist Wandel: von energetischer Schwäche zu energetischer Stärke, vom Zustand innerer Ungeschütztheit zum Zustand des Bewusstseins um die eigene Schutzkraft. Denn Schutz kommt von innen, nicht von außen! Ein Inspirationsbuch, welches das Feuer der inneren Wandlung entzündet. Ein Wegbegleiter, um herausfordernde Lebenssituationen mit schamanischen Ritualen kreativ, sinnesbewusst und selbstverantwortlich zu meistern.
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Seitenzahl: 263
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Hinweis
Der Vogel zeigt zusammenfassende Einsichten und Informationen an.
Die Schlange zeigt praktische Übungen an.
Adressen derjenigen, die ihre Wandlungsrituale für dieses Buch gegeben haben, finden sich im Anhang des Buches.
Schamanische Rituale – Feurige Spiralwinde der Wandlung
Sinneswandel
Schamaninnen, Medizinfrauen, heilige Frauen, Ritualfrauen – Wer ist was und warum?
Bereitsein: das Öffnen der Sinne
Einstimmung
Bewusste Wahrnehmung: Sinnesorgane sind Resonanzorgane
Empfindung und Stimmigkeit – Anregungen zur Wahrnehmung
Empfindung der Verbundenheit
Lauschen und Schwingen – Die blinden Seher
Empfindung von Klang
In mir klingt die Welt
Im Gesang des Vogels ersingt sich die Welt
Rituale der Wandlung
Warum, wie und wo will ich das Ritual ausführen?
Wo?
Der stimmige Ort
Der stimmige Raum
Der stimmige Ort draußen
Lärm als Lehrmeister
Das Ritual – Der Beginn
Das Ritual – Der Schluss: das Öffnen des Kreises
Gedanken über das rituelle Danken
Links herum, rechts herum?
Klang, Worte und Gesten als wirkungsvolle Ritualwerkzeuge
Ritualinspirationen zum Entzünden des inneren Wandlungsfeuers
Eine kleine Klanggeschichte der Vertreibung von Übeln
Das Klausen-Schellenritual
Schutz kommt von innen, nicht von außen
Federleicht und baumstark – Rituale für energetische Stärkung
Großmutter Buche – Ein Ritual der Wandlung
Vom Wandel unruhiger Geister: schamanische Schutzstäbe
Rituale sind Geschenke
Zaubersprüche
Rituale für Schutz und Stärke aus der Schamaninnenwelt Nepals
Rituelle Opfergaben
Singen und Rauchen – Schutzrituale eines peruanischen Schamanen
Anblasen, Behauchen – Heilung, Schutz und Abwehr
Gesänge für Schutz und Abwehr
Das Salz des Wandels: Innere Konflikte bei sich selbst heilen
Ritual der Wandlung für Konfliktsituationen
Es riecht nach Schamanismus
Feuerfrau tanzt
Birkenfeuergedanken
Ich entzünde ein Feuer
Dank
Zur Autorin
Literatur
Verzeichnis der Rituale und Übungen
»Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum.
Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch.
Oh, der ich wachsen will,
ich seh’ hinaus, und in mir wächst der Baum.«
Rainer Maria Rilke
Meinem Lehrer, dem Shipibo-Schamanen Reshin Nika in Dankbarkeit gewidmet.
»Suspiritus«, Gemälde von Nana Nauwald.
»Entfaltung«, Gemälde von Nana Nauwald.
Deutscher Herbst. Pfeifend tanzen die Winde über abgeerntete Felder in der Lüneburger Heide. Frierend hüllt sich der kleine, stämmige peruanische Schamane enger in seinen gestreiften Poncho, pfeift leise in den Wind. Dieser versteht das Pfeifen des Schamanen als Aufforderung und verstärkt seinen Windgesang.
Der Schamane trotzt dem kalten Wind, steht unbeirrt pfeifend in der Mitte einer großen Spirale aus Feldsteinen. Neben ihm brennt in einer Tonschale ein kleines Feuer. Der Wind lässt den Rauch des im Feuer verbrennenden Kopalharzes um den Schamanen herum tanzen. Schweigend legen dreiundzwanzig Frauen und Männer weiter Stein an Stein, die Spirale wächst.
Neben dem Feld hält ein Trecker, der Bauer steigt ab und kommt auf mich zu. Wir kennen uns, es ist Bauer Beeken, er ist aus meinem Dorf. Seiner besonnenen norddeutschen Natur entsprechend nickt er mir schweigend zu, stellt sich neben mich, sieht sich aufmerksam unser Treiben an.
»Ist das nun Kunst oder wieder so ein Ritual, wie du das manchmal bei euch im Wald machst?«, fragt er nach einer Weile.
»Ein Ritual«, antworte ich und wundere mich, dass der Bauer meine Rituale im Wald bemerkt hat. »Der Mann dort kommt aus Peru, er ist ein Schamane, ein Heiler. Er wird uns zeigen, was wir machen können, wenn wir uns schwach fühlen und neue Kraft brauchen.«
»Du meinst, wenn du neben dem Wind bist? Das kenne ich.«
Staunend blicke ich den alten Bauern an, eine so private Aussage hat er mir gegenüber noch nie gemacht. Wie treffend er das ausgedrückt hat, worum es uns bei diesem Ritual geht: zu bewirken, nicht mehr »neben dem Wind« zu sein, sondern mit dem Wind zu sein, im Wind zu sein, Wind zu sein.
»Der Frühmensch profitiert davon, dass er zumeist fast alle Griffe kann, die er zur Selbsterhaltung braucht, während er alles, was nicht gekonnt werden kann, im Schutz von Ritualen mehr oder weniger routiniert übersteht. Nehmen Sie an, die Sintflut fällt vom Himmel auf Ihr Blätterdach, dann können Sie, wenn sich das Unwetter überhaupt überstehen lässt, es besser überstehen, wenn Sie ein Lied für den Wettergott rezitieren. Es ist nicht wichtig, dass Sie selber Wetter machen können, sondern dass Sie eine Technik kennen, bei schlechtem Wetter in Form zu bleiben; es muss in Ihrer Kompetenz liegen, auch dann etwas zu tun, wenn man ansonsten nichts tun kann.
In Ritualen spüren die Menschen der Frühzeit den existenziellen Boden unter den Füßen: Rituale besitzen die Macht, eine ansonsten nicht zu meisternde Welt in Ordnung zu bringen.«
Peter Sloterdijk, SZ-Magazin, Heft 34/2009
Die Augen des Bauern verfolgen den Weg der Steine vom Ackerrand in die Spirale. »Und um euch besser zu fühlen, macht ihr eine Spirale aus Steinen?«
»Ja.«
»Na ja«, Bauer Beeken verschiebt seine grüne Schirmmütze und kratzt sich mit nachdenklicher Miene am Hinterkopf, »mit Steinen haben sie in alter Zeit hier ja schon immer so Sachen gemacht. Da hinten in der Oldendorfer Totenstatt sind auch noch so lange Gänge mit Steinen auf den Hügelgräbern.« Der Bauer weist mit seiner schwieligen Hand in die Richtung, in der sich die Mittagssonne hinter den grauen, dunklen Wolken verbirgt.
»Der Mann da aus Peru«, der Bauer nickt dem immer noch pfeifend im Mittelpunkt der Spirale verharrenden Mann zu, »der kennt doch unser Land hier gar nicht. Er weiß nicht, was auf diesem Feld gewachsen ist. Und unsere Sprache kann er bestimmt auch nicht, oder?«
Ich schüttele verneinend den Kopf.
»Dann weiß er auch nicht, wie wir hier so denken. Wie kann er euch dann zeigen, was ihr machen sollt?«
Verlegen suche ich nach einer Antwort, ohne einen Grundsatzvortrag über Schamanismus und seine Wirkweisen zu halten.
»Der weiß das schon, der ist hellsichtig«, sage ich nur.
Der alte Bauer kneift die Augen zusammen, fixiert neugierig und eindringlich den Schamanen, nickt ihm noch einmal zu, dreht sich um und geht.
»Dann macht man das gut«, ist sein knapper Abschiedsgruß.
Als er wieder auf dem Trecker sitzt, beugt er sich noch einmal heraus und ruft in den Wind: »Aber die Steine, die legt ihr hinterher wieder dahin, wo ihr sie weggenommen habt.« Ich hebe bestätigend den Arm.
Bauer Beeken, ein Mann ohne theoretisches Wissen über Schamanismus, ohne die Erfahrung von schamanischen Ritualen. Aber mit der Erfahrung einer lebenslangen Verbindung zur Natur – und das sicherlich nicht nur als Produzent landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Aus dieser im Alltag gelebten Verbindung mit der Natur heraus hat er mit seinen Fragen einige der grundlegenden Fäden im Gewebe eines schamanischen Rituals berührt:
Alle Erscheinungen von Leben haben einen Geist, sind Anteil des Urgeistes und sind miteinander verbunden.
Der »Geist von etwas« kann sich in vielfältiger Erscheinung, in vielfältiger Form, als Information zeigen.Wer ein Ritual im Kontext schamanischer Weltsicht durchführt, muss »zu Hause« sein in diesem geistigen Feld, aus dem heraus bewusst, absichtsvoll, heilsam gewirkt werden soll.Die so rituell Wirkende erschafft und verändert Wirklichkeit durch ihr Tun und belegt die Erscheinungen von Wirklichkeit mit Bedeutung.Das bewusste Wirken geschieht aus dem egofreien, offenen, wachen Innen und aus der Verbindung mit heilsamen Kräften heraus; es ist nicht abhängig von äußeren Ritualattributen.Die im Ritual wirkende Person muss in der Lage sein, bewusst die Zugänge zu den Räumen der Wirklichkeiten zu öffnen, zu schließen und sich willentlich in und zwischen den Räumen zu bewegen.Der peruanische Curandero Don Eduardo Calderon Palomino arbeitete vorzugsweise mit der Spirale, mit dem »Wirbel der Entfaltung«. Die bewusste Arbeit mit der Spirale sah er als ein zentrales Zeichen an, das wie kein anderes die Energien auf die Entfaltung des »inneren Ichs« konzentrieren – und zu tiefgreifenden Wahrnehmungsveränderungen führen kann. Abbildungen von Spiralen in allen Kulturen der Welt aus der Frühzeit der Menschheit erzählen von diesem Wissen.
Achtzehn Jahre sind vergangen, seit mich der Schamane von der Küste aus dem Norden Perus in die Erfahrung der Spirale der Wandlung geführt hat. In diesem Ritual haben Absicht, Konzentration, Bewegung, Klang und Feuer mein inneres Lebensfeuer so verwirbelt und aufs Neue entfacht, dass Unstimmiges vergehen konnte – und neues Wachstum sich entfaltet hat.
Manchmal, wenn ich ganz in meiner Kraft bin, fühle ich mich wie die Feuerfrau aus einem Südsee-Märchen: Ehe die Menschen das Feuer kannten, beherrschte nur sie, die alte Muhme in der Bucht einer der vielen Inseln, im Geheimen die Kunst, Feuer zu machen. Sie erzeugte das Feuer in sich selbst und zog es aus ihrem Körper, um damit ihre Speisen zu kochen.
So habe ich nach und nach gelernt, mein inneres Feuer selbst zu entfachen, wenn es zu niedrig brennt, und meinen eigenen Phoenix immer wieder neu aus der Asche meiner Transformation aufsteigen zu lassen. Manchmal ziehe ich auch das Feuer aus mir heraus – und verteile seine wandelnde Wärme in der Welt! Dazu möchte ich auch über dieses Buch anregen und ermutigen:
das eigene Lebensfeuer zu entdecken, zu achten, zu stärken und immer wieder neu zu entfachen,
mit dieser inneren Feuerkraft bewusst zu leben und die Energie dieses heilsamen Feuers weiterzugeben,
den Tanz der Feuerfrau mit Lust und eigenen Schritten zu tanzen.
Wie der Geist all derjenigen, die mich auf vielfältige Weise vertraut gemacht haben mit der Wirkungskraft schamanischer Rituale, so ist auch der Geist dieses Schamanen mit meinem Geist verwoben. So trage ich in meinem Wirken auch die durch sein Wirken erfahrene Qualität von Geist weiter.
In meinem vielfarbigen Lebenswirken geht es mir nicht um ein an Vergangenheit orientiertes Schamanentum, nicht um Imitation oder Übernahme der Rituale indigener schamanischer Kulturen, sondern um ein mir und meinem Lebensraum entsprechendes, heilsames Tun, das vom Geist des Schamanismus gespeist wird.
Schamanen-Tun statt Schamanen-tum.
Wandel durch Wirken.
Werden durch Wirken.
Wachsen durch Wirken.
Bewirken von Wirklichkeiten.
Vielfach habe ich in den letzten siebenundzwanzig Jahren die mächtige Wirkkraft schamanischer Rituale erfahren, vielfach möchte ich sie mit diesem Buch als Inspiration zum »heilsamen Tun« weitergeben. So reihe ich mich ein in den Kreis all derjenigen, die gestern und heute und morgen daran arbeiten, heilsamen Geist in das Bewusstseinsnetz des sichtbaren und nichtsichtbaren Lebens einzuweben. Ich webe mein individuelles Seinsmuster bewusst ein in das große Lebensgeflecht der Gemeinschaft allen Seins, das für mich in schamanischer Weltsicht wurzelt. Diese Weltsicht bezieht sich nicht auf ein Glauben, sondern beruht auf eigener, über die Sinne erfahrener Wahrnehmung.
»Wer nichts weiß, muss alles glauben.«
Marie von Ebner-Eschenbach
Schamanismus ist eine seit mindestens einhunderttausend Jahren bestehende geniale Mischform aus Naturwissenschaft, Medizin, Psychotherapie und magischem Theater. Sie ist die älteste bekannte Form der Annäherung an die geistige Welt. Durch den Einfluss der mythischen Religionen, die es erst seit wenig mehr als zweitausend Jahren gibt, und auch durch politische Machtinteressen wurde der Schamanismus verboten, verfolgt, verunglimpft und belächelt – und ist dennoch immer noch lebendig. Aus den alten Wurzeln des Wissens wächst er mit neuen Trieben, nicht nur in indigenen Kulturen, sondern auch in unseren abendländischen Hochkulturen. Er entfaltet sich in neuen Formen, Farben und Mustern. Als undogmatische, sich auf Sinne, Geist, Resonanz und Natur beziehende Erfahrungswissenschaft ist Schamanismus wieder für viele der nach inneren Erfahrung, nach bewusster Eingebundenheit in Natur und nach Sinn suchenden Menschen zu einer kreativen, heilsamen Lebensweise geworden.
Wandel ist der Grundklang dieser heilsamen Lebensweise, der durch das schamanische Bewusstseinsfeld schwingt.
Energetische Stärkung, Erkennen des eigenen Geistes, Verwurzelung in der eigenen geistigen Kraft, Umgang mit dem Geist anderer Wesen sind die tragenden Töne in diesem Grundklang, der sich durch alle schamanischen Rituale zieht. Diese Elemente werden in den Ritualen der Wandlung so bewegt, dass sie sich entsprechend den Bedürfnissen und Absichten der am Ritual Beteiligten neu ausbalancieren können. Der Zustand der Unstimmigkeit in mir wandelt sich in den Zustand der Einstimmigkeit mit mir.
Bin ich in Einstimmung mit mir, bin ich mir der Verwurzelung in meiner geistigen Kraft bewusst und empfinde ich mich als einen Anteil der geistigen Welten – dann ist dieses In-mir-Sein der wirksamste Schutz bei energetischen Angriffen und Irritationen von außen und bei Zuständen von energetischer Schwäche.
Deshalb liegt ein Schwerpunkt bei schamanischen Heilritualen auf der Stärkung der eigenen Energie der Teilnehmerinnen. Auch für die Ritualausführende oder die Schamanin ist die Aufmerksamkeit auf die ständige Erneuerung, Stärkung und das Wachstum dieser Kraft eine lebenslange Arbeit an sich selbst.
Ohne diese Arbeit an der Entwicklung und Stärkung des eigenen Energiepotenzials ist keine heilsame Arbeit für einen anderen Menschen möglich.
Der wirkungsvollste energetische Schutz wird durch die ständige aufmerksame Arbeit an der eigenen geistigen Stärke gebildet.
Doch es gibt herausfordernde Situationen, in denen auch die mächtigste Schamanin und die erfahrenste Ritualfrau ein zusätzliches Schutzritual für sich selbst braucht. Ich nenne das ein Notfall-Schutzritual, so wie es auch Notfalltropfen gibt, die selbst wissende Heilpflanzenfrauen manchmal brauchen!
Es ist ein langer Lernweg, bis man so tief in der eigenen geistigen Kraft zentriert ist, dass nur noch selten ein Notfall-Schutzritual für sich selbst notwendig ist. Dieser lange Weg führt auch in schamanischen Welten durch so etliche Ausbildungs-Irrgärten, Ego-Fallgruben und Vorstellungs-Sackgassen. Schamanische Welten sind keine »heilen Welten«, es sind Lebenswelten – und das Leben birgt Risiken in sich.
Um diesen Risiken mehr und mehr intelligent begegnen zu können, möchte ich über dieses Buch die Aufmerksamkeit wecken für einige der aus meiner Erfahrung wichtigsten Schlüssel zum Öffnen der Pforten zum schamanischen Feld heilsamen Wirkens. Diese Schlüssel tragen die Bezeichnungen:
Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, bewusste Wahrnehmung, bewusste Empfindung, Zentrierung, erwecken, festigen und wachsen der eigenen geistigen Kraft, Verbindung mit dem Geist anderer Erscheinungen von Leben.
Heilsamer Wandel
ist das Kernanliegen schamanischer Rituale.
Wandel ist Bewegung, Bewegung ist ein Prozess.
Bewusster Wandel ist heilsame Bewegung.
Von Erstarrung zu Bewegung.Von Unwissen zu Wissen.Von Ungleichgewicht zu Gleichgewicht.Von Ungeschütztheit zu Geschütztheit.Von Kraftlosigkeit zu Stärke.Von Eifersucht, Neid und Hass zu Liebe und Mitgefühl.Von Angst zu Vertrauen.Vom Tunnelblick zur Vision.Eigentlich ist es einfach, diesem allem Leben zugrunde liegenden Bewegungsklang zu folgen, um möglichst oft im Zustand eines heilsamen Lebens zu sein.
Bewegungsklang ist etwas anderes als Bewegung.
Bewegungsklang entfaltet sich aus der Bewegung im Innen, der Bewegung des Geistes.
Bewegung, die im Außen stattfindet, besagt nichts über einen Wandel im Innen, kann innere Starre sein trotz perfekt getanzter Lebensschritte. Scheinbare Unbeweglichkeit des Körpers im Außen, wie beispielsweise in der Meditation, im Yoga, bei den Rituellen Körperhaltungen1, kann in intensive, tiefste Bewegungen im Inneren führen, in wandelnden Bewegungsklang.
Äußere Bewegung ist nicht gleich innere Bewegung – davon erzählt auch diese Fabel:
Die Schwalbe und die Eule
»Ich habe auf meinen Reisen die halbe Welt gesehen und bin reicher an Erfahrung als alle Vögel«, sprach die Schwalbe zur Eule.
»Wie kommt es, dass man deine Weisheit rühmt, obwohl du im Dunkeln sitzest und kaum deinen Felsen verlässt?«
»Ich sehe am schärfsten mit geschlossenen Augen und meine Gedanken reichen weiter als deine Flügel!«, antwortete die Eule.
Ich habe mich entschieden, eine sich im Außen bewegende Wandel-Schwalbe zu sein, aber mit der Innenbewegung einer Wandel-Eule. Dieser verbindende Bewegungsklang klingt stimmig in mir.
Sind wir selbst, unser Körper, unser Geist, unsere Seele nicht ein bio-chemischer und zugleich geistiger Tanz ständiger Wandlungen?
Das Wissen um die tiefe Wirkung dieses Wandlungstanzes lässt Kinder, Derwische und Mönche sich schnell im Kreis um die eigene Achse drehen – und lässt vor allem wilde, also mit ihrer Natur lebende Frauen, mit kreativ wirbelnden Schritten durchs Leben gehen. Derwische und Mönche verbinden sich so mit den geistigen Kräften und bewirken Wandlung in sich. Frauen ehren, entfalten und beleben durch tanzende Bewegungen ihre sinnenfrohe Göttinnenkraft und stärken so immer wieder neu ihre einzigartige Wandlungsqualität: Leben weiterzugeben – nicht nur im biologischen Sinne.
Kinder bewirken aus sich selbst heraus durch die drehende Bewegung Freude und ein verändertes Gefühl von Körper und Zeit in sich – so wie es in einem sibirischen Märchen erzählt wird: »Wenn du dich im Kreise drehst, steigst du im Handumdrehen in den Himmel.« Vielleicht haben die sibirischen Schamanen, von denen einige auch heute noch die Methode des Drehens einsetzen, um in geistige Welten zu »fliegen«, das Drehen von Kindern und Winden gelernt …
Wir sind ein ständiger Tanz der Wandlung, auch wenn wir uns dessen nicht immer bewusst sind. Die Zellen in unserem Körper erneuern sich ständig in bestimmten Rhythmen, ohne dass sich an unserer Selbstwahrnehmung etwas ändert. Wenn in uns ein so aufsehenerregender Wechsel von gleichzeitigem Wandel und bleibender Identität stattfindet, kann es bedeuten, dass unser Selbst nicht an den Körper gebunden ist. Vielleicht ändert sich unter Einbeziehung dieser Möglichkeit auch unser Verstehen der alten Geschichten, in denen von Gestaltwandlern und Zauberern erzählt wird, so wie in einer Erzählung vom Volk der Arowaken:
»Keiner war so weit vorgeschritten in der Kunst der Zauberärzte wie der Zauberarzt Makanaholo. Er erhob sich von der Erde, ging über Bäume, ja, er gab sich Flügel, wenn er wollte.
Am wunderbarsten aber von allen seinen Künsten war die Macht, willkürlich sein Aussehen zu wechseln und die Gestalt dieses oder jenes Tieres anzunehmen, wie es ihm gerade gefiel.« Indianermärchen aus Südamerika, Koch-Grünberg, 1921
Wir nehmen auch die Außenwelt fast immer gleichbleibend wahr, obwohl sie sich ständig wandelt.
Unsere Wahrnehmung ist mehr auf das Bleibende angelegt, wir nehmen nicht im Zeitraffer wahr – sondern nur, wenn es abrupte oder einschneidende, deutlich unterscheidbare Änderungen und Wandlungen im Außen gibt. Unser Gehirn funktioniert wie eine Art Reduktionsfilter, denn die Eindrücke sind viel umfangreicher als das, was wir aufnehmen können. Auch das ist sicher ein Grund, dass wir mehr das Bleibende als das sich Wandelnde wahrnehmen.
Diese biochemischen Vorgänge stellen erhebliche Herausforderungen dar bei der Bemühung um bewussten Wandel in Zusammenhang mit schamanischer Weltsicht.
Doch nicht genug der Herausforderungen für unerschrockene Weltenwanderinnen auf schamanischen Wandlungswegen: Hinzu kommen noch die zahlreichen, die Klarheit und Wachheit des Geistes verschleiernden Filter anerzogener und kulturell geprägter Wahrnehmung, die es verhindern, den Lebensgrundklang »Wandel« zu empfinden.
»Wir leiden unter Mangel an Wahrnehmung, nicht unter Mangel an Möglichkeiten.«
Gisela Rohmert, Begründerin der klangorientierten Körperarbeit Lichtenberger® Institut
Und für all diejenigen, die sich bis hierher nicht haben erschrecken lassen und weiter gehen wollen, um Wissende zu sein – für die kommt noch die Bewältigung der Herausforderung von Tunnelblick und verstopften Ohren hinzu. Diese beiden Eigenschaften sind spezialisiert darauf zu verhindern, den eigenen Lebensklang zu erlauschen.
Diese Filter, die sich scheinbar plötzlich, ohne großen Anlass über Geist, Seele und den Körper legen, bestehen hauptsächlich aus Angst.
Angst vor Versagen, vor Verlust – und auch die zermürbenden Selbstzweifel speisen sich aus Angst. Zu diesem Angst-Cocktail kommen noch Erfüllungsdruck, Vorstellungskorsett und so etliche einengende, verzerrende Wahrnehmungsfilter mehr.
»Angst klopfte an. Vertrauen öffnete. Keiner war draußen.«
Sprichwort aus China
Es waren die Begegnungen mit heilsam wirkenden Menschen und schamanische Rituale, die meine blockierten Wahrnehmungsfilter wie Schnee in der Sonne haben schmelzen lassen, die meinen Klarblick »geputzt« und einen vieldimensionalen Blick geöffnet haben, die mich ermutigt haben, mein eigenes inneres Leben zu leben und gleichzeitig im Bewegungsfluss des Lebens zu sein – nach und nach.
Es flog ein altes Weib im Korb
hoch übern Mond hinaus,
in ihrer Hand ein Besenstiel,
worauf wollt sie hinaus?
»Wohin, wohin, wohin« frag ich,
»du alte Frau dort oben?«
»Ich feg die Spinnweben hinaus,
die alles vollgewoben.
Ich feg die alten Netze weg
vom hohen Himmelsdach.«
»Oh, darf ich mit dir gehen?« frag ich,
und sie sagt: »Nach und nach.«
Nach und nach – so habe ich mit Hilfe von wissenden Menschen, in Begegnungen mit den Lehrmeistern Wind, Wasser, Feuer und der guten alten und ewig jungen Mutter Erde mit dem Reichtum ihrer Pflanzen- und Tierkinder gelernt, meinen Geist zu erkennen und dadurch auch ihren Geist erkennen zu können. In diesen Begegnungen wurde ich herausgefordert und unterwiesen, mein Lied zu singen, Verantwortung für den Klang meines Lebens zu übernehmen.
Ich bin unterwiesen
»Geist spricht aus mir.
Von meiner Brust her möge der Blütenstaub
der Morgendämmerung mich unterweisen.
Von meinem Rücken her möge der Blütenstaub
des gelben Abendlichts mich unterweisen.
Von meinen Fußsohlen her möge der Blütenstaub des kleinen
Wirbelwindes, der auf der Erde weht, mich unterweisen.
Unterwiesen durch Himmel, Sonnenstrahl und Vogel,
die über meinem Haupt stehen, will ich gehen.
Der Blütenstaub, den der kleine Wirbelwind mit sich trägt,
wird meine Zungenspitze unterweisen.
Ich bin unterwiesen.
Ich bin.«
Gesang aus der Navajo-Mythe der Entstehung vom männlichen Schießgesang
Schamanische Rituale wurzeln in dem erfahrenen Wissen der Eingebundenheit von allem in das schöpferische Bewusstseinsfeld.
Sie führen in die bewusste Verbindung des eigenen Geistes mit dem allem innewohnenden Geist.
Sie führen in die Erfahrung, ein Anteil zu sein der lebendigen Formen und Informationen von Natur. Auch der Mensch ist Natur.
Bauer Beeken würde das verstehen – auch wenn seine Worte dafür andere wären. Hätte er an dem Ritual teilgenommen, dann hätte er wahrscheinlich erfahren, wie und wodurch der so beharrlich in den Wind pfeifende und sich im Wind drehende Schamane in der Spirale auf dem Stoppelfeld ein Ritual der Wandlung bewirken konnte.
»Verstehen« von Ritualen ist nur möglich durch das eigene, bewusste Erfahren, nicht durch Beobachtung.
Was auch immer wir erfahren – ob es uns geschieht oder wir es bewirken –, verändert nur dann etwas in uns, wenn aus dieser Erfahrung ein bewusstes Erleben wird.
Sonst geschieht, was so oft geschieht: Wir machen immer wieder die gleichen »Fehler«, kommen nicht weiter, erstarren.
Bewusstes Erleben ist kein Verstandesakt, sondern entspringt aus einem Moment der innersten Berührung, einem Moment der Erkenntnis.
Dieser Erkenntnismoment ist immer verbunden mit Empfindung. Empfindung ist keine Gefühlsduselei. Alles Lebendige fühlt, auch sogenannte niedere Lebensformen wie Bakterien und Einzeller, unsere Zellen und auch das Gehirn fühlen. Das behaupten nicht etwa nur einige seltsame Esoteriker und ungebildete Schamaninnen2 in fernen Ländern, sondern auch Biologen wie Andreas Weber und Quantenphysiker wie Hans-Peter Dürr.
Unser unmittelbarer Zugang zum Erleben der Welt findet nicht über den Geist statt, sondern geschieht über die Sinne. Wir empfinden die Welt. Im Moment der Empfindung sind wir nichts als Empfindung, sind im Innen, ohne Trennung von Körper und Geist. Alles, was wir wahrnehmen, ist mit einer Empfindungsqualität verbunden.
Es ist möglich, etwas zu empfinden, wie es ist, ohne es zu bewerten. Diese hohe Schule der Wahrnehmung erfordert ein ständiges Aufmerksamkeits- und Empfindungstraining, denn vor allem in Bezug auf die Wahrnehmung von Menschen und Tieren fällt es schwer, nicht zu werten. Das Grün der Bäume einfach als »grün« wahrzunehmen, oder das Blau des Himmels als »blau«, ohne weitere Interpretationen, das erscheint einfach. Doch diese einfache Übung, etwas wahrzunehmen ohne es auf sich zu beziehen, birgt eine tiefgreifende Möglichkeit in sich, die nicht wertende Empfindungskraft zu wecken und zu stärken.
Und noch eine einfache Möglichkeit des Beginns bewusster Wahrnehmung ist: zu staunen!
Das Staunen ist der Anfang jeder Erkenntnis3.
Erkenntnis beinhaltet, sich immer wieder neu zu gebären und unbelastet von Zuordnung staunend den Erscheinungen der Welten zu begegnen.
So wie das Verstehen von Ritualen nur möglich ist durch das eigene, bewusste Erfahren, so ist das Durchführen von Ritualen für sich selbst oder andere nur wirksam im egofreien Zustand veränderter, erhöhter und bewusster Wahrnehmung. Aus diesen Voraussetzungen können sich Erkenntnis, Sehen und heilsames Wirken im Ritual entfalten. Die Voraussetzungen für diese hohe Qualität von Wahrnehmung tragen wir in uns, in unserem Körper, in den Sinnen und im Geist. Auch »echte« Schamaninnen müssen lebenslang etwas dafür »tun«, diese Fähigkeiten zu entwickeln und zu stärken, um wirkungsvolle Heilrituale durchzuführen.
Die Wahrnehmungsübungen in diesem und im nächsten Kapitel sind Instrumente zum Aufwecken, Stärken und zur Sensibilisierung der Wahrnehmungsfähigkeiten von Ritualfrauen, die in dieser Weise gut vorbereitet Rituale mit schamanischen Methoden heilsam durchführen.
Hinweis zu den Wahrnehmungsübungen
Manche Übungen lassen sich anfangs leichter durchführen, wenn eine aufmerksame Freundin dir die Anleitung Schritt für Schritt vorliest, so dass du deine Aufmerksamkeit auf die Ausübung der Schritte richten kannst.
Achte darauf, dass du für die Übungen immer einen weiten Zeitraum zur Verfügung hast.
Richte deine Aufmerksamkeit darauf, die jeweils richtige Dauer der einzelnen Übungsschritte zu spüren – ohne Uhr.
Training der Empfindung: die Qualität Grün
Stelle dich mit leicht gebeugten Knien auf einen ruhigen Platz im Grünen, die Arme liegen locker am Köper, die offenen Handflächen weisen nach vorne.Wenn sich während der Übung aus dem Körper heraus eine Bewegung entwickelt, lasse sie zu, ohne sie willentlich zu forcieren oder zu lenken.Atme gleichmäßig und ohne Anstrengung mehrmals ein und aus, spüre die Erde unter deinen Füßen.Lasse mit geöffneten Augen und ruhigem Atem das Grün der dich umgebenden Natur auf dich einwirken.Richte deine Aufmerksamkeit auf das »dritte Auge« (in der Stirnmitte) und verändere deinen Blick: Lasse ihn weich werden, wie mit einem Schimmer überzogen.Lasse deine Augen nach innen rutschen, in den Kopf hinein, und nimm vom »dritten Auge« aus das Grün um dich herum wahr – doch halte nichts fest mit deinem Blick.Nimm das Grün wahr wie ein Zeuge des Grüns, ohne Zuordnungen oder Assoziationen wie Licht, Farbe, Schwingung, Lebenskraft, botanische Bezeichnungen usw.Empfinde das Grün als eine Qualität, die unabhängig von dem pflanzlichen Träger des Grüns ist.Nun nimm mit jedem Atemzug die Qualität Grün in dich auf.Nimm wahr, wie sich das Grün in deinem Körper ausbreitet, dich durchströmt und wie du mit jedem Atemzug selbst zu diesem Grün wirst.Richte deine Aufmerksamkeit darauf, dich als Grün zu empfinden. Denke nicht darüber nach, folge deiner Empfindung.Atme bewusst Grün ein, atme bewusst Grün aus dir heraus.Nimm wahr, wie über dein Atmen das Grün um dich herum und das Grün in dir mehr und mehr zu einer Einheit wird.Sei dir bewusst: Du bist das Grün. Du hast die Grün-Fähigkeit, immer wieder neue Triebe aus dir heraus wachsen zu lassen.
Beende die Übung, indem du deinen Atem wieder aus dem dich umgebenden Grün herausziehst und dir beim Ein- und Ausatmen deines Körpers bewusst wirst.Dann nimm einige grüne Blätter in deine Hände, zerreibe sie zwischen deinen Handflächen, rieche an ihnen und massiere mit dem Blättersaft und dem Gründuft sanft dein Gesicht.
Du siehst danach etwas grün im Gesicht aus? Lache darüber und erinnere dich: Es gibt nicht nur den berühmten Grünen Mann, den Beschützer des Waldes und der Tiere – es gibt auch die Grüne Frau als die das Grün und die Tiere beschützende Waldfrau.
Alle Qualitäten gehören zur Welt des Geistes. Quantitäten und Fakten – beispielsweise der blühende Holunderstrauch – gehören zur materiellen Welt, sind die materielle Verwirklichung einer geistigen Qualität.
Diese Empfindungsübung auf Menschen zu übertragen, ist möglich, erfordert aber bereits fundierte Erfahrung in der Wahrnehmung von Empfindung.
Der Zugang zur Empfindung der Qualitäten von Farben und Klängen in der Natur (das Rauschen des Windes, der Gesang eines Vogels, das Dunkel einer Höhle) fällt nicht schwer. Bei der Wahrnehmung der Wesensqualität eines Menschen und auch eines Tieres lassen wir uns jedoch von vielen Vorurteilen, Erwartungen und Vorstellungen beeinflussen und sind dadurch schnell in der Zuordnung von Zuneigung und Abneigung (die dumme Blondine, das niedliche Kätzchen usw.).
Und wie nehme ich mich selbst wahr? Unser bester Wahrnehmungsspiegel ist der Mensch, dem wir mit Aufmerksamkeit bewusst begegnen. Auch der Mensch, bei dessen Anblick sich mir die Nackenhaare aufstellen, erzählt mir von mir.
Und eine Facette des Spiegels meiner Wirklichkeit ist sicherlich auch die Art und Weise, wie mich andere wahrnehmen. Doch wenn ich mit dieser Facette der Fremdwahrnehmung konfrontiert bin, bemühe ich mich, gelassen zu bleiben – weiß ich doch: Was immer jemand anderes aus mir machen will, ich gehe weiter auf dem Weg, die zu sein, die ich bin. Und oft bin ich vollkommen in meiner Unvollkommenheit und erinnere mich mit einem Lächeln an all die heilsam wirkenden, weisen Menschen, denen ich begegnet bin im Zustand ihres Menschseins, im Zustand ihrer unvollkommenen Vollkommenheit: ärgerliche und geizige Sufimeister, eifersüchtige und eitle Schamaninnen, lüsterne und geldgierige Schamanen, genervte und fernsehbesessene Erleuchtete …
Vorurteile, Erwartungen und Vorstellungen: Mit ihnen verhindern wir die Wahrnehmung der Seinsqualität dessen, dem wir begegnen. So verhindern wir den Reichtum der Erfahrung neuer Beziehungen zur Welt.
»Die Menschen urteilen insgesamt mehr nach den Augen als nach dem Gefühl, denn sehen können alle, fühlen aber wenige. Jeder sieht, was du scheinst, wenige fühlen, was du bist.« Machiavelli (1469–1527)
Erfahrung ist ein lebendiger Moment im Jetzt. Die Erfahrung von gestern gilt für das Vergangene und ist nicht auf den jetzigen Moment übertragbar – auch wenn ich wieder am gleichen Platz mit den gleichen Menschen sitze, den gleichen Gesang höre, den gleichen Rhythmus trommele, die gleiche Räucherung rieche und die gleiche Anrufung spreche wie vor einem Jahr. Ich bin jetzt eine andere als in der gleichen Situation von vor einem Jahr – denn heute ist die damals gemachte Erfahrung ein Teil von mir. Sie ist kein konserviertes Erinnerungsstück, das ich bei Bedarf aus dem Erinnerungsschrank ziehe, sondern sie ist lebendig in mir. Die erlebten Erfahrungen haben aus mir den Menschen gemacht, der ich heute bin.
Ich habe auch aufgehört, der Erinnerung an Erfahrungen zu viel Bedeutung und Aufmerksamkeit zu schenken – denn das Gedächtnis und die Erinnerung bestehen aus einer Gemeinschaft von launischen, wechselhaften Chamäleons ...
»Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
So wie ein Kind im Weitergehen
Von dem Wehen
Sich viele Blüten schenken lässt.«
Rainer Maria Rilke
Spüre ich den in mir lebendigen Erfahrungen nach, empfinde ich mein Gedächtnis als weit mehr als nur eine Gehirnfunktion. Ich empfinde meine Erinnerungen wie ein Multimedia-Notizbuch, das sich bewegt, verändert – und vor allem: das ich verändern kann. Ich bin keine lebenslange Sklavin meiner Erinnerungen, ich kann die Meisterin meines Gedächtnisses sein. Auch das gehört mit zur heilsamen Arbeit einer Schamanin: die ein heilsames Leben verhindernden, unliebsamen, schlechten, schmerzhaften, schuldbeladenen Erinnerungen zu »vergessen«. Erinnerungen sind Gedanken. Ich bin es, die Gedanken erschafft und mit Bedeutung belegt, ich bin es, die sie wieder wegschaffen, ihre Bedeutung verändern kann. Therapeutinnen und Heilerinnen leisten in unserer Kultur auch diese heilsame Arbeit.
Am Flussdschungel Perus begegnete ich einem Schamanen, dessen Spezialität es ist, über ein Ritual zu bewirken, dass sich Menschen voneinander in Frieden trennen können, indem sie den anderen »vergessen«. Ein Schamane an der Lagune von Yarina Cocha in Peru behandelt vor allem junge Mütter, die ihre Kinder fortgeben mussten und unter den Erinnerungen an sie und Schuldgefühlen leiden. Er besingt sie mit ikaros, rituellen Gesängen, die bewirken, dass sich die Gefühle und Gedanken der Mütter in Bezug auf ihre verlorenen Kinder heilsam wandeln. Sie werden durch die Heilarbeit des Schamanen wieder in den Zustand versetzt, ihre eigene Wirklichkeit in der Gegenwart neu zu erschaffen, mit neuen Bedeutungen zu belegen.
Wandle ich bewusst die Empfindung für mein Ich, jetzt, in der Gegenwart, so wandle ich damit auch die Empfindung für meine Vergangenheit. Gelingt es mir, mein Ich zu empfinden, dann spüre ich, dass diese Empfindung sich nicht nur auf meinen Körper bezieht, sondern auch auf meine Gefühle, meine Gedanken, meine kreative innere Kraft – auf die Empfindung meines Wesens, meines Geistes.
Die Empfindung all dessen, was Ich bin, kann der Schlüssel sein zum Erkennen des kreativen Möglichkeiten-Reichtums meines Bewusstseins. Ich selbst bin unendlich viele Möglichkeiten an Wandel-Variationen.
»Denn die Gedanken sind die Saiten des Instruments, auf dem Gestalten erzeugt werden.«
Rumi
Wie leicht fällt es mir, kreative Kraft in mir zu entfalten und sie dafür zu verwenden, in Gedanken mir die schönsten Vorstellungen von etwas, was ich mir erwünsche, auf meiner inneren Lebensleinwand auszumalen. Wie schwer ist es dagegen, kreative Kraft aus mir heraus dafür einzusetzen, unerwünschte Gedanken, unliebsame Erinnerungen von gestern wieder von meiner inneren Leinwand zu wischen. Schwer ist es – denn auch schmerzhafte Erinnerungen können zu einem lebendigen Teil unseres Lebens geworden sein –, aber es ist möglich. Wir erschaffen uns unsere »Himmel« und »Höllen« selbst, nicht nur in Gedanken, sondern in jeder unserer Zellen als Sinneseindruck. Erinnerungen und Gedanken sind immer verbunden mit Sinnesempfindung.