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Die Kraft heilsam stärkender und schützender Worte Mit Wortmagie und Zauberworten arbeiten Schamaninnen in indigenen Gemeinschaften und heilsam wirkende Menschen in unserer Kultur. Hinter den rituellen Worten in Sprüchen, Anrufungen, Gebeten, Gesängen stehen oft verborgene Kräfte. Das Wort ist verkörperter Gedanke, der im Wort zur Handlung wird und Wirklichkeit erschafft. Wie wichtig es ist, sich der Wirkung von Worten bewusst zu werden, zeigt auch die dunkle Seite der Wortmagie: Schadenszauber, Schadensworte in der Medizin, verbale Prügel in der Erziehung und beim Mobbing. Aufgrund ihrer über dreißigjährigen Erfahrung in erlebtem schamanischen Wirken weist Nana Nauwald praktische Wege zu heilsam stärkenden und schützenden Worten und Ritualen, die jede und jeder im Alltag und für eigene Ritual-Arbeit anwenden kann.
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Seitenzahl: 209
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Was geschehen kann, wenn ein Fuchs denkt, ein Koyote heult, eine Spinne singt, eine Göttin spricht
Der Anfang: das Wort
Der Anfang: der Gedanke
Der Anfang: ein Ton
Mein Wort ist groß, mein Spruch ist stark!
Gute Worte haben ihre Kraft von den Geistern der Natur
Die Geheimsprache der Schamanen
Zauberworte in spirituellen Traditionen
Warum mein Papagei nicht mit mir spricht
Inspirationen für heilsame Wortmedizin
Woher kommen die Worte?
Die Worte kommen von den Geistern – ein Shipibo-Schamane erzählt
Die Worte kommen von unseren Schamanen-Ahnen – eine Burjat-Schamanin erzählt
Wenn ich singe, ja dann kann ich ihr helfen!
Das Lied der Schamanen
Ritualinspirationen: heilsame Zauberlieder und Blättergesang
Der heilsame Atem verleiht dem Wort Flügel
Tabakwolken über meinem Kopf
Das Wort wird vom Atem getragen – besprechen, beblasen, püstern
Bunte Fäden und heilsame Worte
Die dunkle Seite des Wortes
Worte als Schadenszauber
Ein Schadenszauber im Orangensaft
Ritualinspirationen zur Aktivierung von Wandel
Ein Schutzmantel aus Zauberworten
Multi-Kulti-Wort-Schutzmäntel
Schutzworte: Gott, Geister und die Gene
Ich rufe die Kraft des Bären
Die Geister, die ich rief ...
»duudalgi« – Die Burjat-Schamanin ruft die Geister
Ritualinspiration: Ich selbst erwecke meine Kraft von innen
Wort-Schluss
Danksagung
Die Autorin
Literatur
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die so singen, oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben
Und in die Welt wird zurückbegeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit wieder gatten,
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.
Friedrich von Hardenberg alias Novalis (1776–1801)
»Der Schöpfer Silberfuchs
war das einzige lebende
Wesen,
es gab noch keine Erde, das
Wasser allein erfüllte alles.
›Wie werde ich es machen?‹,
fragte sich der Silberfuchs.
Da gab er sich ans Singen,
um es zu finden.
Er sang da oben im Himmel.
Er hielt das erste Stück Erde,
das er einzig mit seinen
Gedanken geschaffen hatte,
in seiner Hand,
ließ es dort durch sein
Singen wachsen
und schleuderte es dann in
den leeren Raum hinein.«
Aus dem Schöpfungsmythos des Volkes der Achumawi, Kalifornien
Wundersames habe ich erfahren in den letzten siebzehn Jahren als Gästin in den schamanischen Welten indigener Gemeinschaften Südamerikas. Meine anfängliche Zuversicht, ich würde schon nach einigen Aufenthalten etwas wissen und sogar verstehen, verflog mehr und mehr mit der Herausforderung, nicht nur die Wirklichkeiten der geistigen Welten zu erfahren, sondern vor allem die alltägliche Lebenswirklichkeit dieser Gemeinschaften und ihrer Heiler ohne romantisierende Brille zu sehen.
»Wie willst du etwas von meiner geistigen Welt verstehen, wenn du nicht einmal etwas von meiner alltäglichen Welt weißt?« Diese Frage des alten Schamanen in meinem Gastdorf im peruanischen Amazonasgebiet war ein heilsamer Anstoß, meinen anfangs doch sehr von Sehnsucht nach spirituellen, mystischen Abenteuern und der Suche nach naturverbundenen Heilweisen bestimmten Wissensdrang mit all seinen Vorstellungen und Erwartungen mehr und mehr schrumpfen zu lassen. Jenseits von allen Vorstellungen öffnete sich ein Raum, in dem ich mit all meinen Sinnen und in allen mir zugänglichen Bewusstseinsebenen den vielfältigen Wirklichkeiten von Geist und seinen Manifestationen in mir und um mich herum begegnete – und immer noch begegne.
So bin ich durch die Erfahrungen in den äußeren und inneren schamanischen Welten eine mit Einsicht und Wachstum reich beschenkte Gästin geworden. Das erhaltene Geschenk beinhaltet vor allem vielfältige Anregungen zu einer intensiven, herausfordernden Hinwendung und Verbindung zu meinen eigenen, europäischen schamanischen Wurzeln. Und dieses Geschenk birgt auch in sich eine Spür- und Lauschanleitung, die mich mehr und mehr hellhörig und klar-sichtig werden lässt, um die Sprache, den Klang meiner Mitgeschöpfe zu erlauschen – und besonders hellhörig zu sein für die Wirkung von Gedanken und Wort.
Dass ich jemals ins Gewebe meiner Weltsicht »Alles, was ist, hat einen Geist und ein seinem Wesen entsprechendes Bewusstsein« auch die mir wohl vertrauten alten Fäden des christlichen Glaubens einbinden würde, daran habe ich vor meiner Spurensuche nach der Wirkung von Wort in schamanischen Ritualen nicht gedacht. Doch allen in der durch das Christentum geprägten Kultur sind die göttlichen Bibelworte, mit denen vom Akt der Schöpfung erzählt wird, wohl vertraut:
»Im Anfang war das Wort.«
Diese uns überlieferten Zauberworte zeugen davon, wie der Gott der
Christen alle Erscheinungen von Leben aus der Kraft seines Wortes, das er selber war, entstehen ließ. Das Wort war »Tat«.
»Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.«
Johannesevangelium, 1-3
Und es ist auch ein biblisches Schöpfungswort, das zu den ältesten uns überlieferten Zauberworten gehört:
»Es werde Licht! Und es ward Licht.«
1. Mose 1.3
Doch nicht nur im christlichen Glaubenskontext wurde durch
»Wort« das Licht und die Welt erschaffen. »Es werde Licht!« Dieser Befehl ist auch in der Schöpfungsgeschichte des Volkes der Quiché-Maya, Guatemala, zu finden, erzählt im Popol Vuh – Das Buch des Rates:
»In Dunkelheit und Nacht kamen Tepeu und Gucumatz zusammen und sprachen miteinander. Also sprechend berieten sie und überlegten: Sie kamen überein und ihre Worte und Gedanken glichen sie aus ...
So sprachen sie.
›Es werde Licht! Dass Himmel und Erde sich erhellen!Nicht Ruhm noch Größe wird sein, bis der Mensch erscheint, bis der Mensch geschaffen.‹
So sprachen sie.
Darauf schufen sie die Erde. Die Wahrheit ist,
dass sie die Erde schufen.
›Erde!‹ sagten sie, und im Augenblick war sie geschaffen.«
Wortmagie, Zauberwort, Wortmedizin. Diesen Bezeichnungen zu Grun de liegt das in allen Glaubenszusammenhängen verankerte Wissen: Das Wort ist Handlung und erschafft Wirklichkeiten im Außen wie im Innen. Das Bewirken von Wirklichkeit durch magische Worte ist immer verbunden mit der Absicht um Wandel einer bestehenden Gegebenheit.
Je mehr sich mir die Wort-Wirklichkeits-Welten öffnen, desto mehr staune ich über die Wirkungs-Wirklichkeit meiner Gedanken und Worte. Meine Erfahrungen haben mich gelehrt, dass es so ist. Auch, auch wenn ich es nicht wirklich verstehe, dieses Bewirken von Wirklichkeit.
In den Götterwelten des Alten Ägypten war dieses Wissen – das Wissen aller schamanischen Traditionen über die Wirkung von Worten und Gedanken – ebenfalls ein wichtiger Bestandteil ihrer Geisteswelt. Beherrscherin dieses Zauberwort-Wissens war hier die Göttin Isis, auch die »Zauberreiche« genannt. Sie wandelte und erschuf Wirklichkeiten durch die Kraft ihrer Worte und ihre Fähigkeit, Lebenshauch in Menschen und Dinge einzuflößen. »Ihr Mund hat Lebenssprüche, was aus ihm fließt, geschieht gleich«, so heißt es in den Mythen. Erschaffung und Erhaltung von Leben durch Worte! Sind das nur »alte« Geschichten?
In einigen der alten Schöpfungsmythen wird erzählt, dass es das Gefühl der Einsamkeit im großen Universum war, das den Geist der ersten Schöpfung motiviert hat, sich »Leben« zu denken. So wird es auch in der indischen Brihat Katha Upanishad berichtet:
»Am Anfang gibt es nichts außer dem Einen, welches die tiefen Gedanken der Ewigkeit denkt. Die Gedanken werden
zu den Worten: Ich bin!
Es gibt nichts anderes.
Mit dem Aussprechen dieser Worte wird dem Einen bewusst,
dass es völlig alleine ist und damit überkommt es große
Einsamkeit und Traurigkeit.«
Unabhängig davon, ob später die Menschen dieser Schöpferkraft die Qualitäten weiblich oder männlich zugeordnet haben, handelten sie und erschufen Leben, indem sie ihre Gedanken durch Laute in die Leere des Universums gaben – und aus den Lauten die »Welt« mit all ihren Wesen entstehen ließen.
Im finnischen Heldengedicht »Die Kalevala« treibt die weibliche Schöpferkraft, Luonnatar, einsam durch die Leere des Himmels. Aus Sehnsucht nach der Gemeinschaft mit anderen lebenden Wesen schreit sie: »Gibt es denn sonst nichts?« Ihre Stimme hallte über das weite Meer, da wuchsen aus ihren Worten weiße Federn und Flügel. So wurde der Klang von Luonnatars Stimme zu einem weißen Vogel. Dieser legte zwei Eier auf ihren Knien, aus den Eierschalen wurde die Erde, der Himmel – Sonne und Mond wurden aus Eidotter und dem Weißen des Eis. Als es Land gab, begann Luonnatar die Welt zu formen.
Es waren nicht nur ferne, erhabene Gottheiten, die »Zauberworte der Schöpfung« sprachen. Coyote, Silberfuchs, Wolf, Rabe, Regenbogenschlange und noch einige Wesen mehr stehen Göttinnen und Göttern in der Erschaffung von Welt durch Gedanke, Wort, Laute, Klang in nichts nach.
Ausgerechnet eine Spinne, dieses in unserer Kultur nicht sehr beliebte Tier, ist in der Tradition des Volkes der Hopi die Mutter der ersten Schöpfung!
Um sie zu ehren, und die Aufmerksamkeit auf die Kraft der Gedanken zu lenken, erzähle ich hier ihre Geschichte:
Spinnenfrau lebte an einem Ort, wo es nur sie gab. Es gab weder Licht noch Dunkelheit. Es gab nur die Spinne. Sie war eine sehr weise Frau, deren Kraft jede Vorstellung übersteigt. Ihre Kraft war allmächtig, sie war reiner und sauberer als das Nichts. Es war die Kraft des Gedankens, er hatte keine Form oder Bewegung, er war die Kraft, die alles, was ist, erschuf. Allein mit ihrer Kraft, dachte sie über diese nach, überlegte, wie sie von ihr singen, von ihr träumen könne. Und sie wünschte sich jemanden, der ihr Traumlied mit ihr teilen könnte. Also dachte sie an die Kraft und spürte in dieser ein Sichkräuseln, das fester wurde, immer spinnenhafter. Daraus wurde ein Ort. Sie nannte den Ort Nordwesten. Später kräuselte es immer stärker und überzog sich die Erde mit Spinnenlinien der Kraft. Aus ihrer Kraft formten sich menschliche Wesen, mit zerknitterter Haut und Hirn zu Ehren dieses Augenblicks, da Spinnenfrau und die Kraft das Lied machten, aus dem sich neues Leben bildete. Sie sang und sang. Sie sang die Kraft, die in ihrem Herzen war, die Bewegung der vielen Verse und des Tanzes. Die Kraft ist überall. Sie hat keinen Namen, sie ist nur Kraft, das Geheimnis. Spinnenfrau sang alles, was in unserer Welt ist, zum Leben und benannte jedes Wesen. Sie forderte alle von ihr geschaffenen Wesen auf, ihrerseits zu singen und neues Leben zu erschaffen. Sogar die Planeten sangen und neue Wesen erwachten und fielen mit ihren Gedanken und ihrem Fühlen in den gewaltigen Chor des Lebens ein, um neues Leben zu ersingen.
»Wie werde ich es machen?« Das fragte sich nicht nur der Silberfuchs und sann darüber nach, bevor er »es« machte: das Erschaffen von etwas, was vorher noch nicht da gewesen war.
»Wie werde ich es machen?« Das fragen sich auch sicherlich viele heilkundige Menschen angesichts der mit jedem Patienten auf sie zukommenden Herausforderung, die stimmige Weise für ihn zu finden. Sind nicht diejenigen, die Patienten mit Gedanken, Worten, rituellen Handlungen darin unterstützen, wieder in ihren Zustand der Kraft zu kommen, auch »Erschaffende«?
Das Wissen um die Macht von Gedanken und Worten ist in vielen spirituellen Traditionen ein zentraler Punkt. »Worte und Gedanken beeinflussen die reale Umwelt«, so heißt es beim Volk der Navajo im Südwesten der USA. Ich erschaffe Realität durch mein Wort – welch ein unfassbar grenzenloser Gedanke! Und auch aus der Grenzenlosigkeit meiner Gedanken entspringt »Wirklichkeit«.
Doch wie es möglich ist, dass sich meine Gedanken sprachlich umsetzen und ausgesprochen werden können, das weiß ich nicht, und das erklärt die physiologische Erklärung der Entstehung von Tönen und Sprache auch nicht.
Wie entstehen Töne und wie wird aus ihnen Sprache?
Beim Ausatmen strömt die Luft durch die Stimmritze an den Stimm-bändern vorbei. Beim Einatmen bleibt die Stimmritze weit offen, damit die Luft ungehindert in die Lunge gelangen kann. Töne entste-hen während der Ausatmung. Zur Stimmbildung werden die Stimm-bänder aneinandergelegt und durch das Durchpressen der Atemluft in Schwingung versetzt.
Die Vokale werden durch das Öffnen und Schließen der Stimmritze beziehungsweise durch Anspannen der Stimmbänder gebildet.
Die Konsonanten entstehen durch Geräuschbildung im Mundraum, beispielsweise mit Hilfe des Gaumens, der Zunge.
Neben Staunen und Erahnen schwingt auch der Klang eines Erschreckens in mir, werde ich mir der Verantwortung in Bezug auf meine Worte und Gedanken besonders in heilsamen Ritualen bewusst. Wenn die geistigen Kräfte, mit denen ich mich verbunden fühle, für mich wirkliche Wirklichkeit, nicht Vorstellung sind, dann bin ich nicht nur verantwortlich in meinem Wirken den Menschen gegenüber. Mein Wirken durch Wort und Handlung hat dann auch eine Auswirkung auf das Bewusstseinsfeld. Bei diesem Gedanken wird mir etwas schwindelig ...
Ach, da wäre ich doch manchmal gerne dieser Schöpfer-Koyote und würde mich und meine Umwelt durch die mir eigenen Laute ab und zu neu erschaffen, selbstverständlich etwas perfekter als es die jetzige Wirklichkeit ist ...
»Als alles begann, war es undurchdringlich schwarz und still. Dann, in die Stille hinein, erklang ein leiser Ton. Er wuchs an, er wurde lauter und stärker, bis er schließlich die Dunkelheit ganz erfüllte.
Es war das Heulen von Kojote. Kojote entstand um sein Heulen herum.
Er blinzelte in die Dunkelheit. ›Meine Beine wollen laufen, aber ich kann doch nicht im Dunkeln laufen!‹, sagte er.
Mit seinem Atem schuf er einen Wind, der die Form einer Muschel annahm. Er drehte die Muschel um, schleuderte sie mit einem Ruck seines Kopfes in die Luft und schuf so den Himmel.
Kojote trennte den Tag von der Nacht. Er heulte und schuf durch sein Heulen eine Scheibe aus brennendem Gold, die Sonne, und eine Scheibe aus schimmerndem Silber, den Mond.
›Meine Beine wollen laufen, aber es gibt nichts, worauf ich laufen könnte!‹, sagte er. Kojote bleckte die Zähne und knurrte. Der harte Klang seines Knurrens wurde zu Felsen und Hügeln und Bergen.
Kojotes Knurren wurde leiser. Dieses Knurren wurde zu Wäldern und Prärien.
Kojote betrachtete blinzelnd die neue Welt. ›Meine Beine wollen laufen, aber ich habe niemanden, mit dem ich laufen könnte!‹, sagte er.
Also jaulte er. Hasen, Hirsche und Büffel rannten über die Prärien, riesige Bären fingen Lachse in den Flüssen und Adler kreisten über Berglöwen.
›Meine Beine wollen laufen, aber es gibt niemanden, vor dem ich davonlaufen könnte!‹, sagte Koyote. Er fand einen Fluss mit einem hohen Ufer aus weichem rotem Lehm, grub darin und machte Lehmhaufen. Dann blies er seinen Atem über diese Haufen. Sie begannen sich zu bewegen, wuchsen und veränderten ihre Form, bis sie schließlich zu den ersten Menschen wurden.
›Wacht auf!‹, rief Kojote. ›Ihr müsst Getreide und Früchte zum Essen sammeln; ihr müsst Tiere jagen, um Fleisch zu haben, ihr müsst die Welt mit euren Kindern bevölkern. Und wo immer ihr geht, werde ich vor euch davonlaufen. Ihr werdet mich nie fangen, aber nachts werdet ihr mich hören, wenn ich den Mond anheule.‹
Und Kojote lief durch die Welt, die er geschaffen hatte, und bellte und heulte vor Freude.«
Aus dem Südwesten Nordamerikas
Silberfuchs, Spinnenfrau, Koyote und so etliche Götter und Göttinnen müssen die »Kraft« selber gewesen sein, sonst wären die aus der Kraft entspringenden Handlungen nicht so stark gewesen. Leider bin ich weder Silberfuchs noch Spinnenfrau, und so ist es für mich eine lebenslange Herausforderung zur »Arbeit an mir selbst«, um immer wieder neu nicht nur »in« meiner Kraft zu sein, sondern »die« Kraft selbst zu sein.
Das zu sein, was ich denke; das zu sein, was ich sage; das zu sein, was ich tue – wenn ich in diesem Zustand bin, dann bin ich fest eingewoben im geistigen Netz der Spinnenfrau. Dann könnte ich vielleicht auch »große Meerestiere an den Strand ziehen«, so wie es von den Schamanen, noida, der Saami im hohen Norden gesagt wurde. Doch was mache ich dann mit den großen Meerestieren? Ich werde das Murmeln von Zaubersprüchen wohl erst einmal an den Waldohreulen erproben und sie so wieder auf unser Grundstück locken ...
»Alle in Norwegen sind fromme Christen, abgesehen von denen, die im äußersten Norden am Meer leben. Diese sind heute noch so bewandert in Zauberkünsten und Beschwörungen, dass sie behaupten zu wissen, was ein jeder auf der ganzen Welt unternehme. Indem sie Worte mit Zauberkraft murmeln, ziehen sie große Meerestiere an den Strand.«
Adam von Bremen (1044–ca. 1080)
Die Sprache
»Angestrahlt vom Widerschein
seines eigenen Herzens,
richtete der Erste Vater des Volkes der
Guaraní sich im Dunkeln auf
und erschuf die Flammen und
den zarten Nebel.
Er schuf die Liebe,
hatte aber niemanden, dem er sie hätte
geben können.
Er schuf die Sprache,
hatte aber niemanden, der ihm zuhörte.
Da trug er den Gottheiten auf, sie sollten
die Welt erbauen
und für Feuer, dichten Nebel,
Regen und Wind sorgen.
Dazu gab er ihnen eine Melodie und
den Text der heiligen Hymne,
damit sie Frauen und Männer zum Leben
erwecken konnten.
So wurde die Liebe zum Bund,
gewann die Sprache Leben
und wurde der Erste Vater aus seiner
Einsamkeit erlöst.
Noch heute begleitet er die Männer
und Frauen, die wandern und singen:
Wir setzen den Fuß auf diese Erde,
wir setzen den Fuß auf diese
schimmernde Erde.«
Eduardo Galeano, Erinnerungen an das Feuer
Das »verkehrte Wesen« von »einem geheimen Wort« davonfliegen zu lassen und das »Wesen« wieder in den ihm entsprechenden »richtigen« Zustand in Geist, Seele und Körper zu bringen, ist Aufgabe der Medizinfrauen und Medizinmänner in schamanischen Traditionen. Diese Medizin beinhaltet mehr als nur die Wiederherstellung von Gesundheit. Die tief verwurzelte Einbindung in das soziale und spirituelle Netz der Gemeinschaft – mit den Ahnen und dem vielfältigen Geist der Tiere, Pflanzen, Elemente – sind die grundlegenden Voraussetzungen für die Ausübung und Wirksamkeit von Medizin im Schamanismus. Das Wort, die sich in hörbarem Klang ausdrückende Absicht der heilsam Wirkenden, ist neben der Pflanzenmedizin das mächtigste Wirkmittel im Schamanismus.
Das Wort, angewendet in einem geistigen Kontext und aus der Verbindung mit dem geistigen Feld heraus, kann zur Wortmedizin werden, wenn es in eine innere Berührung führt. In vielen Heilkulturen ist es verankertes Wissen, dass die magischen Worte in die Hände fließen und durch deren Bewegungen (Zaubergebärde) sowie Berührung der Hilfesuchenden heilsam wirken:
Schamaninnen und andere Heilerinnen legen Hände auf.
Priester und Pfarrer heben segnend die Hände, sich zu bekreuzigen wird durch Handbewegung angezeigt. Wenn der Papst die Arme zum »Urbi et Orbi«-Segen ausbreitet, segnet er mit Wort und Geste immerhin zirka 1,1 Milliarden Katholiken.
Das kabbalistische Vaterunser wird von Bewegungen und Gesten begleitet.
Im Islam begleiten Körperbewegungen die Gebetsworte.
Im Buddhismus verstärken die Haltung der Arme und Beine und auch die Gesten der Hände die Wirkung der Gebetsworte.
In den Ritualen des Umbanda und im Vodun (Voodoo) spiegeln sich die Anwesenheit eines Orisha im Menschen auch in der zur jeweiligen geistigen Kraft gehörenden Haltung der Hände, Finger und Körperbewegungen wider.
Was ist nun wichtiger in einer Heilzeremonie, das Wort oder der Klang, der Gesang der Schamanin?
Beides, so ist die Aussage der indigenen Schamaninnen in Südamerika und Sibirien, die ich dazu befragt habe. Alle wiesen auch darauf hin, dass nicht nur die Heilerin tief verbunden sein muss mit ihrem Wort und dem Klang ihres Gesangs. Es ist wichtig, dass der Patient bereit dafür ist und sich darauf konzentriert, die Worte und den Gesang in sich hineinfließen zu lassen. Bewusstes Empfangen beim Hören erhöht die Wirkungsmöglichkeiten der aufgenommenen Schwingungen.
Gesundheit im schamanischen Weltbild ist ein Zustand der Harmonie, in der sich der Mensch im Verhältnis zu seinem eigenen Geist, seiner sozialen Gemeinschaft, den Ahnen, zu der ihn umgebenden Natur und zu den geistigen Kräften befindet. Dieser Zustand ist kein ausschließlich persönliches Befinden. Das persönliche Befinden ist, wie zum Beispiel in der Weltsicht des Volkes der Navajo, mit dem ganzen Universum verbunden. Die allgemeine Ursache einer Krankheit liegt in der Auffassung der Navajo darin, dass die Harmonie der Welt durch Ereignisse, in die der Kranke verwickelt ist, gestört wurde. Aus dem Verlust der Harmonie entspringt das Leid. Wer zur Aufrechterhaltung der Harmonie, der Schönheit beiträgt und sie wiederherstellt, wenn sie verloren gegangen ist, wirkt für das Universum als Ganzes und seine Grundordnung. Ein solches Ritual endet gewöhnlich mit den Worten: »In Schönheit ist es vollendet« oder »Die Schönheit ist wiederhergestellt«.
»Dass Selbstheilungstendenzen fast automatisch anspringen, wenn wir uns einem überzeugenden Helfer gegenüber sehen, war für den Menschen während seiner Evolution ein Überlebensvorteil.
Dafür sorgten in der Jäger- und Sammlerperiode etwa die Schamanen. Ich bin überzeugt, dass einer der entscheidenden Überlebensvorteile des Homo sapiens seine Fähigkeit war, auch ohne spezifische Medikamente schon in der frühen Steinzeit zu überleben – eben durch das religiöse Heilritual.«
Eckard Straube, Psychologe,
in: Interview Süddeutsche Zeitung, 17. Mai 2010
Auch im Volk der Mapuche in Südchile ist das Bewusstsein um die Bedeutung der Verbindung zu den geistigen Kräften der Natur, im Alltag und in ihren Zeremonien immer noch lebendig. Dabei spielt auch keine Rolle, ob sie einer christlichen Kirche angehören.
Die Geister der Natur (ngen) sind Begleiter in ihren alltäglichen Aktivitäten, werden bei vielen Verrichtungen um Schutz oder Erlaubnis gebeten. Alles in der Natur hat einen Geist, Energie und eigenes Leben. Die Mapuche glauben, dass in jedem der Elemente und in der Flora und Fauna ein Geist ist. Er ist ein Hüter der Elemente und Wesen, in denen er lebt. Er pflegt, schützt und erhält sie und gewährleistet so ihr Weiterbestehen. Es sind Geister mit guten Kräften, die auf der Erdebene leben und nur in der freien Natur tätig sind. Mit den Menschen treten sie nur in Kontakt, wenn diese in ihren Machtbereich eintreten. Die ngen erscheinen den Mapuche in Gestalt von Menschen, Tieren oder Pflanzen.
Tritt der Mapuche in einen vom Naturgeist beschützten Bereich ein, weil er etwas aus diesem Bereich braucht, muss er den jeweiligen ngen um Erlaubnis bitten und die benötigte Menge erklären. Danach soll er sich bei dem ngen bedanken und möglichst eine kleine Dankesgabe geben, dem Prinzip der Gegenseitigkeit entsprechend. So konnte ich erleben, wie eine Mapuchefrau den Geist des Wassers mit einer Verbeugung und Worten um Erlaubnis bat, ins Wasser zu gehen, bevor sie im Meer badete.
Auch in ihrer Vorstellung kann alles, was mit Gesundheit (und Krankheit) zu tun hat, nur verstanden und erklärt werden als ein Gleichgewicht zwischen den Kräften von Gut und Böse. Und nicht nur, um dieses Gleichgewicht im Einzelnen und somit in der Gemeinschaft zu erhalten, zu erneuern, spielt die Schamanin (machi) bei den Mapuche eine sehr wichtige Rolle.
In der Sprache des Volkes der Guaraní, Brasilien, bedeutet »Wort« (ñe’˜e) auch »Seele«. »Wer das Wort belügt oder es verschwendet, übt Verrat an der Seele«, heißt es bei den Guaraní. Diese Wichtigkeit geben sie dem Wort!
Das Weltbild der vom Geist des Schamanismus geprägten Kulturen können wir Menschen aus anderen Kulturen nicht imitieren, nicht importieren, nicht kopieren. Die geistigen Welten und die daraus sich entfaltenden Heilrituale, Worte und Gesänge sind mit allen Elementen des Lebens eines im Schamanismus, in der Naturverehrung lebenden Volkes eng verwoben. Die »inneren« Bedeutungen der Worte, die verborgenen Zusammenhänge der Begrifflichkeiten, die nicht sichtbaren, nicht hörbaren Verbindungen zwischen Geistern und Menschen lassen sich nicht mit dem Denken anderer Kulturen verstehen, nicht mit Begriffen anderer Kulturen übersetzen.
Auch der Zauberlehrling im »Faust« von Johann Wolfgang von Goethe versucht sich darin, mit der Imitation, dem Nachsprechen der Worte seines Meisters »Wunder« zu bewirken – nur leider funktionierten auch bei ihm die »Worte und Werke« nicht, die nicht aus ihm selber kamen:
»Und nun sollen seine Geister
auch nach meinem Willen leben.
Seine Wort und Werke
merkt ich und den Brauch,
und mit Geistesstärke
tu ich Wunder auch.«
So ähnlich wie dem Zauberlehrling ist es auch mir ergangen, als ich mich bemühte, einen Heilgesang des alten Shipibo-Meisterschamanen nachzusingen. »Meine Worte kommen von meinen Schamanenahnen. Ich bin von einer anderen Welt als du, du bist von einem anderen Geist, du musst in deinen eigenen Worten sprechen und deine eigenen Lieder singen«, so reagierte der Alte auf meinen Geistergesang-Versuch. Also atmete ich tief durch und begann, nach und nach Worte in meinem Geist aufzuwecken, meine eigene Kraft zu weiten.
Immer öfter erfahre ich, wie Menschen, die einige Wochen in einem peruanischen Ayahuasca-Zentrum verbracht haben, sich damit rühmen, icaros in Shipibo-Sprache singen zu können und deshalb sofort eine initiierte Schamanin zu sein. Ein Hinweis auf die x-Male, die sie Ayahuasca getrunken haben, soll die Aussage, Schamanin zu sein, unterstreichen.
Es kann sehr heilsam sein, in einem schamanischen Ritual die »Liane der Seele« zu trinken und tiefe Erkenntnisse über das eigene Sein und das Leben zu erfahren.
Schamanin zu werden, ist immer noch ein langer Weg des Lernens und nicht abhängig davon, ob und wie oft sie »trinkt«, auch nicht in Peru. Auch in Russland werde ich zunehmend damit konfrontiert, spirituelle Sehnsucht in Peru und im Trinken von Ayahuasca erfüllt zu sehen – ohne die eigenen sibirischen schamanischen Kulturen zu beachten.