Das Lachen der Geister - Nana Nauwald - E-Book

Das Lachen der Geister E-Book

Nana Nauwald

4,9

Beschreibung

Erlebter Schamanismus, authentisch und spannend erzählt. Schamanen, Magie, Geister und Zauberpflanzen - all das erlebt die Künstlerin und Autorin Nana Nauwald auf ihrer Reise in das peruanische Amazonasgebiet. In ihrem fesselnden Erfahrungsbericht, der an ihr Erfolgsbuch „Der Gesang des schwarzen Jaguar“ anschließt, erzählt sie von ihrer Zeit mit den Schamanen, die sie in die Geheimnisse ihrer Rituale, Heilzeremonien und Visionen einweihen. Grenzerfahrungen, geistige Herausforderungen und die gefahrvolle Natur des Dschungels beginnen, ihre Vorstellungswelten zu sprengen. Seit 15 Jahren fährt Nana Nauwald in das peruanische Amazonasgebiet und lebt dort mit indigenen Gemeinschaften. Sie lernt von Schamanen, Kräuterfrauen und den Alten, dass alle Erscheinungen des Lebens einen Geist haben und dass es möglich ist, mit diesem Geist in Verbindung zu treten. Je vertrauter ihr die äußere Dschungelwelt wird und je tiefer die Freundschaften werden, desto weiter öffnen sich Nana Nauwald die geistigen Welten der Schamanen. Sie erfährt die Wirkung und Kraft ihrer Rituale, Heilgesänge, visionären Heilpflanzen und ihre Welt der Geister. Vertraute Weggefährten wie der alte Schamane Benito und seine Schwester Mañuca, der junge Schamane Ernesto und sein Bruder Betto, und vor allem Javier begleiten sie auch auf der Reise, von der dieses Buch erzählt. Trotz aller äußeren Exotik ist es eine innere Reise zu sich selbst. Das Hinterfragen gewohnter Denkmuster, Zweifel an der eigenen Wahrnehmung und vor allem großes Staunen und Dankbarkeit bestimmen diesen inspirierenden Erfahrungsbericht voller Zauber und Magie.

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Seit vielen Jahren fährt NANA NAUWALD in das peruanische Amazonasgebiet und lebt dort mit indigenen Gemeinschaften. Sie lernt von Schamanen, Kräuterfrauen und den Alten, dass alle Erscheinungen des Lebens einen Geist haben und dass es möglich ist, mit diesem Geist in Verbindung zu treten.

Je vertrauter ihr die äußere Dschungelwelt wird und je tiefer die Freundschaften werden, desto weiter öffnen sich Nana Nauwald die geistigen Welten der Schamanen. Sie erfährt die Wirkung und Kraft ihrer Rituale, Heilgesänge, visionären Heilpflanzen und ihre Welt der Geister. Vertraute Weggefährten wie der alte Schamane Benito und seine Schwester Mañuca, der junge Schamane Ernesto und sein Bruder Betto, und vor allem Javier begleiten sie auch auf der Reise, von der dieses Buch erzählt. Trotz aller äußeren Exotik ist es eine innere Reise zu sich selbst. Das Hinterfragen gewohnter Denkmuster, Zweifel an der eigenen Wahrnehmung und vor allem großes Staunen und Dankbarkeit bestimmen diesen inspirierenden Erfahrungsbericht voller Zauber und

NANA NAUWALD, geb. 1947. Künstlerin, Autorin, Dozentin für Rituale der Wahrnehmung.

Sie erforscht seit 32 Jahren schamanische Bewusstseinswelten in Südamerika, Sibirien und Nepal.

Sie inspiriert in Seminaren und Vorträgen zu einem dem heutigen Leben entsprechenden kreativen Wirken durch im Schamanismus wurzelnde Methoden und Rituale.

In ihren farbenstarken Gemälden finden die Erfahrungen und Einsichten in die Vielfältigkeit des Bewusstseinsfeldes einen tiefen Ausdruck.

Sie ist Autorin mehrerer Bücher mit den Schwerpunkten Wahrnehmung, Naturerfahrung, Schamanismus.

www.visionary-art.de / www.ekstatische-trance.de

In dankbarer Erinnerung an Betto.

Er trat 2006 die Reise in seine geistige Heimat an.

Jenseits von allen Wirklichkeiten

Jenseits von dem, was richtig und falsch ist,

gibt es einen Ort.

Treffen wir uns dort!

DSCHALAL AD-DIN RUMI

Nackt, stolz und abweisend liegen sie unter mir – die faltigen alten Leiber der kahlköpfigen Kordilleren.

Ihr Anblick löst Beklemmungsgefühle in mir aus, mit einem Anflug von Übelkeit meldet sich mein Magen, Kopfschmerzen kündigen sich an.

Eine mürrische Stewardess bringt mir nach zweimaliger Bitte den gewünschten Coca-Tee. Ich entspanne mich.

»Alles nur Auswirkungen des mangelnden Höhenausgleichs dieser alten Maschine,« beruhige ich mich und versuche, anderen Gedanken keinen Raum zu geben. Die anderen - die mich seit Tagen nicht zur Ruhe kommen lassen: »Welche Kraft ist das, die mich wie ein Magnet unerbittlich wieder in die Schamanenwelten Amazoniens zieht? Lässt das explo-sive Gemisch aus Sehnsucht und Furcht mein Herz so eng werden?« Ich blicke aus dem Fenster.

Nebel umtanzen die Gipfel und entlassen aus ihren Schleiern die Spuren alter mythischer Anden-Götter, die sich im Eisblau des Himmels verflüchtigen. Vorstellungen, alles nur Vorstellungen!

»Erschaffen wir unsere Wirklichkeit aus Vorstellungen? Und wenn ja, woraus sind die Vorstellungen erschaffen?« befrage ich mich seit meiner langen Reise im letzten Jahr in den peruanischen Dschungel fast täglich.

»Aus individuellen Träumen und gesellschaftlichen Werten, aus Erinnerung und Sehnsucht, aus Hoffnung und Befürchtung«, belehre ich mich zum wiederholten Male selber – und erinnere mich an mein Wissen. Ich schließe die Augen, setze mich aufrecht, konzentriere mich und nehme mit der alles verwirbelnden Kraft des Atems den zwei wichtigsten der mich einengenden Vorstellungen ihre Macht: Der Vorstellung davon, wie es sein wird, Javier wiederzusehen und die, wie es sein wird, tiefer in die schamanischen Wirklichkeiten einzutauchen.

Meine derzeitige Wirklichkeit ist, mit verändertem Blick betrachtet, eigentlich mindestens so spektakulär wie die visionäre Wirklichkeit der Dschungel-Schamanen: ein Sitz im Flugzeug, unter mir Luft, über mir Luft. Luft - nichts als Luft! Wir überfliegen einen erloschenen Vulkan, eisblau leuchtet das Wasserauge im Krater. Aus seiner Mitte steigt eine weiße Dunstsäule auf, dreht sich spiralig hoch, breitet sich aus und nimmt die Form eines menschlichen Umrisses an, bevor sie sich in feinen Schleiern mit den Wolken verwebt. Gebannt verfolge ich die Erscheinung aus Wasser, Wärme und Luft – oder ist es etwas ganz anderes, was ich dort draußen sehe?

Eine Bemerkung von Benito geht mir durch den Kopf: »Entscheidend ist, was du mit dem anfängst, was du siehst.«

Ich beschließe, das Formenspiel als Orakel für die vor mir liegende Zeit zu nehmen: »Kraftvolle Bewegung, die zu Veränderung führt.«

Nur noch fünfzehn Minuten Flugzeit bis Iquitos. Trotz Atemübung und weisem Orakel pulsieren die Schwingungen von Unruhe in jeder Zelle meines Körpers. Wie schwer es ist, nichts zu erwarten, mit all den Erfahrungen der ersten Reise in meinem unsichtbaren Gepäck: Schamanen, Geister und Heilrituale, Kräuterfrauen und Liebeszauber. Wie ein Mantra rezitiere ich beim Aufsteigen von Erinnerungsbildern immer wieder: »Keine Vorstellungen, keine Erwartungen!«

Es gibt Menschen, die sich dieser selbstgewählten Herausforderung durch Rückzug und innere geistige Übungen stellen. Mir entspricht es, durch äußere Bewegung und bewusste, sinnenhafte Erfahrung zu lernen.

»Vielleicht ist es doch der klügere Weg, sich in Stille und Zurückgezogenheit in geistige Übungen zu versenken und so die Meisterschaft über Erwartungen und Vorstellungen zu erlangen,« denke ich mit Galgenhumor, als ich kurze Zeit später umringt von einem Pulk auf mich einredender Taxifahrer in der feuchten Hitze dieses Februartages vor dem Flughafengebäude stehe. Ich ignoriere die sich nach meinem Gepäck ausstreckenden Hände, höre nicht auf die sich unterbietenden Preiszurufe. Ich warte – mit angespannten Sinnen. Es wird leer vor der Ankunftshalle.

Grau und zugleich beißend hell ruht der tiefe Himmel bewegungslos über Iquitos. Tief atme ich den feucht-süßen und auch etwas muffigen Geruch ein, der vom nahen großen Fluss und dem Dschungel erzählt, aber auch von qualmenden Motocars, Straßengrills und verborgenen Umarmungen.

Weder Javier, intimer Freund und Schamane, ist zu sehen, noch Ricardo, mein Dschungelführer.

Ich gehe in die Ankunftshalle und rufe Bruno an, meinen Mann in Deutschland, an damit er weiß, dass mein Flugzeug und ich unbeschadet in Iquitos gelandet sind.

Wie sehr der Dschungel und die Schamanen mich auch in ihren Bann ziehen, wohin mich die Winde auch wehen, ich bin mit ihm in einem vieldimensionalen Netz verwoben, in der materiellen wie auch der geistigen Welt.

»Ist warten eigentlich gleichbedeutend mit erwarten?» sinniere ich nach dem Telefonat, wieder an die Außenwand des Gebäudes gelehnt, und blicke über den öden Platz für an- und abfahrende Fahrzeuge. Schon immer habe ich meisterhaft verstanden, in angespannten Situationen meine Aufmerksamkeit auf tüftelige Denkfragen zu richten. Dieses Mal funktioniert das nicht. Ärger schleicht sich durch die Hintertür meines inneren Warteraums. Habe ich nicht gestern aus Lima noch extra eine Email an Ricardo geschickt mit der genauen Ankunftszeit? Wenigstens er hätte doch kommen können, wenn Javier es nicht geschafft hat, rechtzeitig aus seinem Dorf mit dem Boot hier anzukommen.

Nur sieben Stunden auf dem Fluss von Nueve de Octubre bis Iquitos – wirklich keine nennenswerte Entfernung hier im Dschungel – vor allem nicht, wenn man auf die Freundin wartet, die man ein Jahr nicht gesehen hat!

»Eigenartig, wie alle geistigen Übungen und Vorstellungen von erwartungslosem Sein in der Sonne schmelzen, sobald Emotionen ins Spiel kommen!« Ich spreche mir ermahnend zu, strafe meine Körper, löse mich von der Wand und schlendere zum einzigen noch verbleibenden Motocar hinüber. Der Fahrer hat es sich auf der Rückbank des an eine Rikscha erinnernden Moped-Gefährts bequem gemacht, seine Augen sind geschlossen.

Noch bin ich einige Meter entfernt, da hat er sich schon aufgesetzt und strahlt mich an: »Guten Tag, ich bin Joel.« Er streckt mir die Hand entgegen.

»Willst du in die Stadt? Ich weiß ein gutes und billiges Hotel!«

Geduld, Gleichmut, Freundlichkeit und kreatives Handeln – das Verhalten des jungen Fahrers ruft mir einige der wichtigsten Lebensqualitäten amazonischer Lebensart zurück in mein Gedächtnis.

»Danke, ich kenne auch ein gutes Hotel!« antworte ich ihm lächelnd. »Kennst du das Casa Fitzcarraldo?«

»Oh, das ist am anderen Ende der Stadt!«

»Ich weiß, Richtung Puerto Nanay. Also – wie viel?«

Der junge Mann merkt, dass ich mich auskenne und nennt einen annehmbaren Preis. Als kurz darauf das Motocar mühsam die kleine Steigung zur Stadt hoch schnauft, halte ich mit einer Hand meine hinten aufgeschnürte, wasserdichte Reisetasche fest und sauge die Eindrücke des Straßenlebens der vibrierenden Stadt begierig in ich auf, dieser vom großen Fluss umspülten magischen Insel im Herzen Amazoniens. Sie hat die Kautschukbarone überstanden, nun dient sie neuen Herren, den Holz- und Erdölbaronen. Die Stadt explodiert, sie wächst und wächst.

Ich werde mich in dieser Stadt nur so lange aufhalten, wie es unbedingt nötig ist für die Reise, aber trotzdem freue ich mich, wieder hier zu sein, Iquitos ist schon sehr speziell.

Ich freue mich auf die Zeit, die vor mir liegt.

Ein tiefer Seufzer löst sich aus meiner Brust als mir bewusst wird, dass diese Freude nicht abhängig ist von der An- oder Abwesenheit eines bestimmten Menschen.

Ein heftiger, aggressiver Windstoß zerreißt meinen sanften, freudevollen Gedankenfluss, verwirbelt den Sand vom Straßenrand her zu einer dichten Wolke, die sich über das Motocar legt. Einen Atemhauch lang wird die Welt unsichtbar. Joel hustet und flucht: »Da hat jemand die Geister geärgert.« Ich habe mich auf der Rückbank zusammengekauert, die Augen mit meinem Halstuch bedeckt. Der feine Sand brennt auf der Haut, sie fühlt sich in diesem Moment mehr nach Wüste als nach Dschungel an.

Plötzlich höre ich einen hohen Pfeifton und habe das eindeutige Gefühl, in einem Strudel nach oben gezogen zu werden. Mir wird übel, instinktiv kralle ich meine Hände in den Rücksitz und versuche, mich festzuhalten.

Doch kaum spüre ich die Polsterung in meinen Händen, ist der Sandwirbel auch schon wieder verschwunden, der Pfeifton verstummt. Joel fährt an den Straßenrand. Ich steige aus und klopfe mir den Sand aus der Kleidung, Joel wedelt mit einem Lappen die Rückbank und mein Gepäck ab. »Was meintest du damit, dass jemand die Geister geärgert hat?« frage ich.

»Ach, das sagen wir nur so, wenn ganz plötzlich ein starker Windwirbel aufkommt,« antwortet er ausweichend.

Ich frage nicht weiter nach, notiere aber in mein geistiges Merkheft: »Nachfragen, was Geister mit Windwirbeln zu tun haben.«

Ohne weitere Hindernisse erreichen wir das Gästehaus Casa Fitzcarraldo, das als einziges Wohnhaus in einer Umgebung von Holzverarbeitungsfabriken und einfachen Holzhütten am Rande der Stadt verborgen hinter einer hohen weißen Mauer liegt. Ich steige aus dem Motocar und bitte Joel, noch einen Moment zu warten. Auf mein Klingeln hin bricht ein wildes Gekläffe hinter der Mauer aus, das von einer strengen weiblichen Stimme zur Ruhe gebracht wird. Die Frau des Hauses öffnet mir, Señora Madelaine. Sie ist eine schöne Frau, die Stolz und Strenge ausstrahlt, ihre dunklen Augen blicken mich forschend an. Dann erkennt sie mich und lächelt: »Ah, la Señora Nana! Wie schön, dich zu sehen! Aber du hast ja gar nicht vorher angerufen!« Ich zucke entschuldigend mit den Schultern. Ich kann ihr ja nicht erzählen, dass ich eigentlich nicht vorhatte, bei ihr zu übernachten. Das ich eigentlich damit gerechnet hatte, in diesem Moment in den Armen eines Mannes zu liegen und mit dem Boot den Amazonas hoch zu fahren, nach Nueve de Octubre. Eigentlich. Joel schleppt mein Gepäck ins Haus, nicht ohne sich vorher zu vergewissern, dass der leise knurrende Dobermann wirklich in einem Verschlag eingesperrt ist. Gut, das ihm entgangen ist, dass auf der anderen Seite der Eingangstür eine gefleckte Raubkatze in einem Drahtkäfig bewegungslos das Geschehen im Hof mit gelb funkelnden Augen verfolgt.

Joel schreibt mir seine Telefonnummer auf mit dem mehrfachen Hinweis, dass er sich sehr gut in Iquitos auskennt und mir vieles zeigen kann. Mir ist gerade ganz und gar nicht danach, dass mir irgendjemand etwas zeigen will – höchstens noch mein Zimmer.

Ich habe Glück, das große Zimmer im ersten Stock mit Blick auf den Garten, die Baumhäuser und den kleinen Pool ist frei. Die dunklen, satt glänzenden Holzeinbauten im Zimmer und das große, schwere Bett strahlen immer noch den Charme der Zeit aus, in der dieses Haus die Basis für die Filmmannschaft im Kinskifilm »Fitzcarraldo« war. Ich bin dem Reiz dieses großzügig angelegten Hauses schon bei meinem ersten Besuch erlegen und fand wie auch jetzt, dass es mit seiner verrückten Geschichte der passende Ausgangspunkt ist für meine eigene Dschungel-Geschichte.

Ich schalte den riesigen Deckenventilator ein und blicke durch die schnell aufkommende Dämmerung in den jetzt im Schatten der hohen Bäume liegenden Garten. Ein friedvoller Anblick, lediglich das Gezeter des großen Hausaffen Rambo stört. Das Grundstück ist umgeben von mit hohen Bäumen und Buschwerk dicht bewachsenen Flächen. Es sieht fast so aus wie am Dorfrand von Nueve de Octubre. Es schmerzt und macht mich traurig, dass die Freunde, mit denen ich in den Monaten meines Aufenthalts im Dorf am Fluss so eng und vertraut verbunden war, nicht gekommen sind. Ricardo, der mich in das Dorf seiner Großmutter Rosaura gebracht hat, die mich so liebevoll bei sich aufgenommen hat und mir viel von ihrem Pflanzenwissen vermittelt hat. Ihr habe ich es zu verdanken, dass ich Javier begegnet bin. Javier, der mich so verwirrend sinnlich in die Welt der Dschungel-Schamanen geführt hat. »Was habe ich denn erwartet,« grolle ich stumm in mich hinein, »soll er nur, weil er eine gute Zeit mit mir hatte, ein Jahr lang schmachtend in Wartestellung verharren, bis ich vielleicht einmal wiederkomme? Besucherin aus einer Welt, zu der er nie Zugang haben wird?« Der unliebsamen Beantwortung der Frage, ob ich etwa hauptsächlich nur seinetwegen zurück in den Dschungel komme weiche ich aus, indem ich zum Abendessen gehe, das mir draußen an einem kleinen Tisch nahe dem Pool serviert wird – wie das so ist im Film . . .

Zurück im Zimmer, dusche ich und lege mich ohne abzutrocknen auf das Bett. Die Luft scheint nur noch aus Feuchtigkeit zu bestehen, nicht mehr aus leichten, klaren und sich bewegenden Luftelementen. Der Ventilator stöhnt und quält sich mit eiernden Bewegungen durch die im Zimmer stehenden Luftmassen. Plötzlich fängt er an zu rasen, als habe jemand seine Geschwindigkeit einige Stufen höher gestellt. Erschrocken fahre ich hoch und springe aus dem Bett. So alt wie der Ventilator aussieht, könnte er sich leicht aus der Verankerung in der Decke lösen und auf das Bett stürzen! Ein hoher Pfeifton durchschneidet das Geratter. Ich hechte mit einem Sprung zum Schalter neben der Tür, ein Klick – und der Ventilator läuft langsamer, steht still. Aber der Pfeifton bleibt, nur ist er jetzt ganz leise. Er kommt aus der Decke, da bin ich mir ganz sicher. Bevor ich dazu komme, die Tür zu öffnen, um nach Señhora Madelaine zu rufen, damit sie nach der Ursache für diesen Ton sucht, höre ich ihn nicht mehr. Ich atme tief durch und erinnere mich an das, was Benito mir im letzten Jahr wiederholt und eindringlich gesagt hat: »Ein Schamane muss in der Lage sein, die unterschiedlichen Wirklichkeiten nicht nur zu erkennen, sondern vor allem auch auseinanderhalten zu können. Und wenn du vom Geist der Pflanzen lernen willst, dann musst du das als allererstes können.«

Ich wage es trotzdem nicht, den Ventilator wieder anzustellen. Draußen fällt ein heftiger, kurzer Regen und bringt für einige Minuten eine kleine Abkühlung in das stickige Zimmer. Meine Gedanken sind bei Javier, irgendetwas hat er darüber gesagt, was es mit dem Pfeifen bei Schamanen auf sich hat. Richtig, so war das: mit einer bestimmten Art von Pfiff ruft man die Geister oder schickt sie weg, je nachdem. Auffällig viel Gepfeife und Gewirbel war heute um mich herum, stelle ich beunruhigt fest. Ich traue Javier ja so einiges an Zauberkraft und Geisterbeschwörung zu, aber das er der Urheber des Pfeifens und der Wirbel sein könnte, glaube ich nun doch nicht.

Wahrscheinlich wieder so ein Beispiel für ein aus Sehnsucht entstandenes Wunschdenken der Kategorie »Vorstellungen«.

Ich besitze die erstaunliche Eigenschaft, noch im Einschlafen meine Intuitionen zu analysieren. Das ist mein letzter Gedanke, bevor ich endlich in einen unruhigen Schlaf falle. Kurze Zeit später wache ich jedoch schon wieder auf, die Dunkelheit um mich herum riecht nach Spannung, Aggressivität und Feuer.

Feuer? Erschrocken springe ich aus dem Bett, gehe zum Fenster. Feuerschein flackert vom Nachbargrundstück durch die Bäume, aufgeregtes Menschengemurmel durchdringt die Nacht, vereinzelt sind laute, fordernde Rufe zu hören. Ich ziehe mich an und gehe nach unten in den Innenhof, wo schon das Hauspersonal und die drei anderen Gäste aufgeregt zusammenstehen. Señora Madelaine ist aus Iquitos, kennt das sich leicht entzündende Temperament der Einwohner, hat Kinski und seine Exzesse überstanden und lebt seit langen Jahren zusammen mit dem technischem Regisseur des Fitzcarraldo-Films, einem Schweizer. So ist sie gut trainiert im Umgang mit menschlichen Absonderlichkeiten und lässt sich auch jetzt nicht aus der Ruhe bringen.

»Ich gehe nachsehen, was da los ist,« verkündet sie entschieden, schließt das Tor auf und geht den kleinen Abhang hoch zur Strasse. Ihre Tochter und Sozio, der junge Mann für alle Arbeiten im Haus, folgen ihr. Also folge auch ich. Ungefähr dreihundert Menschen blockieren die Strasse, viele tragen Macheten bei sich. Eine Mischung aus Volksfeststimmung und Aufruhr liegt in der schwülen Nachtluft. Die Menschen sind von einem Gelände in der Stadt neben dem leerstehenden alten Hotel Interconti vertrieben worden, erzählt mir ein junger Mann. Es sind hauptsächlich Frauen, die entschlossen in erster Reihe vor den hohen Umgrenzungsmauern die Macheten schwingen und im Schein von Taschenlampen alles niedersäbeln, was vor den Mauern wächst.

Währenddessen erklimmen die ersten Männer die Mauern, springen auf die andere Seite. Wuchtige Schläge von Vorschlaghämmern überdröhnen das zurückhaltende Gemurmel der Menge, doch immer häufiger ertönen anfeuernde Rufe, die Strasse füllt sich mehr und mehr mit Menschen. Schnell sind Lücken in die Mauern geschlagen, die Menschen dringen mit großer Entschlossenheit in die hinter den Zäunen wuchernde üppige Vegetation ein. In Windeseile wird im Schein kleiner Feuer alles Buschwerk niedergeschlagen, Bäume werden gefällt.

Señora Madelaine diskutiert heftig mit einem Mann, der einer der Anführer zu sein scheint. Sie ist wütend, brüllt ihn heftig gestikulierend an, zuckt dann mit den Schultern, wendet sich von ihm ab.

»Komm, Nana, wir gehen. Es sind Hitzköpfe, aber sie lassen unser Grundstück in Ruhe! Die beiden anderen Grundstücke, auf denen sie ihre Hütten bauen wollen, gehören Schweizer Bankiers, die in Miami leben.«

Diplomatisch erwidere ich nichts darauf, immerhin bin ich zu Gast im Hause eines Schweizers.

Grundstücksbesetzung in Iquitos - was für eine Nacht! Wenn wir mit unseren Vorstellungen Wirklichkeiten erzeugen, dann würde ich gerne wissen, wessen Vorstellungen die Wirklichkeit meiner ersten Nacht in Amazonien erzeugt haben – meine waren es sicher nicht!

Spät wache ich am nächsten Morgen auf. Mein erster Impuls ist, nachzusehen, wie die Nachbargrundstücke bei Tag jetzt aussehen. Anders, sehr anders als gestern: da, wo gestern noch ein dichtes grünes Baumdach die Erde überspannte, sieht es jetzt aus wie auf einem Schlachtfeld, die blanke Erde sieht aus wie eine große Wunde. Dichter, beißender Qualm bedeckt die ganze Umgebung, zieht durch jedes Fenster und jede Ritze in das Fitzcarraldo-Haus. Hohe Stangen und blaue Plastikplanen kennzeichnen die Plätze der zukünftigen Hütten. Erstaunlicherweise ist alles sehr ruhig, in kleinen Gruppen hocken die Familien zusammen, keine Polizei ist zu sehen. »Viel Glück für Euch,« murmele ich leise aus meinem Palast hinaus zu den Hütten.

Beim Duschen konzentriere ich mich darauf, mit dem an meinem Körper so erfrischend herab rinnendem Wasser auch die dunklen Gedanken der Nacht bewusst von mir abzuspülen. Gedanken, die versucht haben, die Ereignisse seit meiner Ankunft hier als schlechtes Vorzeichen für meine Reise zu werten.

Verwundert merke ich nach diesem Reinigungsritual, dass ich mich ruhig und sogar etwas fröhlich fühle und seit dem Aufwachen noch nicht einmal an Javier gedacht habe. Da weiß ich es wieder mit jeder meiner Zellen: ich werde ganz bestimmt nicht die Kostbarkeit meines Seins nur einen Tag länger mit dem Ballast von Illusionen und Selbsttäuschung ersticken. Welcher immensen Freiheit bin ich fähig, wenn ich mir nur meiner selbst bewusst bin!

Bevor ich in den Garten zum Frühstück hinunter gehe, festige ich diese Erkenntnis mit einem Ablauf von Körperbewegungen, den mir vor langen Jahren der Künstler und Heiler Don Eduardo Calderon zum Aufbau eines Schutzschildes beigebracht hat. Sollen sie kommen oder auch nicht, die Herren Dschungelführer, die Schamanen und ihre Geister, sollen sie pfeifen und wirbeln, so schnell bin ich jetzt nicht mehr zu verwirren!

Sie sind gekommen. Javier und Ricardo.

Da sitzen die beiden mit zerknirschter Miene und in linkischer Körperhaltung an meinem Frühstückstisch.

Bevor jemand von uns etwas sagen kann, kommt Señora Madelaine auf mich zu. »Bitte entschuldige, Nana, aber die beiden haben schon vor zwei Stunden vor der Tür gestanden und gesagt, du würdest sie gut kennen und auf sie warten. Da habe ich sie hereingelassen.«

»Ja,« sage ich ruhig, ohne den Blick von Javier zu nehmen, »ich kenne die beiden gut. Danke!«

Kaum ist Señora Madelaine gegangen, steht Ricardo hastig auf, murmelt etwas von »baño« und folgt dem Zeichen für »Herren«.

Das Schweigen zwischen Javier und mir vibriert. Seine tiefgründigen schwarzen Augen tauchen in das gelbe Grün meiner Katzenaugen ein und versuchen sie zu erforschen, versuchen mich zu erforschen. Keiner von uns bricht das Schweigen.

Etwas Entscheidendes hat sich zwischen uns in den letzten zwölf Monaten verändert: wir begegnen uns in einem Raum, der nicht mehr vom biochemischen Zustand der Verliebtheit gekennzeichnet ist. Unsere intensive, aber schweigende Begegnung öffnet die Tür zu einem uns verbindenden Raum, der bestimmt ist von einer neuen Qualität. Ich kann sie noch nicht benennen, aber ich spüre sie: es hat etwas damit zu tun, dass jeder von uns bewusst in seiner Kraft ist. Wir sehen uns nicht an, wir nehmen uns wahr. Eine leise, sanfte und zugleich rufende Folge von Tönen umschwirrt mich. Javiers Lippen bewegen sich kaum, er zischelt mehr als das er pfeift. Der Klang scheint nicht nur aus dem Mund, sondern aus seinem ganzen Körper zu strömen.

Mir bleibt keine Zeit, diesem Klang nachzugehen. Rambo, der an einer langen Leine angebundene Affe im nahen Baum, reagiert schneller als ich: er tobt, kreischt und schimpft. Ihm ist das Gezischel und die Spannung zwischen Javier und mir zuviel. Das scheint auch einem der neuen Besetzungsnachbarn so zu gehen, denn wummernd dreht jemand genau in diesem Moment ein Radio auf der anderen Seite des Zaunes auf. Fast gleichzeitig brechen Javier und ich in ein übermütiges Lachen aus, das den angespannten Verbindungsbogen zwischen uns in Wasserperlen verwirbelt. Es dauert einen Augenblick bis ich merke, das unser Wasserperlengelächter sich auf meiner Haut niederschlägt – es regnet. Wir stehen im warmen Regenguss in der Regenzeit im Regenwald und regen uns endlich – wir umarmen uns. Sozio, der überall gleichzeitig zu sein scheint, hat den immer noch nicht angerührten Frühstückstisch unter die Überdachung des kleinen Restaurants gezogen.

»Dreimal Frühstück bitte,« rufe ich ihm zu.

Noch bevor das heiße Wasser für Pulverkaffee und Teebeutel auf dem Tisch steht, überschütten Javier und Ricardo mich mit bemerkenswerten Geschichten, die erklären sollen, warum sie gestern nicht am Flughafen sein konnten: Ricardo ist gestern Nacht sehr spät mit einer Gruppe amerikanischer Touristen zurück aus einer Dschungellodge gekommen und mitten auf dem Fluss ging ihnen der Sprit für das Boot aus.

»Kein Wunder, dass Amerikanern hier der Sprit ausgeht,« bemerke ich trocken, »wo sie doch immer noch eifrig den Rohstoff für ihren eigenen Sprit aus der Erde des Dschungels herauspressen.«

Javier hat eine traurige Geschichte zu berichten: an Bord seines Bootes ist ein betrunkener Mann gewesen, der beim Urinieren in den jetzt in der Regenzeit hoch angeschwollenen Ucayali gestürzt ist. Sie haben lange nach ihm gesucht, konnten seinen Körper aber nicht finden. »Er ist gleich untergetaucht wie ein Stein, der Fluss hat eine sehr starke Strömung und viele gefährliche Wasserwirbel.«

Vor meinen inneren Augen und Ohren ziehen Geschichten vorbei, die mir Rosaura, die alte Kräuterfrau, von den im Fluss lebenden Wasserfrauen erzählt hat: sie nehmen den Ertrunkenen zu sich in ihre Welt unter dem Wasser, dort lebt er dann umgeben von all dem, was er sich wünscht - Gold, Frauen, gutes Essen . . .

Javier scheint zu wissen, woran ich denke, denn er zieht eine mapacho aus seiner Hosentasche, diese schwarzen, starken Zigaretten aus Dschungeltabak, gibt Ricardo und auch mir eine.

»Auf ein gutes Leben für den Ertrunkenen im Reich der Wasserfrauen!«

Wir paffen, die dichten, würzigen Rauchwolken vertreiben die kleinen lästigen Mücken, die sich vom Regen unter das Palmdach zu uns geflüchtet haben.

»Sag mir, Nanita, hast du bei dir zu Hause den Geistern auch guten Rauch geschenkt? Und hast du sie mit dem Rauch vertrieben oder gerufen.« Er grinst mich an. »Claro! Ich habe nicht vergessen, was eine gute Schamanenschülerin zu tun hat: rauchen und singen, singen und rauchen. Geister vertreiben, Geister herbeirufen!«

Dass ich trotz rituellen Gebrauchs von Tabak immer noch Nichtraucherin bin, erzähle ich ihm nicht, ich will ja nicht gleich am ersten Tag mein Image untergraben…

»Mein Mann hat sich als Raucher sehr gefreut, dass ich jetzt auch manchmal rauche,« setze ich hinzu und beobachte Javiers Mienenspiel. Ganz der selbstbewusste Macho von Welt, zuckt er nur kurz mit den Wimpern und erwidert gelassen, während er sein Spiegelei zerteilt: »Ja, es ist nie gut, alleine zu rauchen. Ich rauche jetzt manchmal zusammen mit Doña Negrita, so haben wir im Ritual mehr Kraft.«

Doña Negrita! Bei diesem Namen zucke ich zusammen und blicke Javier entgeistert an. »Heißt das, du arbeitest jetzt mir ihr zusammen?«

»Sie ist eine mächtige Schamanin, ich kann noch viel von ihr lernen, sie weiß ganz andere Sachen als Benito.«

Die Schamanin Doña Negrita – ist eine Frau, die im ersten Moment unserer Begegnung Misstrauen und Abneigung in mir hervorgerufen hat. Und nun arbeitet Javier ausgerechnet mit ihr zusammen, mit dieser falschen, koketten Hexe!

Ich rühre den dritten Löffel Zucker in meinem Coca-Tee um, obwohl ich ihn sonst immer ungesüßt trinke. Auf keinen Fall will ich mir anmerken lassen, wie mich der Gedanke an die Zusammenarbeit der beiden aufregt. Gut, dass Coca-Tee so wohltuend für den Magen ist, vor allem bei Aufregungen! Ricardo und Javier unterhalten sich weiter über Doña Negrita und Benito, ich höre nicht zu. Mich beschäftigt vielmehr, dass ich schon wieder in eine Vorstellungsfalle getappt bin. Was maße ich mir eigentlich an, über die Arbeit von Doña Negrita zu urteilen, nur weil ich sie nicht mag? Und sollen alle Menschen bewegungslos dort verharren, wo ich sie vor Monaten verlassen habe, wie in einem Zaubermärchen?

Noch keine zwei Stunden bin ich mit Javier zusammen und schon versteht er es, mich wieder in das komplizierte Gewebe der geistigen Welten und weltlichen Händel der Dschungelschamanen hineinzuziehen! Ich habe das Gefühl, diese Welt hier erst gestern verlassen zu haben – oder vielleicht habe ich sie auch gar nicht verlassen, obwohl ich weggefahren bin. Ricardo erzählt von seiner Großmutter Rosaura, die ihn und seinen Bruder Ernesto großgezogen hat. »Sie fragt schon seit Wochen fast jeden Tag, wann du endlich kommst, Nanita. Und Ernesto will dich auch sehen.«

Ernesto – noch ein Schamane aus meiner Dschungel-Großfamilie, nicht viel weniger attraktiv als Javier. Ich stehe auf und gehe, ohne etwas zu sagen, auf das Haus zu. Erstaunt blicken die Männer mir nach. Damit habe ich gerechnet und drehe mich äußerst lässig um, winke auffordernd mit der Hand. »Also kommt, Männer, lasst uns nach Nueve de Octubre fahren!«

»Aber doch nicht gleich, Nanita, doch nicht schon heute,« ruft mir Javier hinterher. Ich habe es geschafft, ihn zu irritieren, das gefällt mir.

»Warum nicht, oder willst du noch all deine Freundinnen in Iquitos besuchen?«

Ich warte Javiers Entgegnung nicht ab und gehe ins Haus, hoch in mein Zimmer. Es klopft nur wenige Augenblicke später an meine Zimmertür. In der Erwartung, ihn vor der Tür stehen zu sehen, öffne ich. Señora Madelaine steht da, nun bin ich es, die irritiert ist. »Nana, die jungen Männer draußen haben mir gesagt, dass du heute noch abreisen willst. Ist das so?«

Ich stottere, dass ich das noch nicht genau weiß, aber ihr in der nächsten Stunde Bescheid geben werde.

Ich lege mich auf das Bett, um nachzudenken. Was mache ich da eigentlich gerade, was will ich mit meinen kleinen Spielchen bewirken? Kräfte messen, Terrain abstecken, Äußerungen von Zuneigung hervorlocken? Ich bin vor allem verunsichert, weil ich nicht weiß, wie ich mich Javier gegenüber verhalten soll, welcher Art von Beziehung wir haben. Da helfen keine Spielchen und keine Überlegungen – ich werde es wissen, wenn ich mich auf das risikoreiche Feld der Erfahrung einlasse. Also alles wie immer, resümiere ich, stehe auf und gehe zurück in den Garten. Dort sind Javier und Ricardo damit beschäftigt, sich mit dem alten Rambo zu unterhalten. Sie erzählen ihm vom freien Affenleben im Dschungel und er hört interessiert zu.

»Bevor ihr Rambo in das freie Leben entführt, würde ich mich sehr freuen, wenn ihr mich in die Stadt entführt und die Stellen und Menschen zeigt, die euch gefallen. Und morgen fahren wir dann nach Nueve de Octubre. Was haltet ihr davon?« Ricardo und Javier blicken sich kurz an, nicken übereinstimmend.

»Gut gefällt mir das, Nanita.« Javier lächelt mich an. »Als du eben so komisch weggegangen bist, dachte ich, du bist vielleicht in den zwölfeinhalb Monaten so eine komplizierte Frau geworden, wie es die meisten der Besucherinnen aus euren West-Kulturen sind: sie wissen nie, was sie wirklich wollen, außer, dass sie das, von dem sie nicht wissen das sie es wollen, bestimmen wollen.«

Oh je, armer Javier! Er scheint ja in der Zwischenzeit so einige neue Erfahrungen gemacht zu haben. Aber irgendwie hat er nicht so ganz unrecht mit seiner Beobachtung, muss ich zugestehen. Wir verabschieden uns von Rambo mit dem tröstenden Hinweis darauf, dass er es doch eigentlich sehr gut hat in diesem Garten. Mit skeptischer Miene schaut er uns schweigend hinterher. Ich sage Señora Madelaine, dass ich noch eine Nacht bleiben werde.

»Und bleiben die beiden Männer auch?« fragt sie. »Höchstens nur einer von beiden,« antworte ich, und sie lächelnd wissend.

Als wir auf der Straße vor dem Casa Fitzcarraldo auf ein Motocar warten, herrscht dort reger Betrieb – aber von anderer Art als in der letzten Nacht. Kinder und Frauen schleppen Eimer mit Trinkwasser auf das besetzte Gebiet, Männer tragen Stöße von Holzlatten über die aufgeweichte, rote Erde, einige Frauen hocken am Straßenrand und verkaufen Essen: Reis mit Hühnerresten – Innereien, Hälse, Füße, Bürzel - und die mir vertrauten juane, in Blättern eingewickelter und auf dem Feuer gegarter, gelb gewürzter Reis, ebenfalls mit etwas Huhn in der Mitte des Kloßes.

Einige der Lattengerüste auf den Grundstücken sind schon mit der unvermeidlichen blauen Plastikplane überzogen und sind somit als fertige Hütten anzusehen. Ich erzähle meinen Freunden von der nächtlichen Besetzung, und bis ein Motocar anhält, sind wir mitten in einem politischen Gespräch: Korruption der Regierung, Dollarabhängigkeit der Wirtschaft, mangelnde Bildung und Ausbildung der Armen, die traurige Rolle der Kirchen. Als ein Motocar hält, gibt Ricardo als Ziel Belén an. Ich bin froh, so gut geschützt zwischen den beiden Männern zu sitzen, als sich unser Motocarfahrer mit waghalsigem Fahrstiel durch Tausende von knatternden, stinkenden Motocars ans andere Ende der Stadt manövriert. Belén wird in den Reiseführern sehr romantisch auch »Klein-Venedig von Iquitos« genannt – welch ein Hohn für die dort lebenden Menschen! Überschwemmungen, Seuchen und verheerende Feuer sind an der Tagesordnung. Windschiefe, armselige Holzhütten auf hohen Pfählen, die jetzt, in der Regenzeit, nur mit kleinen Booten zu erreichen sind, die braune Brühe des Amazonas schwappt zwischen den Hütten. Abfälle jeder Art, auch Kadaver von Tieren schwappen mit. Scharen von schwarzen Geiern bemühen sich in ihrer Funktion als Gesundheitspolizei die Reste der toten Tiere zu beseitigen.

»Damit du besser verstehst, warum einige Menschen so mutig waren, heute Nacht die ungenützten Grundstücke der reichen Schweizer zu besetzen,« ist Ricardos einziger Kommentar, als er mir das »romantische« Belén zeigt. Weiter oben, wohin das Wasser nicht kommt, reiht sich Verkaufsstand an Verkaufsstand. Alles, was verkaufbar ist, wird hier angeboten. Ich bleibe an einem Stand stehen, der aussieht wie die Traumapotheke aller Ethnobotaniker: Hölzer, Rinden, getrocknete Pflanzen, gebündelte Blätter, eigenartig geformte Samen, Schildkrötenfett, Schlangenfett, Schlangenhäute, in einem Glas der Kopf einer schwarzen Boa, in einem anderen der in Schnaps eingelegte Penis eines Nasenbärs, in einem Eimer auf der Erde eine lebendige gelbe Boa – und eine Vielzahl von Flaschen mit geheimnisvollen pflanzlichen Inhalten.

Ich staune. Die Besitzerin dieses Wunderlandes erscheint ihrem Angebot entsprechend wie aus dem Nichts neben mir und überschüttet mich mit Informationen zu den bestaunten Flaschen. Sie ist eine kleine, rundliche Frau über sechzig, mit blitzenden schwarzen Mäuseaugen und einer weißen Schürze.

So schnell wie sie redet bekomme ich nur mit, dass fast alles auf ihren Regalen nicht nur Mittel gegen Krankheiten sind, sondern vor allem Mittel für Liebe, erfolgreiche Geschäfte, Schutz und gegen den Verlust der sexuellen Kraft sind. Javier ist die ganze Zeit schweigend hinter mir gegangen. Ohne dass er mich berührt hat, habe ich die Empfindung, dass seine rechte Hand auf meiner rechten Schulter liegt. Ein schneller Seitenblick belehrt mich eines Besseren, sie liegt dort nicht. Javier fragt die Kräuterfrau nach etwas, ich kenne das Wort nicht. Sie schüttelt mit dem Kopf, kramt in Pappkartons, schüttelt wieder mit dem Kopf. »Warte einen Moment,» sagt sie und verschwindet im Gewühl zwischen den Ständen. »Was sucht sie?« frage ich neugierig.

»Das kann ich dir nicht sagen und ich kann es dir auch nicht zeigen, sonst verliert es seine Wirkung und ich kann es nicht mehr benutzen. Ich hoffe nur, sie kann es mir besorgen.«

Ricardo sitzt am Stand des Nachbarn und hat sich zu einer dunklen, Flüssigkeit aus einer Flasche mit eingelegten Holzstücken einladen lassen – ein Stärkungsmittel für Männer.

Da kommt die Kräuterfrau auch schon wieder, strahlend. Sie hat es! Vergeblich versuche ich zu sehen, was es ist. Sie steckt Javier ein sehr kleines, in Zeitung gewickeltes Päckchen zu, es verschwindet in seiner Hosentasche. Also kann es weder lebendig noch zerbrechlich sein, folgere ich. Javier lächelt über meine offensichtliche Neugierde. »Du erinnerst dich an die Schamanenregel Nummer drei?« fragt er, immer noch lächelnd. »Mein Erinnerungsvermögen ist legendär,« verkünde ich großspurig. »Wahrscheinlich meinst du das: für ein wirksames Handeln oder ein wirksames Nicht-Handeln ist es entscheidend, den richtigen Moment zu erkennen! Ob das die Nummer drei in deiner Ordnung ist, weiß ich aber nicht mehr so genau. Du willst mir also sagen, jetzt sei ein guter Moment zum wirksamen Nicht-Fragen!« Bevor Javier kontern kann, schaltet sich die Kräuterfrau in unser Geplänkel ein. Ihre vorher so geschäftstüchtig blitzenden kleinen Augen blicken nun tiefgründig und ernst auf Javier.

»Señor, du bist ein Schamane?« Javier nickt.

»Die Frau, die bei dir ist, braucht deinen Schutz. Jemand versucht, ihr zu schaden.« Sie sieht mich an. »Du bist eine starke Frau, aber große Stärke macht auch große Schwäche. Schütze deine Stärke, zeige sie nicht, dann bist du nicht so schnell angreifbar.«

Sie drückt mir ein kleine Glasflasche in die Hand.

»Das schenke ich dir. Reibe dich damit ein, es wird dich schützen, wenn jemand mit schlechter Absicht auf dich blickt, ob Mensch oder Geist. Ich sehe, dass du die Geister anziehst, das wird seinen Grund haben, aber du musst gut auf dich aufpassen, auch Geister können Schaden bringen, nicht nur die Menschen.«

Bevor ich begriffen habe, was sie sagt, ist sie auch schon im Gewühl zwischen den Ständen verschwunden. Als ein ihr entgegenkommender Lastenträger sie anrempelt, dreht sie sich noch einmal um und blickt sie mich kurz, aber durchdringend an. Ich bin verstört, wie kommt die Frau dazu, so etwas zu mir zu sagen, sie kennt mich doch gar nicht! Ich mag diese Art von orakelhaften Andeutungen nicht, über die jemand sein seherisches Wissen andeutet, aber nichts sagt. Und ganz besonders mag ich es nicht, wenn man mir Angst machen will vor etwas, was ich noch nicht kenne. Wenn ich der Gefahr begegne, werde ich schon sehen, ob ich Angst habe oder nicht. Und die Philosophie von »große Stärke impliziert große Schwäche« ist mir nicht neu, hat doch der Philosoph und Freund Arnold Keyserling oft davon gesprochen, dass jede Wunde, jede Schwäche auch ein Schwert ist. Wenn Sie erkannt wird, trägt sie die Möglichkeit der Befreiung in sich.

Ich drehe mich zu Javier um, er steht immer noch hinter mir. Vielleicht geht und steht er immer hinter mir, weil er mich nicht gegen die zahlreichen Taschendiebe hier schützen will, sondern gegen etwas ganz anderes?

»Javier, hast du gehört, was sie gesagt hat? Wie meint sie das?«

Er legt seinen Arm und meine Schulter, ruft zu Ricardo herüber, dass wir jetzt gehen, und zieht mich mit sich. Schweigend und mit schnellem Schritt verlassen wir den Markt von Belén. Ricardo schnauft einige Meter hinter uns. »Was ist denn los, warum rennt ihr so? Gefällt Nana etwa mein Lieblingsort nicht?«

Javier winkt ein Motocar heran. »Kommt, wir fahren an den Boulevard und trinken dort etwas, dann reden wir. Immer noch ist an einigen der alten Häuser etwas vom Glanz der Kautschukzeit zu ahnen, in der Iquitos eine herausgeputzte, umworbene Schöne der Kautschukbarone war. Malecón Tarapacá, der Boulevard – eine sehr großzügige Bezeichnung für die etwa zweihundert Meter lange Flanierzeile der Stadt. An einer Seite reiht sich Restaurant an Restaurant, die andere Seite des breiten Boulevards wird begrenzt durch eine hüfthohe Balustrade aus weißen Säulen. Und dahinter, bis zum Horizont, nur Wasser und die fernen Silhouetten von Bäumen: Der Amazonas.

Bis wir uns an einen der Tische im Schatten eines Cafés gesetzt haben, ist Ricardo schon von allen Seiten mit Zurufen von Einheimischen und auch von Touristen begrüßt worden. Er ist beliebt, vor allem wegen seiner Freundlichkeit und Zuverlässigkeit. Ich wundere mich, dass alle ihn mit »Betto« anreden. Als wir uns an einem der Tische vor einer Bodega hingesetzt haben, frage ich ihn danach. Er lacht und setzt sich eine riesige, verspiegelte Sonnenbrille auf. »So sehe ich cooler aus,« meint er, »das finden die chicas gut. Ja, hier im Touristengeschäft kennen mich alle nur unter dem Namen Betto. Ricardo nennt mich nur meine Familie, du kannst auch Betto zu mir sagen, das gefällt mir besser.« Er nimmt die coole Sonnenbrille wieder ab und lächelt mich auffordernd an.

»Na gut, Ricardo, dann nenne ich dich jetzt auch Betto!« Als ich ihn jetzt ansehe, fällt mir auf, wie dünn er seit dem letzten Jahr geworden ist.

Javier hat einen Krug mit dem gelben Saft der cocona-Frucht bestellt und gießt uns davon ein. Javier. Ich betrachte ihn unauffällig und finde, er ist noch schöner als vor einem Jahr. Doch »schön« ist nicht die richtige Bezeichnung für ihn, überlege ich, »intensive Ausstrahlung« wäre wohl zutreffender. Sein dichtes, blauschwarzes Haar ist jetzt kürzer, was sein markant geschnittenes Gesicht noch besser zur Geltung bringt als vorher die schulterlange Mähne. Aber eigentlich nehme ich nur seine Augen wahr. Sie scheinen feine Funken von dunklem, glühenden Feuer zu versprühen, wenn sie mich ansehen. Und jetzt sieht er mich an, hat mit einer Feuerschlinge aus seinen Augen heraus mich eingefangen. Ich bekomme einen trockenen Mund, trotz der Erfrischung. Wie anders habe ich mir doch die erste Begegnung mit ihm vorgestellt! Privater, romantischer … Erstaunlich, wie viel Speicherplatz für Vorstellungs-Schaum in meinen Hirnwindungen ist. Ich sehe ihm an, dass er mir gleich etwas Wichtiges sagen wird, aber es wird bestimmt nichts Privates und auch nichts Romantisches sein, das weiß ich auch ohne Orakeltante.

»Nanita, du bist lange fortgewesen. Lange.« Javier schweigt erforscht mein Gesicht. »Und aus deiner Sicht bin auch ich lange fortgewesen. Wir wissen beide, dass wir uns in dieser Zeit trotzdem nahe gewesen sind. Ich habe dich gesehen, die Mutter der Ayahuasca hat dich mir oft gezeigt, sie hat dich geschützt, denn ihre Welt kennt keine Grenzen und Entfernungen. Du bist gewachsen in deiner Kraft Nanita, und ich auch. Wir werden uns neu kennenlernen, in unserer neuen Kraft. Aber jetzt ist nicht der richtige Moment, um darüber zu reden. Jetzt will ich über das sprechen, was da auf dem Markt los war, denn das ist wichtig. Ich kenne die Kräuterfrau nicht, bei der wir waren.

Aber ich habe gleich gesehen, dass sie sehr besondere Pflanzen, Pasten und Samen anbietet. Mittel, mit denen nur sehr erfahrene Schamane arbeiten.« »Welche Mittel meinst Du, Javier?«

»Warte, Nanita, warte, denn ich werde dir den Namen der Mittel nicht sagen und auch nicht, wie sie aussehen und was man damit macht. Du wüsstest dann auch nicht mehr von ihrem mächtigen Geist, als wenn ich dir gar nichts sage. Du würdest nur denken, das du etwas weißt, weil du Wörter gehört hast.«

»Gut, das verstehe ich. Aber ich verstehe immer noch nicht, was so Wichtiges geschehen ist bei dieser Kräuterfrau, und warum sie das zu mir gesagt hat, was sie gesagt hat.«

»Nanita, diese Kräuterfrau ist mehr als nur eine Kräuterfrau. Als ich sie nach dem gefragt habe, was ich suche, habe ich ihr wirkliches Gesicht gesehen. Sie ist eine, die mit den Geistern sprechen kann, ohne Ayahuasca zu trinken. Deshalb konnte sie mich auch erkennen als jemanden, der in die Geisterwelt geht, um zu heilen. Ich weiß nicht genau, woher die Bedrohung für dich kommt, aber ich habe sie gespürt, seitdem ich mich gestern morgen auf den Weg zu dir gemacht habe. Denn der arme Mann konnte nur in den Fluss stürzen, weil ganz plötzlich ein Windwirbel über das Wasser fegte, der ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Und du weißt bestimmt noch, Nanita, dass ein plötzlich aufkommender Windwirbel immer Krankheit oder anderen Schaden mit sich bringt.«

Ein Windwirbel. Ich bekomme leichte Gänsehaut trotz zweiunddreißig Grad feuchter Hitze, und erzähle Javier bei einem zweiten Krug Fruchtsaft alles über die Windwirbel und das Gepfeife des gestrigen Tages. Betto scheint auf dem Stuhl im Schutz seiner tollen Sonnenbrille eingeschlafen zu sein, denn er sagt während des ganzen Gesprächs kein Wort. Doch jetzt nimmt er die Brille ab und bietet uns eine mapacho an.

»Lasst uns rauchen, das schützt vor unheilvollen Absichten anderer Leute und macht das Denken leichter.«

Dementsprechend konzentriert rauchen wir schweigend.

»Ich habe die Kräuterfrau schon einmal gesehen,« fährt er nach dem Ausstoßen seiner letzten Rauchwolke weiter. »Nicht hier in Iquitos, sondern draußen im Dschungel, den Fluss weiter in Richtung Leticia, in einem kleinen Dorf bei Pevas, am Rio Ampiyacu. Dort lebt das Volk der Ocaina. In ihrem Dorf leben noch ungefähr zwanzig Familien und sie haben einen sehr alten Schamanen, aber er trinkt kein Ayahuasca. Dort habe ich die Kräuterfrau gesehen, aber ich weiß nicht, ob sie da lebt oder nur zu Besuch war.«

Mit einer unwirschen Handbewegung würgt Javier den anschwellenden Redefluss ab, Betto verstummt.

»Es ist im Moment nicht von Bedeutung, wer sie ist und woher sie kommt. Von Bedeutung ist, was sie gesagt hat. Es stimmt mit dem überein, was ich in meinen nächtlichen Visionen seit einigen Wochen als einen dunklen Schatten hinter dir gesehen habe, seitdem du geschrieben hast, dass du zurückkommen wirst. Du bist erst seit gestern hier, Nanita, aber etwas oder jemand versucht bereits, Macht über dich zu bekommen und dir zu schaden. Aber sorge dich nicht, bei Benito und mir bist du geschützt, wir sind die Meister der Geister!«

Javier lacht herzhaft über seine letzte Bemerkung, mir bleibt das Lachen im Halse stecken. So hatte ich mir meine Rückkehr in die bei der ersten Reise für mich so heilsame Welt der Dschungelschamanen nicht vorgestellt! Auch bei aller Nicht-Vorstellung und aller Nicht-Erwartung: so nicht!

Betto verhindert, dass sich Ansätze von Furcht in mir einnisten können, denn lautstark verkündet er, dass er Hunger hat. Die Kombination »Essen-Geister-Javier« erinnert mich daran, was Benito mir gesagt hat: »Es gibt nur drei Dinge, die wichtig sind im Leben: Man muss etwas zum Essen haben, man muss Liebe haben und man muss ein gutes Verhältnis zu den Geistern haben.«

Die beiden ersten Punkte kann ich als erfüllt abhaken, aber mein gutes Verhältnis zur hiesigen geistigen Welt ist ins Wanken geraten.

Das Motocar bringt uns wieder hinaus aus der lärmenden Stadt, zum kleinen Hafen von Nanay am gleichnamigen Fluss. Ein kleiner Anlegeplatz für Fischer und Boote aus den Dörfern am Nanay, viele Garküchen und Marktstände. Es riecht verlockend nach auf dem Feuer gebratenem Fisch. Zielstrebig steuert Betto auf den großen Grill einer kleinen, älteren Frau zu.

»Hola, mamita,« ruft er und winkt ihr lachend zu.

»Hola, joven! Schön, dich zu sehen! Hast du endlich deine Freundin mitgebracht?«

Neugierig betrachtet sie mich, ohne dabei den Fisch auf dem Grill aus den Augen zu lassen. Sie schiebt ein in Blätter eingewickeltes, längliches Päckchen von der glühenden Holzkohle an den kühleren Rand des Grills, das ehemals grüne Bananenblatt ist leicht angekohlt. Ein kurzer Wortwechsel zwischen Betto und ihr, und schon sitzen wir auf einer langen Bank an einem mit verschlissenem Wachstuch bedecktem Tisch, das Blätterpäckchen auf einem riesigen Teller in der Mitte. Betto öffnet es mit flinken Fingern.

Patarasca de doncella kommentiert Javier mit zufriedener Miene den Anblick des in Koriander, Zwiebeln, Knoblauch und Salz eingelegten Fisches. Auf dem Grill geröstete, trockene Bananen und eine Schüssel voll Reis vervollständigen das Mahl, das schweigend und schnell in den Mündern der Männer verschwindet. Ich bin etwas langsamer, wie immer, wenn es Fisch gibt. Ich werde es wohl nie lernen, so sauber und flink alle Gräten abzulutschen! Noch eine Runde des süßen, nach Kaugummi schmeckendem peruanischen Nationalgetränks »Inca Kola« und wir sehen uns zufrieden aus mittagsmüden Augen an. Betto gähnt. »So. Jetzt habe ich dir zwei Plätze in meiner Stadt gezeigt, Nanita, die ich gerne habe. Javier, nun bist du dran, etwas zu zeigen. Schließlich hast du ja auch einige Jahre hier gelebt und gearbeitet.« In Javiers Augen blitzt ein Schalk auf, der mir sehr vertraut ist. »Ich soll Nanita einen Platz zeigen, den ich gerne habe? Kein Problem, fahren wir zurück ins Casa Fitzcarraldo.«

Betto protestiert – und ich verstehe.

»Und wo soll ich bleiben?« murrt er aufsässig, als ich mir kurze Zeit später von Señora Madelaine den Schlüssel für mein Zimmer geben lasse.

»In der Hängematte am Pool, Rambo wartet sicher schon auf dich!«

Javier grinst ihn aufmunternd an, und folgt mir durch das angenehm kühle Haus. Etwas irritiert bemerke ich den kleinen Ozelot, der sich auf dem großen Mahagonitisch im allgemeinen Aufenthaltsraum ausgestreckt hat und mich träge anblinzelt. Ich blinzele zurück. Diese Augen! Es sind die Augen des Jaguar, der mir in dem wichtigsten Heilritual meiner letzten Reise sein Lied gesungen hat. Oder erliege ich gerade der Ego-Verlockung, alle Erscheinungen und Vorkommnisse auf mich zu beziehen?

»Walter liebt Wildkatzen. Aber er ist ja auch nicht immer da, ich bin es, die den Ärger hat, wenn sie jemanden anfallen,« Señora Madelaine ist neben mir aufgetaucht, der ärgerliche Klang ihrer Stimme reißt mich ernüchternd aus meiner Jaguar-Meditation. Die nächste Ernüchterung überfällt mich, als ich zu die Treppe hoch zu Javier blicke, der wartend an meiner Zimmertür lehnt. Irgendetwas stimmt für mich nicht daran, jetzt mit ihm in mein Zimmer zu gehen, in mein Bett. Dieser ganze Zirkus auf dem Markt und die Warnungen vor Schadenszauber haben eine kleine innere Distanz zu Javier geschaffen. Dahinter kann doch nur jemand stecken, der mich kennt! Und jeder hier, der mich kennt, kennt auch Javier. Was ist seine Rolle in diesem Spiel der Verunsicherung und Einschüchterung? Meine alte Krimi-Freundin Miss Marple steigt aus der Krimi-Abteilung meiner Gehirnwindungen heraus und raunt mir zu: »Mach es wie ich: sei langsam und beobachte aufmerksam, damit du zur geeigneten Zeit schnell handeln kannst.« Miss Marple hat wieder einmal recht mit ihrem Hinweis. Ich werde mich nicht ängstigen lassen, nicht durch Geister und nicht durch Menschen, ich werde wach gegenüber meinem Umfeld sein um gegebenfalls eine wirkliche Gefahr erkennen zu können.

»Erst lange im Zustand der Beobachtung des Feldes aller Möglichkeiten bleiben, bevor du den Fokus auf eine der vielen Möglichkeiten setzt,« doziert die alte Dame noch weiter, während ich schon die Zimmertür aufschließe – Javier im Rücken.

»Hast du etwas dagegen, wenn ich dusche?«

Javier verschwindet im Bad. Als er mit einem Handtuch um die Hüften wiederkommt, gehe ich unter die Dusche. Ich bin völlig durchgeschwitzt, es ist im Laufe des Vormittags fast unerträglich schwül geworden, der Himmel hat sich mit schweren dunklen Wolken zugezogen, die so tief hängen, dass sie gleich die Erde zu berühren scheinen.

Ich bleibe lange unter der Dusche. Die biochemische Gefühlswallung der Vorfreude auf ihn mit all ihren trügerischen Vorstellungen ist in den letzten Stunden abgeklungen. Was will ich, was stimmt für mich, jetzt? Als ich zurück in das Zimmer komme und Javier auf meinem Bett liegen sehe, gewinne ich mein Vertrauen in die mir wohlwollenden geistigen Kräfte zurück: Javier ist eingeschlafen. Doch es ist ein Kennzeichen der nichtsichtbaren Kräfte des Lebens, im Schamanismus oft »Geister« genannt, dass sie sind wie der Wind, oder, unserm Bildungssystem entsprechend ausgedrückt: »Der Geist weht, wo er will.«. Daran erinnere ich mich kurz, als ich anfangs bewegungslos an der Außenkante des breiten Bettes liege, mit viel Abstand zwischen Javier und mir. Anfangs.

Dann wirbelt ein frischer Wind durch die Schwüle des Nachmittags – und die Geister haben Lust an einem neuen Tanz. Es gelingt den Geistern, ihre Lust auf ein neues Bewegungsspiel irgendwie auf Javier und mich zu übertragen. Ein Spiel des Erkennens von Vertrautem beginnt, ein Spiel der Entdeckung von Neuem. Welten später reißt uns ein durchdringender Pfiff aus dem Takt unseres Tanzes. Wir sehen uns an und beginnen zu lachen. Dieser Pfiff kommt aus einer uns sehr vertrauten Welt: Ricardo ist das Warten leid. Schnell duschen wir und ziehen uns an. Beim Anziehen frage ich: »Sag’, Javier, dieses Pfeifen, das ich gestern immer gehört habe, warst du das?«

»Nein, Nanita, das war ich nicht. Es gibt Schamanen, die können sich über weite Entfernung so bemerkbar machen, ich kann das nicht.« Ein kühles Bier beruhigt Ricardo schnell, Javier und ich feiern mit einem Pisco Sour meinen ersten Tag in Amazonien, unseren ersten gemeinsamen Tag. Die Männer wollen zum Abendessen wieder auf den Boulevard fahren, unter Leute gehen. Ich verweigere mich, mir ist danach, in Ruhe dem Geschehen des Tages nachspüren zu können. Nach einigem Hin und Her und mit dem wiederholten Versprechen, sehr bald wieder zurück zu sein, verabschieden sich Ricardo und Javier – irgendetwas scheint sie unwiderstehlich in die Stadt zu ziehen.

Señora Madelaine serviert mir am Pool ein köstliches Fischgericht: chicharron de dorado, frittierte Fischstückchen mit pikanter salsa und Reis, dazu ein Salat aus dem weißen, in lange dünne Streifen geschnittenen Mark der Palme. Anstelle eines Nachtisch unterhält sie mich mit Geschichten aus der Zeit des »verrückten Kinski«.

»Un hombre locco,« lacht sie immer wieder kopfschüttelnd, er hat seine Wirkung auf sie auch nach vielen Jahren nicht verloren. Einige Meter entfernt von unserem kleinen Tisch steht hinter der Drahttür des kleinen Käfigs unbeweglich der junge Ozelot mit hochgestellten Ohren. Er lauscht. Von den besetzten beiden Grundstücken klingen Rufe, Radiomusik und Gehämmer herüber, sonst höre ich nichts. Was hört er, der Gefangene?

Ich springe in das warme Wasser, schwimme ein paar Runden, sage dem Affenherrn Rambo gute Nacht und gehe in mein Zimmer. Ich bin müde, aber die Boten des erholsamen Schlafs scheinen sich auch auf dem Bou-levard herumzutreiben, bei mir sind sie jedenfalls nicht. Ich atme den Geruch unseres Tanzes ein, der noch in den Laken eingefangen ist. Javier – es war schön, so mit ihm zusammen zu sein.

Aber. Ja, da hat sich ein »aber« in die Freude der Umarmungen eingeschlichen. Ich hole das kleine Fläschchen der Marktfrau aus meinem Rucksack, sehe es mir genau an: in dunkelgrüner Flüssigkeit sind kleine Pflanzenteile eingelegt. Ich kann sie keiner der Pflanzen, die ich bei Rosaura oder Benito kennengelernt habe, zuordnen. Nur etwas erkenne ich wieder: einen kleinen Strang von weißen Kugeln, die wie eine dichte Perlenschnur aussehen – oder wie der Schwanz eines Skorpions. Ich schraube die ehemalige Parfümflasche auf und rieche daran: es riecht angenehm frisch, nach duftenden Pflanzen und ein wenig wie agua florida, das die Dschungelschamanen in ihren Heilritualen benutzen. Ich stecke die Flasche zurück in die Seitentasche meines kleinen Rucksacks. Morgen, bevor ich auf das Boot nach Nueve de Octubre gehe, werde ich dieses geheimnisvolle Schutzwasser benutzen, man weiss ja nie, welche Geister über dem Wasser schweben...

Ich freue mich sehr darauf, Benito, Rosaura, Ernesto, Javiers Familie und die Freunde im Dorf wiederzusehen, aber da ist auch Doña Negrita. Etwas hat sich verändert in meinem Gefühl zu Javier, ich warte nicht mehr auf ihn. Als er sich spät nachts eng an mich drückt, ich dadurch aufwache und er mich gerne wach halten möchte, drehe ich mich um, rolle mich zusammen und schlafe weiter. Morgens, als ich aufwache, ist seine Bettseite leer. Auf dem Tisch liegt ein Zettel: »Nanita, ich muss noch Besorgungen für Benito und meine Familie machen. Das Boot fährt um zehn Uhr, ich hole dich um neun Uhr ab.« Also habe ich noch zwei Stunden Zeit, frühstücke in Ruhe am Pool in der schon stechenden Morgensonne, steige die steilen Leitern hoch in eines der Baumhäuser und beobachte von oben das Geschehen auf den Nachbargrundstücken. Das neue Hüttendorf wächst schnell, die Farbe Plastikblau dominiert. Ich steige wieder herunter, schenke Rambo meine Frühstücksbanane, bezahle das Zimmer.

»Wohin fährst du jetzt?« fragt mich die Señora.

Ich nenne ihr Nueve de Octubre, sieben Stunden im Boot den Ucayali hoch. »Was willst du dort?« fragt sie weiter.

Eine gute Frage und eine notwendige Frage, die ich mir selber seit dem Aufwachen heute morgen stelle.

»Ich will erfahren, was hinter den materiellen Erscheinungen der Welt steht, was Geist ist und wir wirklich Geister sind.«

Die »Kinski-geprüfte« Señora sieht mich etwa so an, wie man ein von Fantasiewelten erzählendes Kind ansieht. »Und die Antworten darauf willst du in diesem Nueve de Octubre finden?«

»Vielleicht werde ich sie dort finden, vielleicht aber auch woanders.«

Als Javier kurz vor neun kommt, steht mein Gepäck schon unten im Hof. Wir umarmen uns kurz zur Begrüßung, verstauen mein Gepäck im Motocar und fahren wie gestern durch die Stadt zum kleinen Hafen von Belén. »Betto ist mit meinem und seinem Gepäck schon auf dem Boot und sichert uns Plätze,« ist alles, was Javier auf der Fahrt zu mir sagt. Er scheint mit seinen Gedanken weit weg zu sein. Bald darauf stapfe ich mühsam durch das Menschengewirr am Hafen, Javier immer dicht hinter mir. Nur einmal blicke ich mich um, nein – die Marktstände sind von hieraus nicht zu sehen. Ich bin erleichtert.

Gut, dass mir meine wasserdichten Stiefel bis über die Knöchel reichen, so entkomme ich dem zweifelhaften Vergnügen, alle Abfälle des Viertels in meinen Stiefeln zu haben. Dicht an dicht liegen die colectivos, die billigen Personenboote, die wie Busse die Wasserstrassen des Dschungels befahren. Über glitschige Planken und die Dächer der am Ufer liegenden Boote klettern wir zu dem weiter draußen liegendem Boot, das uns in sieben Stunden nach Nueve de Octubre bringen soll. Meine konzentrierte Aufmerksamkeit richte ich auf jeden meiner Schritte, um bloß nicht in der schwappenden, braunen, vollkommen mit Abfällen bedeckten Amazonassoße zu landen.

Ich notiere aufmerksam den ersten Mückenstich auf meinem Arm: ein heller Kreis mit einem dunkelroten Punkt in der Mitte.

Sofort verdränge ich mein Wissen über die Vielfalt der Möglichkeiten an Krankheiten, die diese fliegenden Bio-Kampfgeschwader übertragen können.

Ich habe Betto erspäht, das ist mir jetzt wichtiger als Mutmaßungen über in der Zukunft liegende Krankheitsmöglichkeiten, jetzt will ich endlich auf das Boot! Betto steht auf der Spitze des ersehnten Bootes und winkt uns heran. Es trägt den Namen »mi corazon« in himmelblauer Schreibschrift gemalt auf rotem Grund … wenn das kein gutes Omen für meine Reise ist! Neugierige Blicke beobachten mich, als ich mich weder sehr elegant noch besonders locker in das Schiff plumpsen lasse. Auf dieser Art von Booten, die hauptsächlich durch gute Wünsche und Flüche zusammenhalten werden, verirrt sich kaum ein Tourist. Ein schneller Rundblick verrät mir, dass ich gut daran tun werde, nicht mehr viel zu trinken, es gibt kein baño auf dem Boot. Betto hat eine Hängematte für mich befestigt, dankbar lasse ich mich hineinsinken.

Javier verstaut unsere Sachen unter der Bank neben meiner Hängematte. »Ich setze mich hinauf auf das Dach, Nanita. Es ist mir hier unten zu stickig, ich brauche Luft in meinem Kopf. Betto wird auf dich aufpassen.«

So, er braucht Luft im Kopf! Ich drehe mich nach Betto um, der mit geschlossenen Augen und verträumten Gesichtsausdruck der Musik aus seinem kleinen Radio lauscht. »Betto, was habt ihr eigentlich gestern abend so lange auf dem Boulevard gemacht?«

»Nichts besonders, mit Leuten geredet und etwas Bier getrunken. Ich bin schon um Zehn nach Hause gegangen, ich war müde. Keine Ahnung, was Javier noch gemacht hat. Vielleicht seine alte Liebe getroffen? Du weißt schon, die, mit der er vier Jahre lang zusammengelebt hat.«

Ja, ich weiß davon, aber irgendwie glaube ich nicht, das Javier sie oder eine andere Frau getroffen hat, auch nicht seine Schwester Teresa, die in Iquitos arbeitet. Ich habe das Gefühl, dass ihn etwas ganz anderes beschäftigt, etwas, was mit seiner Arbeit als Schamane und dem, was gestern auf dem Kräutermarkt vorgefallen ist, zusammenhängt.

Das Boot legt endlich ab, eine schwarze, stinkende Qualmwolke zieht vom stotternden Motor zu uns hinein. Als Iquitos außer Blickweite ist, klettere ich zu Javier auf das Dach. Er sitzt mit nacktem Oberkörper aufrecht im Schneidersitz, die Hände liegen mit geschlossenen Fingern auf den Knien, die Fingersitzen zeigen nach vorn. Er hat die Augen geschlossen, ein sanftes Heben und Senken seiner muskulösen Brust lässt die ruhigen Atemzüge ahnen. Er sitzt da wie eine der alten Statuetten, die Forschungsgrundlage für die »Rituellen Körperhaltungen« sind, die in das Erleben einer heilsamen Trance führen und mit denen ich im Rahmen des Felicitas-Goodman-Instituts arbeite. Willentliche Bewusstseinsveränderung bedarf manchmal nicht mehr als die Beherrschung des Körpers und eine gleichmäßige, schnelle rhythmische Anregung, die auf die Gehirnverbindungen wirkt. Rituelle Trance am Amazonas! Kurz denke ich an die Frauen in meinen Seminaren und muss grinsen, bei diesem Vorbild für eine »Rituelle Körperhaltung« würden sie sicher alle gerne und schnell in eine erkenntnisreiche Trance fallen… Warum nicht auch ich? Ich setze mich hinter Javier, nehme die gleiche Haltung an wie er, atme mehrmals tief ein, richte meine Wirbelsäule noch einmal auf, schließe die Augen, rufe den Klang meiner Trommel und den schnellen Rhythmus von 210 Schlägen in der Minute aus meinen intelligenten Zellspeichern ab, pfeife fast lautlos eine Weile vor mich hin, in Einklang mit dem Rhythmus in mir.

Blaugrüne Flusslandschaften ziehen vor meinen inneren Augen vorbei, genau wie vor meinen biologischen Augen, wenn ich sie jetzt öffnen würde. Ich lasse die Bilder an mir vorbei treiben, halte sie nicht fest, kommentiere sie nicht. Plötzlich zieht sich das Blau-Grün von Fluss und Dschungel zusammen, wie mit einem weichen Pinsel wird es kreisend vermischt, bis nur noch ein knallblauer Wirbel in hell gleißender Luft trotz seiner Bewegung still zu stehen scheint. Ich bin mitten in diesem Blauwirbel und werde unendlich weit hoch geschleudert. Dann fliege ich hoch über dem Dschungel, stechend scharf sehe ich jedes Blatt am Baum unter mir, jedes Tier. Welche Form dieses »Ich« hat, das da fliegt, weiß ich nicht, das hat keine Bedeutung. Ein silbrig schimmernder, kahler hoher Baum am Flussufer zieht meinen Blick an. Im Wipfel des Baumes hängt ein außerordentlich großes Faultier an einem Ast. Ich fliege näher heran. Faultiere gehören zu meinen Lieblingen im Dschungel. Das Tier hebt seinen Kopf und blickt mich an. Ich zucke zurück, es ist das Gesicht eines Menschen. Blitzschnell bewegt dieses Wesen sich jetzt - ganz entgegen seiner Natur – hebt die langen Arme, sie weisen auf mich. Die drei langen, gekrümmten und vorne sehr spitzen Krallen jeder Pfote lösen sich, wie Pfeilspitzen rasen sie auf mich zu. Ich sehe sie in Zeitlupe auf mich zukommen. Obwohl ich aus langer Erfahrung weiß, dass ich auch im Zustand einer Trance willentlich in das Geschehen eingreifen kann, fühle ich mich bewegungsunfähig – in beiden Wirklichkeiten. Bevor mich die Pfeile erreichen können, kippe ich um, falle nach hinten, falle in Javiers Arme, zwischen seine weit gespreizten Beine. Fest umschließt er mich, schweigend, meinen Rücken an seine Brust gepresst. Ich blicke um mich, unverändert zieht die blaugrüne Flusslandschaft am knatternden Boot vorbei, rosafarbene Flussdelfine springen in der Mitte des Flusses.

»Mach so etwas bitte nicht noch einmal, Nanita!«

Javier reicht mir eine Flasche Wasser. »Trink! Du zitterst ja immer noch!«

Ich habe gar nicht bemerkt, dass mein Körper zittert. Mit Humor nehme ich dem Zittern die Macht des neuerlichen Erschreckens weg: »Weißt Du, Javier, in Nepal zittern alle Schamanen, wenn sie in die Welt der Geister gehen.« Der Gedanke an meine Schamanenfreunde in Nepal stärkt mich, sie werden sicher kichern, wenn ich ihnen von Javiers Reaktion auf mein Zittern erzähle!

Ich habe mich ihm gegenübergesetzt, er sieht ernst und erschöpft aus. Fast bedauere ich meine Nepal-Bemerkung. »Ich weiß nicht, was sie in Nepal machen, Nanita, aber ich weiß, was Schamanen hier machen. Und vor allem weiß ich, wie gefährlich es ist, sich ungeschützt Kräften auszusetzen, die man nicht kennt. Ich bin aufs Dach gegangen, damit ich ungestört sehen gehen kann, welcher malo espíritu dich verfolgt. Deshalb habe ich eine besonders mächtige mapacho