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Morden, wo es am schönsten ist! Nämlich auf den Ostfriesischen Inseln. Wo andere Urlaub machen und sich vom Stress des Alltags erholen, haben fiese Friesen Böses im Sinn. Sie organisieren tödliche Bootstouren, rächen sich noch nach Jahren für Missetaten und Mobbing, planen Entführungen, tauschen heimtückisch die Rollen und sorgen handgreiflich für Ruhe. Von wegen friedvolles Urlaubsidyll! Ostfriesland kann nicht nur unglaublich malerisch sein, sondern auch extrem spannend - und mörderisch.
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Seitenzahl: 269
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Peter Gerdes (Hrsg.)
Fiese Friesen 3 – Inselmorde zwischen Ebbe und Blut
Kurzkrimis
Mörderhand am Inselstrand Jedes Jahr kommen die Urlauber in Scharen auf die Ostfriesischen Inseln. Und dort werden sie schon sehnlichst erwartet – von den fiesen Friesen. Seien Sie gewarnt! Nur weil viele Friesen wortkarg, mürrisch und eigenbrötlerisch sind, müssen sie noch lange nicht harmlos sein! Rechnen Sie mit Heimtücke und Hinterlist, mit Grobheit und Gnadenlosigkeit. Und damit, dass fiese Fiesen nachtragender sind als jeder Elefant. Solch ein fieser Friese vergisst und verzeiht nichts. Sein Rachedurst speist sich nicht nur aus in der eigenen Vergangenheit erlittenem Unrecht, sondern reicht zuweilen gleich über mehrere Generationen. Das glauben Sie nicht? Bitte, das ist Ihr gutes Recht. Machen Sie gerne Ihre eigenen Erfahrungen. Oder lesen Sie diese Inselkrimis von unseren erstklassigen Autorinnen und Autoren, dann sind Sie gewarnt!
Mit Geschichten von Kathrin Heinrichs, Heike Gerdes, Tatjana Kruse, Herbert Knorr, Thomas Kastura, Peter Gerdes, Peter Godazgar, Manfred C. Schmidt, Regine Kölpin, Thomas Breuer und Daniel Carinsson.
Peter Gerdes, 1955 geboren, lebt in Leer (Ostfriesland). Er studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Journalist und Lehrer. Seit 1995 schreibt er Krimis und betätigt sich als Herausgeber, seit 1999 leitet Peter Gerdes die »Ostfriesischen Krimitage«. Seine Krimis „Der Etappenmörder“, „Fürchte die Dunkelheit“ und „Der siebte Schlüssel“ wurden für den Literaturpreis „Das neue Buch“ nominiert. Gerdes organisierte von 2018 bis 2023 für das SYNDIKAT das jährliche Krimifest CRIMINALE. Er ist außerdem Mitglied im PEN Berlin.
Mehr Informationen zum Autor unter: www.mordwesten.de
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© 2024 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung der Fotos von: © Willowpix / istockphoto.com und Günther Ramm / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-7842-0
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Was für eine Idylle! Kutschen! Hier fahren tatsächlich Kutschen! Klar, ich wusste, dass diese winzige Insel autofrei ist. Aber dass hier sogar die Müllabfuhr mit Pferden unterwegs ist …!
Mir weht der Wind um die Nase, als ich inmitten einer Horde von Touristen meinen Rollkoffer auf die Siedlung zuschiebe. Was habe ich nur für ein fantastisches Leben: im Januar München-Schwabing, im März Amsterdam und jetzt im sonnigen Mai: Baltrum.
Es geht nicht um Urlaub, falls Sie das denken. Es geht um meine Jobs. Nicht zu viele im Jahr. Nie mehr als sechs. Ich möchte nicht abstumpfen. Ich möchte nicht nachlässig werden. Es geht schließlich um Mord.
Ich bin kein klassischer Killer, falls Sie das meinen. Ich fahre nicht nach Bukarest, checke mit meiner Beretta im Zweisternehotel ein, erledige einen Auftrag und bin am nächsten Tag wieder weg.
Ich bin old fashioned. Ich schaue mir an, worum es genau geht, dann wähle ich die passende Methode. In der Regel entstammt sie nicht dem klassischen Portfolio eines Auftragskillers. Zwar habe ich durchaus immer etwas »Werkzeug« dabei, aber nur für den Notfall. Meine Morde sollen nicht wie Morde aussehen, sondern wie gemütliche Haushaltsunfälle. Ursprünglich komme ich aus der Versicherungsbranche, daher kenne ich mich aus. Man soll es nicht glauben, aber tatsächlich sterben mehr Menschen beim Fensterputzen, Holzmachen oder Treppeabsaugen als bei Überholmanövern auf der A1. Das mache ich mir zunutze. Meine Morde sind clean, meistens im doppelten Sinne. Daher bleibe ich nach getaner Arbeit noch ein paar Tage. Man will schließlich sehen, wohin die Reise geht. Also nicht für das Mordopfer, sondern für die Ermittlung. Wenn es denn überhaupt eine gibt.
Die Zeit nach dem Auftrag nehme ich mir. Gehört zu meinem Berufsethos, wenn man so will. Kunden haben ja immer die Wahl. Der eine kauft einen 7er BMW. Der andere einen Japaner von der Stange. Ich bin der Bentley. Stilvoll. Gemütlich. Nostalgisch. Ich glaube, Baltrum wird mir gefallen.
*
Zwei Stunden später habe ich im Hotel eingecheckt. Naja, Hotel ist nicht das richtige Wort. Und eingecheckt ist auch nicht das richtige Wort. Meine Unterkunft hat zwölf Zimmer und wird im Netz für das liebevolle Frühstück gelobt. Die Pensionschefin ist ein bisschen spröde, aber irgendwie auch liebevoll. Eine flotte Endvierzigerin. Sie nennt sich Nele und wünscht mir alles Gute mit der Insel: »Entweder liebt man Baltrum und kommt immer wieder oder man hasst es, dann ist das hier schnell vorbei.«
»Bye-bye Baltrum«, fasse ich schmunzelnd zusammen. »Da bin ich gespannt, ich schau mich hier erst einmal um.«
Eines gibt mir die Pensionschefin noch mit auf den Weg: Fahrradfahren ist nicht gerne gesehen. Maximale Entschleunigung, wenn man so will. Ich finde das reizend, frage mich aber, ob das etwas für meinen Auftrag bedeutet. Naja, ich bin ja flexibel.
Erst mal bummele ich die Geschäfte ab. Das ist schnell erledigt. Die Apotheke hat zwei Stunden täglich geöffnet, das Eisfenster doppelt so lange. Jetzt um die Mittagszeit hat überhaupt gar nichts auf. Was macht man dann hier?
»Was macht man dann hier?«, frage ich, zurück in der Pension.
»Sich erholen«, sagt Nele, die nicht wirkt, als hätte sie dafür jemals Zeit. »Am Strand entlanglaufen. Den Dünenwald erkunden. Und haben Sie keine Bücher dabei?«
»Aber natürlich«, rechtfertige ich mich.
Tatsächlich liebe ich englische Krimis. Fortbildung, wenn man so will. Doch für den Moment beschließe ich: Ich kümmere mich jetzt um die Arbeit.
Dass es auf Baltrum keine Straßennamen gibt, hat mich schon bei der Entgegennahme des Auftrags gewundert. Ich hätte gern nachgefragt, aber es ist nicht üblich, nach der Auftragsübergabe Kontakt aufzunehmen. Sowieso ist alles und jedes verschlüsselt. Ich kenne meine Auftraggeber nie. Eine Person hat einen Wunsch, der sich ums Ableben dreht. Sie wendet sich an eine Person ihres Vertrauens. Diese Person wendet sich erneut an eine Person ihres Vertrauens. Um es kurz zu machen: Zwischen dem eigentlichen Auftraggeber und mir liegen fünf verschlüsselte Kontakte. Ich selbst habe nur mit Cornelius zu tun. Cornelius ist natürlich auch kein richtiger Name. Wenn Cornelius einen Auftrag bekommt, der zu mir passt, erhalte ich eine Nachricht. Ich bekomme nicht viel Hintergrund. So weiß ich nicht, warum jemand aus dem Weg geräumt werden soll. Ich bekomme nur einen Namen genannt, eine Adresse und eine Summe, die mir bei Erfolg ausgezahlt wird. Außerdem ein Zeitfenster, in dem die Sache über die Bühne gehen soll. »Bei Gelegenheit« ist das Zeitfenster bei meinem aktuellen Auftrag. Was sehr ungewöhnlich ist. Mit Blick auf die hiesigen Öffnungszeiten erscheint mir das Ganze schon klarer.
Ich bestätige Cornelius den Auftrag oder ich lehne ihn ab.
»Baltrum, Haus Nummer 108, Frank Puschen. 26.000 Euro« habe ich angenommen.
Weil ich auf Baltrum noch nicht war. Weil ich den Namen »Puschen« niedlich fand. Weil die Summe okay war. 4.000 kriegen Cornelius und die anderen Vermittler, 26.000 krieg in diesem Fall ich.
*
Mein Spaziergang zeigt: Es ist schlimmer, als ich dachte. Nicht nur, dass es keine Straßennamen gibt. Die Hausnummern sind auch noch wild durcheinandergewürfelt. Haus Nummer 107 entdecke ich im Westdorf, Nummer 109 auch, aber an völlig anderer Stelle, und Nummer 108 ist überhaupt nicht zu finden.
Zurück in der Pension steht Nele auf einer Leiter und hat eine Lampe abgenommen, blanke Kabel schauen aus der Decke.
»Macht so was nicht der Elektriker?«, wende ich ein.
Nele schnaubt. »Auf Baltrum macht man so was selbst.«
Trotzdem kommt sie für mich die Leiter herunter und kredenzt mir einen Tee. Das mit dem Tee mag ich, es erinnert mich an England. Nele setzt sich für einen Augenblick dazu.
»Haben Sie schon die Insel umrundet?«, will sie von mir wissen.
»Eher durchstreift«, weiche ich aus.
Man muss einmal ganz rum, macht Nele mir klar. An der Brandung entlang, dann ins stille Niemandsland im Osten, wo man in einer Sandwüste seiner Seele begegnet. Schließlich auf dem Gezeitenweg zurück oder noch besser: durch die Dünenlandschaft, die ist geheimnisvoll und bizarr.
»Kriegt man hier keinen Koller?«, frage ich nach.
»Kann schon passieren«, Neles Augen verdunkeln sich, »gerade den Winter verträgt hier nicht jeder.«
»Und selbst?«, bohre ich nach.
»Ich hab immer zu tun«, Nele streicht sich das rotblonde Haar aus der Stirn, »da bleibt für einen Koller keine Zeit.« Steht auf und steigt wieder auf die Leiter, um sich der Lampe zu widmen.
Ich bleibe alleine zurück und denke an die Frauen in meinem Leben. Sehr überschaubar, mein Beruf ist nicht beziehungskompatibel. Besser, ich denke an meinen Job.
Im Ständer im Hotelflur entdecke ich das Baltrum-Magazin. Darin stehen Veranstaltungshinweise: die Fleetjes geben ein Flötenkonzert, und die Inselbühne spielt wieder Theater. Doch es findet sich auch ein Plan von der Insel mit allen Hausnummern drauf. Irgendwann habe ich Haus Nummer 108 gefunden, drüben im Ostdorf, da geh ich morgen hin. Für heute ist Freizeit angesagt. An einem der Restaurants war frischer Rotbarsch angeschrieben. Auch Fische mag ich am liebsten tot.
*
Das Frühstück in der Pension ist wirklich fantastisch, da haben die Rezensionen ausnahmslos recht. Es gibt einen Brotaufstrich aus frischen Tomaten, für den würde man morden, außerdem selbstgebackenes Vollkornbrot, das ganz besonders gut schmeckt. Wie schafft Nele das?
»Wie schaffen Sie das?«, frage ich, als sie mir eine zweite Kanne Tee bringt.
Sie sieht mich erstaunt an. »Alles nacheinander«, sagt sie lapidar, und: »Gehen Sie heute um die Insel?«
»Sie meinen diese Sache, bei der man seiner Seele begegnet?«, frage ich nach.
Nele fängt an zu lachen. »Sie gucken so erschrocken, als machte Ihnen das Angst.«
»Gar nichts macht mir Angst«, halte ich trotzig dagegen, »ich geh das heute an. Übrigens ist das Sanddorn-Gelee ein Gedicht, und für den Tomatenaufstrich würde ich morden.«
Ich halte die Luft an, verflixt, was ist mir denn da rausgerutscht?
In Neles Augen flackert es kurz. »Gut zu wissen«, geht sie darüber hinweg und geht dann doch nicht darüber hinweg. »Was würde Sie denn sonst noch morden lassen?«
Erneut bleibt mir das Herz stehen. Was wird das hier für ein Gespräch?
»Das Rührei«, versuche ich, die Sache zu entschärfen, »und Sie?«
Wieder kurzes Flackern. Dann grinst Nele mich spitzbübisch an. »Der Nächste, der den Witz macht: Baltrum, weil man bald rum ist, kriegt eins übergebraten.«
»Okay«, sage ich, »ich weiß dann, wer’s getan hat. Aber ich verrate Sie nicht!«
»Das ist nett«, Nele blinzelt verwegen, im nächsten Moment ist sie weg.
*
Mit einem mulmigen Gefühl starte ich zwei Stunden später die Inselumrundung. Der Seele begegnen, das ist in meinem Fall delikat. Anschließend plane ich, wegen Haus Nummer 108 Ostdorf zu besuchen, Alt-Ostdorf genauer, wenn die Baltrumkarte stimmt.
Ich würde die Strandwanderung anders beschreiben, anders als Nele, und ich habe sofort das Bedürfnis, ihr davon zu erzählen.
Für mich ist es: der Himmel! Es ist schon, wie Nele sagt: Der Gang am Wasser entlang Richtung Osten ist rau, laut die Brandung, das Schreien der Möwen, der Wind, der einem um die Ohren pfeift. Im Nachhinein sage ich: Es ist ein Sichaussetzen, ein Standhalten, ein Geradestehen vielleicht. Und dann passiert der Übergang: Plötzlich gerät man an diesen stillen Ort. Das Wasser entfernt sich, der Wind beruhigt sich, man kommt bei sich an. Aber es ist noch viel mehr. Ein friedvoller Ort, der vom Irgendwann spricht, ich spüre Transzendenz, und wenn es um Übergang geht, bin ich Experte. Nur, wie soll ich das zwischen Sanddorn und Vollkorn Nele erklären?
Ich gehe ganz um den Ostzipfel herum, den Gezeitenweg lang, streife die Jugendherberge, nähere mich dem Ende der Welt, also Alt-Ostdorf. Hier gibt es einige sehr alte Häuser. Roter Backstein, der schon seit Jahrhunderten Meer und Salz ausgesetzt ist. Wer hier wohnt, hat Beharrungsvermögen.
Haus 108 ist am Ende eines Weges, die Häuser dorthin scheinen bewohnt, trotzdem regt sich nicht viel, nur einmal wackelt eine Gardine. Ich laufe dort lang, als hätte ich einen Plan, und eigentlich habe ich den auch. An 108 geht ein Fußweg vorbei, wenn die Baltrumkarte stimmt. Der führt in Schlangenlinien ins Dünengebiet.
Kurz bevor ich 108 erreiche, werde ich von einem Fahrrad überholt, ein Junge, höchstens acht Jahre, mit einem Tornister auf dem Rücken.
»Hey, Fahrradfahren ist hier nicht«, rufe ich ihm zu.
Er dreht sich zu mir um, hält sogar an. »Wie soll ich denn sonst zur Schule kommen und wieder zurück?« Sein Blick ist bockig dabei.
»Zu Fuß«, will ich sagen. Da kommt mir der Gedanke, dass Nele mir vielleicht nicht alles erzählt hat. Dass es vielleicht Ausnahmen gibt, für Insulaner, für Kinder, für Knirpse wie ihn.
»Sorry«, sage ich, »war nur ein Witz.«
Der Junge schaut mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank, und steigt wieder auf. Er ist keine zwei Meter gefahren, da öffnet sich an 108 die Tür und ein Mann kommt heraus und brüllt irgendwas. Ich höre bei dem Wind nicht, was er sagt, ich höre nur, dass er seinen Jungen anschreit. Der ist abgestiegen und hat eine geduckte Haltung angenommen. Er schiebt sein Rad, will mit Abstand an dem Vater vorbei, der stolpert auf ihn zu, gibt ihm einen Nackenschlag, dass der Junge taumelt und sein Rad fallen lässt. In mir zieht sich alles zusammen.
»Hey!«, rufe ich, obwohl ich weiß, das ist ein Fehler. Wenn das Frank Puschen ist, und natürlich ist das Frank Puschen, dann gilt vor allem eines: nicht auffallen, bis der Auftrag ausgeführt ist. Anders ausgedrückt: Rückzug sofort!
Der Typ blickt zu mir herüber, kann nicht fassen, dass sich da jemand einmischt. Und dass da überhaupt ein Fremder steht, bei ihm am Haus, in the Middle of Nowhere.
Er stiebt auf mich zu. »Was hey?«, schnauzt er mich an. Ein rotgesichtiger Typ um die 50. Vielleicht jünger, aber dann schlecht gehalten. Er sieht nach ungesundem Lebenswandel aus, nach Exzess und Tyrann. Ich gehe in Windeseile meine Möglichkeiten durch.
»Sie haben ein Kind geschlagen«, halte ich fest.
»Das ist mein Kind!« Er kommt mir noch näher. Sein Atem riecht nach Alkohol und nicht geputzten Zähnen. »Ich mache mit ihm, was ich will.«
»Davon würde ich abraten«, sage ich fest. »Gewalt gegen Kinder ist in Deutschland verboten.«
Ich sehe aus den Augenwinkeln, wie der Junge mich anstarrt. Er weiß, was sein Vater in solchen Situationen macht. Zum Glück weiß er nicht, was ich in solchen Situationen mache.
Trotzdem ist mir klar: Das hier ist alles nicht gut. Falls es doch zu Nachforschungen kommt, wird sich der Junge an mich erinnern. Das ist ein Problem.
»Einen schönen Tag noch!« Ich schlängle mich an dem Vater vorbei, werfe dem Jungen einen Blick zu.
»Ja, verpiss dich!«, brüllt der Vater mir nach. Er hat vor dem Sohn sein Ansehen verloren. »Mach, dass du wegkommst! Niemand interessiert sich für dein Geschwafel!«
Ich beachte ihn nicht. Doch ich sehe im Weggehen, dass sich die Haustür öffnet, eine Frau kommt heraus. Sie erinnert mich an irgendwen, oder sie erinnert mich einfach an alle anderen Opfer häuslicher Gewalt. Dieser ängstliche Blick: Was ist diesmal los? Was wird als Nächstes passieren? Wie kann ich meinen Jungen beschützen?
Ich gehe weiter. Ich blicke nicht mehr zurück. Unglücklicher kann es nicht laufen.
*
Im Dünenwald weiß ich, was Nele meint. Die Gegend ist geheimnisvoll und bizarr. Überall meine ich Schatten zu sehen.
Ich habe eines nicht bedacht: Diese Insel ist so klein, dass wenig passiert. Wenn wenig passiert, erinnert man sich an das Wenige umso mehr. Wenn hier jemand in den Spielteich springt, ist das das Ereignis des Jahres. Dass ich den wenig genutzten Fußweg langgegangen bin, wissen vermutlich alle im Alten Ostdorf, also alle fünf. Oder alle zehn.
Ich habe viel Erfahrung in meinem Metier, aber Baltrum bringt mich an meine Grenzen. Werde ich alt? Ich habe mir geschworen, wenn ich jemals Zweifel bekomme, steige ich aus. In meinem Beruf arbeitet man nicht bis 67 1/2. Ich habe mir ein finanzielles Polster erarbeitet, ich komme klar, wenn ich noch ein bisschen nebenher mache. Andersherum: Vielleicht sind einfach nur die Bedingungen hier sehr speziell. Wie soll man die Gegend auskundschaften, ohne sich zu zeigen? Ich kann hier nicht als Techniker kommen, der die Wege vermisst, nicht als Obdachloser, der Flaschen einsammelt. Soweit ich sehe, gibt’s auf Baltrum nur Spaziergänger. Und ein paar Vogelkundler. Wobei die eine Gruppe die andere umfasst. Schwieriges Pflaster. Pflaster immerhin gibt’s auf dieser Insel ja viel.
Gleichzeitig zieht die gerade erlebte Szene an mir vorbei. Nur wenige Beobachtungen, gleichzeitig eine ganze Geschichte. Ein Alkoholiker als Ehemann. Ein Schläger als Vater. Eine Familie in Angst. Ohne Papa kämen die beiden besser zurecht.
Hier im Dünenwald sehe ich bizarre Bäume, die sich im Wind ducken, und knorpelige Äste, die in der Waagerechten wachsen. Aber ich sehe nicht, wie es mit meinem Auftrag weitergehen kann. Ich brauche Zeit, ich arbeite nicht hektisch, das ist nicht meine Art, aber der Junge wird heute eine Tracht Prügel bekommen. Die Demütigung, die der Vater durch meine Ansprache gefühlt hat, wird die Familie ausbaden müssen. Das ist nicht gut.
Als es zu regnen beginnt, führe ich meine Betrachtungen nicht länger fort. Ich gehe nach Hause. Moment mal, nach Hause? Was rede ich da?
*
Nele ist nicht da, als ich zurückkomme. Wen wundert’s, sie arbeitet hart. Gleichzeitig frage ich mich, warum ich sie jetzt brauche. So etwas kenne ich nicht, da ich doch alles mit mir selber ausmache. Nachdenklich pelle ich mich aus meinen nassen Klamotten, lege mich ins Bett und falle in einen tiefen, tiefen Schlaf.
Aus dem erwache ich erst, als der Regen aufgehört hat. Der Himmel ist klar, sogar die späte Sonne zeigt sich am Himmel. Hunger treibt mich ins Dorf, ich esse Matjes mit Reibekuchen. Danach habe ich das Gefühl, ich kann mich nicht mehr bewegen. Das tu ich dann doch, wieder am Wasser entlang, aber diesmal Richtung Westen, der untergehenden Sonne entgegen. Ich komme an den Betonpollern vorbei, die als Sitzgelegenheit dienen, die aber möglicherweise auch das Meer aufhalten sollen. Wenig später tut sich links ein Aussichtstürmchen auf, dann geht’s um die Kurve – und dann sitzt sie plötzlich da: Nele! Auf einer Bank, eingemummelt in eine dicke Jacke, mit Blick auf den Sonnenuntergang. Sie ist genauso überrascht wie ich. Nein, anders, sie ist beschämt, als hätte ich sie beim Faulenzen erwischt. Und so ist es ja auch. Wobei Nele gar nicht nach Faulenzen aussieht. Sie sieht aufgewühlt aus, besorgt, als hätte sie keinen Blick auf den Sonnenuntergang, sondern auf eine traurige Zukunft.
»Darf ich mich setzen?«, taste ich mich vor.
»Nur zu«, Nele rückt etwas zur Seite, »wobei es auf Dauer von unten recht kühl wird.«
»Alles in Ordnung?«, gehe ich darüber hinweg. »Sie wirken nicht gerade glücklich.«
Sie beugt sich vor, stützt ihren Kopf auf die Knie und überlegt, wo sie anfangen soll. Ob sie überhaupt etwas rauslassen will. Schließlich hat sie sich entschieden. Sie lehnt sich zurück und fängt an zu sprechen.
»Heute Morgen haben Sie gefragt, ob ich jemanden umbringen könnte – oder so ähnlich.«
»Das war so dahingesagt«, gebe ich vor.
Nele fühlt sich durch meine Antwort nicht gerade ermutigt. Sie fährt sich durchs rotbraune Haar, sie ist wunderschön.
»Meine Schwester«, sagt sie irgendwann.
»Was ist mit Ihrer Schwester?«
»Sie hat mich heute mal wieder um Hilfe gebeten. Ihr Mann ist ausgerastet, er hat sich nicht im Griff.«
Mir fährt ein Stich in den Magen – die Ähnlichkeit, ja klar! Und dann erzählt mir Nele, mit was für einem Typen ihre Schwester verheiratet ist. Dass er trinkt und sie alle Arbeit allein machen lässt. Dass es da ein Kind gibt, das leidet wie ein Hund.
»Ich habe von unseren Eltern das Haupthaus bekommen«, klärt Nele mich auf, »Fenna zwei Häuser im Ostdorf. Sie ist damit nicht glücklich geworden, alte Häuser, die renoviert werden mussten. Sie haben keine Vorstellung, was das hier kostet. Alles muss ja mit Schiff und Kutsche hergebracht werden. Tragischerweise hat Fenna sich in dieser Zeit in einen Gast verliebt. Er ist ihretwegen auf die Insel gezogen und hat Geld mitgebracht, leider ist er hier schrecklich versackt.«
Ich lasse mir das durch den Kopf gehen. »Warum trennt sie sich nicht?«
Nele stößt einen Laut aus. »Das frage ich mich auch. Aber das Haus, auch die Ferienwohnungen, alles gehört ihm. Er hat nur unter der Bedingung investiert, dass sie ihm die Häuser überschreibt. Mit solchen Verträgen hat er sie abhängig gemacht, wie doof kann man eigentlich sein?«
»Das klingt verfahren«, gebe ich zu.
»Außerdem will Fenna nicht weg, und hier getrennt leben, dafür ist die Insel zu klein.«
Nele beugt sich wieder nach vorn, wirkt jetzt richtig verzweifelt. »Ich kann das nicht länger mitansehen. Heute hat mein Schwager Jonas grün und blau geschlagen. Fenna hat sich dazwischengeworfen, aber irgendetwas muss passiert sein, dass Frank derart ausgerastet ist.«
Ich sitze da wie bedröppelt. Das alles ist geschehen, während ich schlief.
»So geht das nicht weiter! Sie hat doch eine Verantwortung gegenüber dem Jungen. Aber sie ist wie gelähmt und glaubt diesem Kerl, wenn er nachher beteuert, dass es ihm leidtut.«
Vielleicht ist sie doch nicht so hilflos, denke ich. Vielleicht hat sie sich ihre Hilfe woanders geholt.
»Wie geht es ihr jetzt im Moment?«, frage ich.
Nele schnaubt resigniert. »Nach so einem Ausbruch ist er erst mal wieder ruhig. Fragt sich nur, wie lange. Womöglich läuft ihm schon morgen wieder eine Laus über die Leber. Oder erst nächste Woche.«
»Was kann man tun?«, sage ich mehr zu mir als zu Nele.
Die wendet mir ihren Blick zu. »Ich hab schon was getan.« Und dann beginnt sie zu erzählen, obwohl wir schon furchtbar durchgefroren sind.
*
Für mich ist es ungewohnt, im Team zu arbeiten, aber ich muss sagen, es macht Spaß. Nele hat mir gestanden, dass sie einen Killer engagiert hat. Ich habe mich erschrocken gegeben, aber meine Hilfe angeboten.
»Bestellen Sie den ab«, habe ich ihr geraten, »hier auf Baltrum macht man so was selbst.«
Dann hab ich noch etwas gefragt: »Was kostet so was eigentlich? Was zahlen Sie dafür?«
»40.000.«
»Was?« Ich bin fast aus den Latschen gekippt. Cornelius und Co steckten sich also nicht 4.000 ein, sondern 10.000 mehr! Was für Verbrecher! Mit denen würde ich nie mehr zusammenarbeiten!
»Ich hab mich auch gewundert, dass man für so wenig einen Killer bekommt«, verstand Nele mich falsch, »aber für mich ist es viel. Das sind Erbe und Erspartes zusammen. Bislang hab ich aber nur 4.000 bezahlt.«
»Den Rest sparen Sie sich«, hab ich gemeint, »das kriegen wir selbst hin.«
Seitdem prüfen wir die Möglichkeiten. Was macht Frank Puschen außer auf dem Sofa zu liegen? Hat er Hobbys? Wann geht er aus und wohin?
Ich erkläre Nele, dass mehr Menschen im Haushalt sterben als auf Deutschlands Straßen.
»Auf Baltrum sowieso«, sagt Nele trocken.
»86 Prozent der Haushaltsunfälle sind Stürze«, lasse ich mich nicht aus dem Konzept bringen. Schließlich firmiere ich auch bei Nele als Versicherungsfuzzi.
»Gut und schön«, bügelt Nele mich ab, »aber haben Sie irgendwo einen vier Meter hohen Apfelbaum gesehen? Die gibt es hier nicht. Und ein Sturz vom Fahrrad ist selten tödlich.«
Dann leuchten plötzlich ihre Augen, sie hat eine Idee. »Frank macht nichts im Haushalt, das Einzige ist die Elektrik. Er behauptet, das wäre nichts für Frauen, nur er kenne sich da aus.«
Ich höre mir an, was sie sich ausdenkt. Am Ende finde ich: Nele hat wirklich Talent.
*
Die Sache läuft rund: Jonas ist in der Schule, Fenna bei Nele, weil die Hilfe braucht beim Abnehmen der Gardinen in der Pension. Ich bin bei meinem Gang um die Insel, den praktiziere ich jeden Tag, Gewohnheit ist die Vertraute des Killers.
An Haus Nummer 108 bleibe ich irritiert stehen. Falls jemand mich beobachtet, kann ich später sagen, dass ich ein seltsames Geräusch gehört habe. Dann stürze ich ins Haus, die Haustür ist immer offen. Dort liegt Frank Puschen auf dem Sofa und glotzt mich kalbsäugig an. Ich schocke ihn mit meinem Taser, dann muss es schnell gehen. Ich kenne die Küche von Neles Fotos. Sie war vor zwei Tagen mit einem Apple Pie hier und hat ihre Schwester gebeten, ihn zu wärmen.
»Der wird nicht richtig warm«, hat Nele über den Backofen behauptet, »Frank, da musst du mal ran.«
Weise Worte von Nele, Frank muss da mal ran!
Zwei Minuten, länger hält die Lähmung nach einem Taser-Angriff nicht an, auch nicht bei diesem Importstück aus Serbien.
Deshalb muss es jetzt schnell gehen. Zum Sicherungskasten im Flur, Backofen vorziehen und Werkzeug aus dem Abstellraum holen. Alles ist so, wie von Nele beschrieben.
Leider fängt Frank Puschen schon an zu stöhnen. Ich halte ihm noch mal meinen Taser an die Brust.
Jetzt ans Kabel. Der Starkstrom ist abgestellt, ich schraube die Rückwand vom Herd ab und löse die Adern.
Nun kommt das Schwerste: Frank Puschen herziehen, bestimmt 100 Kilo. Nach einem Meter fängt er an, sich zu bewegen, und kriegt wieder eins mit dem Taser versetzt. Am Backofen hebe ich seinen Kopf und lasse ihn ungünstig auf den Werkzeugkoffer fallen. Sofort fängt Puschen an zu bluten. Trotzdem regt er sich nicht. Ich lege seine Hand um das Kabel, was aufwendig ist. Dann gehe ich rüber zum Sicherungskasten. Schalter ein. Schalter aus.
Es riecht verbrannt, als ich zum Backofen zurückkomme. Da sind Verbrennungen sichtbar. Trotzdem überwinde ich mich und untersuche ihn flüchtig, eventuell muss ich ja später erklären, warum es Spuren von mir gibt. Meine Untersuchung bringt außerdem etwas Gutes zutage: Puschen ist tot.
*
Wir sitzen auf unserer Bank, der Bank, auf der alles angefangen hat. Inzwischen ist es Juni und wärmer, wenn man der Sonne beim Untergehen zuschaut. Deshalb hat Nele eine Flasche Wein mitgebracht.
Alles ist damals sehr gut gelaufen. Die Ärztin hat den Tod festgestellt. Herzstillstand aufgrund eines heftigen Stromschlags, Wechselstrom ist ein lausiges Zeug. Eine Ermittlung gab es da nicht.
Fenna steht noch ein bisschen unter Schock, aber Nele ist jeden Tag da, auch Jonas geht es schon besser.
Und mein neuer Job macht mir sowieso Spaß. Einkauf und Housekeeping, daran versuche ich mich. Nele ist erleichtert, dass sie jetzt eine Aushilfe hat.
»Kannst du denn dein Versicherungsbüro einfach so aufgeben?«, hat sie mich neulich gefragt. Dabei hat sie irgendwie seltsam gelächelt.
Ich sage dann, das ist kein Problem, weil mein Nachfolger ganz heiß darauf ist, meine Kunden zu übernehmen.
Im Grunde weiß ich nicht genau, was Nele denkt. Aber interessant fand sie es schon, dass ich einen Taser dabei hab und anderes Zeug auch. Nele ist klug. Und manchmal macht mir das Sorgen. Im Moment ist alles gut. Aber was, wenn sie mich nicht mehr braucht?
»Dann wollen wir mal anstoßen«, Nele hat zwei Gläser aus dem Rucksack gezogen, sie schenkt uns großzügig ein, »auf die gute Zusammenarbeit!«
Ich trinke, der Wein ist sehr trocken. So trocken wie Nele.
»Und? Wie ist es mit Baltrum?«, will die jetzt wissen. »Bleibst du nur eine Saison oder hat dich die Insel gepackt?«
Die Frage trifft mich ins Mark. Denn nicht nur die Insel, auch Nele hat mich gepackt. Aber jemand wie ich ist vorsichtig, wenn es um Zukunftsplanung geht. Zwar habe ich die Branche gewechselt, aber ob ich beziehungskompatibel bin, weiß ich noch nicht.
Und sowieso bleibt auch Nele auf Distanz, eine spröde Norddeutsche, ich hab keinen Schimmer, ob sie mich überhaupt mag.
»Schauen wir mal, wie ich den Winter überstehe«, sage ich ehrlich.
»Ja klar«, Nele wirkt ein bisschen enttäuscht, und das macht mich froh. Dann plötzlich huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. »Du hast mal gefragt, wann ich jemanden umbringen würde.«
»Stimmt«, sage ich beklommen und nehme einen weiteren Schluck. Der Wein ist wirklich sehr trocken, da ist doch nichts drin? Also nichts, was mich k. o. gehen lässt?
Nele sieht mich keck an. »Ich glaube, ich könnte dich umbringen, wenn du Baltrum bye-bye sagst.«
Dann beugt sie sich vor und küsst mich, wie ich noch nie geküsst worden bin. Das ist kein Wattenmeer, das ist eine Springflut. Mir wird schwindlig, nicht vom Wein, sondern von Nele.
»Damit kann ich leben«, flüstere ich zwischen zwei Küssen und weiß: Auf diese Weise gehe ich gerne k. o.