Leander und der tiefe Frieden - Thomas Breuer - E-Book

Leander und der tiefe Frieden E-Book

Thomas Breuer

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Beschreibung

Berufliche Niederlagen, persönliche Nackenschläge - Kriminalhauptkommissar Henning Leander steckt in einer tiefen Krise. Dann erfährt er von einem bislang totgeschwiegenen Großvater auf der Insel Föhr. Die erste Begegnung mit Hinnerk konfrontiert den Kieler Kommissar mit völlig neuen Aspekten der Familiengeschichte. Welches Geheimnis konnte so schwer wiegen, dass der Kontakt zwischen Vater und Großvater abbrach? Eines Tages ruft Hinnerk aufgeregt an. Er will seinem Enkel die ganze Wahrheit erzählen. Kurz bevor der Großvater das Familiengeheimnis offenbaren kann, verunglückt er tödlich. Auf der Suche nach der Wahrheit über seine Familie und damit auch über sich selbst, eröffnen sich Leander unglaubliche Tatsachen, die ihn bis in die Zeit des Dritten Reiches zurückführen.

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Thomas Breuer

Leander und der tiefe Frieden

Leander Hennings erster Fall

Zum Autor

Thomas Breuer, geboren 1962 in Hamm/Westf., hat in Münster Germanistik und Sozialwissenschaften studiert und arbeitet seit 1993 als Lehrer für Deutsch, Sozialwissenschaften und Zeitgeschichte an einem privaten Gymnasium im Kreis Paderborn. Seit 1994 lebt er mit seiner Frau Susanne, seinen Kindern Patrick und Sina, Streifenhörnchen Fridolin und Katze Lisa im ostwestfälischen Büren. Er liebt die Fotografie, die Nordseeinseln und den Darß. Seine zweite Heimat ist Föhr, wo er regelmäßig im Auftrag seiner Hauptfigur Henning Leander neue Kriminalfälle recherchiert, in denen dieser dann ermitteln darf.

Mit »Leander und der tiefe Frieden« legte er 2012 seinen Debüt-Roman im Leda-Verlag vor, 2013 folgte »Leander und die Stille der Koje«, 2014 »Leander und die alten Meister«, 2015 »Leander und der Lummensprung« sowie 2016 »Leander und der lange Schatten«. 2018 erschien der Kriminalroman »Der letzte Prozess«.Weitere Projekte sind in Arbeit und in Planung. www.Breuer-Krimi.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen 2012 im Leda-Verlag)

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © eyewave/stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6484-3

Widmung

Für Susanne, Patrick und Sina

 

Zitat

»Immer hat Geschichte zwei Komponenten: das, was geschehen ist, und den, der das Geschehene von seinem Orte in der Zeit sieht und zu verstehen sucht. Nicht nur korrigieren neue sachliche Erkenntnisse die alten; der Erkennende selber wandelt sich. Die Vergangenheit lebt; sie schwankt im Lichte neuer Erfahrungen und Fragestellungen.«

(Golo Mann)

Prolog

Nacht vom 17. auf den 18. Dezember

Der Sturm hatte sich über Tage hinweg angekündigt, bevor er endlich losbrach und für Erlösung sorgte. Zwar hatte es im Herbst schon häufiger kräftigen Wind bis zur Sturmstärke gegeben, wenn kalte und warme Luftmassen aufeinandergetroffen waren, aber die sonst üblichen Herbststürme waren in diesem Jahr ausgeblieben. Insgesamt war das Jahr einfach zu warm gewesen. Jetzt allerdings stand ein Wetterwechsel bevor. Kalte Luft aus Nord-Ost traf auf die warmen Luftmassen über der Nordsee und versprach, nach einem heftigen Sturm das Regiment zu übernehmen, die feuchte Regenluft endlich zu vertreiben und dem Winter seinen angestammten Platz zu verschaffen.

Der Seewind hatte das Wasser gegen Land gedrückt, sodass es selbst bei Ebbe nur leicht zurückgegangen war, um dann bei jeder Flut ein Stück weiter aufzulaufen als bei der vorangegangenen. Die Strandkorbvermieter hatten auf Hochtouren gearbeitet, immerhin waren wegen der in diesem Jahr ungewöhnlich langen Herbstsaison selbst jetzt im Dezember immer noch Hunderte von Körben in Wyk, Nieblum und Utersum in die Winterquartiere hinter den Dünen zu transportieren gewesen – gegen die Zeit und gegen den zum Teil erbosten Widerstand verständnisloser Nachsaison-Urlauber, die sich eigentlich freuten, dass das Wasser nicht ständig so weit weg war, und einen windgeschützten Platz brauchten, um das auch genießen zu können.

Am 17. Dezember war es dann so weit: In Wyk erreichte die Flut die Strandpromenade, das Wasser lag spiegelglatt und bleischwer, der Wind erstarb von einer Sekunde auf die andere und hinterließ eine Stille, die Insulaner den Tod erahnen ließ und selbst den Urlaubern einen Schauer über den Rücken jagte. Die Luft drückte schwer auf die Dächer, und am südwestlichen Horizont breitete sich unter einer stählernen Sonne ein silbergrauer Streifen aus, der allmählich an Tiefe gewann und sich drohend näherte. Am frühen Nachmittag lag er über Langeneß, dicht gefolgt von einer pechschwarzen Wand, die in ihrer Geschlossenheit nicht erahnen ließ, dass sie eigentlich nur aus Wolken bestand, und sich langsam auf Föhr zubewegte.

Ahnungslose Touristen saßen in den Promenadencafés und beobachteten interessiert das Wettergeschehen, während städtische Arbeiter Strandkörbe schleppten, die Mauerdurchbrüche vor den Hotel- und Appartementkomplexen mit Stahlplatten verschlossen und Sandsäcke vor jede Ritze stapelten. Sogar das Tor im inneren Deich am Rathausplatz wurde geschlossen und Pumpen wurden in Stellung gebracht, um das Wasser dort zu fesseln, wo es hingehörte: jenseits des Deiches im Hafengebiet, wo an einem hölzernen Sturmflutpfahl Eisenringe die höchsten Wasserstände der vergangenen Jahrhunderte anzeigten.

Gegen 15.30 Uhr musste auch dem Letzten klar sein, dass diese Atmosphäre bedrohlich war, denn aus dem undurchdringlichen Schwarz des Himmels, das nun die Sonne endgültig verschluckt hatte, waren selbst die sonst allgegenwärtigen Lachmöwen verschwunden. Kein Laut war mehr zu hören, kein Vogelschrei und auch kein Wellenplätschern, und als um 16 Uhr der Fährbetrieb eingestellt, die Sturmbeflaggung im Hafen gehisst, das Café »Valentino« an der Promenade geschlossen wurde und die »Nordfriesland«, die letzte große Autofähre der Wyker Dampfschiffreederei, die an diesem Tag noch von Dagebüll aus herübergekommen war, den Hafen verließ und draußen Stellung bezog, da brachen auch die letzten Urlauber auf und trollten sich ungemütlich berührt in ihre sicheren Quartiere. Krabbenkutter strebten aus allen Himmelsrichtungen dem Hafen zu und steuerten direkt ins innere Hafenbecken, in der Hoffnung, dort den Schutz zu finden, den sie angesichts der zerstörerischen Kraft der Naturgewalten bald nötig haben würden.

Nur ein Kutter steuerte in entgegengesetzter Richtung aus dem Hafen hinaus, an den heftig winkenden und rufenden Besatzungen der hereinstrebenden Krabbenkutter und an der dümpelnden »Nordfriesland« vorbei und direkt auf das Tief zwischen Langeneß und Amrum zu. Der Mann am Steuer reagierte nicht auf die Rufe der Kollegen, sein Blick war starr geradeaus gerichtet, der Südwester tief über die Augen herabgezogen.

»De Düwel ook! Wat hat de denn für?«, fragte der Hafenmeister seine beiden Mitarbeiter, die gerade dabei waren, eine Gangway in sichere Distanz zur Kaimauer zu ziehen.

Einer der beiden legte die Hand über die Augen, als müsse er gegen die Sonne schauen oder als könne er nicht glauben, was er da sah.

»Das ist die ›Haffmöwe‹«, stellte er fest, »der olle Hinnerk. Ja, ist denn der lebensmüde!«

»Lass nur«, entgegnete der andere Hafenarbeiter und zurrte die Gangway mit einem Tau an einem Poller fest, »der Hinnerk ist uns allen über. Ich wette, der fährt nach Wittdün und ankert da, und nach dem Sturm ist er der Erste draußen bei der Sandbank. Sollst sehen, bevor die anderen Fischer wach sind, hat der den Kahn voll mit Krabben und Strandgut. Der ist uns allen über, der olle Hinnerk.«

Als der Kutter das Leuchtfeuer von Langeneß passierte, zerriss der erste Blitz die schwarze Wand, in einigen Sekunden Abstand gefolgt von einem berstenden Donner, der die Trommelfelle der drei Männer im Hafen zu zerfetzen drohte. Schlagartig war der Sturm da, zerrte an den Fahnenmasten, schleuderte die eisernen Pkw-Rampen gegen ihre Träger und zauberte meterhohe Wellen aus der bleischweren See, die sich gierig auf die Insel stürzten, vorbei an der »Nordfriesland«, die nun eine ihrer schwersten Aufgaben zu bewältigen hatte: das Abreiten der Wellen in sicherer Entfernung vom Kai, an dem sie sonst zerschlagen worden wäre und die ganze Kaimauer mit ihr. Der aufgepeitschten Gischt entgegen stürzten die Wassermassen vom schwarzen Himmel, der jetzt seine Schleusen zu öffnen schien. Das Meer, das eben noch wie hingegossenes Blei dagelegen hatte, war nun in einen Hexenkessel aus sich vorwärts wälzenden Gebirgen verwandelt, deren Kämme vom Sturm zerfetzt und in alle Richtungen zerstäubt wurden. Meterhohe Wellen zerschellten an der Kaimauer und überschlugen sich über sie hinweg in den Hafenbereich.

Weit und breit war kein Mensch mehr zu sehen, alle hatten sich in ihre Häuser geflüchtet, um die erste schwere Sturmflut dieses Winters in der Sicherheit ihrer vier Wände und im Vertrauen auf Gott an sich vorbeiziehen zu lassen, wie die Insulaner es seit Jahrhunderten taten, und wie sie es auch weiterhin tun würden, sofern diese Sturmflut die Insel nicht in den Abgrund reißen würde, wie es einst, anno 1362, die Grote Mandränke mit weiten Teilen der Nordseeküste getan hatte. Damals waren die Inseln und Halligen geboren worden, das wussten die Menschen hier, und genauso konnten sie nun wieder untergehen, versinken im Schlick des Wattenmeeres wie einst die berühmte Handelsmetropole Rungholt, von der heute nur noch Tonscherben und Brunnenreste im Watt zu finden sind.

Der Hafenmeister rief seinen Arbeitern zu, sie sollten sich in den Schutz der Hafengebäude begeben, mehr konnten sie nun nicht mehr tun. Obwohl die Männer nicht hören konnten, was er schrie, da der Sturm ihm die Worte direkt vor dem Mund wegriss und ins Nichts zerfetzte, wussten sie auch so, was zu tun war – Insulaner wachsen mit den Naturgewalten auf und lernen, sie zu respektieren. Die Männer liefen geduckt in Richtung Hafenmeisterei; dies würde eine lange Nacht werden, eine Nacht der Bereitschaft für den Fall, dass der Sturm die Insel und ihren Hafen härter herausfordern würde als gewöhnlich, eine Nacht ohne Schlaf und in der bangen Erwartung des Morgens und der Schäden, die dann zu beseitigen sein würden. Bevor der Hafenmeister die schwere Tür ins Schloss zog und von innen verriegelte, warf er einen letzten Blick über die aufgewühlte See in Richtung Langeneß. Im kurzen Licht eines Blitzes, der das Schwarz des Himmels zerfetzte, erkannte er zum letzten Mal den Schattenriss der »Haffmöwe«, bevor sie endgültig jenseits der Hallig im Schwarz versank und vom tobenden »Blanken Hans« verschluckt wurde.

1

Donnerstag, 18. Dezember

Die letzten 50 Kilometer waren fast noch eintöniger als die Autobahn: Landstraßen und schlafende Dörfer inmitten platten Landes, und hätte nicht hier und da ein Windrad aus dem tief über den Feldern wabernden Dunst geragt, hätten die Augen gar keinen Halt gefunden. Leander steuerte seinen Wagen, der vom steifen Nordost hin und her geschüttelt wurde, wie im Tran und hatte Mühe, nicht einzuschlafen, da er nachts um drei Uhr aus Kiel losgefahren war und auch davor kein Auge zubekommen hatte. Die Stimme seines Großvaters war ihm einfach nicht aus dem Kopf gegangen und hatte dafür gesorgt, dass er sich quälend im Bett hin und her gedreht und keinen Schlaf gefunden hatte.

Ohnehin hatte der Anruf Leander zu einem Zeitpunkt erreicht, der nicht ungünstiger hätte sein können. Der alte Mann bat ihn, möglichst bald zu ihm nach Föhr zu kommen, da er ihm dringend etwas Wichtiges sagen müsse, das beider Leben betreffe und nicht am Telefon abgehandelt werden könne.

Leander war seinem Großvater erst zweimal begegnet, und er kannte ihn nicht gut genug, um einschätzen zu können, wie dringend die Sache wirklich war, aber der alte Mann hatte am Telefon so aufgewühlt gewirkt, dass Leander sein Kommen für den nächsten Tag zugesagt hatte. Nach dem Telefonat hatte er keine Ruhe gefunden. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Er hatte seinen Großvater erst im letzten Sommer kennengelernt, ein Jahr nach dem Tod seines eigenen Vaters, der ihm die Existenz des alten Mannes auf Föhr ein Leben lang verschwiegen und den erst auf dem Sterbebett das schlechte Gewissen zu einem Geständnis bewegt hatte.

Bei der Beerdigung hatte plötzlich ein alter Mann mit geröteten Augen neben ihm am Grab gestanden, sich als sein Großvater vorgestellt und ihn nachher, beim Kaffeetrinken, zu sich auf die Insel eingeladen. Ein Jahr hatte Leander gebraucht, bis er sich dazu hatte durchringen können, dieser Einladung zu folgen. Vielleicht hatte es so lange gedauert, bis er sich darüber klar geworden war, dass er nun Antworten auf seine Fragen bekommen würde – Fragen, die sich erst seit dem Tod seines Vaters stellten. Vielleicht hatte er genau vor diesen Antworten zu viel Angst gehabt, um seinem Großvater sofort auf die Insel zu folgen.

Im letzten Sommer hatte er den alten Mann besucht und ihn als ähnlich verschlossen erlebt wie seinen Vater, entsprechend skeptisch war er nun. Sollte sich sein Großvater etwa zu einer Klette entwickeln? Was wusste Leander eigentlich über ihn, außer dem Verwandtschaftsgrad, dass er Fischer von Beruf gewesen war und dass Leanders Vater jahrzehntelang so sehr mit ihm über Kreuz gewesen war, dass er seine Existenz dem eigenen Sohn verheimlicht hatte? Andererseits: Wie dringend musste das Anliegen des alten Mannes sein, wenn er sich an seinen Enkel wandte, den er ja ebenso wenig kannte? Vielleicht würde er nun endlich mit der Sprache herausrücken und Leander sagen, was damals zwischen Vater und Sohn geschehen war. Im Sommer hatte er sich standhaft geweigert, Auskunft darüber zu geben. Die Zeit sei noch nicht reif, zuerst müssten sie sich einmal kennenlernen, bevor sie die Familiengeschichte gemeinsam aufarbeiten könnten. Er hatte tatsächlich »aufarbeiten« gesagt.

Leander schüttelte den Kopf. Er hatte momentan genug damit zu tun, sein eigenes Leben »aufzuarbeiten«, das gerade in allen Bereichen den Bach hinunterging. Zumal sich die Ursachen dafür nur schwer fassen ließen und eher eine Aneinanderreihung von Fehlschlägen und Ereignissen waren – und selbst eine klare Zuspitzung auf den privaten oder den beruflichen Bereich schien ihm kaum möglich.

Der Rechenschaftsbericht des Kriminalhauptkommissars Henning Leander im Dezernat 12 – Internationale Zusammenarbeit und Fahndung – des Landeskriminalamtes in Kiel hätte sich wie eine chaotische Verquickung von Zufälligkeiten und zwangsläufigen Entwicklungen gelesen, diese jedoch kybernetisch vernetzt und kaum mehr zu entzerren, hätte sich Leander die Mühe gemacht, oder besser gesagt, den Mut gefunden, einen solchen zu verfassen. Wann hatte es angefangen? Auf jeden Fall vor seiner Krankheit, das Problem war grundsätzlicher Natur, so viel war Leander klar.

Der Hörsturz hatte sich schon länger angekündigt, nachts, wenn Leander nach 16 Stunden Dienst ins Bett fiel und doch nicht schlafen konnte, weil ihn die Bilder des Tages verfolgten und ihm von Jahr zu Jahr alles sinnloser erschien. Dann hörte er plötzlich in seinem linken Ohr ein lautes Pfeifen, das einzig in seinem Kopf existierte. Anfangs war es morgens wieder verschwunden gewesen, um dann im Laufe der Zeit hin und wieder auch am Tage aufzutreten, sich später in ein Dauerrauschen zu verwandeln und zuletzt eines Morgens einer Stille zu weichen, als hätte jemand Leanders Ohr besonders gründlich mit Watte verstopft. Zuerst hatte er die plötzliche Ruhe wie eine Entlastung empfunden, aber als er dann merkte, dass er nicht nur von dem Rauschen und Pfeifen befreit war, sondern gar nichts mehr hörte und zudem die gesamte linke Gesichtshälfte gefühllos war, hatte er begriffen, dass nun der Moment gekommen war, vor dem er sich so lange gefürchtet hatte.

Welchen Anteil seine persönliche Krise daran hatte – der Tod seines Vaters, der dem Lungenkrebs erlegen war, bevor er Leanders drängende Fragen zur eigenen Familiengeschichte beantworten konnte; die Erkenntnis, dass Leanders Frau Inka sich nicht damit zufriedengab, immer nur allein zu sein; die Entdeckung, dass sie ihn betrog, ihre Mitteilung, ihn zu verlassen –, wollte Leander lieber nicht eruieren, weil er sich dann auch noch schuldig hätte fühlen müssen. Fakt war jedenfalls, dass der Hörsturz eine Vorgeschichte gehabt hatte. Auch ohne die anschließende Therapie und die darauffolgenden Meetings mit dem Polizeipsychologen war Leander klar gewesen, dass er sich in all seinen Funktionen hoffnungslos übernommen und verfahren hatte. Er nutzte die Krankheit und die damit verbundene Zeit der Ruhe, um zu sich selbst zu finden, zog aus dem gemeinsamen Haus aus in eine kleine Wohnung, machte stundenlange Spaziergänge an der Kieler Förde. In dieser Zeit stellte er sich die grundsätzliche Sinnfrage, ohne jedoch eine Antwort darauf zu finden.

»Midlife-Crisis«, hatte seine Kollegin Lena teils schmunzelnd, teils ernsthaft besorgt gesagt, aber es war mehr als nur die Krise in der Mitte des Lebens, die man eines Tages ausgestanden hat oder mit der man sich zumindest arrangiert, denn einen Ausweg, eine Chance zum rigorosen Ausstieg, ohne verbrannte Erde zu hinterlassen, gibt es für gewöhnlich nicht. Und so hatte er eines Tages seinen Dienst wieder aufgenommen, mit einem gleichmäßigen leichten Rauschen im Ohr als ständiger Begleiter. KHK Henning Leander stürzte sich in Fälle, die nicht seine waren, und ermittelte im Leben anderer Menschen herum, ohne sein eigenes in den Griff zu bekommen. Und dabei machte er täglich die Erfahrung, dass die Strafverfolgungsbehörden auf hoffnungslosem und längst verlorenem Posten standen. Dieser Weg musste zwangsläufig ins Verderben führen, das war Leander klar, aber er war nicht in der Lage, es zu ändern, zumal er ja auch im Sommer keine Antworten auf seine Fragen bekommen hatte.

Und nun fuhr er an einem regnerisch kalten Donnerstag, genauer gesagt am 18. Dezember, sieben Tage vor Weihnachten, Hals über Kopf im Sturm nach Föhr, um einen alten Mann zu besuchen, der sein Großvater war und den er dennoch gar nicht kannte.

»Ich brauche deine Hilfe, Junge«, hatte der alte Mann gesagt. »Ich verspreche dir auch, dass ich dir auf alle deine Fragen antworten werde, wenn du nur so schnell wie möglich kommst.«

Und nach einer Pause hatte er leise hinzugefügt: »Sonst kann es vielleicht zu spät sein.«

Vielleicht würde das die Wende bringen. Jetzt und hier auf der Landstraße nach Dagebüll, im Übergang zwischen der stürmischen Nacht und dem grauenden Morgen und ohne eine Menschenseele weit und breit, spürte Leander, dass er seine Mitte erst finden konnte, wenn er endlich seine eigene Geschichte kannte. Und vielleicht war dieser Moment doch nicht so schlecht. Vielleicht war es gerade jetzt wichtig, aus dem Trott gerissen zu werden, aus der sinnlosen Grübelei und Depression, die ja doch zu nichts führte.

Leander hatte nach dem Anruf seines Großvaters Lena angerufen. Sie musste für ihn seinen Jahresurlaub einreichen, von dem ihm der Großteil wegen seines krankheitsbedingten Ausfalls noch zustand, und seine dringendsten Fälle übernehmen. Dann hatte er die nötigsten Sachen für zwei bis drei Wochen zusammengepackt und sich auf den Weg gemacht, um die erste Fähre nach Föhr zu erreichen.

Vor ihm tauchte das Ortseingangsschild von Dagebüll auf, ein verschlafenes Nest, das ohne seinen Fährhafen bis heute wahrscheinlich noch gar nicht entdeckt worden wäre. Die niedrigen Fischerhäuser lagen schlafend entlang der Straße aufgereiht. Jetzt, im Dezember, gab es für Fischer nicht viel zu tun, da konnten sie ausschlafen. Nur die geduckten windschiefen Bäume in den Gärten, die alle in eine Richtung wuchsen, peitschten im Sturm hin und her.

Die Durchfahrt durch den Deich in den Hafen war gerade breit genug für zwei Fahrzeuge und wirkte wie das Tor in die Freiheit. Der Regen fegte in schrägen Fäden auf den Asphalt und peitschte im gleichen Ausfallwinkel zurück, nur um prasselnd an der Windschutzscheibe zu verenden. Leander hielt kurz an der Kontrollstation, die leicht an eine Mautstation auf einer italienischen Autobahn erinnerte, zeigte seinen Fahrzeugschein vor, beglich die Gebühr für die Überfahrt und reihte sich in die ihm zugewiesene Wartespur vor dem Fähranleger ein. Vor ihm standen zwei weitere Fahrzeuge mit von innen beschlagenen Fensterscheiben.

Sein Auto kühlte schon Minuten nach dem Ausschalten des Motors völlig aus und wurde im pfeifenden Sturm hin und her gerüttelt. Ein Mitarbeiter der »Wyker Dampfschiffreederei« kam mit hochgeschlagenem Kragen und tief in die Stirn gezogener Kapuze zu ihm, klopfte leicht an die Scheibe und ließ sich die Fahrkarte zeigen. Danach begannen das Warten auf die erste Fähre und das Frieren. Entsprechend froh war Leander, als die »Uthlande« endlich anlegte und er seinen Volvo Kombi halbwegs geschützt durch die hohe Bordwand auf dem Deck parken konnte.

Er stieg aus und führte einen zunächst verzweifelten Kampf gegen die hydraulische Tür, durch die er vom Fahrzeugdeck zu den anderen Decks gelangen konnte. Der Hebel musste nur leicht nach links gedrückt werden, war aber so flach angebracht, dass das nicht auf Anhieb ersichtlich und schon gar nicht leicht umsetzbar war. Leander stieg die Stahltreppe hinauf und bahnte sich einen Weg durch den dicht bevölkerten Salon der Fähre, dessen niedrige Decke ihm das Gefühl gab, Teil der bunten Füllung eines Sandwiches zu sein. Die Luft war angefüllt von Stimmengewirr und dem Mief nasser und in der Wärme vor sich hin dünstender Kleidung. Kinder rempelten zwischen den Beinen drängelnder Erwachsener in Richtung Fensterplatz; ein altes Ehepaar wurde von einem etwa 13 Jahre alten Bengel kurz vor dem Ziel regelrecht beiseite geschubst, was dem Mann schier die Sprache verschlug und der Frau ein mattes »Schade!« entlockte. Die junge Familie, die den Fensterplatz ergattert hatte, kümmerte das offenbar wenig, denn die Gesichter spiegelten Triumph und Zufriedenheit mit dem Ausgang des ungleichen und rücksichtslosen Kampfes. Gleichzeitig entwickelte sich ein erstes Gedränge an der Getränkeausgabe in der Mitte des Salondecks, verbunden mit der gleichen Rüpelei, die Leander schon bei der Platzsuche beobachtet hatte.

Gern hätte er sich etwas aufgewärmt, aber das hier war unerträglich, und so flüchtete er weiter, folgte der Stahltreppe eine Etage höher zum Sonnendeck und trat befreit aufatmend in die nasskalte Dezemberluft hinaus. Links neben der Tür zeigte ein Thermometer einen knappen Grad über null.

Die weißen Kunststoffsitzbänke mit Edelstahlsitzflächen standen in krassem Gegensatz zu den nostalgischen beigefarbenen Plastikbänken der »Nordfriesland«, mit der er im Sommer übergesetzt hatte. Hier war alles modern, hell und antiseptisch. Die Edelstahlsitze glänzten im Nieselregen und reflektierten das blasse Morgenlicht. Derart abgestoßen, trat er schaudernd an die Seitenreling und beobachtete das Ablegemanöver der »Uthlande«. Ein Mann in einem triefenden grau-roten Regenmantel bediente einen Schaltknopf in einem weißen Stahlkasten, und die Laderampe schloss sich langsam und fast geräuschlos zu einem Stück Bordwand. Die »Uthlande« legte seitlich ab und glitt langsam an den Hafenmauern von Dagebüll vorbei, die bei Leanders letzter Überfahrt im Sommer von Schaulustigen und Angehörigen bevölkert gewesen waren, heute aber verlassen im nasskalten Dezembermorgen dalagen. Hinter der Hafenausfahrt verjüngten sich die Mauern zu Buhnen, und auch diese liefen bald im grauen Schlick des Wattenmeeres aus. Leander schaute noch einmal zurück auf den kleinen Hafen, der allmählich von Regen- und Nebelschleiern verschluckt wurde. Es war nicht schade darum.

Leander zog sich die Kapuze seines Regenmantels über den Kopf, verließ die Reling und zog sich zu den Aufbauten zurück, die die beiden Sonnendecks voneinander trennten. Er durchquerte den Verbindungstunnel, der wechselseitig von Glasscheiben vor dem Wind geschützt war und ihn zum Slalomlaufen zwang, und gelangte so auf die Bugseite des Schiffes. In unregelmäßigen Stößen trafen ihn Böen wie ein nasskalter Aufnehmer schräg von der Seite und drohten ihn wegzuwischen. Der Wind kam unbarmherzig aus Nordwest und trieb den Regen in dichten Schleiern vor sich her. Schwankend driftete Leander durch die Bankreihen und strebte der Reling zu. ErsteSchneeflocken mischten sich nun in den Regen, der Leander ins Gesicht geschleudert wurde und schmerzhaft in die Haut schnitt.

»Windchillfaktor minus Zero«, kam Leander der Titel eines Liedes der »Boomtown Rats« in den Sinn – gab es die eigentlich noch? Dabei bemühte er sich, nicht von seinem Kurs abzuweichen. Er musste sich wieder daran gewöhnen, dem Gegenwind zu trotzen, zumal er froh sein konnte, nach dem heftigen Sturm der vergangenen Nacht überhaupt schon übersetzen zu können.

Am Ende des Decks angekommen, legte der beurlaubte Kommissar seine Hände auf die Stahlrohre der umlaufenden Reling und umklammerte sie unwillkürlich, als eine heftige Windböe ihn von vorne traf und in eine starke Krängung drückte, die schwer nach Kentern aussah. Die eisige Kälte des Metalls fraß sich sofort in seine Finger und Handflächen und ergriff bald erbarmungslos von seinem ganzen Körper Besitz, sodass ihm heftige Schauer über den Rücken jagten und seine Muskulatur sich schmerzhaft verkrampfte. Unglaublich, wie schlagartig sich hier an der Küste die Temperaturen verändern konnten. In den Tagen vor dem Sturm hatten sich die Menschen über den viel zu milden Winter beklagt.

Und trotzdem durchströmte Leander in diesem Moment so etwas wie ein Glücksgefühl, weil er sich endlich wieder spürte. Wie abgestorben war er sich während der letzten Monate vorgekommen, begraben unter einer meterdicken Trümmerdecke eingestürzter Vergangenheit, die gleichbedeutend war mit dem Scheitern sämtlicher Lebensträume, die er jemals gehabt hatte.

Da waren Inka und die Kinder: Von Inka hatte er sich getrennt – oder sie sich von ihm? – und die Kinder waren erwachsen und gingen ihrer eigenen Wege. Da war sein Job: Beruflich hatte er längst jede Illusion verloren, und sein Idealismus war im Laufe seiner Karriere auf der Strecke geblieben. Und da war Lena: Über diesen Punkt musste er sich selbst erst einmal klar werden, dachte er, und da kam die Auszeit gerade recht, auch wenn Lena das anders sah, wie der unterkühlte Abschied gestern deutlich gezeigt hatte.

»Hoffentlich findest du endlich, was du suchst«, hatte sie resigniert gesagt. »Wer ständig auf der Suche ist, wird nie zu sich selbst finden.«

Als die Fahrrinne nun nach Süden bog, trug der Wind den Qualm und das sanfte Dröhnen der Dieselmotoren waagerecht herüber, lediglich zeitweise übertönt von den Flattergeräuschen der Kapuze an Leanders Ohren. Unter ihm drehte sich das weiß-blaue Radar unbeirrt im Schneeregen, vor ihm fraß sich die Fahrrinne durch trübe Endlosigkeit, zog eine dunkelgraue Spur in beigefarbenen Schlick, begrenzt durch die Reisigbesen links und rechts und hin und wieder durch eine Spierentonne, die dem Kapitän die sichere Tiefe markierte. Das Schneetreiben wurde immer dichter. Es schien Leander, als verschlucke es das Dröhnen der Diesel, als die Fahrrinne nun erneut Richtung Westen abknickte. Geradezu lautlos glitt das große Schiff durch das Watt, das kurz vor Leander auftauchte und knapp hinter der Fähre wieder verschwand. Sandbänke deuteten sich zu beiden Seiten an und wiesen auf die Ebbe hin, ohne dass Leander hätte sagen können, ob das Wasser gerade auf- oder ablief. Ob es sich bei den länglichen schwarzen Schattenrissen auf dem Sand um Strandgut oder vielleicht um ruhende Seehunde handelte, konnte er ebenfalls nicht erkennen.

So hatte die Überfahrt in Leanders Vorstellungen des vergangenen Tages nicht ausgesehen. Da waren nur die Bilder des Sommers gewesen, Bilder von sonnenüberfluteten Decks, leicht bekleideten Urlaubern und weißen Möwen vor blauem Himmel – Urlaubsträume. Aber dieses aktuelle unterkühlte Szenario, das gestand er sich durchaus ein, entsprach eher seiner Situation und Stimmung. Sonnige Decks und Kindergeschrei hätte er jetzt gar nicht ertragen können. Lediglich die Rufe der Möwen fehlten ihm, die bei besserem Wetter neben der Fähre durch einen blauen Sommerhimmel segelten und auf Futter spekulierten, das ihnen von fröhlichen Urlaubern direkt vor die Schnäbel geworfen wurde.

So driftete Henning Leander konsequent der Insel entgegen, die hinter dem Schneetreiben des grauen Wattenmeeres auf ihn wartete.

2

Während Leander der realen Kälte die erinnerte Wärme seiner letzten Überfahrt entgegengesetzt hatte, waren unvermittelt neben ihm zwei Gestalten aufgetaucht, Arm in Arm und dick vermummt, vorgebeugt gegen Wind und Schnee. Ihre behandschuhten Hände klammerten sich um die Reling, ohne dass man ihnen ansah, wer von beiden der Mann und wer die Frau war, denn dass es sich um ein Paar handelte, stand für Leander außer Frage.

»Man sieht ja gar nichts«, hörte er die Stimme des Mannes und etwas leiser und offenbar weiter entfernt die Antwort der Frau: »Lass uns wieder reingehen, das ist mir zu ungemütlich hier.«

Einen Moment verharrten die beiden Gestalten noch schweigend neben Leander, dann lösten sie sich von der Reling und drehten sich mit dem Rücken zu ihm weg, um mit dem Wind dem Salon entgegenzutreiben und dabei immer wieder an den Bankreihen links und rechts einen vorübergehenden und wackeligen Halt zu suchen.

Leander dachte, dass er sie auf der Insel bei einer späteren Begegnung nicht wiedererkennen würde – anonyme Gestalten wie all die anderen unten im Salon, die die Tage zwischen den Jahren auf Föhr verbringen wollten, um gleich zu Jahresbeginn wieder in ihren Alltag auf dem Festland zurückzukehren, gute Vorsätze für ein ruhigeres neues Jahr im Gepäck, die zu Hause mit der schmutzigen Wäsche in der Waschmaschine verenden würden.

Vor Leander löste sich ein schmaler heller Streifen aus dem Grau. Gleich darauf schwenkte die »Uthlande« nach steuerbord und lief nun immer parallel zu dem Streifen, bei dem es sich, das erkannte Leander nun, um den Südstrand der Insel Föhr handelte. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis sie den Hafen von Wyk erreichten. An Steuerbord musste irgendwo im Schneetreiben die Hallig Langeneß liegen, an Backbord tauchte nun ein kleines Leuchtfeuer auf. In diesem Moment bemerkte Leander, dass er zum ersten Mal seit Jahren kein Rauschen und Pfeifen in den Ohren hatte, und diese ungewohnte Stille kam ihm auf merkwürdige Weise fremd und beruhigend zugleich vor.

Er löste sich von der Reling und spürte, wie schmerzhaft sich seine Fingergelenke auf dem kalten Eisen verkrampft hatten. Dann wandte er sich der Treppe zu, strebte dem Salon entgegen, der nun verwaist dalag, und folgte dem Abgang zum Autodeck.

Von hier aus hatte er nur noch die Bordwand und die Autos um sich herum im Blick, und da waren nicht wenige Fahrer, die den halbstündigen Nikotinentzug im Salon der Fähre offenbar nur mühsam überstanden hatten und nun in ihren Fahrgastzellen ihre Familien mit extrem giftigen lungengängigen Substanzen und Feinstäuben kontaminierten.

Einer Statistik des Bundesgesundheitsministeriums hatte Leander jüngst entnommen, dass durch die Folgen des Passivrauchens in Deutschland weit mehr Menschen pro Jahr starben als durch Heroin, Aids, den Straßenverkehr und Mord und Totschlag zusammen. Lena hatte gewitzelt, sie sollten lieber Raucher verhaften als Mörder, zumal man die Luftverpester ohne große Ermittlungsarbeit überall auf frischer Tat ertappen könne. Leander hatte darüber nicht lachen können.

Die übrigen Fahrgäste saßen bereits bei laufenden Motoren in ihren Autos und wischten an den immer wieder neu beschlagenden Scheiben herum, bis die Klimaanlagen sie von selber frei hielten. Leander atmete Diesel- und Benzingestank, als er sich zwischen den Fahrzeugen hindurch zu seinem eigenen Auto quetschte. Er saß kaum hinter dem Lenkrad, da schwenkte die Fähre nach Steuerbord und drosselte ihre Fahrt, um schließlich in den Wyker Hafen einzulaufen und mit einem spürbaren Aufprall anzulegen.

Das Anlegemanöver verlief in umgekehrter Reihenfolge des Ablegemanövers in Dagebüll. Derselbe Matrose bediente die Ladeluke und ließ die Bordwand hochklappen. Reisende ohne Pkw drängten sich mit ihren Koffern und Taschen direkt hinter ihn und durften als Erste die Fähre verlassen. Dann folgten auf ein Zeichen des Matrosen die mittlere Pkw-Reihe und gleich darauf zuerst die linken und dann die rechten Fahrzeugschlangen. Leander war, da er einer der Letzten in Dagebüll gewesen war, nun schnell an der Reihe. Er fuhr langsam an und holperte über die Kante zwischen Ladeluke und Pkw-Rampe. Dann ging es schräg hinauf, vorbei an den Reisenden ohne Fahrzeug, die links und rechts der Straße geduckt durch den Schneeregen in Richtung Hafenausfahrt eilten.

Bei diesem Wetter standen nur wenige Menschen am Anleger, um auf Anreisende zu warten. Leander hielt nach seinem Großvater Ausschau, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Also beschleunigte er seinen Wagen und steuerte auf die Hafenausfahrt zu.

Die Autos vor Leander bogen gleich auf den Parkplatz vor den Gebäuden, um im Hafenbüro ihre Rückfahrt festzulegen. Er aber lenkte daran vorbei und durch das Hafentor hindurch, das Innenhafenbecken rechts, die Flutmauer zur Innenstadt Wyks links liegen lassend. Kurz darauf ordnete er sich links ein. Geradeaus ging es zu den Inseldörfern, aber das Haus seines Großvaters lag direkt in Wyk, in einer Seitenstraße der Fußgängerzone und somit in relativer Hafennähe, da Leanders Großvater zeitlebens Krabbenfischer gewesen war.

Hinter dem Großraumparkplatz auf der rechten Seite des Heymannsweges ordnete Leander sich erneut links ein und bog in die Badestraße ab, die sich von hier endlos geradeaus zu erstrecken schien. Die Nächste links, die Nächste wieder links, und Leander befand sich in der Wilhelmstraße und damit mitten im Gewirr alter und kleiner Gässchen, die Wyks Innenstadt so gemütlich und nostalgisch machten. Kurz bevor die Wilhelmstraße auf die Fußgängerzone stieß, lag auf der linken Seite ein kleines, altes Friesenhaus mit Fachwerk und Reetdach, das Holz schwarz, die Gefache weiß gestrichen, hinter einen verwitterten Zaun geduckt, leicht unterhalb des Straßenniveaus, sodass ein paar Stufen zur Haustür hinabführten.

Leander stellte seinen Wagen am Straßenrand ab und stieg aus. Parkfläche gab es hier nirgendwo, und so würde er zügig seinen Wagen entladen und ihn auf den Großraumparkplatz vor der Innenstadt fahren müssen.

Er öffnete das morsche Zauntörchen, das sich erstaunlich leicht in seinen Angeln bewegte und gar nicht mehr so erbärmlich quietschte wie bei seinem letzten Besuch, und stieg die Stufen zur Haustür hinab. In den Fachwerkbalken oberhalb der Tür war ein Sinnspruch eingraviert und weiß ausgemalt, der Leander schon im Sommer positiv aufgefallen war: Des Lebens wahrer Preis sind Redlichkeit und Fleiß. Das gefiel dem Atheisten Leander, der nichts mehr hasste als die Scheinheiligkeit der Menschen, die ihre Frömmigkeit in Sinnsprüchen über dem Türstock zur Schau stellten und ihren Nächsten im Alltag hinten herum kalt lächelnd über den Tisch zogen. So fühlte er sich gebührend begrüßt und auf das Herzlichste eingeladen, obwohl er auf der Insel weniger dem Fleiß als vielmehr der Entspannung huldigen würde.

In Brusthöhe hing ein Messingklopfer an der Tür, den Leander anhob und auf die Messingplatte fallen ließ, worauf ein dumpfes Dröhnen aus dem Flur zu ihm hinausdrang. Er wartete geduldig auf die Schritte des alten Mannes, aber drinnen tat sich auch nach mehreren Minuten nichts. Als auch das erneute Klopfen erfolglos blieb, ging Leander seitlich um das Haus herum, immer an dem verwitterten, ehemals weißen Holzzaun entlang, der das Grundstück im vorderen Bereich dicht einschloss.

Auch durch die allesamt verschlossenen Fensterläden wirkte das Haus eher verwaist, als dass jemand auf Leander zu warten schien. Dabei wusste sein Großvater doch, dass er heute anreisen würde, und kannte auch die Ankunftszeiten der Fähre, schließlich hatten sie sich erst gestern telefonisch darüber verständigt. Da Leander ihn am Anleger nicht gesehen hatte, musste er also zu Hause auf ihn warten. Und doch war es auch nicht des Großvaters Art, morgens die Läden nicht zu öffnen. Sollte der alte Mann um diese Zeit noch in der warmen Koje liegen und den Schlaf des Gerechten genießen? Für einen Fischer war das eher unwahrscheinlich. Irgendetwas stimmte hier nicht, man musste kein Kriminalist sein, um das zu erkennen.

Leander verließ das Grundstück und wandte sich dem Nachbarhaus zur Linken zu, in dem Frau Husen wohnte, die seinem Großvater zweimal pro Woche den Haushalt führte. Sie besaß eine moderne Klingel an der Haustür und öffnete so schnell, als hätte sie bereits auf der Lauer gelegen.

»Guten Morgen, Frau Husen«, begrüßte Leander die Frau, deren Alter er schon im Sommer nicht hatte bestimmen können. »Ich bin mit meinem Großvater verabredet, aber er scheint nicht zu Hause zu sein. Wissen Sie, wo er sein könnte?«

Frau Husen schüttelte ihr grau meliertes Haupt, während ihr dürres Gesicht, das von Ausdruck und Aussehen her irgendwo zwischen Habicht und Waran anzusiedeln war, sich alle Mühe gab, den Eindringling abzuwehren.

»Eigentlich müsste er da sein«, erklärte sie in einem Tonfall, der Leander wohl sagen sollte, dass er selbst zum Anklopfen zu blöd sei. »Warten Sie, ich habe einen Schlüssel.«

Sie griff in Schulterhöhe hinter sich und nahm zielsicher einen Schlüsselbund vom Schlüsselbrett an der Dielenwand, ohne genauer hinsehen zu müssen. Dann eilte sie Leander voraus zur Haustür seines Großvaters und wollte gerade aufschließen, als Leander ihr in den Arm fiel.

»Warten Sie«, forderte er sie auf, einem beruflichen Reflex folgend, der sich nicht einfach ablegen ließ. »Lassen Sie mich das machen.«

Frau Husen war so überrascht, dass sie ihm den Schlüsselbund kampflos überließ. Die Haustür besaß ein altertümliches Schloss, zu dem ein Schlüssel mit Bart gehörte, keiner der Sicherheitsschlüssel, die sonst noch am Bund hingen. Geräuschlos und leichtgängig öffnete sich die Tür – Leanders Großvater hatte offensichtlich im Herbst alles gut in Schuss gebracht, auch wenn Leander nun ein muffiger Geruch ungelüfteter Räume entgegenschlug. Doch damit konnte er sich jetzt nicht aufhalten. Die nächstliegende Zimmertür war halb geöffnet, sodass er in eine Art Vorratsraum mit Regalen an den Wänden blicken konnte. Hier war alles ganz normal. Vom schmalen Flur aus führte eine steile Treppe nach oben.

»Sehen Sie bitte im Schlafzimmer nach, Frau Husen«, forderte Leander die Frau auf, die ungewöhnlich zurückhaltend war und angesichts der unüblichen Situation fast eingeschüchtert wirkte.

Während sie die Treppe erklomm, folgte Leander dem Flur bis zum Wohnzimmer auf der linken Seite. Auch dieses lag verwaist da, ebenso wie die Küche gegenüber. Weitere Räume gab es hier unten nicht. An der Haustür stieß er wieder auf Frau Husen, die kopfschüttelnd von oben kam.

»Das Bett ist so unberührt, wie ich es gestern Morgen hinterlassen habe«, erklärte sie und fügte schnell hinzu: »Gestern hatte ich meinen wöchentlichen Putztag und habe das Bett frisch bezogen«, um jedes mögliche Missverständnis gleich im Keim zu ersticken.

»Das heißt, mein Großvater war die ganze Nacht nicht zu Hause?«, wunderte sich Leander. »Haben Sie eine Ahnung, wo er sein könnte? Er erwartet mich schließlich heute.«

»Vielleicht auf seinem Kutter«, überlegte Frau Husen, die offensichtlich erschrocken war. »Wir hatten Sturmflut gestern, und vielleicht wollte er sehen, ob alles richtig vertäut war.«

»Sie meinen, er könnte die Nacht auf dem Kutter verbracht haben?«

»Manchmal macht er das, im Sommer, aber in dieser Kälte …«

Frau Husens Habichtgesicht war noch blasser geworden, als es ohnehin schon immer war. Einen Moment lang glaubte Leander, sie festhalten zu müssen, aber sie fing sich glücklicherweise selbst am Geländer ab, fasste sich sofort wieder und richtete sich auf.

»Sie sollten sofort nachsehen«, erklärte sie. »Hoffentlich ist Hinnerk nichts passiert!«

»Ich stelle nur schnell meine Koffer in den Vorratsraum, dann fahre ich gleich zum Hafen«, versprach Leander. »Der Wagen muss ohnehin von der Straße weg.«

Frau Husen schlüpfte an ihm vorbei und eilte zurück zu ihrem Haus. Leander ging zum Auto und begann mit dem Ausladen. Die Koffer verstaute er, so gut es ging, im Vorratsraum, schloss die Haustür ab und setzte sich in seinen Volvo. Er musste den Wagen verkehrswidrig zurücksetzen, da vor ihm die Fußgängerzone nur zum Be- und Entladen befahren werden durfte. Wie andere Leute mit Auto dieses Problem angingen, war ihm schleierhaft, aber vielleicht waren die Insulaner klug genug, gar nicht erst mit dem Auto in die Einbahnstraßen rund um die Fußgängerzone zu fahren, oder sie setzten sich einfach über die Fußgängerzonenregelung hinweg. An der nächsten Seitengasse wendete er sein Fahrzeug und fuhr zurück zur Badestraße und von da zum Großraumparkplatz im Heymannsweg, auf dem man gebührenfrei parken durfte. Der vordere Bereich war dicht besetzt – Urlauber mögen keine weiten Wege –, aber weiter hinten zum Binnendeich hin war alles frei. Leander parkte sein Auto, schloss es ab und machte sich zu Fuß auf den Weg zum Hafen.

Das innere Hafenbecken lag gegenüber dem Schutzdeich, der die Innenstadt bei Sturmfluten sichern sollte. Hier waren einige Krabbenkutter vertäut, die ihrer Kennung nach aus Dagebüll und Wyk stammten. Auch ein Kutter aus Wittdün auf Amrum lag hier, auf dem drei Fischer Netze sortierten, Kisten stapelten und mit einem langstieligen Schrubber abwechselnd ins Hafenwasser fuhren und dann das Deck schrubbten. Das Boot seines Großvaters, die »Haffmöwe«, entdeckte Leander nicht. Er ging am Hafenbecken entlang auf die Ausfahrt zu, aber auch hier war weit und breit nichts von der »Haffmöwe« zu sehen. Vielleicht konnte ihm der Hafenmeister weiterhelfen.

Der Mann hinter dem schweren Schreibtisch sah aus, wie man sich gemeinhin einen alten Seebären vorstellt, die Kapitänsmütze schief auf dem strubbeligen Kopf und die schmutzig qualmende Pfeife mitten in den gelb verfärbten Vollbart gesteckt. Leander grüßte freundlich und machte ein paar Schritte auf ihn zu.

»Moin«, entgegnete der Hafenmeister schroff und schaute Leander misstrauisch an, als erwarte er nur Schlechtes, wenn zu früher Stunde ein Fremder so forsch sein Büro betrat.

»Mein Name ist Leander, Henning Leander. Ich bin auf der Suche nach meinem Großvater. Seine Haushälterin meint, er könnte auf seinem Kutter sein, der ›Haffmöwe‹, aber ich kann das Boot nirgendwo finden. Wissen Sie vielleicht, ob er heute Morgen ausgelaufen ist?«

Der Hafenmeister nahm die Pfeife aus dem Mund und lehnte sich zurück, ohne seine misstrauischen Augen von Leander zu lassen.

»So, der Enkel vom ollen Hinnerk sind Sie? Dann sollten Sie sich mal mehr um ihn kümmern, damit er nicht auf solche Schnapsideen kommt.«

Leander blickte den Hafenmeister fragend an. Der erhob sich von seinem Stuhl und trat an ein kleines Fenster, das auf den Außenhafen gerichtet war. Mit dem Pfeifenstiel deutete er hinaus in Richtung Langeneß.

»Da ist er raus gestern, mitten im Sturm. Ich sach zu meinen Leuten: Ja, spinnt der denn, der Hinnerk? Da war er auch schon am Leuchtfeuer vorbei. Hat es ganz schön eilig gehabt, der Alte. Wollte wohl nach Wittdün und dann heute gleich raus zu den Sandbänken. Wird ja allerhand angespült da draußen nach so einem Sturm.«

Er steckte die Pfeife wieder in den Mund und fuhr kopfschüttelnd zwischen zusammengebissenen Zähnen fort: »Sollte er nich machen, so was, in seinem Alter und denn ganz allein.«

»War er denn allein?«, hakte Leander nach. »Es arbeiten doch zwei Männer auf seinem Kutter.«

»Im Winter nich, da is Ruhe mit’n Krabbenfang. Da gehn die stempeln, die Jungs. Erst im Frühjahr geht das wieder los mit den Krabben.«

Leander dachte einen Augenblick nach. Die Sache war doch sehr merkwürdig, zumal er seinen Großvater als überaus vorsichtig und überlegt kennengelernt hatte.

»Dann müsste er ja die Nacht über in Wittdün gelegen haben. Können Sie mal den dortigen Hafenmeister anrufen und nachfragen? Ich mache mir ernsthaft Sorgen, weil er mich eigentlich heute Morgen erwartet hat.«

Der Hafenmeister zog an seiner Pfeife, paffte dichten Rauch aus und schaute Leander durchdringend an. Dann schlurfte er zum Telefon. Von dem nun folgenden Gespräch verstand Leander kein Wort. Friesisch-Platt war schon schwer genug, aber auf den Inseln sprachen die Leute ein jeweils spezifisches Kauderwelsch, das für Außenstehende nicht zu entschlüsseln war. Hier war es Föhringisch-Platt oder Fering, wie die Feringer sagten.

Als der Hafenmeister den Hörer aufgelegt hatte, steckte er gleich wieder die Pfeife in den Mund und sog heftig daran, um sie nicht ausgehen zu lassen. Dabei nickte er vielsagend mit dem Kopf, sodass Leander schier der Kragen zu platzen drohte.

»Und?«, erkundigte der Kommissar sich ungeduldig. »Was sagt Ihr Kollege?«

»Da war er nich, der Hinnerk. Is gar nich angekommen da.«

»Kann er gestern gleich zur Sandbank rausgefahren sein?«

»Unmöglich«, der Hafenmeister schüttelte seinen dichten Bart, »so’n Kutter wie die ›Haffmöwe‹ ist zu klein und zu leicht. Die braucht im Sturm einen Schutzhafen, und der olle Hinnerk ist ein Seebär, der weiß das.«

»Wieso ist er dann überhaupt rausgefahren?«, überlegte Leander, erntete aber nur ein Schulterzucken. »Was kann denn da passiert sein?«

Wieder nur dieses nervenzerfetzende Schulterzucken und die Augen, die starr und ausdruckslos auf ihn gerichtet waren.

»Kann er auf Langeneß Schutz gesucht haben?«

»Nee, daran is er vorbei, das hab ich mit eigenen Augen gesehen.«

»Und wenn er umgedreht hat, als Sie mal nicht hingeguckt haben?«

Leanders Tonfall passte sich jetzt deutlich dem Adrenalinschub an, den er in sich aufsteigen fühlte. Der Hafenmeister schnaufte widerwillig, griff aber erneut zum Telefonhörer und wählte Langeneß an.

Nach einem kurzen Wortwechsel legte er auf und schüttelte den Kopf: »Sach ich doch. Da isser nich.«

»Und nun?« Leander war ratlos.

»Abwarten, mehr können wir jetzt nich machen.«

»Darf ich mal Ihr Telefon benutzen?«, erkundigte sich Leander, der die Gleichgültigkeit des Hafenmeisters nicht einfach so akzeptieren wollte.

Der Mann wies mit dem Pfeifenstiel auf den Apparat und setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch.

»Haben Sie die Nummer von der Küstenwache?«, erkundigte sich Leander.

»Guter Mann, die haben mehr zu tun nach so einem Sturm, als nach einem Kutter zu suchen.«

Leander schaute den Hafenmeister herausfordernd an, bis der schulterzuckend eine Kladde aufschlug und Leander hinüberschob. Der griff nach dem Hörer und wählte die eingetragene Nummer.

»Hauptkommissar Leander hier, LKA Schleswig-Holstein. Wir suchen nach einem Krabbenkutter, der gestern Nachmittag im Sturm von Wyk auf Föhr ausgelaufen ist. Kurs Amrum, aber da ist er nicht angekommen. … So, keine Meldung. … Ja, da wäre ich Ihnen sehr verbunden, Kollege. Sie erreichen mich direkt auf Föhr unter folgender Telefonnummer:« – er las die Nummer seines Großvaters aus seinem Notizbuch vor – »Wie? … Ach so, ›Haffmöwe‹ heißt der Kutter, gemeldet in Wyk. Der Halter ist ein Fischer namens Heinrich Leander. … Mein Großvater, ja. … Vielen Dank, ich warte auf Ihren Anruf.«

»Soso, L-K-A«, höhnte der Hafenmeister, jeden Buchstaben einzeln betonend, als Leander den Hörer aufgelegt hatte. »Da lässt sich natürlich immer was machen, so auf dem kurzen Dienstweg.«

Leander griff nach einem Notizblock und einem Stift, ohne auf die Stichelei zu antworten, schrieb die Telefonnummer seines Großvaters auf und schob den Block über den Tisch.

»Da bin ich zu erreichen, wenn Sie etwas hören. Moin!«

Mit diesem Gruß, der nicht erwidert wurde, verließ er das Büro und schlug den Weg zur Fußgängerzone ein.

Gleich gegenüber dem Hafen lag der Deichdurchbruch, durch den Leander zum Rathausplatz gelangte. Geradeaus führte der Sandwall am Strand entlang. Rechts davon gingen mehrere kleine Straßen ab, zuerst die Carl-Häberlin-Straße, dann die Große Straße, eine von drei zur Fußgängerzone umgebauten Straßen. Dann folgte die Mittelstraße, in die Leander nun einbog. Kleine Geschäfte befanden sich hier, die einladend und urgemütlich wirkten, ein Töpferladen mit Tonschafen und anderer Deko im Fenster, weiter oben die »Windrose« mit Wetterbekleidung, rechts gegenüber eine Buchhandlung mit dem Namen »Bücher und Mee(hr)«, eine von drei Buchhandlungen in Wyk, wie Leander aus dem kurzen Sommerurlaub wusste. Eine zweite, die »Wyker Buchhandlung«, befand sich weiter hinten in der Mittelstraße; die dritte weiter unten am Sandwall trug den ulkigen Namen »Bu-Bu« als Abkürzung für »Bunter Buchladen«.

Links lag nun die Wilhelmstraße, Heinrich Leanders Adresse. Bevor er sich jedoch dorthin wandte, betrat er die Bäckerei Hansen, um für sein Frühstück einzukaufen.

Auf das Klingeln der Ladentür wandte sich eine von fünf jungen Verkäuferinnen ihm zu und hielt Leanders Gruß ein schlichtes »Moin« entgegen. Leander kaufte Körnerbrötchen, sogenannte Kornkracher, und Croissants, außerdem nahm er ein Pfund Kaffee – Hinnerk hatte als echter Friese immer nur Tee im Haus –, ein Päckchen Halbfettmargarine und eine Flasche Milch aus dem Regal. Auf dem Rückweg zur Wilhelmstraße kam er an der Metzgerei Friedrichs vorbei. Hier erstand er bei einem grauhaarigen Herrn mittleren Alters ein paar Scheiben Rauchfleisch und ein Stückchen Föhrer Bauernschmaus, eine Art Leberpastete mit Grieben. Er zahlte an einer alten Registrierkasse, die noch klingelte, wenn zum Auswerfen der Summe eine Kurbel an der Seite betätigt wurde, und machte sich dann auf den Weg zum Haus seines Großvaters.

Leander betrat das Friesenhaus viel bewusster und fand die Ruhe befremdlich, die ihn nach dem Schließen der Haustür umgab. Er ging den Flur entlang, öffnete die Tür zur Wohnstube, einem lang gestreckten und für die bescheidene Größe des Hauses sehr großzügigen Raum, in dem er im Sommer mit dem Großvater lange Gespräche geführt hatte. Durch das Dämmerlicht, das durch einen schmalen Spalt zwischen den geschlossenen Fensterläden hereinsickerte, machte Leander schemenhaft den friesischen Schrank, die Bücherregale, die Sitzgarnitur und den niedrigen Tisch aus. Auf den ersten Blick hatte sich hier nichts verändert.

Dann wandte er sich der Tür gegenüber zu, hinter der sich die Küche befand. Daneben war ein altertümlicher Drehlichtschalter angebracht, der eine blasse Porzellanlampe im landestypischen Friesenblau aufleuchten ließ. Ein behäbiger alter Gasherd bildete das Hauptgewicht gegenüber der Tür, dazu gab es einen kleinen Tisch direkt unter dem Fenster, das ebenfalls noch mit Holzläden verschlossen war, zwei Holzstühle, einen Glasschrank mit Porzellan, auch in Friesenblau, und eine Spüle, neben der auf Unterschränken eine kleine Arbeitsfläche zur Verfügung stand. An den wenigen freien Wandflächen hingen Kellen, Messer und ein Gewürzregal, dessen erstaunlichen Umfang Leander bereits im Sommer bewundert hatte. Dennoch betrachtete er den Raum jetzt mit anderen Augen, denn nun registrierte er das Haus wie ein Kriminalist, der eine Bestandsaufnahme machen und abschätzen musste, ob hier etwas nicht ins Bild passte.

Die Küchenausstattung verriet ihm, dass sein Großvater nicht nur aus der Notwendigkeit heraus gekocht hatte. Leander legte seine Einkäufe auf den Küchentisch, füllte einen Wasserkessel und stellte ihn auf den Gasherd, entzündete ihn, nahm einen Teller und eine Tasse aus dem Geschirrschrank und stellte sie zu den Brötchen und der Wurst, die er auf einen zweiten Teller legte, auf den Tisch. In einer Schublade fand er Besteck. Während das Wasser langsam zu kochen begann, öffnete Leander das Fenster, entriegelte die Fensterläden und stieß sie weit auf. Nasskalte Luft und trübes Licht ergossen sich in den kleinen Raum, sodass Leander die Lampe wieder ausschalten konnte.

Im Schrank neben der Spüle fand er Filtertüten und eine halb gefüllte Teedose. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er mitten in einen funktionstüchtigen Haushalt eindrang. Leander beschlich ein mulmiges Gefühl, als er daran dachte, dass sein Großvater jeden Moment hereinkommen und seine Eigenmächtigkeit tadeln könnte.

Der Wasserkessel begann zu pfeifen und steigerte den unangenehmen Ton in Sekunden zu einem unerträglichen Angriff auf Leanders Trommelfelle. Er zog den Kessel von der Flamme und schaltete den Herd aus. Aus dem Geschirrschrank nahm er eine Porzellankanne – wie auch das übrige Geschirr in Friesenblau mit Blümchenmuster – und goss den Kaffee auf. Der kräftige Duft verdrängte machtvoll den leichten Muffelgeruch, der über allem zu hängen schien.

Leander frühstückte mit Blick auf einen Ausschnitt des Gartens, der mit seinen kahlen Obstbäumen um diese Jahreszeit und bei diesem Wetter schwermütig in seinen immergrünen Ligusterhecken ruhte. Wie anders war der Eindruck im letzten Sommer gewesen! Da hatte Leander oft mit seinem Großvater im Schatten der Bäume gesessen und die Stille aufgesaugt, die ihm, dem Großstädter, fast unwirklich erschienen war. In solchen Momenten war er sogar ein wenig glücklich gewesen.

In diesem Augenblick in der Küche, mit Blick auf den winterlichen Garten, wurde Leander die Absurdität der Situation klar, in der er sich befand. Niemals hätte sein Großvater ohne Not dieses Zusammentreffen verpasst, auch nicht für irgendein Strandgut, zumal er Leander ja selbst fast genötigt hatte zu kommen. Und ebenfalls niemals wäre er als alter, erfahrener Seemann bei so einem Sturm in See gestochen, noch dazu allein. Hier stimmte etwas nicht. Der alte Mann hatte keinen Zweifel an der Dringlichkeit ihres Treffens gelassen. Zudem hatte er sich bereit erklärt, Leander alles über seine Familiengeschichte zu erzählen, ein Thema, vor dem er sich im Sommer immer gedrückt hatte. Oder war er gerade deshalb verschwunden? Hatte er Angst gehabt, sich dem Thema zu stellen? Unsinn, schalt sich Leander.

Er spürte den Drang, nicht erst auf den Anruf der Küstenwache zu warten, sondern im Haus auf die Suche nach Anhaltspunkten zu gehen. Andererseits, wenn der alte Fischer nun plötzlich gut gelaunt sein Haus betrat, weil er den Termin entgegen aller Logik einfach verschwitzt hatte, und seinen Enkel beim Durchstöbern seiner Sachen ertappte? Nein, Leander musste sich in Geduld üben.

Wie zur Bestätigung seiner Gedanken drang in diesem Moment ein Geräusch von der Haustür durch den Flur. Leander war so erstaunt, dass er zunächst gar nicht reagieren konnte, und während er auf weitere Geräusche lauschte, erkannte er, dass seine kriminalistischen Instinkte offenbar völlig eingeschlafen waren. Wie sonst war seine träge Reaktion zu erklären? Andererseits, wovor hätte er hier auf der Hut sein müssen? Die Naivität dieser Frage wurde ihm bewusst, als in der Folge von zwei, drei Schritten im Flur, die plötzlich verharrten, dann aber entschlossen ihren Weg fortsetzten, Frau Husen ihr waranartiges Gesicht, dessen tiefe Furchen ihren Fluchtpunkt in einem verbiestert verkniffenen Mund fanden, zur Küchentür hereinsteckte. Die grauen Haare waren streng nach hinten gekämmt und zu einem altertümlichen Dutt zusammengebunden. Auch die Kleidung des Warans war einfach nur grau: langer grauer Rock, grauer grob gestrickter Pullover, grauer Wollmantel – von anno tuck, wie Inka gesagt hätte.

»Frau Husen«, begrüßte Leander sie betont unbeeindruckt und erhob sich, um der vorwurfsvoll blickenden Frau auf Augenhöhe zu begegnen.

»Sie haben sich nicht bei mir gemeldet«, erklärte Frau Husen. »Ich hätte erwartet, dass Sie mir Bescheid geben, wenn Sie vom Hafen zurück sind.«

»Entschuldigen Sie, Frau Husen, das war gedankenlos von mir.« Leander machte ein übertrieben zerknirschtes Gesicht, musste sich aber wirklich eingestehen, dass die Frau recht hatte. »Wollen Sie sich nicht zu mir setzen? Trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir, dann erzähle ich Ihnen alles.«

Statt einer Antwort ging Frau Husen zum Geschirrschrank, entnahm ihm eine Tasse und goss sich selbst Kaffee ein, um sofort klarzustellen, wer hier zu Hause war. Dann setzte sie sich Leander gegenüber, der ihr die Milchtüte hinschob.

Mit einem Blick, der sagte: »Sie hätten mir ruhig einschenken können!« erklärte Frau Husen: »Ich trinke schwarz!« und nahm geräuschvoll einen Schluck.

»Natürlich«, entgegnete Leander, »wie auch sonst?«

In ihm kämpfte sein Schuldgefühl mit Wut, Abneigung und Ekel, aber er nahm sich vor, sich nicht provozieren zu lassen. Schließlich führte Frau Husen seinem Großvater seit vielen Jahren den Haushalt und nahm daher nicht ohne Grund so etwas wie Hausrecht für sich in Anspruch.

»Ich war leider nicht sehr erfolgreich«, begann er vorsichtig, »der Kutter liegt nicht im Hafen, und vom Großvater fehlt zur Stunde jede Spur.«

Frau Husens Blick war kalt und ausdruckslos. Was hinter der grauen Schale vor sich ging, war an keinerlei Regung ablesbar. Dann erhob sie sich steif und machte einen Schritt auf die Küchentür zu.

»Das heißt, Sie werden zumindest im Moment alleine hier wohnen. Ich zeige Ihnen alles, kommen Sie«, befahl sie unbeeindruckt.

Leander wollte zunächst darauf hinweisen, dass er schon einmal hier gewesen war, gehorchte aber dann und erhob sich. Er würde alles widerstandslos über sich ergehen lassen, umso schneller hätte er es hinter sich – zumindest hoffte er das.

Frau Husen trat durch die gegenüberliegende Tür in die Wohnstube, steuerte die geschlossenen Fenster an und öffnete sie, um mit geübtem Schwung die Fensterläden aufzustoßen. Kühles Morgenlicht ergoss sich in den lang gestreckten Raum und flutete ihn wie eine Lawine, die in Regionen vordrang, in denen sie eigentlich nichts zu suchen hatte. Halb geblendet ließ Leander seine Augen nach Haltepunkten suchen, die sie schließlich an den Fächern des Schrankes fanden. Schlagartig überkam ihn das Gefühl, dass hier irgendetwas anders war als bei seinem Besuch im Sommer, aber Frau Husen ließ ihm keine Zeit, diese unbestimmte Ahnung in Gewissheit zu verwandeln und die Veränderung zu greifen.

»Die gute Stube kennen Sie ja bereits. Hier ist noch alles so wie im Sommer.«

Leander spürte den immanenten Befehl, er habe es gefälligst auch so zu lassen.

»Allerdings hat Ihr Großvater im Herbst die Wände weißen lassen.«

Frau Husen räusperte sich kurz und rau und quetschte sich dann unvermittelt an Leander vorbei in den Flur, um vor ihm die schmale Treppe ins Obergeschoss zu erklimmen. Die Stufen waren steil und kurz, und Leander musste sich vorsehen, weil es ihm nicht gelang, einen Schrittrhythmus zu finden. Oben angekommen, öffnete Frau Husen die Tür rechts der Treppe.